Sacht zog Kahlan die Tür auf. Er war wach und hockte vor dem Feuer. Als die Tür zufiel, rückten die unheimlichen Geräusche von Boldas und Trommeln aus der Mitte des Dorfes ein wenig in die Ferne. Sie stellte sich neben ihn, bückte sich und strich ihm mit den Fingern durchs Haar.
»Was machen deine Kopfschmerzen?«
»Es geht. Die Ruhe und der letzte Trank, den Nissel mir gegeben hat, haben etwas geholfen.« Er sah nicht auf. »Sie wollen, daß ich nach draußen komme, stimmt’s?«
Kahlan ließ sich nieder und setzte sich neben ihm auf den Boden. »Ja. Es wird Zeit.« Sie strich ihm über die Schulter. »Bist du sicher, daß du das Fleisch essen willst, jetzt, wo du weißt, was es ist?«
»Ich muß.«
»Trotzdem ist es Fleisch. Wirst du es essen können?«
»Wenn ich eine Versammlung will, muß ich es essen. So ist das nun mal. Ich werde es essen.«
»Richard, ich mache mir Sorgen wegen dieser Versammlung. Ich bin nicht sicher, ob du sie unbedingt mitmachen solltest. Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit. Der Vogelmann hat ebenfalls Angst um dich. Vielleicht solltest du es wirklich nicht tun.«
»Ich muß.«
»Warum?«
Er starrte ins Feuer. »Weil das alles meine Schuld ist. Ich bin verantwortlich. Durch meinen Fehler hat der Schleier einen Riß bekommen. Das hat Shota jedenfalls gesagt. Meine Schuld. Ich habe ihn verursacht.«
»Darken Rahl hat den Riß verursacht … irgendwie.«
»Und ich bin ein Rahl.«
Kahlan sah zu ihm hinüber, doch er wich ihrem Blick aus. »Die Schuld des Vaters, weitergegeben an den Sohn?«
Er lächelte dünn. »Ich glaube nicht an dieses alte Geschwätz. Aber vielleicht ist doch ein Fünkchen Wahrheit dran.« Er sah sie an. »Weißt du noch, was Shota gesagt hat? Daß nur ich den Schleier flicken kann? Vielleicht muß ich ihn deswegen flicken, weil Darken Rahl ihn mit Hilfe der Magie der Ordnung zerrissen hat — und weil ich mich eingemischt habe.«
Sie sah den Widerschein des Feuers in seinen Augen flackern. »Und deshalb glaubst du … was? Daß ihn auch ein Rahl flicken muß, weil ein Rahl ihn zerrissen hat?«
Er zuckte mit den Achseln. »Kann sein. Das würde erklären, warum nur ich ihn schließen kann. Vielleicht ist es nicht der wahre Grund, aber es ist der einzige, der mir einfällt.« Er mußte lächeln. »Ich bin froh, eine kluge Frau zu bekommen.«
Sie schmunzelte. Es machte sie glücklich, ihn lächeln zu sehen. »Diese kluge Frau sieht jedenfalls nicht ganz ein, wieso das der Grund sein sollte.«
»Vielleicht ist er es auch nicht, aber es ist eine Möglichkeit, die ich in Betracht ziehen muß.«
»Und warum dann die Versammlung?«
Seine Augen leuchteten aufgeregt, als er sie mit seinem jungenhaften Lächeln anstrahlte. »Weil ich mir alles überlegt habe. Ich habe mir überlegt, was wir tun werden.«
Er veränderte seine Stellung, drehte sich zu ihr und schlug die Beine übereinander. »Morgen abend halten wir die Versammlung ab und finden heraus, was uns helfen könnte. Dann, am nächsten Morgen, wenn alles vorbei ist…« Er umschloß den Drachenzahn mit seiner Faust und hielt ihn ihr hin. Sein Grinsen wurde breiter. »Dann rufe ich Scarlet — hiermit. Auf diese Weise gelangen wir zu Zedd. So kommen wir nach Aydindril, ohne daß mich meine Kopfschmerzen auf der langen Reise über Land behindern. Scarlet fliegt mit Hilfe von Magie, dadurch kann sie große Entfernungen in kurzer Zeit zurückzulegen.
