54

Sie begannen den Abstieg in die Gewölbe des Palastes der Propheten. Die Treppenhäuser in den oberen Stockwerken waren elegant. Weiter unten waren die Treppen dann aus praktischem Stein, dessen Vorderkanten glatt und abgetreten waren. Dienstmädchen, die er in den oberen Stockwerken bemerkt hatte, waren nun nirgends mehr zu sehen.

Getäfelte Wände wichen nackten Mauern. An manchen Stellen mußte er sich unter dicken Balken hindurchducken. An den Wänden hingen keine Lampen mehr, statt dessen beleuchteten Fackeln in großen Abständen den Weg. Einige der Gänge waren naß vom Sickerwasser.

»Was befindet sich in diesen Gewölben?« wollte Richard wissen.

»Die Bücher der Prophezeiungen. Außerdem Geschichtsbücher und Aufzeichnungen des Palastes.«

»Wieso befinden sie sich hier, so weit unten?«

»Aus Sicherheitsgründen. Prophezeiungen sind für den ungeübten Verstand gefährlich. Alle Novizinnen studieren die Bücher mit den Prophezeiungen, doch nur gewissen Schwestern ist es vorbehalten, sie alle zu lesen und mit ihnen zu arbeiten. Junge Zauberer, bei denen sich herausstellt, daß ihnen ihre Gabe ein Talent für Prophezeiungen verleiht, werden von diesen Schwestern unterrichtet.

Es gibt zwar mehrere junge Männer, die hier unten arbeiten und studieren, doch für die Gewölbe ist Warren das, was Jedidiah oben ist. Jeder Zauberer hat sein Spezialgebiet. Wir werden mit dir arbeiten, um herauszufinden, wo deine angeborene Begabung liegt. Bis wir das herausgefunden haben, wird es schwierig sein, mit deiner Ausbildung Fortschritte zu erzielen.«

»Schwester Verna hat mir ein wenig darüber erzählt. Was glaubst du, wo liegt mein Talent?«

»Gewöhnlich können wir das anhand der Persönlichkeit des Jungen feststellen. Einige arbeiten gern mit den Händen und stellen schließlich magische Gegenstände her. Manche helfen gern Kranken und Verwundeten und werden zu Heilern. So in etwa. Gewöhnlich erkennen wir das.«

»Und ich?«

Sie blickte kurz zu ihm hinüber. »Jemand wie du ist noch keinem von uns begegnet. Wir haben keine Ahnung, noch nicht.« Pashas Miene hellte sich auf. »Aber das kommt noch.«

Eine riesige, runde Tür aus Stein, so dick wie Richard groß war, stand im Dämmerlicht offen. Dahinter lagen Räumlichkeiten, die man aus eben jenem Muttergestein gehauen hatte, auf dem der Palast stand. Den Lampen gelang es nur im geringen Maße, den Ort zu erhellen. Es gab eine Anzahl langer, abgenutzter Tische, auf denen Bücher und Papiere verstreut lagen, sowie lange Reihen mit Regalen an den Wänden. Zwei Frauen saßen an den Tischen, machten sich Notizen, während sie bei Kerzenschein lasen.

Eine von ihnen sah auf und sprach Pasha an. »Was tust du hier unten, Kind?«

Pasha machte einen Knicks. »Wir sind gekommen, um Warren zu besuchen, Schwester.«

»Warren? Wieso?«

Just in diesem Augenblick kam Warren aus dem Dunkel hervorgehastet. »Schon gut, Schwester Becky. Ich habe sie gebeten herzukommen.«

»Nun, beim nächsten Mal sag bitte vorher jemandem Bescheid.«

»Ja, Schwester, das werde ich tun.«

Warren schob sich zwischen die beiden, nahm von beiden einen Arm und führte sie zu den Regalen. Als ihm bewußt wurde, daß er Pasha berührte, riß er seine Hand zurück und wurde rot.

