58

Die Spiegelbilder der Mutter Konfessor in ihrem weißen Kleid kreisten um die polierten schwarzen Marmorsäulen, als sie die Galerie entlangmarschierte, dem privaten Zugang der Mutter Konfessor zum Ratssaal. Kahlan war eine Stunde vor der Zeit gekommen. Sie hatte vor, vom Obersten Sitz aus das Eintreffen sämtlicher Ratsmitglieder zu beobachten. Sie wollte verhindern, daß sie Absprachen trafen, bevor sie zugegen war.

Als sie die Türflügel aufstieß, blieb sie wie erstarrt stehen. Jeder Ratssitz war besetzt. Auf den Galerien drängten sich die Menschen — nicht nur Offizielle, Verwalter, Personal und Adel, sondern ganz normale Leute: Bauern, Händler, Köche, Fuhrleute, Arbeiter. Männer und Frauen aller Art. Aller Augen ruhten auf ihr, als sie in der Tür stand.

Auf der anderen Seite des Saales hatten die Ratsmitglieder auf ihren Sitzen Platz genommen. Alles war mucksmäuschenstill. Auch auf dem Obersten Sitz saß jemand. Von weitem konnte sie nicht erkennen, um wen es sich handelte, doch sie wußte es ohnehin.

Als Kahlan den geschwungenen Schreibtisch erreichte, stellte sich heraus, daß der Mann auf dem Obersten Sitz nicht der war, den sie erwartet hatte. Auf einer Trage vor dem Podium lag hingestreckt die Leiche von Prinz Fyren. Seine Haut war wachsfarben. Er hatte die Arme verschränkt, seine Hände ruhten auf den blutdurchtränkten Rüschen seines Hemdes. Sein Schwert lag quer über seinem Körper. Jemand hatte Prinz Fyren die Kehle fast bis zur Wirbelsäule aufgeschlitzt.

Kahlan blickte hinauf in die ernsten, dunklen Augen, die auf sie gerichtet waren. Der Mann beugte sich aus der Tiefe des Obersten Sitzes nach vorn und faltete seine Hände auf dem Schreibtisch. Ein kurzer Blick enthüllte, was ihr zuvor nicht aufgefallen war: ein Ring aus Wachen umgab den Saal.

Wütend sah sie zu dem Mann mit dunklem Haar und Bart hinauf. »Runter von meinem Sitz, oder ich bringe Euch eigenhändig um.«

Das Klirren von Schwertern, die gezogen wurden, erfüllte den Saal. Der Mann machte eine knappe Handbewegung, ohne seine dunklen Augen von ihr zu nehmen. Jedes Schwert glitt zögernd zurück in die Scheide.

»Mit dem Morden ist jetzt Schluß für Euch, Mutter Konfessor«, meinte er mit ruhiger Stimme. »Prinz Fyren war Euer letztes Opfer.«

Kahlan runzelte die Stirn. »Wer seid Ihr?«

»Neville Ranson.« Ohne sie aus den Augen zu lassen, drehte er seine Hand nach oben. Ein Ball aus Feuer entzündete sich über seiner Handfläche. »Zauberer Neville Ranson.«

Den Blick weiterhin auf sie gerichtet, schleuderte er den Ball gen Decke. Der stieg gehorsam in die Höhe bis unter die Kuppel, wo er mit einem dumpfen Knall zu tausend Funken zerbarst. Ein verblüfftes Raunen ging durch den Saal.

Zauberer Ranson lehnte sich zurück und zog eine Schriftrolle auf. »Wir haben hier eine große Zahl von Anklagen, Mutter Konfessor. Womit wollt Ihr beginnen?«

Ohne den Kopf zu drehen, suchte Kahlan jenen Teil des Saales ab, der in ihrem Blickfeld lag. Keine Hoffnung zu entkommen. Keine. Selbst wenn der Mann vor ihr kein Zauberer gewesen wäre.