Wir werden fort sein, bevor uns die Schwestern daran hindern können; wenn sie uns folgen wollen, werden sie sehr viel Zeit brauchen. So muß ich ihr Angebot erst einmal gar nicht ablehnen. Ich kann mich zuerst mit Zedd treffen. Er wird wissen, was zu tun ist. Was die Kopfschmerzen betrifft, meine ich. Gleich nach der Versammlung werde ich Scarlet rufen. Sie wird wahrscheinlich fast einen ganzen Tag brauchen, um hierherzukommen.« Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuß. »Und in der Zwischenzeit heiraten wir.«
Ihr Herz machte einen Sprung. »Heiraten?«
»Ja, heiraten. Alles an einem Tag. Übermorgen. Wir werden das alles erledigen und abreisen, bevor der Tag vorüber ist.«
»Oh, Richard … wie gern würde ich das tun. Aber laß es uns gleich machen. Ruf Scarlet sofort. Wir können am Morgen heiraten, wenn sie eintrifft. Ich weiß, daß die Schlammenschen sich für uns beeilen würden. Anschließend treffen wir uns mit Zedd. Er wird wissen, was zu tun ist, und du brauchst keine Versammlung zu riskieren.«
Er schüttelte den Kopf. »Wir brauchen die Versammlung. Shota meinte, nur ich könne den Schleier schließen. Nicht Zedd. Was, wenn er keine Ahnung hat, was zu tun ist? Er hat selbst gesagt, daß er nicht viel über die Unterwelt weiß. Niemand tut das. Niemand kennt sich in der Welt der Toten aus.
Aber die Seelen der Vorfahren kennen sich aus. Um helfen zu können, muß ich so viel wie möglich in Erfahrung bringen. Wir dürfen keine Zeit darauf verschwenden, uns mit Zedd zu treffen, nur um festzustellen, daß er nicht weiß, was man unternehmen kann. Shota hat gemeint, nur ich könne den Schleier schließen. Vielleicht deshalb, weil ich der Sucher bin. Ich muß meine Pflicht tun und die Antworten suchen. Selbst wenn mir die Seelen nicht viel sagen, für Zedd könnten sie eine Bedeutung haben. Vielleicht weiß er dann, was zu tun ist, was ich unternehmen kann.«
»Und wenn wir vor Zedd in Aydindril eintreffen? Wenn wir auf Scarlet reisen, wird sie uns an einem Tag dorthin bringen. Vielleicht ist Zedd dann noch gar nicht da.«
»Und wenn schon. Wir wissen, daß er dorthin unterwegs ist, und werden ihn finden.«
Sie sah ihn einen Augenblick lang an. »Du hast dir das alles schon ganz genau zurechtgelegt, was?«
Er zuckte mit den Achseln. »Wenn irgend jemand meine Ideen untergraben kann, dann du. Hast du einen besseren Vorschlag?«
Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte einen, aber das ist nicht der Fall. Der Plan gefällt mir — bis auf die Versammlung.«
Richards Miene entspannte sich zu einem sanften Lächeln. »Ich möchte dich wirklich gern in dem Hochzeitskleid sehen, das Weselan für dich schneidert. Hat sie es auch rechtzeitig fertig? Wir könnten die Hochzeitsnacht in Aydindril verbringen, in deinem Zuhause.«
Kahlan konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Hat sie. Und eine große Hochzeitsfeier ist gar nicht nötig. Wegen des Festessens für die Versammlung bleibt für die Vorbereitung ohnehin kaum Zeit. Aber der Vogelmann wird uns auch ohne trauen.« Sie sah ihn schüchtern an. »In Aydindril hätten wir ein richtiges Bett. Ein großes, bequemes Bett.«
Er schlang ihr den Arm um die Hüfte und zog sie an sich. Dann drückte er ihr einen sanften Kuß auf die Lippen. Sie wollte gar nicht mehr aufhören, schob ihn aber dann doch sanft von sich und blickte zur Seite.