»Du siehst … blendend aus, Pasha.«

»Danke, Maulwurf.« Sie errötete ebenfalls. Dann legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, Warren … ich habe mir nichts dabei gedacht.«

Er lächelte. »Nicht schlimm, Pasha. Ich weiß schon, die Leute nennen mich doch alle Maulwurf. Sie denken, das sei abschätzig, aber für mich ist es ein Kompliment. Weißt du, ein Maulwurf kann seinen Weg im Dunkeln finden, dort, wo andere blind sind. Das ähnelt sehr dem, was ich tue. Ich finde meinen Weg dort, wo andere nichts sehen.«

Pasha seufzte erleichtert. »Ich bin froh, Warren. Maulwurf, hast du schon gehört, daß Jedidiah eine Treppe hinuntergestürzt ist und sich ein Bein gebrochen hat?«

»Tatsächlich?« Er sah ihr suchend in die Augen. »Vielleicht wollte ihm der Schöpfer zeigen, daß man nicht mehr sieht, wohin man läuft, wenn man die Nase zu sehr in die Höhe reckt.«

»Ich glaube, Jedidiah schenkt den Lektionen des Schöpfers keine große Beachtung«, meinte Pasha. »Ich hab’ erzählen hören, er habe einen kostbaren Teppich zu Asche verbrannt.«

Warren hielt ihrem Blick noch immer stand. »Du solltest verärgert sein, nicht Jedidiah. Er hat die widerwärtigen Dinge gesagt. Niemand sollte so etwas zu dir sagen.«

»Normalerweise ist er immer freundlich zu mir, aber ich gebe zu, ich sah wirklich schrecklich aus.«

»Einige dieser Bücher hier sehen für die Leute auch schrecklich aus, doch was zählt, ist das, was drinnen steht, nicht der Staub auf dem Einband.«

Pasha errötete aufs neue. »Trotzdem … danke, Maulwurf.«

Warren blickte Richard an. »Ich wußte nicht, ob du tatsächlich kommen würdest. Die meisten sagen nur, sie kommen, tun es aber nie. Um so mehr freue ich mich. Hier entlang. Ich fürchte, du mußt hier warten, Pasha.«

»Was?« Sie beugte sich vor, und Richard fürchtete, ihre Brüste könnten aus dem Kleid fallen, wenn sie sich nicht wieder aufrichtete. »Ich komme mit.«

Warren riß die Augen auf. »Aber ich muß ihn in eines der hinteren Zimmer bringen. Du bist Novizin. Novizinnen haben keinen Zutritt.«

Sie richtete sich auf und setzte ein freundliches Lächeln auf.

»Maulwurf, wenn eine Novizin dort keinen Zutritt hat, wie dann ein neuer Schüler?«

Warren kniff nun die Augen zusammen. »Er steht in den Prophezeiungen. Wenn die Prophezeiungen es für richtig halten, über ihn zu schreiben, kann es kaum in ihrer Absicht liegen, daß er sie nicht liest.«

Hier unten in seinem Element wirkte Warren beträchtlich selbstsicherer als zuvor oben im Palast. Er ließ sich nicht von seiner Ansicht abbringen. Pasha strich ihm über die Schulter. Er blickte auf ihre Hand.

»Warren, du bist der Maulwurf, du zeigst anderen den Weg. Ich bin für Richard verantwortlich, ich zeige ihm den Weg. Ich würde meine Pflicht vernachlässigen, wenn ich ihm erlaube, so früh schon ohne mich irgendwohin zu gehen. Du kannst doch bestimmt eine Ausnahme für mich machen. Oder, Warren? Um Richard zu helfen, ihm zu helfen, die Prophezeiung zu verstehen und wie er dem Schöpfer dienen soll. Ist es nicht das, was wirklich wichtig ist?«

Schließlich löste Warren seinen Blick von ihr und meinte, sie sollten warten. Er ging hinüber zu den beiden Schwestern und unterhielt sich leise mit ihnen. Als er schließlich zurückkam, trug er ein Lächeln im Gesicht.

»Schwester Becky meinte, es sei erlaubt. Ich habe ihr erklärt, du verstündest ein wenig Hoch-D’Haran. Sag ihr das, falls sie danach fragt.«

»Was ist Hoch-D’Haran? Warren, soll ich allen Ernstes lügen?«

»Sie wird bestimmt nicht fragen.« Warren wandte sein Gesicht ab. »Ich habe die Lüge für dich erzählt, Pasha, damit du es nicht zu tun brauchst.«

Sie beugte sich näher zu ihm vor. »Du weißt, was geschieht, Warren, wenn man dich beim Lügen erwischt.«

Er lächelte sie gequält an. »Ja, das weiß ich.«

»Und was geschieht dann?« fragte Richard, plötzlich mißtrauisch.

