43

Obwohl sein Schwert noch in der Scheide steckte, sog er dessen Magie bereits in sich hinein. Zorn erfüllte ihn. Er rief ihn immer weiter herbei, ließ alle Schranken vor seinem Ansturm fallen.

Er betrat eine ganz eigene, stumme Welt. Eine Welt voll grimmiger Entschlossenheit, der zu sein, der er war.

Der Bringer des Todes.

Schwester Verna erbleichte, als sie sah, wie er Du Chaillu hinter sich herzog, wurde noch bleicher, als sie sah, wie er sich aufführte.

Ohne ein Wort zu sagen schnappte sich Richard seinen Bogen vom Sattel. Vor Anstrengung ächzend, spannte er rasch die Sehne auf den Bogen. Dann riß er zwei Pfeile aus dem Köcher, der an Bonnies Sattel hing. Seine Brust bebte vor Zorn.

Die Menschenmenge hatte sich zu ihm umgedreht. Verwirrte Gesichter tauchten auf, als hinten stehende Männer in die Höhe sprangen, um etwas zu erkennen. Die Frauen in Schwarz blickten ausnahmslos in seine Richtung. Die Königin-Mutter lauerte.

Schwester Vernas Gesicht war mittlerweile leuchtend rot. Das Gemurmel verstummte.

Richard wandte sich an die Königin-Mutter. »Ich habe mit den Seelen gesprochen!«

Langsam schob die Königin-Mutter ihren Handrücken den Pfahl hinauf, zum Glockenseil. Das war das Zeichen, das er brauchte. Sie hatte ihre Chance bekommen. Es war unausweichlich.

Er ließ der Magie in seinem Innern freien Lauf.

Mit einer einzigen, schnellen Bewegung legte Richard einen Pfeil ein. Riß Sehne an Wange. Rief das Ziel herbei. Der Pfeil war fort.

Der Pfeil sirrte durch die Luft. Der Menge stockte der Atem. Bevor der Pfeil sein Ziel erreichte, noch während das Sirren in der Luft lag, hatte Richard bereits einen zweiten Pfeil aufgelegt und auf das Ziel gerichtet.

Mit einem dumpfen, schwirrenden Geräusch bohrte sich der Pfeil satt ins Ziel, genau dorthin, wo Richard ihn hinhaben wollte. Die Königin-Mutter stieß überrascht einen abgehackten Schmerzschrei aus. Der Pfeil durchbohrte die Lücke zwischen den beiden Knochen ihres Handgelenks, nagelte ihren Arm an den Pfahl und verhinderte so, daß sie das Glockenseil ergreifen konnte. Ihre andere Hand bewegte sich auf das Seil zu.

Der zweite Pfeil lag sicher in der unsichtbaren Rille durch die Luft und wartete. »Noch eine Bewegung Richtung Glocke, und der nächste Pfeil durchbohrt dein rechtes Auge!«

Die Schar der Frauen in Schwarz fiel jammernd auf die Knie. Die Königin-Mutter wurde still. Blut rann ihr den Arm hinab.

In seinem Innern toste die Wut wie ein Unwetter. Äußerlich war er aus Stein. »Hör zu, was die Seelen befohlen haben!«

Langsam ließ die Königin-Mutter ihre Hand an ihre Seite fallen. »Dann sprich!«

Richard hielt die Bogensehne nach wie vor an der Wange und hatte nicht die Absicht, den Bogen herunterzunehmen. Sein Pfeil war nur auf einen Menschen gerichtet, sein Zorn auf alle.

Magie brannte in seinem Innern mit ungezügelter Heftigkeit. Die Wucht des Zorns pulsierte durch seine Adern. In der Vergangenheit war sie immer auf einen Feind gerichtet gewesen, auf eine bestimmte Person. Diesmal war es anders. Der Zorn war uneingeschränkt, galt allen Anwesenden, allen, die mit dem Menschenopfer zu tun hatten.

Das machte es noch schlimmer. Es lockte zusätzliche Magie hervor.