»Richard … was ist mit den anderen Dingen, von denen Shota gesprochen hat? Dem Kind?«
»Shota hat sich schon einmal geirrt. In vielerlei Hinsicht. Selbst die Dinge, in denen sie recht hatte, haben sich nicht so entwickelt, wie wir erwartet haben. Ich werde dich nicht aufgeben, nur weil sie es sagt. Weißt du noch, was du einmal zu mir gesagt hast? Daß man seinen Weg niemals von einer schönen Frau bestimmen lassen soll, wenn ihr ein Mann die Sicht nimmt? Außerdem können wir vorher mit Zedd sprechen. Er weiß eine Menge über Konfessoren und über die Gabe.«
Sie strich ihm mit dem Finger über die Brust. »Du scheinst auf alles eine Antwort zu haben. Woher bist du eigentlich so klug?«
Er zog sie an sich und küßte sie, stürmischer diesmal.
Sie schmiegte sich an seine Schulter. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, daß er sie in Westland getroffen hatte, als sie von einem Quadron verfolgt wurde. Ein ganzes Leben, nicht bloß ein paar Monate. Sie hatten so viel durchgemacht. Sie war es leid, in Angst zu leben, verfolgt und gejagt zu werden. Es war nicht fair, daß sofort, nachdem es vorbei war, alles wieder von vorn anfing.
Sie gab sich einen Ruck. Es war verkehrt, die Dinge auf diese Weise zu sehen. Das war das Problem und nicht die Lösung. Sie zwang sich, das neue Problem in seinem eigenen Licht zu sehen und nicht im Licht der Vergangenheit.
»Vielleicht wird es diesmal nicht so schwer. Vielleicht können wir es machen, wie du sagst. Wir finden heraus, was getan werden muß, und das war’s.« Sie gab ihm einen Kuß in den Nacken. »Wir sollten jetzt rausgehen, sie warten schon. Außerdem, wenn ich noch länger mit dir hier bleibe, halten wir uns nicht zurück, bis wir in dem bequemen Bett liegen.«
Sie verließen die Stille des Seelenhauses und gingen Hand in Hand durch die engen Gassen zwischen den Häusern des Dorfes. Sie fühlte sich sicher an seiner Seite. Vom ersten Tag an, als er ihr die Hand gereicht hatte, um ihr aufzuhelfen, hatte sie ihn gern bei der Hand gefaßt. Das hatte noch niemand getan: die Menschen hatten Angst vor Konfessoren. Hoffentlich war das alles bald vorbei, damit sie zusammen in Frieden leben konnten. Damit sie Händchen halten konnten, wann immer ihnen danach war, und nicht mehr fortzulaufen brauchten.
Der Trubel der Menschen, das Tanzen, die Unterhaltungen und die Kinder wurden immer lauter, bis die beiden auf das von Feuern erleuchtete freie Feld hinaustraten. Auf offenen, grasbedeckten Plattformen standen Musiker, die sich im Rhythmus der Löffel bewegten, mit denen sie die Rillen ihrer Boldas bearbeiteten, deren eingängige Melodien über das flache Grasland ringsum getragen wurden. Hektische Rhythmen hallten durch das ganze Dorf, wo ihnen andere antworteten oder einfielen. Kostümierte Tänzer zogen im Kreis umher, blieben stehen und drehten sich, sobald einer, springend und stampfend, der Menge aus fröhlichen Kindern und Erwachsenen Geschichten vortanzte. Von den Kochstellen stiegen süßlich duftender Rauch und Gerüche auf, die zu ihnen herüberwehten.
In der Mitte des Platzes loderten gewaltige Feuer donnernd und krachend auf und wärmten sie mit ihrer Hitze. Männer trugen stolz ihre feinsten Felle, Frauen ihre buntesten Kleider. Sie alle hatten sich das Haar ganz frisch mit Schlamm geglättet. Geflochtene Tabletts mit Tavabrot, gerösteten Paprikaschoten, Zwiebeln und langen Bohnen, Kohl, Gurken und Beete, Schalen mit gekochtem Fleisch und Huhn sowie Platten mit Wildschwein und Wildbret wurden von jungen Frauen von den Feuerstellen zu den Menschen hinübergetragen, die sich unter den verschiedenen Schutzdächern versammelt hatten. Das ganze Dorf feierte ein Freudenfest, um die Seelen seiner Ahnen willkommen zu heißen.