Warren winkte ungeduldig ab. »Keine Sorge. Ihr zwei kommt mit.«

Sie mußten sich beeilen, ihm zu folgen, als er loslief, in die Dunkelheit hinein. Sie gingen an dichtgestellten Reihen von Regalen vorbei, erreichten schließlich eine massive Wand aus Felsgestein. Warren legte die Hand auf eine Metallplatte, und ein Teil der Wand bewegte sich und gab den Blick auf eine Kammer dahinter frei. In dem kleinen Raum standen ein Tisch und vielleicht ein Dutzend Regalreihen. Vier Lampen ließen es drinnen vergleichsweise hell erscheinen.

Drinnen berührte Warren eine weitere Platte. Die Wand glitt zu. Inmitten des Steins herrschte tödliche Stille. Warren zog einen Stuhl für Pasha vor und bat Richard, sich rechts neben sie zu setzen. Schließlich nahm er ein ledergebundenes Buch aus dem Regal und legte es behutsam vor Richard ab.

»Berühr es bitte nicht«, sagte Warren. »Es ist sehr alt und zerbrechlich. In der letzten Zeit ist es häufiger benutzt worden. Laß mich die Seiten umblättern.«

»Wer hat es benutzt?« wollte Richard wissen.

»Die Prälatin.« Ein Lächeln zuckte über Warrens Lippen. »Wann immer es heißt, daß sie nach hier unten kommt, tauchen zuerst ihre beiden großen Wächterinnen auf und treiben jeden hinaus. Sie räumen die Gewölbe, damit die Prälatin sie für sich hat und niemand weiß, was sie liest.«

»Ihre beiden Wächterinnen?« fragte Pasha. »Du meinst die beiden Schwestern in ihrem Vorzimmer?«

»Ja«, antwortete Warren. »Schwester Ulicia und Schwester Finella.«

»Wir haben sie heute gesehen«, meinte Richard. »So groß sind sie mir gar nicht vorgekommen.«

Warren senkte bedeutungsvoll die Stimme. »Solltest du ihnen jemals in die Quere kommen, wirst du anders darüber denken. Dann werden sie dir sehr groß vorkommen.«

Warrens Ausdrucksweise machte Richard nachdenklich. »Wenn der Keller geräumt wird, woher weißt du dann, daß sie dieses Buch gelesen hat?«

»Ich weiß es eben.« Er drehte sich zum Buch auf dem Tisch um. »Ich weiß es. In der letzten Zeit hat sie größtenteils in diesem Raum gelesen. Ich lebe mit diesen Büchern. Ich merke es, wenn jemand sie anfaßt. Siehst du diese Stelle, wo der Staub weggewischt wurde? Die stammt nicht von mir. Sondern von der Prälatin.«

Warren hob den Buchdeckel vorsichtig an und blätterte die vergilbten Seiten um, indem er sie mit beiden Händen behutsam hielt. Auf einer der Seiten, die Warren umblätterte, glaubte Richard etwas zu erkennen: eine Zeichnung. Sie löste eine verschüttete Erinnerung aus. Warren schlug noch weitere Seiten um und hielt schließlich inne. Er beugte sich über Richards Schulter und zeigte ihm etwas.

»Dies ist die Prophezeiung, von der du gesprochen hast.« Warren ging zur rechten Seite des Tisches hinüber. »Dies ist das Original, in der Handschrift des Propheten selbst. Nur wenige haben sie je zu Gesicht bekommen. Verstehst du Hoch-D’Haran?«

»Nein. Für mich sieht das bloß wie Gekritzel aus.« Richard überflog die für ihn bedeutungslose Schrift. »Du hast gesagt, es bestünde Uneinigkeit über ihre Bedeutung.«

Warrens Augen glänzten. »So ist es. Du mußt wissen, dies ist eine sehr alte Prophezeiung, vielleicht so alt wie der Palast, möglicherweise älter. Dies ist das Original der Prophezeiung. Sie ist in Hoch-D’Haran wie alles andere in diesem Raum. Nur sehr wenige verstehen Hoch-D’Haran.«

Richard nickte. »Man hat also immer nur die Übersetzungen gelesen, und es gibt Grund zu der Annahme, daß diese Übersetzungen nicht exakt sind.«

»Du verstehst es«, hauchte Warren. Seine Bewegungen wurden lebendiger. »Ja, ja, du siehst die Schwierigkeit. Die meisten tun das nicht. Die meisten glauben, etwas in der einen Sprache müsse etwas Bestimmtes in einer anderen bedeuten. Um die Übersetzung abzuschließen, entscheiden sie sich für eine Interpretation, die auf ihre Vorstellung von der Bedeutung paßt, doch dabei erzeugen sie einen Sinnzusammenhang, der vielleicht in der Prophezeiung enthalten ist, vielleicht aber auch nicht.«