Richard wußte nicht, ob es die allumfassende Bedrohung war, die die zusätzliche Magie hervorrief, oder ob es an den Übungen mit Schwester Verna lag. Doch was immer der Grund war, er zog mehr Magie aus dem Schwert als je zuvor, mehr, als er je für möglich gehalten hatte. Die Magie schäumte mit beängstigender Kraft über. Brachte sogar die Luft zum Zittern.

Die Männer ringsum wichen zurück. Die klagenden Frauen verstummten. Das Gesicht der Königin-Mutter hob sich weiß vom Schwarz ihres Kleides ab. Tausend Menschen erstarrten in stummem Entsetzen vor einem einzigen.

»Die Seelen wollen keine Opfer mehr! Damit beweist ihr ihnen keine Ergebenheit, sondern nur, daß ihr töten könnt! Von jetzt an müßt ihr euren Respekt vor den Seelen durch den Respekt vor dem Leben der Baka Ban Mana bekunden. Tut ihr das nicht, werden die Seelen ihrem Zorn Luft machen, indem sie euch vernichten! Nehmt euch ihre Drohung zu Herzen, oder sie werden die Majendie mit Hunger und Tod überziehen!«

Er richtete das Wort an die Männer, die jetzt nach vorn drängten. »Sollte einer gegen mich oder diese Frauen seine Hand erheben, stirbt die Königin-Mutter.« Die Männer sahen sich gegenseitig an, versuchten sich Mut zu machen. »Ihr denkt vielleicht, ihr könnt mich töten«, erklärte er ihnen, ohne sein Ziel auch nur im geringsten aus dem Blick zu lassen, »doch das schafft ihr nicht, bevor die Königin-Mutter stirbt. Ihr habt meinen ersten Schuß gesehen. Meine Hand wird von Magie geführt. Ich verfehle mein Ziel nie.«

Die Männer wichen zurück.

»Laßt ihn!« rief die Königin-Mutter. »Hört, was er zu sagen hat!«

»Ich habe euch bereits erklärt, was die Seelen gesprochen haben. Dem werdet ihr euch beugen!«

Sie war einen Augenblick lang still. »Wir werden die Seelen selbst befragen.«

»Wollt Ihr sie beleidigen? Damit gäbt Ihr zu, daß Ihr nicht ihren Worten folgt, sondern Euren eigenen weltlichen Interessen!«

»Aber wir müssen…«

»Ich bin nicht hier, um in ihrem Namen zu verhandeln! Die Seelen haben mir befohlen, das Opfermesser dieser Frau zu übergeben, damit sie es zu ihrem Volk mitnehmen kann, als Beweis dafür, daß die Majendie sie nicht länger verfolgen.

Als Warnung vor ihrem Zorn werden die Seelen euch die Aussaat fortnehmen, und erst wenn ihr Abgesandte zu den Baka Ban Mana schickt und ihnen erklärt, daß ihr euch den Wünschen der Seelen beugt, werdet ihr eure Früchte pflanzen können. Folgt ihr den Wünschen der Seelen nicht, werdet ihr alle Hungers sterben!

Wir brechen jetzt auf. Entweder gewährt Ihr uns freies Geleit, oder Ihr sterbt auf der Stelle.«

»Wir müssen darüber nachdenken…«

»Ich lasse Euch Zeit bis drei, um mir Euren Entschluß mitzuteilen! Eins, zwei, drei!« Der Königin-Mutter entfuhr ein Laut des Schreckens. Den Frauen in Schwarz verschlug es den Atem. Ein erschrockenes Stöhnen ging durch die Menge. »Wie habt Ihr entschieden?«

Die Königin-Mutter hielt ihre freie Hand in die Höhe und beschwor ihn, seinen Pfeil zurückzuhalten. »Ihr könnt gehen! Ihr habt das Wort der Königin-Mutter, daß ihr unbehelligt unser Land verlassen könnt!«

»Ein weiser Entschluß.«

Ihre Hand schloß sich zur Faust, ein Finger zeigte auf die drei. »Doch dies ist eine Verletzung unserer Übereinkunft mit den weisen Frauen. Das Abkommen ist beendet. Ihr müßt unser Land augenblicklich verlassen. Ihr seid verbannt.«

»So sei es«, sagte Richard. »Aber haltet Euer Wort, sonst werdet Ihr die bitteren Früchte jeder unbedachten Handlung ernten.«

Er lockerte die Sehne. In den Steigbügeln stehend zog er das heilige Messer aus seinem Gürtel und hielt es in die Höhe, so daß alle es sehen konnten.