Savidlin erhob sich, als sie näher kamen, und lud sie auf die Plattform der Ältesten ein. Er sah würdig aus, mit dem offiziellen Kojotenfell auf seinen Schultern. Der Vogelmann und die anderen Ältesten begrüßten die beiden lächelnd und nickend. Richard hatte sich gerade mit verschränkten Beinen niedergelassen, als die jungen Frauen geflochtene Tabletts und Platten voller Speisen heranschleppten. Sie nahmen Tavabrotstücke und wickelten sie um die Paprikaschoten, vorsichtig darauf bedacht, sie nur mit der rechten Hand zum Mund zu führen. Eine Junge brachte Tonschalen und einen Krug mit Wasser, das leicht mit Gewürzen verfeinert war.
Als sie zu seiner Zufriedenheit versorgt waren, nickte der Vogelmann einer Gruppe von Frauen unter einem nahen Schutzdach zu. Was das bedeutete, wußte Kahlan. Die Frauen waren besondere Köchinnen — die einzigen, denen die Zubereitung der Festmahlspezialitäten gestattet war. Richard verfolgte aus den Augenwinkeln.
wie sich eine von ihnen mit einer geflochtenen Platte Trockenfleisch näherte, welches man säuberlich zu einem Kreis angeordnet hatte. Er ließ sich nicht anmerken, was er dabei empfand.
Wenn er dieses Fleisch nicht aß, würde keine Versammlung stattfinden. Schlimmer noch, es war nicht einfach irgendein Fleisch. Kahlan jedoch wußte, daß er entschlossen war und es irgendwie hinunterwürgen würde.
Die Frauen senkten die Köpfe, hielten die Platte dem Vogelmann hin, dann den anderen Ältesten. Nachdem sich jeder bedient hatte, reichten sie es den Frauen der Ältesten. Einige von ihnen nahmen sich ein Stück. Dann drehten sie sich um und hielten Richard die Platte hin. Er betrachtete sie einen Augenblick lang, dann langte er zu und nahm sich eines der größeren Stücke. Er hielt es zwischen seinen Fingern und betrachtete es. Die Frauen gingen, nachdem Kahlan abgelehnt hatte.
»Ich weiß, es fällt dir schwer«, meinte der Vogelmann zu Richard, »aber du mußt über das Wissen deiner Feinde verfügen.«
Richard riß mit den Zähnen einen großen Bissen heraus. »So ist das nun einmal.« Er kaute und schluckte, ohne eine Regung zu zeigen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet. »Wer ist es?«
Der Vogelmann musterte Richard einen Augenblick, als der sich zu ihm umdrehte. »Es ist der Mann, den du getötet hast.«
»Verstehe.«
Er nahm den nächsten Bissen. Er hatte ein großes Stück ausgewählt und verspeiste den ganzen Brocken, um ihnen seine Entschlossenheit zu beweisen, die Versammlung durchzuführen, und um ihnen zu zeigen, daß er trotz der Warnung der Seelen entschlossen war, bis zum Letzten zu gehen. Kauend beobachtete er die Tänzer und spülte jeden Bissen mit einem Schluck aus seinem Becher hinunter. Die Plattform der Ältesten bildete eine Insel der Ruhe inmitten all der Hektik und des Lärms.
Plötzlich hörte Richard auf zu kauen. Er riß die Augen auf und erhob sich halb. Sein Kopf fuhr zu den Ältesten herum.
»Wo ist Chandalen?«
Sie sahen sich an, nachdem sie einen Augenblick sein Gesicht betrachtet hatten.
Richard sprang auf. »Wo ist Chandalen?«
»Er ist hier irgendwo«, antwortete der Vogelmann.
»Sucht ihn! Sofort! Bringt ihn her!«
Der Vogelmann beauftragte einen in der Nähe stehenden Jäger, ihn zu suchen. Richard sprang ohne ein Wort von der Plattform herunter und lief zum Schutzdach der Festmahlsköchinnen. Er fand die Frau mit der Fleischplatte und nahm sich noch ein Stück.