»Doch das läßt die Möglichkeit unterschiedlicher Bedeutungen außer Betracht«, sagte Richard. »Sie geben ihr in der Übersetzung nur eine einzige Bedeutung. Ihren Doppelsinn können sie nicht erfassen.«

Warren schob sich aufgeregt nach vorn. »Ja! Genau das ist es! Das ist es, was sie nicht begreifen, und deswegen streiten sie über verschiedene Übersetzungen, ganz so, als gäbe es eine richtige und eine falsche. Hier handelt es sich jedoch um Hoch-D’Haran, und Hoch-D’Haran…«

Warrens Worte verklangen. Richard starrte auf die Seite. Die Bilder dort schlugen ihn in ihren Bann. Fast war es, als flüsterten sie ihm etwas zu. Noch nie zuvor hatte er derartige Worte gesehen, doch sie brachten irgend etwas tief in seinem Innern zum Klingen.

Wie angezogen von einem der Wörter, streckte er langsam die Hand aus. Seine Finger kamen auf dem Wort zur Ruhe.

»Dies hier«, flüsterte Richard wie in Trance. Die Linien der Buchstaben schienen sich aus dem Papier zu heben, als wären sie lebendig, und die dunklen Linien schlängelten sich um seinen Finger, zärtlich, streichelnd, mit intimer Vertrautheit. Zusätzlich schwebte ihm das Bild des Schwertes der Wahrheit vor den Augen.

Warrens weißes Gesicht löste sich aus dem Buch. »Drauka«, sagte er kaum hörbar. »Das ist das Wort, das im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Fiter grissa ost drauka — der Bringer des Todes.«

»Und worum geht es bei dieser Auseinandersetzung?« fragte Pasha. »Willst du sagen, daß man diese Worte unterschiedlich übersetzen kann?«

Warren machte eine vage Geste. »Ja und nein. Das ist die wörtliche Übersetzung dieser Worte. Die Bedeutung ist es, die strittig ist.«

Richard zog seine Hand zurück. Er verbannte das Bild des Schwertes aus seinen Gedanken. »Tod. Das kann vieles heißen.«

Warren lag praktisch auf dem Tisch, als er sich vornüberbeugte. »Ja! Du hast es verstanden!«

»Der Tod — das ist doch absolut eindeutig«, wandte Pasha ein.

Warren richtete sich auf und rieb sich die Hände. »Eben nicht, Pasha. Nicht in Hoch-D’Haran. Die Waffe, die die Schwestern mit sich führen, der Dacra, stammt von diesem Wort ab. Drauka bedeutet tot, wenn ich zum Beispiel sage: ›Der Mriswith, den Richard getötet hat, ist tot.‹ Drauka. Tot. Aber es hat auch noch andere Bedeutungen. Drauka steht auch für die Geister der Toten.«

Pasha beugte sich stirnrunzelnd vor. »Soll das heißen, drauka kann in diesem Sinne ›der Bringer der Geister‹ bedeuten?«

»Nein«, sagte Richard. Leise sprach er die zweite Bedeutung des Wortes aus: »Seelen. Der Bringer der Seelen.«

»Ja«, meinte Warren mit leiser Stimme. »Das ist die zweite Interpretation.«

»Wie viele dieser unterschiedlichen Bedeutungen von drauka gibt es?« fragte Pasha.

Drei, überlegte Richard.

»Drei«, sagte Warren.

Richard kannte die dritte. »Die Unterwelt«, sagte er leise, während er auf das Wort drauka auf der Seite starrte. »Der Ort der Toten. Das ist die dritte Bedeutung von drauka

Blaß wie ein Gespenst beugte Warren sich zu ihm hinüber. »Aber du verstehst doch kein Hoch-D’Haran?« Richard schüttelte langsam den Kopf, den Blick auf die Buchseite geheftet. Warrens Zunge schnellte vor und befeuchtete seine Lippen. »Jetzt erzähl mir bitte nicht, daß du d’haranisches Blut in den Adern hast.«

»Mein Vater war Darken Rahl«, sagte Richard leise. »Er war der Zauberer, der D’Hara als letzter regiert hat, und vor ihm saß mein Großvater Panis auf dem Thron.«

»Beim Schöpfer«, flüsterte Warren kaum hörbar.