»Da sie sämtlich erdichtet sein werden, spielt das vermutlich keine Rolle. Warum verzichten wir nicht einfach auf die Posse und schreiten gleich zur Hinrichtung?«

Im Saal blieb es totenstill. Zauberer Ranson lächelte nicht. Er zog die Augenbrauen hoch.

»Oh, keine Posse, Mutter Konfessor, sondern ernsthafte Vorwürfe. Wir sind hier, um sie auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen. Im Gegensatz zu den Konfessoren widerstrebt es mir, einen Unschuldigen hinzurichten. Ehe wir hier und heute fertig sind, wird jeder im Saale die Wahrheit über Euren Verrat erfahren haben. Ich will, daß die Menschen das volle Ausmaß Eurer ekelhaften Tyrannei erkennen.«

Kahlan verschränkte die Hände und stand aufrecht da. Sie hatte ihre Konfessorenmiene aufgesetzt. Die Leute beugten sich alle ein Stück vor.

»Da die Liste lang ist«, sagte Ranson, »beginnen wir vielleicht am besten mit dem ernstesten Anklagepunkt.« Er blickte kurz nach unten. »Verrat.«

»Seit wann ist es Verrat, das Volk der Midlands zu verteidigen?«

Zauberer Ranson hämmerte mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. »Das Volk der Midlands verteidigen! Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich einen derartigen Unflat aus dem Munde einer Frau gehört!« Er strich die hellbraune Robe über seinem Bauch glatt und nahm wieder Platz. »Eure ›Verteidigung‹ des Volkes bestand darin, es in einen Krieg zu stürzen. Ihr verurteilt Tausende zum Tod, nur weil Ihr fürchtet, jemand anderes als Ihr selbst könnte die Herrschaft übernehmen. Die Herrschaft mit der einstimmigen Zustimmung des Rates, wie ich hinzufügen möchte.«

»Sie kann wohl kaum einstimmig sein, wenn die Mutter Konfessor anderer Meinung ist.«

»Anderer Meinung aufgrund ihrer eigenen, selbstsüchtigen Beweggründe.«

»Und wer soll Eurer Ansicht nach die Midlands beherrschen? Kelton? Ihr selbst?«

»Der Retter der Menschheit. Die Imperiale Ordnung.«

Ein Kribbeln kroch Kahlans Beine hoch. Kahlan war, als bräche die Kuppel über ihrem Kopf zusammen. Vor ihren Augen begann sich alles zu drehen. Sie glaubte, sich gleich hier, vor allen Menschen, übergeben zu müssen. Sie zwang ihren Magen, sich zu beruhigen.

»Die Imperiale Ordnung! Die Imperiale Ordnung hat Ebinissia in Schutt und Asche gelegt! Sie zerschlägt jeden Widerstand, um selbst die Herrschaft an sich zu reißen.«

»Lügen. Die Imperiale Ordnung hat sich der Herrschaft der Güte verschrieben. Man wünscht nichts weiter, als Euren mörderischen Absichten ein Ende zu machen.«

»Güte! Diese Schlächter haben die Menschen in Ebinissia vergewaltigt und hingemetzelt!«

Ranson lachte leise in sich hinein. »Ich bitte Euch, Mutter Konfessor. Die Imperiale Ordnung hat niemanden ermordet.« Er wandte sich an einen Mann, den Kahlan nicht kannte. »Ratsmann Thurstan, ist dem Sitz Eurer Krone von irgend jemandem Schaden zugefügt worden?«

Der Mann mit den hängenden Wangen tat überrascht. »Ich bin erst vor zwei Tagen aus der wundervollen Stadt Ebinissia eingetroffen, und dort weiß niemand, daß er abgeschlachtet worden ist.«

Die Menge fiel in sein Lachen ein. Ranson lächelte Kahlan gereizt an.