»Diese Frau wird dies zu ihrem Volk mitnehmen und dort von den Worten der Seelen berichten. Was die Bake Ban Mana anbelangt, so werden sie keinen Krieg mehr gegen die Majendie führen. Ihr werdet zwei Völker sein, die in Frieden miteinander leben! Keines darf dem anderen etwas tun! Beachtet die Worte der Seelen, oder ihr werdet die Konsequenzen tragen müssen!«

Er senkte die Stimme zu einem Flüstern, der Zorn der Magie jedoch trug seine entschlossenen Worte bis in die fernsten Winkel des Platzes, und in der Stille konnte jeder sie verstehen. »Befolgt meine Befehle oder erleidet, was ich über euch bringen werde. Ich werde euch vernichten!«

Magie lag über dem Platz wie Nebel über einem Tal, erdentrückt und doch wirklich, ein greifbares Zeichen seiner Entrüstung, das keinen der Anwesenden unberührt ließ. Alles erzitterte unter der Berührung.

Richard sprang von seinem Pferd. Die Männer wichen erschrocken noch ein paar Schritte weiter zurück. Schwester Verna hatte es vor Wut die Sprache verschlagen. In einem solchen Zustand hatte er sie noch nie gesehen. Sie stand da wie gelähmt, die Hände zu Fäusten geballt.

Richard richtete seinen wütenden Blick, seinen Zorn auf sie. »Steigt auf Euer Pferd, Schwester. Wir brechen auf.«

Ihre Kiefer drohten zu brechen, so sehr preßte sie sie zusammen. »Du bist wahnsinnig! Wir werden nicht…«

»Wenn Ihr mit jemand streiten wollt, Schwester, dann bleibt und streitet mit den Leuten hier. Ich bin sicher, sie werden Euch den Gefallen tun. Ich reite zum Palast, um diesen Halsring loszuwerden. Wenn Ihr mit mir kommen wollt, dann steigt auf Euer Pferd.«

»Das ist unmöglich! Wir können die Sichel des Majendie-Landes nicht durchreiten. Man hat uns verbannt!«

Richard zeigte mit dem Daumen auf Du Chaillu. »Sie wird uns zum Palast der Propheten führen, durch das Land der Baka Ban Mana.«

Du Chaillu verschränkte die Arme und sah Schwester Verna mit einem selbstzufriedenen Grinsen an.

Schwester Verna sah von ihr zu Richard. »Du bist tatsächlich verrückt. Wir können unmöglich…«

Richard biß knurrend die Zähne aufeinander, die Wut des Schwertes tobte noch immer in ungezügelter Heftigkeit. »Wenn Ihr mich zum Palast begleiten wollt, dann steigt auf Euer Pferd. Ich breche auf!«

Du Chaillu sah zu, wie Richard ihr das Messer mit dem grünen Griff hinter den Wildledergürtel steckte. »Ich habe dir eine Verantwortung übertragen. Du wirst dich ihrer würdig erweisen. Und jetzt steig auf das Pferd!«

Plötzlich schien Du Chaillu beunruhigt. Sie nahm die Arme auseinander, blickte zum Pferd, dann zurück zu ihm. Sie verschränkte die Arme aufs neue und reckte die Nase in die Luft. »Ich werde auf diesem Tier nicht reiten. Es stinkt!«

»Du auch!« donnerte Richard. »Jetzt steig endlich auf das Pferd!«

Sie zuckte zurück, die Augen angesichts seines wütenden Blicks weit aufgerissen, und holte keuchend Luft. »Jetzt weiß ich, was ein Sucher ist.«

Sie kletterte umständlich auf Geraldine. Die Schwester saß bereits auf Jessup. Richard war mit einem Satz auf Bonnie.