Kahlan fragte, an den Vogelmann gewandt: »Hast du eine Ahnung, was hier vor sich geht?«
Er nickte ernst. »Er hatte eine Vision, eine Vision, hervorgerufen durch das Fleisch unserer Feinde. Das kommt gelegentlich vor. Deswegen essen wir es — um zu wissen, was unsere Feinde im Herzen tragen.«
Richard war zurückgekehrt und lief wartend vor der Plattform der Ältesten auf und ab.
»Richard, was ist los? Was hast du?«
Er blieb stehen. Er hatte einen aufgeregten Ausdruck im Gesicht. »Es gibt Ärger.« Er ging weiter auf und ab. Sie wollte wissen, was für eine Art Ärger, aber er schien ihre Frage nicht einmal bemerkt zu haben.
Endlich kehrte der Jäger mit Chandalen und seinen Männern zurück.
»Wie kommt Richard mit dem Zorn darauf, nach mir und meinen Männern zu fragen?«
Richard schob ihm das Stück Fleisch hin. »Iß das. Sag mir, was du siehst.«
Chandalen sah Richard in die Augen, als er den Streifen Trockenfleisch verspeiste. Richard lief wieder ungeduldig hin und her, während er mit den Zähnen den nächsten Bissen losriß. Er kaute, rannte hin und her.
Schließlich war seine Geduld am Ende. »Nun? Was siehst du?«
Chandalen wurde aufmerksam. »Einen Feind.«
Richard stieß einen aufgebrachten Seufzer aus. »Wer war dieser Mann? Von welchem Volk stammte er?«
»Er war ein Bantak, aus dem Osten.«
Kahlan sprang auf. »Ein Bantak!« Sie sprang von der Plattform herunter und trat zu Richard. »Die Bantak sind friedliche Leute. Sie würden niemals jemanden angreifen. Das widerspricht ihrem ganzen Wesen.«
»Er war ein Bantak«, wiederholte Chandalen. »Er hatte sich die Augen schwarz gemalt. Er hat uns angegriffen.« Sein Blick suchte Richard. »Das behauptet jedenfalls Richard mit dem Zorn!«
Richard lief weiter auf und ab. »Sie sind auf dem Weg hierher«, murmelte er. Dann blieb er stehen und packte Chandalen bei den Schultern. »Sie kommen hierher! Sie kommen, um die Schlammenschen anzugreifen!«
Chandalen legte die Stirn in Falten. »Die Bantak sind keine Krieger. Es ist, wie die Mutter Konfessor sagt: sie sind eine friedliches Volk. Sie bauen Getreide an, besitzen Schaf- und Ziegenherden. Wir treiben Handel mit ihnen. Der eine, der uns angegriffen hat, muß krank im Kopf gewesen sein. Die Bantak wissen, daß die Schlammenschen stärker sind als sie. Sie würden uns niemals angreifen.«
Richard hörte kaum die Übersetzung. »Holt eure Männer zusammen. Wir müssen sie aufhalten.«
Chandalen musterte ihn zweifelnd. »Wir haben von den Bantak nichts zu fürchten. Sie würden uns niemals angreifen.«
Richard wäre fast aus der Haut gefahren. »Chandalen, es ist deine Aufgabe, unser Volk zu schützen! Ich sage dir, es wird bedroht! Du mußt ein einziges Mal auf mich hören!«
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, versuchte, sich zu beruhigen. »Chandalen, findest du es nicht auch ein wenig eigenartig, daß ein Mann allein uns alle angreifen wollte? Würdest du, bei aller Tapferkeit, auf freiem Feld so viele Männer allein angreifen? Nur mit einem Speer bewaffnet, während die anderen alle Bogen haben?«
Chandalen sah ihn bloß wütend an. Der Vogelmann führte die anderen Ältesten von der Plattform, stellte sich neben Chandalen und blickte Richard an. »Verrate uns, was unser Feind dir offenbart bat. Erzähl, was du gesehen hast.«
»Dieser Mann…« Richard hielt dem Vogelmann das Stück Fleisch vors Gesicht. »Dieser Mann war der Sohn eines Seelenführers.«
Die Ältesten begannen besorgt miteinander zu tuscheln. Der Vogelmann ließ Richard nicht aus den Augen. »Bist du dir sicher? Den Sohn eines Seelenführers zu töten ist ein schweres Verbrechen. Selbst in Notwehr. Es ist dasselbe, als hätte jemand meinen Nachkömmling getötet, wenn ich einen hätte.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Schwer genug, um einen Krieg anzufangen.«