»Habt Ihr etwa erwartet, wir hätten keine Zeugen, die Eure grotesken Geschichten bloßstellen? Hier handelt es sich schlicht um eine Erfindung, die die Angst der Menschen entflammen und sie zu einem Krieg anstacheln soll.«

Ranson schnippte mit den Fingern. Eine Frau in trister, abgetragener Kleidung kam herein und blieb etwas seitlich stehen. Ranson erklärte ihr freundlich, sie brauche keine Furcht zu haben und solle ihre Geschichte erzählen. Die Frau erzählte, wie ihre Kinder hungrig zu Bett gehen müßten, weil sie kein Geld habe. Sie sagte, man habe sie zur Prostitution gezwungen, damit sie ihre Kinder ernähren könne. Kahlan wußte, das war gelogen. Es herrschte kein Mangel an wohltätigen Menschen und Organisationen, die jedem halfen, der wirklich bedürftig war.

In der nächsten Stunde ließ man einen Zeugen nach dem anderen auftreten, und jeder erzählte eine Geschichte von Hunger und Not und davon, daß der Palast sich weigerte, ihm Geld zu geben, damit er essen und sich kleiden konnte, und daß sich dort niemand darum scherte, ob Kinder verhungerten. Die Menschen auf den Baikonen lauschten aufmerksam und gespannt den traurigen Geschichten und klagten ihr Weh mit den Zeugen.

Kahlan erkannte einige der Leute wieder, die eine Zeugenaussage machten. Sie erinnerte sich, daß ihnen Fräulein Sanderholt früher einmal Arbeit angeboten hatte. Sie hatte Kahlan berichtet, sie hatten nur über die Arbeiten gespottet, die man ihnen aufgetragen hatte. Am Ende hatte Fräulein Sanderholt vieles davon selbst machen müssen.

Zauberer Ranson erhob sich, nachdem der letzte Zeuge seine tränenreiche Geschichte vorgetragen hatte, verneigte sich zu beiden Seiten und sprach zu den versammelten Menschen. »Die Mutter Konfessor verfügt über einen gewaltigen Staatsschatz, und sie hatte die Absicht, ihn zur Finanzierung eines Krieges gegen jene Völker der Midlands zu benutzen, die sich von ihrer Herrschaft befreien wollten. Zuerst stiehlt sie euch und euren Kindern das Essen vom Mund, und dann, um zu verhindern, daß ihr über den nagenden Hunger in euren Mägen nachdenkt, erfindet sie einen Feind und bricht mit eurem hartverdienten Geld, das sie für ihre jetzt schon reichen Freunde gestohlen hat, einen Krieg vom Zaun.

Während ihr hungrig seid, läßt sie es sich schmecken! Während ihr Kleidung braucht, kauft sie Waffen! Während eure Söhne in der Schlacht verbluten, läßt sie es sich im Schoß des Luxus wohl ergehen! Beschuldigt man Mitglieder eurer Familien ungerechterweise eines Verbrechens, zwingt sie sie mit ihrer Magie dazu, Verbrechen zu gestehen, die sie nicht begangen haben, damit der Protest gegen ihre Tyrannei verstummt!«

Menschen weinten. Ein paar schrien beim letzten Teil gequält auf. Andere verlangten wütend nach Gerechtigkeit. Kahlan bekam erste Zweifel, ob man sie enthaupten würde. Dieser Mob riß sie vermutlich in Stücke, bevor sie es bis zum Schafott geschafft hatte.

Ranson breitete vor den versammelten Menschen die Arme aus. »Als Vertreter der Imperialen Ordnung verfüge ich, daß die Menschen das bekommen, was sie wirklich brauchen. Der Staatsschatz von Aydindril wird seiner bestmöglichen Verwendung zugeführt. Er wird den Unterdrückten zurückgegeben werden. Jeder Familie soll pro Monat ein Goldstück zustehen, um die Kinder zu kleiden und zu ernähren. Unter der Herrschaft der Imperialen Ordnung wird es keinen Hunger geben.«

Im riesigen Saal brach Jubel aus. Der wilde Beifall und die Hurrarufe hielten gute fünf Minuten lang unvermindert an. Ranson setzte sich, legte die Fingerspitzen aneinander und lauschte seiner Verherrlichung. Dabei ließen weder Kahlan noch er sich auch nur für einen Moment aus den Augen.