Mit einem letzten warnenden Blick auf die versammelten Männer drückte er seinem Pferd die Knie in die Flanken. Das Tier verfiel daraufhin mit einem Satz in Galopp. Die beiden anderen Pferde folgten ihm. Die Männer stürzten rücklings aus dem Weg.

Die Magie gierte nach Blut, lechzte danach. Richard wünschte sich, jemand würde versuchen, ihn aufzuhalten. Niemand tat es.


»Bitte«, sagte Du Chaillu, »es ist fast dunkel. Können wir bitte anhalten, oder laß mich wenigstens zu Fuß gehen. Das Tier tut mir weh.«

Sie hielt sich mit letzter Kraft fest und hüpfte im Sattel auf und ab, während Geraldine dahintrabte. Die kleinen, bunten Stoffstreifen an ihrem Kleid flatterten wild durcheinander. Er hörte Schwester Vernas Pferd, das hinter ihnen trabte, drehte sich aber nicht zu ihr um.

Richard warf einen kurzen Blick hinauf zur Sonne, die hinter dem dichten Gewirr aus Ästen unterging. Zusammen mit dem Licht schwand endlich auch sein Zorn. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als würde er überhaupt nicht mehr enden wollen.

Du Chaillu deutete mit dem Kinn an ihm vorbei nach rechts. Sie hatte Angst, auch nur eine Hand loszulassen. »Dort drüben hinter dem Schilf gibt es einen kleinen Teich, mit einem Stück Gras davor.«

»Bist du sicher, daß wir uns auf Baka-Ban-Mana-Land befinden?«

Sie nickte. »Schon seit ein paar Stunden. Ich weiß, wo wir sind.«

»Also gut. Wir machen Halt für die Nacht.«

Er hielt ihr Pferd, als sie hinunterglitt. Stöhnend rieb sie sich mit den Handflächen über ihr Hinterteil. »Wenn du mich zwingst, morgen wieder dieses Untier zu reiten, beiße ich dich!«

Zum ersten Mal, seit sie die Majendie verlassen hatten, konnte er lächeln. Richard ging daran, den Pferden die Sättel abzunehmen, und schickte Du Chaillu Wasser holen. Während sie zwischen Schilf und Binsen verschwand, sammelte Schwester Verna Holz und setzte es mit Magie in Brand. Als die Pferde versorgt waren, legte er sie an eine lange Leine, damit sie grasen konnten.

»Ich denke, es wird Zeit, euch bekannt zu machen«, meinte Richard, als Du Chaillu zurückkam. »Schwester Verna, dies ist Du Chaillu. Du Chaillu, das ist Schwester Verna.«

Schwester Verna schien sich beruhigt zu haben oder verbarg ihre Wut zumindest. »Ich freue mich für dich, Du Chaillu, daß du heute nicht sterben mußtest.«

Du Chaillu funkelte sie wütend an. Richard wußte, daß sie die Schwestern des Lichts als Hexen betrachtete.

»Du freust dich nicht für mich. Du willst, daß ich sterbe. Du willst, daß alle Baka Ban Mana sterben.«

»Das ist nicht wahr. Ich wünsche niemandem den Tod. Aber davon kann ich dich sowieso nicht überzeugen. Denk, was du willst.«

Du Chaillu nahm das Opfermesser aus ihrem Gürtel und hielt Schwester Verna den Griff vor die Augen. »Drei Monate lang haben sie mich angekettet.« Sie sah auf den grünen Handgriff und zeigte auf eine der obszönen Paarungsszenen, mit denen er verziert war. »Das haben diese Hunde mit mir gemacht.« Schwester Verna warf einen flüchtigen Blick auf das Messer, während Du Chaillu mit einem Finger auf eine andere Szene tippte. »Und das hier. Das hier auch.«

Schwester Verna sah, wie die Brust der anderen Frau vor Wut bebte. »Ich kann dir nicht zeigen, Du Chaillu, wie sehr ich verabscheue, was sie dir angetan haben, und was sie noch mit dir vorhatten. Es gibt vieles in dieser Welt, das ich verabscheue, gegen das ich aber nichts machen kann, und das ich in manchen Fällen sogar dulden muß, um so einem größeren guten Zweck zu dienen.«