Pasha legte Richard eine Hand auf den Arm, als sie sich zu den beiden hinüberbeugte. »Unterwelt? Wie kann es Unterwelt bedeuten?«

»Weil«, erklärte Warren, »die Unterwelt die Welt der Toten ist.«

Die Falten auf ihrer Stirn wurden tiefer. »Aber wie kann es ›Bringer der Unterwelt‹ bedeuten? Wie kann man die Unterwelt ›bringen‹?«

Richard starrte leeren Blicks nach vorn. »Indem man den Schleier zerreißt.«

Die Stille hallte durch den steinernen Raum. Pasha blickte von einem Gesicht zum anderen. Schließlich brach sie das Schweigen.

»Aber mir hat man beigebracht, um ein Wort aus einer Fremdsprache in einer Prophezeiung zu übersetzen, das unterschiedliche Nuancen in der Bedeutung aufweist, braucht man es nur im Zusammenhang zu deuten. Eigentlich brauchte man doch nur festzustellen, wie es verwendet wird, um seine Bedeutung zu erschließen.«

Warren zog die Augenbrauen hoch. »Eben darum geht der Streit. In dieser Prophezeiung ist von Dingen die Rede, die sich unter Umständen auf alle drei möglichen Bedeutungen des Wortes drauka beziehen. Je nachdem, welche Bedeutung beabsichtigt war, verändert sich die Bedeutung der Prophezeiung. Aus diesem Grund kann sie nicht mit Gewißheit gedeutet werden. Es ist wie mit einem Hund, der seinem eigenen Schwanz hinterherjagt. Je mehr er es versucht, desto schneller bewegt er sich im Kreis.

Deswegen bin ich auch so versessen darauf, die beabsichtigte Bedeutung des Wortes drauka zu erfahren. Wenn ich die wüßte, dann könnte ich zum ersten Mal den Rest der Prophezeiung korrekt entschlüsseln. Ich wäre der erste in dreitausend Jahren, der sie verstanden hätte.«

Richard schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Nun, wie schon gesagt, ich bin nicht sehr gut im Rätselraten.« Er zwang sich zu lächeln. »Aber ich verspreche, ich werde darüber nachdenken.«

Warrens Miene hellte sich auf. »Würdest du das tun? Ich wüßte es sehr zu schätzen, wenn du mir helfen könntest.«

Richard drückte Warrens Schulter. »Du hast mein Wort darauf.«

Pasha stand auf. »Es wäre besser, wenn wir jetzt mit Richards Unterricht beginnen. Es wird spät.«

»Danke euch beiden, daß ihr gekommen seid. Ich bekomme nur selten Besuch.«

Pasha vorneweg, gingen die drei zur Tür.

Als sie durch die Türöffnung trat, schlug Richard mit der Hand auf die Metallplatte an der Wand.

Die Tür schloß sich mit einem Knirschen. Pasha trommelte mit den Fäusten gegen den Stein, da der Spalt für sie zu schmal geworden war, um umzukehren. Sie rief, sie sollten die Tür aufmachen. Als der Stein sich schloß, wurden ihre Worte abgeschnitten. Um Richard und Warren war es still.

Warren starrte auf die Metallplatte. »Wie hast du das gemacht? Du bist als Zauberer noch blutiger Anfänger. Eigentlich dürftest du noch lange keinen Schutzschild mit deinem Han beeinflussen können.«

Richard wußte keine Antwort, also ging er darüber hinweg. »Erklär mir, was du damit meintest, du wüßtest, was die Schwestern täten, wenn sie dich bei dieser Art von Lüge ertappten.«

Warrens Hand fuhr zu seinem Halsring. »Nun ja, sie würden mir weh tun.«

»Soll das heißen, sie würden die Magie des Halsrings dazu benutzen, dir Schmerzen zuzufügen?«

Warren nickte und krallte seine Faust dabei in seine Robe.

»Tun sie das oft? Uns mit dem Ring Schmerzen zufügen?«

Warren verdrehte die Faust in seiner Robe. »Nein, nicht oft. Doch um Zauberer zu werden, mußt du eine Schmerzensprüfung bestehen. Von Zeit zu Zeit kommen sie und bereiten dir Schmerzen mit dem Rada’Han, um festzustellen, ob du genug gelernt hast, diese Prüfung zu bestehen.«

»Und wie besteht man diese Prüfung?«

»Na ja, ich könnte mir höchstens vorstellen, daß man die Prüfung besteht, wenn man die Schmerzen aushalten kann, ohne sie zu bitten aufzuhören. Sie haben mir nie erklärt, was man tun muß, um zu bestehen.« Er war aschfahl geworden. »Sobald man gelernt hat, die Schmerzen auszuhalten, die sie einem bereiten, tun sie einem noch mehr weh.«