Kahlan wußte, daß die Härten dieses Lebens nicht so einfach zu beseitigen waren. Scheinbare Mildtätigkeit konnte in Wahrheit grausam sein. In spätestens sechs Monaten mußte die Kasse leer sein, rechnete sie. Sie fragte sich, was dann im siebten Monat geschehen würde, wenn das Geld ausgegeben war und die Menschen längst aufgehört hatten, zu arbeiten und zu pflanzen, um für sich selbst zu sorgen. Dann kam es mit Sicherheit zu Hunger und Elend — unter dem Deckmantel der Großzügigkeit.

Endlich ließ der Lärm nach, und es wurde still. Ranson beugte sich vor.

»Man kann unmöglich sagen, wie viele Menschen auf Euren Befehl hin gehungert haben oder verhungert und im Krieg umgekommen sind, Mutter Konfessor. Offenkundig ist, Ihr seid des Verrats an den Völkern der Midlands schuldig. Ich sehe keinen Grund, die Beweisaufnahme auf Wochen zu verlängern, obwohl wir dies könnten.« Die anderen Ratsmitglieder taten mit Zurufen ihre Zustimmung kund. Ranson schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Des ersten Punktes also schuldig: des Verrats.«

Die Menschen jubelten erneut. Kahlan stand mit durchgedrücktem Rükken da, hatte ihre Konfessorenmiene aufgesetzt. Ranson verlas Anklagepunkte, bei denen sie es kaum für möglich hielt, daß jemand sie vortrug, ohne eine Miene zu verziehen. Zeugen traten vor und bezeugten Greueltaten, über die nach Kahlans Ansicht jeder hätte lachen müssen, der gesunden Menschenverstand besaß. Doch es lachte niemand.

Menschen, die sie noch nie gesehen hatte, gaben intime Kenntnisse dessen preis, was Konfessoren angeblich insgeheim taten. Ein Kloß setzte sich in Kahlans Hals fest, als sie hörte, was die Leute von ihr dachten. Die Menschen plapperten irrationale Ängste und Gerüchte über jede Art von Ungeheuerlichkeit nach, die angeblich von Konfessoren begangen wurden und ganz besonders von der Mutter Konfessor.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie, wie auch die anderen Konfessoren, alles dafür geopfert, die Menschen zu beschützen, und die ganze Zeit über hatten sie diese Ungeheuerlichkeiten von ihr geglaubt. Als sie einen Zeugen erklären hörte, Konfessoren müßten regelmäßig Menschenfleisch verspeisen, um ihre magische Kraft zu erhalten, rechnete Kahlan damit, man werde über diesen Vorwurf lachen. Statt dessen rissen die Menschen die Augen auf und beugten sich entsetzt vor. Sie biß sich auf die Innenseite ihrer Wangen, um nicht in Tränen auszubrechen, weniger, weil man ihr solche Dinge zur Last legte, sondern weil die Menschen sie dieser Dinge überhaupt für fähig hielten.

Schließlich gab Kahlan es auf zuzuhören. Während Ranson weiter Anklagepunkte auflistete, Zeugen aufrief und der Rat sie eines Vorwurfs nach dem anderen für schuldig befand, dachte sie an Richard. Sie versuchte sich all die Augenblicke in Erinnerung zu rufen, die sie mit ihm verbracht hatte, all die Male, die er sie berührt hatte. Sie versuchte, sich an jeden einzelnen Kuß zu erinnern.

»Ihr findet das also amüsant?« fuhr Ranson sie an.

Kahlan hob den Kopf. Sie merkte, wie sie lächelte. »Was?«

Etwas seitlich stand eine Frau und weinte in ihr Taschentuch. Kahlan sah sie blinzelnd an, dann blickte sie zu Ranson hoch.