Richard nickte hastig. »Ich weiß. Das war ja ihr Plan. Aus irgendeinem Grund waren sie plötzlich der Ansicht, das Volk der Schlammenschen könnte ihnen gefährlich werden. Um ganz sicherzugehen, haben sie den Sohn ihres Seelenführers hergeschickt, denn sie wußten, daß es ein Zeichen unserer Feindseligkeit wäre, wenn wir ihn töteten. Sie hatten vor, nach seinem aufgespießten Kopf Ausschau zu halten, um zu sehen, ob sie recht hatten. Kehrt er nicht zurück und finden sie den Kopf, dann greifen sie uns an.«
Er fuchtelte erneut mit dem Fleisch vor den Gesichtern der Ältesten herum. »Dieser Mann trug aus irgendeinem Grund Bitterkeit in seinem Herzen. Er wollte, daß es Krieg gibt. Er hat uns angegriffen, weil er wußte, es sogar wollte, daß wir ihn töten, um so den Krieg anzuzetteln. Begreift ihr nicht? Solange das Festmahl andauert, können sie den Lärm bis weit hinaus in die Ebene hören. Sie werden wissen, daß wir nicht darauf vorbereitet sind, uns zu verteidigen. Sie sind auf dem Weg hierher! In diesem Augenblick!«
Die Ältesten lehnten sich alle ein wenig zurück. Der Vogelmann wandte sich an Chandalen.
»Richard mit dem Zorn hat eine Vision von unserem Feind gehabt. Sorge dafür, daß jeder deiner Männer zehn weitere um sich schart. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Bantak unserem Volk Schaden zufügen. Du wirst sie aufhalten, bevor sie unser Dorf erreichen.«
Chandalen blickte Richard an, dann den Vogelmann. »Wir werden sehen, ob seine Vision der Wahrheit entspricht. Ich werde unsere Männer nach Osten führen. Wenn sie kommen, werden wir sie aufhalten.«
»Nein!« schrie Richard, als Kahlan übersetzt hatte. »Sie werden von Norden her kommen.«
»Von Norden!« Chandalen funkelte ihn wütend an. »Die Bantak leben östlich von hier, nicht nördlich. Sie werden aus Osten kommen.«
»Sie werden euch im Osten erwarten. Sie sind überzeugt, daß die Schlammenschen sie töten wollen. Davon gehen sie aus. Sie werden einen Bogen schlagen und dann von Norden her kommen.«
Chandalen verschränkte die Arme. »Die Bantak sind keine Krieger. Solche Taktiken sind ihnen fremd. Wenn sie uns angreifen wollen, wie du behauptest, werden sie auf dem direkten Weg vorrücken. Wie du gesagt hast, werden sie das Festmahl hören und wissen, daß wir nicht vorbereitet sind. Sie haben keinen Grund, diesen weiten Umweg zu machen und von Norden her zu kommen. Es würde sie unnötig aufhalten.«
Richard funkelte ihn wütend an. »Sie kommen von Norden.«
»War das auch Teil deiner Vision?« fragte der Vogelmann. »Hast du das ebenfalls gesehen, als du das Fleisch gegessen hast?«
Richard stieß einen Seufzer aus und sah zu Boden. »Nein, das habe ich nicht in meiner Vision gesehen.« Er fuhr sich durchs Haar. »Ich weiß trotzdem, daß es stimmt. Ich weiß nicht, wieso, aber ich weiß es. Sie kommen von Norden.«
Der Vogelmann wandte sich an Chandalen. »Vielleicht könntest du deine Männer aufteilen. Nimm einige mit nach Osten und einige nach Norden.«
Chandalen schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn sich die Vision als wahr erweist, brauchen wir alle unsere Männer an einem Ort. Ein überraschender Schlag mit allen unseren Männern und mit Glück wird dem Angriff ein Ende bereiten. Wenn sie genug sind, wie Richard zu glauben scheint, könnten sie eine kleine Gruppe überwältigen und über unser Volk herfallen, bevor wir zurückschlagen können. Viele Frauen und Kinder würden getötet werden. Das ganze Dorf könnte fallen. Es ist zu gefährlich.« Der Vogelmann nickte. »Chandalen, man bat uns eine Vision mitgeteilt. Es ist unsere Aufgabe, unserem Volk Schutz zu gewähren. Da in der Vision nicht die Rede davon war, aus welcher Richtung sie kommen, sondern nur, daß sie kommen, werde ich auf dein Urteil als Krieger vertrauen.«