»So etwas Ähnliches habe ich mir fast gedacht. Danke, daß du es mir verraten hast.« Richard strich sich über den Bart. »Warren, ich brauche deine Hilfe.«

Warren wischte sich mit dem Ärmel seines Gewandes über die feuchten Augen. »Wie kann ich dir helfen?«

»Du hast gesagt, es gäbe Prophezeiungen, in denen von mir die Rede ist. Ich möchte, daß du dir alles über mich ansiehst, was du finden kannst. Und über die Türme der Verdammnis und das Tal der Verlorenen. Außerdem muß ich alles über den Schleier wissen, was ich in Erfahrung bringen kann.« Richard deutete auf das Buch, das auf dem Tisch lag. »Dort war eine Zeichnung, ein paar Seiten vor der Prophezeiung. Ein tropfenförmiger Gegenstand. Weißt du, was das ist?«

Warren ging zum Buch und blätterte zurück. »Das hier?«

»Ja, das ist es.« Ihm fiel ein, daß er es an Rachels Hals gesehen hatte, in seiner Vision von ihr und Chase im Tal der Verlorenen. Ein Bild von Zedd erschien vor Richards innerem Auge. Sein Herz schlug schneller. »Das sieht so ähnlich aus wie etwas, das ich mal gesehen habe. Was ist es?«

Warren sah ihn verwirrt an. »Der Stein der Tränen. Was soll das heißen, du hast ihn gesehen?«

»Was ist der Stein der Tränen?«

»Nun, sicher bin ich nicht. Ich müßte darüber nachlesen, aber ich würde mal denken, er könnte etwas mit dem Schleier zu tun haben, vorausgesetzt, drauka müßte als etwas gedeutet werden, das mit der Unterwelt zu tun hat. Wie meinst du das, du hättest ihn gesehen?«

Richard überging die Frage ein zweites Mal. »Warren, ich muß auch über den Stein der Tränen Bescheid wissen sowie über alles, was du über das Volk herausfinden kannst, das früher im Tal der Verlorenen gelebt hat. Die Baka Ban Mana. Ihr Name bedeutet ›die ohne Herrscher‹. Und über den, den sie Caharin nennen.«

Warren starrte ihn sprachlos an. »Das ist eine Menge Arbeit.«

»Wirst du mir helfen, Warren?«

Warren senkte den Blick und zupfte an seiner Robe. »Unter einer Bedingung. Ich komme nie raus aus dem Palast. Nicht, daß mir die Arbeit mit den Prophezeiungen nicht gefällt, versteh mich nicht falsch, aber die Leute denken, ich interessiere mich für nichts anderes. Dennoch würde ich gern mal die Gegend rings um den Palast sehen — die Wälder, die Hügel.«

Er rang die Hände. »Ich habe Angst vor der Weite. Der Himmel ist so weit. Das ist der andere Grund, weshalb ich hier unten bleibe, weil ich mich sicher fühle. Aber ich bin es leid, wie ein Maulwurf zu leben. Ich würde gern den Versuch unternehmen und nach draußen gehen und mir die Welt anschauen. Würdest du, na ja, mir die Landschaft zeigen? Du siehst aus wie jemand, der mit dem Leben unter freiem Himmel vertraut ist. Ich glaube, ich würde mich sicher fühlen, wenn du mich begleitest.«

Richard lächelte ihn freundlich an. »Du hast dir genau den Richtigen ausgesucht, Warren. Ich war Waldführer, bevor all das hier angefangen hat. Ich kenne die Gegend um den Palast noch nicht, aber ich will sie auf jeden Fall erkunden. Es wäre mir ein Vergnügen, dich herumzuführen. Es wäre genau wie in alten Zeiten.«

Warrens Miene hellte sich auf. »Danke, Richard. Ich freue mich darauf, die Welt draußen kennenzulernen. Ich brauche ein wenig Abenteuer in meinem Leben. Ich werde sofort mit dem anfangen, worum du mich gebeten hast, doch die Schwestern geben mir ebenfalls viel Arbeit, daher kann ich diese Nachforschungen nur betreiben, wenn ich Zeit dafür finde. Und ich fürchte, ich muß ehrlich sein, es wird lange dauern. Hier gibt es Tausende von Bänden. Es wird Monate dauern, sich nur richtig einzuarbeiten.«