»Tut mir leid, ich nehme an, ich habe ihren Auftritt verpaßt.«

Die Menge stimmte ein wütendes Murren an. Ranson lehnte sich in seinem Sessel zurück und schüttelte angewidert den Kopf.

»Schuldig der Ausübung der Magie von Konfessoren an Kindern.«

»Was? Habt Ihr den Verstand verloren? An Kindern?«

Ranson zeigte mit der Hand auf die Frau, die daraufhin in wildes Schluchzen ausbrach. »Sie hat gerade ausgesagt, ihr Kind sei verschollen. Sie hat erzählt, anderen Frauen seien ebenfalls Kinder abhanden gekommen, und es sei allgemein bekannt, daß die Kinder entführt worden seien, damit Konfessoren ihre Magie an ihnen üben können. Als Zauberer kann ich dies nur bestätigen.« Die Menge heulte wütend auf.

Kahlan sah fassungslos zu ihm hinauf. »Ich habe Kopfschmerzen. Warum hackt Ihr meinen Kopf nicht einfach ab?«

»Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Mutter Konfessor? Nicht wohl, weil die Menschen Gelegenheit erhalten, ihrer Unterdrückerin gegenüberzutreten und das ganze Ausmaß ihrer scheußlichen Verbrechen zu erfahren?«

Kahlan behielt ihre Konfessorenmiene bei, um nicht in Tränen auszubrechen. »Mir tut bloß leid, daß ich mein ganzes Leben den Menschen der Midlands hingegeben habe. Hätte ich gewußt, wie undankbar sie sind und welchen Unfug sie glauben, nach allem, was ich für sie geopfert habe, wäre ich egoistischer gewesen und hätte sie echter Tyrannei überlassen.«

Ranson blickte finster auf sie herab. »Ihr habt Euer ganzes Leben lang dem Hüter zugearbeitet.« Erneut heulte die Menge entsetzt auf. »Ihm dient Ihr. Dafür arbeitet Ihr. Ihr opfert die Seele Eures Volkes Eurem Herrn und Meister, dem Hüter der Unterwelt.«

Auf den Baikonen schrien Menschen entsetzt auf. Wütende Schreie und Rufe nach Rache hallten unter der Kuppel wider. Die Fäuste schüttelnd, versuchte die Menschenmenge im Hauptteil des Saales nach vorn zu drängen, doch die Wachen breiteten die Arme aus und hielten sie zurück. Ranson hob die Hände und bat um Ruhe.

Kahlan ließ ihren Blick über die Menschen zu beiden Seiten schweifen.

»Ich überlasse euch der Imperialen Ordnung«, rief sie mit lauter Stimme. »Ich mühe mich nicht länger ab, um euch zu retten. Ihr werdet für eure gedankenlose Bereitschaft, diese Lügen zu glauben, bestraft werden. Bestraft durch das, was eure eigenen egoistischen Wünsche euch bringen. Ihr werdet die Qualen noch bedauern, auf die ihr euch so bereitwillig eingelassen habt. Glücklicherweise werde ich dann tot sein und nicht in Versuchung kommen, euch zu helfen. Ich bedauere bloß, auch nur eine Träne für euer Leiden vergossen zu haben. Zum Hüter mit euch allen!«

Kahlan funkelte den spöttisch grinsenden Zauberer Ranson wütend an. »Macht schon! Schlagt mir den Kopf ab! Ich bin diese Verhöhnung der Wahrheit leid! Ihr und Eure Imperialer Ordnung habt gewonnen. Tötet mich, damit ich aus diesem Leben erlöst werde und in die Welt der Seelen eintreten kann, wo ich nicht leiden muß, um jemandem zu helfen. Ich gestehe alles. Richtet mich hin. Ich bin in allen Punkten schuldig.« Ihr Blick fiel auf den toten Körper zu ihren Füßen. »Bis auf die Ermordung dieses keltonischen Schweins. Ich wünschte, ich hätte ihn getötet, aber leider kann ich dieses Verdienst nicht für mich in Anspruch nehmen.«