Er legte die Stirn in Falten und beugte sich näher zu dem Mann. »Aber sei dir darüber im klaren, daß es dein Urteil als Krieger sein sollte und nicht dein persönliches.«
Chandalen zeigte keinerlei Regung. »Meiner Ansicht nach werden die Bantak von Osten angreifen.« Er sah kurz zu Richard hinüber. »Wenn sie überhaupt angreifen.«
Richard legte Chandalen die Hand auf die verschränkten Arme. »Chandalen, bitte, hör mir zu.« Seine Stimme war leise und klang besorgt. »Ich weiß, daß du mich nicht magst. Vielleicht sind deine Gefühle berechtigt. Vielleicht hast du recht, wenn du sagst, ich hätte unserem Volk nichts als Ärger gebracht. Auf jeden Fall steht uns jetzt großer Ärger bevor, und er kommt von Norden. Bitte, ich flehe dich an, glaube mir. Das Leben unseres ganzen Volkes hängt davon ab. Hasse mich, soviel du willst, aber laß niemanden wegen dieses Hasses sterben.«
Richard zog das Schwert der Wahrheit und hielt es mit dem Heft nach vorn. »Ich gebe dir mein Schwert. Gehe nach Norden. Wenn ich mich irre und sie von Osten kommen, kannst du mich damit töten.«
Chandalen sah auf das Schwert herab, dann hob er den Kopf und sah Richard ins Gesicht. Ein dünnes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. »Ich werde dir keine Gelegenheit geben, mich zu täuschen. Ich werde nicht zulassen, daß unser Volk nur wegen einer Gelegenheit, dich zu töten, vernichtet wird. Lieber lasse ich dich bei uns leben, als daß mein Volk getötet wird. Ich gehe nach Osten.« Damit machte er kehrt, schritt entschlossen los und rief seinen Männern Anweisungen zu.
Richard stand da und sah ihm hinterher, dann ließ er das Schwert in die Scheide zurückgleiten.
»Der Mann ist ein Narr«, meinte Kahlan.
Richard schüttelte den Kopf. »Er tut nur, was er für richtig hält. Der Wunsch, sein Volk zu schützen, ist größer als der, mich umzubringen. Müßte ich einen Mann aussuchen, der an meiner Seite kämpft, ich würde ihn wählen, sosehr er mich auch haßt. Der Narr bin ich, weil ich ihn nicht dazu bringen konnte, die Wahrheit zu erkennen.« Er drehte sich zu ihr um. »Ich muß nach Norden gehen. Ich muß sie aufhalten.«
Kahlan sah sich um. »Es sind noch ein paar andere Männer hier. Wir werden so viele zusammentrommeln, wie wir können, und -«
Er schüttelte den Kopf und schnitt ihr das Wort ab. »Nein. Es wären nicht genug. Außerdem brauchen wir hier jeden Mann, der einen Bogen oder Speer halten kann, um das Dorf zu verteidigen, falls ich mich irre. Die Ältesten müssen mit dem Festmahl fortfahren. Wir brauchen die Versammlung unbedingt. Das ist das wichtigste. Ich werde allein gehen. Ich bin der Sucher. Vielleicht kann ich sie aufhalten. Vielleicht hören sie auf einen einzelnen Mann und sehen, daß er keine allzugroße Bedrohung darstellt.«
»Also gut. Warte hier. Ich bin gleich zurück.«
»Wieso?«
»Ich muß mein Konfessorkleid anlegen.«
»Du kommst nicht mit!«
»Ich muß. Du sprichst nicht ihre Sprache.«
»Kahlan, ich möchte nicht…«
»Richard!« Sie packte sein Hemd mit ihrer Faust. »Ich bin die Mutter Konfessor! Solange ich etwas zu sagen habe, wird es direkt unter meinen Augen keinen Krieg geben! Du wartest hier!«
Sie ließ sein Hemd los und eilte davon. Die Mutter Konfessor erwartete keine Antwort auf ihre Anweisungen, sie erwartete, daß man sie ausführte. Plötzlich tat es ihr leid, daß sie Richard angeschrien hatte, aber sie war wütend auf Chandalen, weil er nicht hören wollte.