»Warren, dies ist vielleicht das Wichtigste, was du je untersucht hast. Vielleicht kannst du dir eine Menge Zeit sparen, wenn du mit dem anfängst, was die Prälatin gelesen hat.«

Ein schlaues Lächeln huschte über Warrens Lippen. »Ich dachte, du hättest gesagt, du wärst nicht gut im Rätselraten. Genau das habe ich mir auch überlegt.« Sein Lächeln wandelte sich zu einem besorgten Stirnrunzeln. »Wozu willst du diese Dinge wissen?«

Richard blickte seinem Gegenüber lange prüfend in die blauen Augen. »Ich bin fuer grissa ost drauka. Warren, ich weiß, was es bedeutet.«

Warren krallte sich in den Ärmel von Richards roter Jacke. »Du weißt es? Du kennst die korrekte Übersetzung?« Seine Finger zitterten. »Würdest du sie mir verraten?«

»Wenn du mir versprichst, es niemandem weiterzuerzählen. Jedenfalls im Augenblick nicht.« Warren nickte eifrig. »Bislang war niemand imstande festzustellen, welche der drei Übersetzungen die richtige ist, weil ihnen bei dem Versuch, eine zu rechtfertigen, das Ganze verlorenging.« Warren runzelte die Stirn. Richard beugte sich zu ihm vor. »Sie sind alle richtig, Warren.«

»Was?« sagte er leise. »Wie ist das möglich?«

»Ich habe mit diesem Schwert Menschen getötet. In diesem Sinne bin ich der Bringer des Todes. Das ist die erste Bedeutung von drauka.

Um auch in ansonsten ausweglosen Situationen zu bestehen, wie zum Beispiel im Kampf gegen den Mriswith, habe ich die Magie des Schwertes dazu benutzt, die Seelen derer auf den Plan zu rufen, die es vor mir benutzt haben. Ich habe die Toten herbeigerufen, die Vergangenheit in die Gegenwart geholt. In diesem Sinn bin ich der Bringer der Seelen. Das ist die zweite Bedeutung von drauka.

Was die dritte Bedeutung anbelangt, die Unterwelt, so habe ich Grund zu der Annahme, daß ich den Schleier irgendwie eingerissen habe. Das wäre die dritte Bedeutung von drauka

Warren stockte der Atem.

»Es ist sehr wichtig, daß du mir das Wissen besorgst, um das ich dich gebeten habe. Ich fürchte jedoch, es bleibt mir nicht mehr viel Zeit.«

Warren nickte. »Ich werde es versuchen. Aber ich glaube, du setzt zuviel Vertrauen in mich.«

Richard zog die Augenbrauen hoch. »Ich setze mein Vertrauen in einen Mann, der fähig ist, Jedidiah ein Bein zu brechen.«

»Ich habe Jedidiah nichts getan. Jedidiah ist ein mächtiger Zauberer. Ich würde es niemals wagen, mich einer seiner Kräfte zu widersetzen.«

»Ach, komm schon, Warren. Auf der Schulter deines Gewandes ist noch Asche von dem verbrannten Teppich.«

Warren wischte sich hektisch die Schulter ab. »Da ist keine Asche. Ich sehe keine Asche.«

Richard wartete, bis Warren den Kopf hob. »Und warum wischst du dann an deinem Umhang herum?«

»Nun ich wollte nur … ich…«

Richard legte Warren die Hand auf den Rücken, um ihn zu beruhigen. »Ist schon in Ordnung, Warren. Ich glaube an die Gerechtigkeit. Ich glaube, Jedidiah hat bekommen, was er verdient. Ich werde niemandem etwas verraten. Und du darfst auch niemandem etwas hiervon verraten.«

»Ich muß dich warnen, Richard. Du hast gestern etwas sehr Gefährliches getan, als du den Schwestern gesagt hast, du seist der Bringer des Todes. Dies ist eine wohlbekannte und heiß umstrittene Prophezeiung. Es gibt Schwestern, die glauben, sie bedeutet, daß du jemand bist, der Menschen tötet. Sie werden versuchen, dir Trost zu spenden. Es gibt andere, die glauben, es bedeutet, daß du die Seelen herbeirufst. Sie werden dich studieren wollen.« Er kam ein wenig näher. »Und dann sind da noch jene, die denken, es bedeutet, daß du den Schleier zerreißen und dem Namenlosen dazu verhelfen wirst, uns alle zu verschlingen. Sie können versuchen, dich zu töten.«

»Ich weiß, Warren.«

»Warum hast du ihnen dann erzählt, du seist der, von dem in der Prophezeiung die Rede ist?«