Ranson zog die Augenbrauen hoch. »Eine Lügnerin bis zum Schluß, Mutter Konfessor? Nicht einmal über diesen Mord könnt Ihr die Wahrheit zugeben?«

Lady Ordith betrat den Saal, die Nase in die Luft gereckt, und bezeugte, sie habe erst am Abend zuvor gehört, wie Kahlan Prinz Fyren bedroht hätte. Der gesamte Rat bekundete laut und deutlich, auch sie hätten gehört, wie sie gedroht habe, ihm die Kehle durchzuschneiden.

»Das ist Euer Beweis?« fragte Kahlan.

Ranson machte eine Handbewegung zur Seite hin. »Schafft die Zeugin rein. Ihr seht, Mutter Konfessor, wir kennen die Wahrheit. Eine Eurer früheren Freundinnen wollte dabei helfen, die Wahrheit über Euch zu verschleiern, daher mußten wir zum Äußersten greifen, bis sie mit uns zusammenarbeitete, doch am Ende tat sie es.«

Man führte das zitternde Fräulein Sanderholt in den Saal. Zu beiden Seiten ihres gebeugten, dürren Körpers standen Wachen. Ihr Gesicht war ausgezehrt, ihre roten Augen wirkten durch die dunklen Ränder unter ihnen schwer. Ihre gewohnte Lebendigkeit war dahin. Sie schwankte leicht und erweckte den Eindruck, als könne sie sich ohne fremde Hilfe kaum auf den Beinen halten.

Fräulein Sanderholt hielt ihre verstümmelten Hände weit vor den Körper, aus Angst, sie könnten irgendwo anstoßen. Man hatte ihr sämtliche Fingernägel mit der Zange ausgerissen, Kahlan kam die Galle hoch.

Neville Ranson blickte mit versteinerter Miene auf die Frau herab. »Erzählt uns, was Ihr über diesen Mord wißt.«

Fräulein Sanderholt sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken.

Sie biß sich auf die Unterlippe. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Es war offenkundig, daß sie nicht sprechen wollte.

Ranson schlug mit der Faust krachend auf den Tisch. »Redet! Oder wir verurteilen Euch, weil Ihr die Mörderin gedeckt habt!«

»Fräulein Sanderholt«, sagte Kahlan leise. Der Blick der Frau ging zu ihr. »Ich kenne die Wahrheit, und Ihr kennt die Wahrheit — das ist alles, was zählt. Diese Leute werden tun, was immer sie sich in den Kopf gesetzt haben, mit oder ohne Euer Dazutun. Ich will nicht, daß Ihr meinetwegen leidet. Bitte sagt ihnen, was sie hören wollen.«

Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Aber…«

Kahlan drückte den Rücken durch. »Fräulein Sanderholt, als Mutter Konfessor befehle ich Euch, gegen mich auszusagen.«

Ein winziges Lächeln zuckte über Fräulein Sanderholts Gesicht. Sie drehte ihr Gesicht der Ratsversammlung zu. »Ich habe gesehen, wie die Mutter Konfessor sich von hinten an Prinz Fyren herangeschlichen hat. Sie hat ihm die Kehle durchgeschnitten, bevor er überhaupt merkte, daß sie da war. Sie ließ ihm keine Chance, sich zu verteidigen.«

Ranson lächelte von oben herab und nickte. »Vielen Dank, Fräulein Sanderholt. Ihr wart ihre Freundin, und doch seid Ihr vorgetreten und habt Euch bereit erklärt auszusagen, weil Ihr wolltet, daß der Rat und das Volk die Wahrheit erfahren?«

Noch mehr Tränen strömten über ihr Gesicht. »Ja. Ich habe sie geliebt, und doch mußte ich den Menschen die Wahrheit über ihr mörderisches Wesen sagen.«

Nachdem man sie hinausgeführt und der Rat Kahlan einstimmig für schuldfähig befunden hatte, erhob sich Ranson und bat mit einem Handzeichen um Ruhe, bevor er das Wort an die Versammlung richtete.