Und sie war wütend auf die Bantak. Sie kannte ihr Dorf und war immer der Meinung gewesen, sie seien ein sanftmütiges Volk. Wo immer ihre Gründe lagen, solange sie in der Nähe war, würde es keinen Krieg geben. Die Mutter Konfessor sollte Kriege verhindern, nicht danebenstehen und zusehen, wie sie angezettelt wurden. Das war ihre Aufgabe, ihre Verantwortung — und nicht Richards.
In Savidlins und Weselans Haus angekommen, streifte sie im Dunkeln und inmitten all des Lärms draußen ihr weißes Konfessorkleid über. Alle Konfessoren trugen gleich geschnittene Kleider: mit einem rechteckigen Halsausschnitt, lang, schlicht und frei von jeglichem Schmuck, dabei samtig glatt und aus schwarzem Stoff.
Nur das der Mutter Konfessor war weiß. Es war eine Hülle der Kraft. In diesem Kleid war sie nicht Kahlan Amnell, sie war die Mutter Konfessor, ein Symbol der Kraft der Wahrheit. Da alle anderen Konfessoren mittlerweile tot waren, ruhte die ganze Last der Verteidigung der Midlands, der Schutzlosen, auf ihren Schultern.
Jetzt fühlte sie sich anders, wenn sie das Kleid trug. Früher war es alltäglich für sie gewesen. Jetzt, nachdem sie Richard kennengelernt hatte, schien die Verantwortung schwerer zu wiegen. Zuvor hatte sie sich bei ihrer Aufgabe auf sich selbst gestellt gefühlt, jetzt jedoch, mit ihm, spürte sie eine engere Verbindung zu den Völkern der Midlands, fühlte sich mehr als eine der Ihren und verantwortlicher für sie. Jetzt wußte sie, wie es war, jemanden zu lieben und Angst um ihn zu haben. Sie würde nicht zulassen, daß irgend jemand einen Krieg anzettelte, nicht, solange sie die Mutter Konfessor war. Dann ging sie durch die Gassen zurück zu den Festlichkeiten.
Die Ältesten standen noch vor ihrer Plattform, wo sie sie verlassen hatte. Richard wartete noch immer. Sie warf ihm seinen Umhang zu und richtete das Wort an die Ältesten.
»Morgen abend findet die Versammlung statt. Sie muß stattfinden. Wir werden rechtzeitig zurück sein.« Dann wandte sie sich an die Frauen. »Weselan, wir möchten am darauffolgenden Tag getraut werden. Tut mir leid, daß wir nicht mehr Zeit für die Vorbereitungen haben, aber wir müssen danach sofort aufbrechen. Wir müssen nach Aydindril. Wir müssen der Bedrohung der Schlammenschen und aller anderen Völker ein Ende machen.«
Weselan lächelte. »Dein Kleid wird fertig sein. Ich wünschte, wir könnten dir ein großes Hochzeitsfest ausrichten, aber wir verstehen dich sehr wohl.«
Der Vogelmann legte ihr die Hand auf die Schulter. »Wenn Chandalen sich täuscht … seid vorsichtig. Die Bantak sind friedfertig, aber vielleicht haben sich die Dinge geändert. Sagt ihnen, daß wir ihrem Volk kein Unheil wünschen. Wir wollen keinen Krieg mit ihnen.«
Kahlan nickte und warf sich im Gehen den schweren Mantel um die Schulter. »Gehen wir.«