»Weil ich der fuer grissa ost drauka bin. Wenn die Zeit kommt, werde ich jede von ihnen töten, die ich töten muß, um diesen Ring herunterzubekommen. Fairerweise mußte ich sie vorher warnen und ihnen so eine Chance geben.«

Warren legte einen Finger an die Unterlippe. »Aber Pasha würdest du doch nichts tun. Nicht Pasha.«

»Ich hoffe, ich muß niemandem etwas antun, Warren. Mit dem Wissen, mit dem du mir hilfst, brauche ich vielleicht niemandem Schaden zuzufügen. Ich hasse es, der fuer grissa ost drauka zu sein, aber ich bin es nun mal.«

Warrens Augen füllten sich mit Tränen. »Bitte, Pasha würdest du doch nichts tun.«

»Ich mag sie, Warren. Ich finde, sie ist ein wunderbarer Mensch, innerlich — wie du gesagt hast. Ich töte nur, um mein Leben oder das Leben Unschuldiger zu schützen. Hoffentlich wird mir Pasha niemals einen Grund dazu geben, aber du mußt begreifen, daß, wenn ich recht habe und der Schleier eingerissen ist, mehr auf dem Spiel steht als das Leben eines einzelnen. Sei es meines, deines oder Pashas.«

Warren nickte. »Ich habe die Prophezeiungen gelesen. Ich verstehe. Ich werde nach den Dingen forschen, die du brauchst.«

Richard versuchte ihn mit einem freundlichen Lächeln zu beruhigen. »Alles wird gut gehen, Warren. Ich bin der Sucher, ich werde mein Bestes tun. Ich will niemandem etwas antun.«

»Sucher? Was ist das, der Sucher?«

Richard schlug mit der flachen Hand auf die Metallplatte. »Das erkläre ich dir später.«

Warren starrte auf die Platte, als die Tür sich öffnete. »Wie kommt es, daß du das kannst?«

Pasha stand ruhig da und wartete. Man sah ihrem Gesicht an, welche Mühe sie hatte, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen.

»Und was, bitte, sollte das?«

Richard trat durch die Öffnung. »Ein Gespräch unter Jungen.«

Pasha hielt ihn am Arm zurück. »Was soll das heißen ›ein Gespräch unter Jungen‹?«

Richard sah ihr in die warmen, braunen Augen. »Ich habe Warren den Arm verdreht und ihn gezwungen, mir von der Schmerzensprüfung zu erzählen. Du hast nichts davon erwähnt, also mußte ich ihn danach fragen.«

Pasha rieb sich die nackten Arme, als wäre ihr kalt. »Ich nehme keine Prüfungen ab, Richard. Ich bin nur Novizin. Das müssen voll ausgebildete Schwestern tun.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich mag es nicht, wenn Menschen Leid geschieht. Du sollst keine Angst vor etwas haben, das vielleicht erst in langer Zeit stattfindet. Manchmal kann das Warten schlimmer sein als die tatsächliche Erfahrung. Ich wollte nicht, daß du verängstigt warten mußt.«

»Oh.« Richard atmete erleichtert auf. »Nun, das ist wohl ein guter Grund. Ich möchte mich für das, was ich über dich gedacht habe, entschuldigen, Pasha.«

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Sollen wir jetzt gehen und mit dem Unterricht beginnen?«

Wieder oben, gingen sie schließlich durch Flure und mehrere Gebäude, bis sie schließlich das Guillaume-Haus erreichten, wo sich Richards Zimmer befand. Der Stoff von Pashas Kleid raschelte, als sie über die breite Marmortreppe nach oben stiegen. Wände und Säulen waren aus passendem, hellbraun-buntem Marmor.

Es war ein wundervoller Ort mit eleganten Räumlichkeiten, aber er war nicht so eindrucksvoll wie der Palast des Volkes in D’Hara. Bevor er jenes prächtige Bauwerk gesehen hatte, hätte ihn die Pracht dieses Gebäudes in Erstaunen versetzt. Jetzt merkte er sich nur seinen Grundriß und die Lage der einzelnen Gebäude und Räume. Als sie oben durch einen weiteren mit Teppich ausgelegten Flur gingen, sah er mehrere andere junge Männer, die einen Rada’Han trugen. Schließlich kamen sie zu seinem Zimmer.

Richard faßte sie am Handgelenk, als sie nach der Türklinke greifen wollte. Sie sah verwundert auf.

»Drinnen ist jemand«, sagte er.

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