»Die Mutter Konfessor wurde in allen Punkten für schuldig befunden!« Alles grölte und brüllte seine Zufriedenheit heraus. Man schrie nach sofortiger Exekution. »Die Mutter Konfessor wird hingerichtet werden, jedoch nicht heute.« Verärgert hob er angesichts der Proteste die Hand. Die Menge verstummte. »Sie hat Verbrechen gegen alle Völker begangen. Alle müssen Gelegenheit erhalten, davon zu erfahren, daß hier dem Recht Geltung verschafft wird. Sie müssen Gelegenheit erhalten, der Enthauptung beizuwohnen. Die Hinrichtung wird in ein paar Tagen stattfinden, damit jedem, der durch diese Kriminelle zu Schaden gekommen ist, Gelegenheit gegeben wird, der Hinrichtung beizuwohnen.«

Neville Ranson stieg vom Podium herunter. Er blieb vor ihr stehen und sah ihr in die Augen. Er sprach leise, zu ihr, nicht zur Menge.

»Ihr denkt daran, Eure Kraft bei mir einzusetzen, Mutter Konfessor?«

Genau daran hatte sie gedacht: Ihre Kraft einzusetzen und dabei zu sterben. Doch sie sagte nichts.

Ransons Lächeln war kalt und grausam. »Dazu werdet Ihr keine Gelegenheit haben. Ich werde Euch drei Dinge nehmen. Erstens Eure Kraft und ihr Symbol. Zweitens Eure Würde. Drittens Euer Leben.«

Kahlan stürzte sich auf ihn. Er stand da, die Hände gefaltet, und verfolgte, wie sie sich nur zentimeterweit bewegen konnte, bevor sie in einer Verdickung der Luft feststeckte, die sie gefangenhielt. Erfolglos kämpfte sie gegen die übermächtige Kraft an.

Der Zauberer hob die Hände. Kahlan sah einen Blitz. Sie schrie auf, als sie einen kalten Schock spürte, der ihren gesamten Körper durchflutete. Es war, als wäre sie nackt in einen eiskalten Fluß gesprungen. Sie zitterte heftig. Die beißende Kälte trieb ihr die Tränen in die Augen. Der kalte Schmerz schien nicht mehr schlimmer werden zu können, tat es aber doch.

Es war, als würde ihr Innerstes auseinandergerissen, als würde ihr das Herz aus der Brust gezerrt. Sie schrie vor Schmerzen. Benommen vom Schock, stellte sie fest, daß sie auf den Knien lag. Ranson hielt seine Hände über ihren Kopf.

Als der Schmerz nachließ, überkam sie ein kribbelndes Gefühl von Panik.

Ihre Kraft war verschwunden.

Wo sie sie zuvor immer gespürt hatte, meist ohne sich ihrer bewußt zu sein, spürte sie jetzt eine tiefe Leere.

So oft hatte sie sich gewünscht, sie los zu sein, doch niemals war ihr klargewesen, wie es ohne ihre Magie sein würde. Sie schrie erneut auf. Tränen strömten ihr angesichts der Trostlosigkeit über die Wangen. Sie fühlte sich nackt vor diesem Mob.

Sie zwang sich, die Tränen zurückzuhalten. Diese Leute sollten die Mutter Konfessor nicht weinen sehen. Nein — diese Leute sollten Kahlan Amnell nicht weinen sehen.

Ranson zog Prinz Fyrens Schwert aus seiner Scheide. Er trat hinter sie. Er packte ihr Haar mit seiner Faust und riß es fest nach hinten, während sie auf dem kalten Boden kniete.

Er schnitt ihr das Haar mit dem Schwert ab, kurz, dicht über ihrem Halsansatz. Das Geschorenwerden war fast ein ebensogroßer Schock wie der Verlust ihrer Kraft. Das Haar, das Richard so liebte. Sie verkniff sich ihre Tränen.

Neville Ranson hielt ihren abgetrennten Haarschopf unter wildem Jubel in die Höhe. Kahlan starrte kniend wie betäubt ins Leere, während ihr Soldaten die Hände auf den Rücken banden. Ranson packte sie am Arm, unterhalb der Schulter, und riß sie auf die Beine.

»Das wäre also das erste, Mutter Konfessor. Soeben wurdet Ihr Eurer Kraft beraubt und ihres Symbols. Wie ich es Euch versprochen habe. Und nun das übrige.«

Kahlan schwieg — es gab nichts zu sagen –, als Ranson und eine Gruppe feixender Wachen sie durch den Palast führten. Sie achtete nicht darauf, wohin man sie schleppte. Sie dachte an Richard und hoffte, er werde nie vergessen, wie sehr sie ihn hebte. Sie verlor sich in Erinnerungen an ihn. Sie ließ die Welt ringsum von sich abfallen. Schon bald würde sie auch die Welt des Lebens fahrenlassen. Die Guten Seelen hatten sie verlassen.

Sie registrierte kaum, was mit ihr geschah. Die Leere, die das Fehlen ihrer Kraft hinterließ, gab ihr das Gefühl, bereits tot zu sein. Erst als sie verschwunden war, wurde ihr bewußt, wieviel ihr die Magie bedeutete, wie sehr sie ein Teil von ihr war. Sie fragte sich, ob diese trostlose Trägheit der Normalzustand der Menschen ohne diese Kraft war. Ohne die Magie zu leben, war für sie unvorstellbar.

Jetzt sehnte sie den Tod herbei, um diesem Gefühl der Leblosigkeit ein Ende zu machen. Allein Richard hatte sie zusammen mit ihrer Kraft akzeptiert. Sie selbst hatte sie nie völlig akzeptiert, aber Richard hatte es getan. Jetzt war es zu spät. Den Verlust ihrer Magie betrauerte sie mehr als den ihres Lebens. Jetzt wußte sie, was die anderen Geschöpfe der Magie empfanden, wenn ihnen dies geschah. Sie trauerte auch um sie.

Ranson packte ihren Arm und riß sie zurück, in die schreckliche Gegenwart zurück. Vor einer Eisentür in einem schwach beleuchteten Gang blieb sie stehen. Eine Wachen bearbeitete das rostige Schloß an der Eisentür. Kahlan erkannte die Tür wieder. Hier unten hatte sie Beichten entgegengenommen.

»Und nun zu meinem zweiten Versprechen, Mutter Konfessor«, sagte Ranson mit einem spöttischen Grinsen. »Jetzt werdet Ihr Eurer Würde beraubt.«

Kahlan stockte der Atem, als er mit der geballten Faust nach dem Rest ihrer Haare griff und ihren Kopf nach hinten zog. Während sie hilflos war, weil man ihr die Hände schmerzhaft fest hinter dem Rücken gefesselt hatte, weil er ihr Haar in der Faust hielt, küßte Ranson sie auf den Hals.

Genau dort, wo Darken Rahl sie auf den Hals geküßt hatte.

Dasselbe Grauen wie damals schoß ihr durch den Kopf, als Darken Rahl sie an derselben Stelle geküßt hatte. Sie schüttelte sich voller Abscheu, unter dem Grauen ihrer Visionen. Vor ihrem inneren Auge sah sie die jungen Frauen von Ebinissia, nur diesmal war sie selbst eine von ihnen.

»Ich würde Euch höchstpersönlich vergewaltigen«, flüsterte Ranson ihr ins Ohr, »aber Euer Ehrgefühl widert mich an.«

Die Tür ging kreischend auf, und ohne ein weiteres Wort stieß Ranson sie hindurch und in die Kerkergrube.

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