Du Chaillu zeigte auf ihren Bauch. »Ich habe mein Mondblut verloren. Diese Hunde haben mir ein Kind gemacht! Jetzt muß ich zu den Hebammen gehen und sie um Kräuter bitten, damit ich das Kind eines Hundes abstoßen kann.«

Schwester Verna umklammerte Du Chaillus Hand. »Bitte, Du Chaillu, tu das nicht. Ein Kind ist ein Geschenk des Schöpfers. Bitte weise dieses Geschenk nicht zurück.«

»Geschenk! Dieser Schöpfer hat eine gemeine Art, Geschenke zu machen!«

»Du Chaillu«, sagte Richard, »bis jetzt haben die Majendie jeden Baka Ban Mana getötet, den sie gefangen haben. Du bist die erste, die befreit wurde. Sie werden keine weiteren töten. Sieh dieses Kind als Symbol des neuen Lebens zwischen euren Völkern. Damit dieses Leben, damit alle eure Kinder gedeihen können, muß das Töten ein Ende haben. Laß das Kind leben. Es hat nichts Schlechtes getan.«

»Sein Vater hat etwas Schlechtes getan!«

Richard mußte schlucken. »Kinder sind nicht schon deswegen schlecht, weil ihre Väter schlecht waren.«

»Wenn der Vater schlecht war, dann wird das Kind so sein wie er!«

»Das ist nicht wahr«, warf Schwester Verna ein. »Richards Vater war ein schlechter Mann, der viele Menschen umgebracht hat, Richard dagegen versucht, Leben zu bewahren. Seine Mutter wußte, daß die Schuld an einem Verbrechen nicht über den hinausgeht, der es begangen hat. Sie hat mit ihrer Liebe nicht gespart, obwohl sie von Richards Vater vergewaltigt wurde. Richard ist von guten Menschen erzogen worden, die ihm beigebracht haben, was Recht ist. Deshalb lebst du heute noch. Du kannst dem Kind ebenfalls zeigen, was Recht ist.«

Du Chaillus Zorn geriet ins Wanken, als sie Richard ansah. »Ist das wahr? Deine Mutter wurde ebenso behandelt wie ich?«

Richard brachte nur ein Nicken zustande.

Sie strich sich über den Bauch. »Ich werde über deine Worte nachdenken, bevor ich mich entscheide. Du hast mir mein Leben wiedergegeben, und ich werde mir deine Worte durch den Kopf gehen lassen.«

Richard drückte ihre Schulter. »Wie immer du dich entscheidest, ich bin sicher, es wird zum Besten sein.«

»Wenn sie überhaupt lange genug lebt, um sich zu entscheiden«, meinte Schwester Verna. »Du hast Versprechungen und Drohungen ausgesprochen, die du nicht halten kannst. Wenn die Majendie ihre Saat aussäen und nichts geschieht, werden sie ihre Furcht vor deinen Drohungen heute verlieren. Was du getan hast, wird nichts mehr zählen, und sie werden erneut Krieg gegen Du Chaillus Volk führen. Von meinem ganz zu schweigen.«

Richard zog das Lederband mit der Pfeife des Vogelmannes über seinen Kopf. »Ich würde nicht gerade sagen, daß nichts geschieht, Schwester Verna. Es wird ganz bestimmt etwas geschehen.« Er hängte Du Chaillu die Pfeife um den Hals. »Dies hat man mir geschenkt, und jetzt schenke ich es dir, damit du dem Töten ein Ende machen kannst.« Er hielt den geschnitzten Knochen in die Höhe. »Dies ist eine magische Pfeife. Damit kann man Vögel herbeirufen. Mehr Vögel, als du je auf einmal gesehen hast. Ich zähle auf dich, daß du mein Versprechen erfüllst.

Geh auf ihre Felder. Halt dich versteckt. Dann, bei Sonnenuntergang, blase auf dieser Pfeife. Du wirst nichts hören, die Vögel aber werden von der Magie herbeigerufen werden. Stell dir in Gedanken Vögel vor. Stell dir alle Vögel vor, die du kennst, wenn du auf der Pfeife bläst, und blase immer weiter, bis sie kommen.«

Sie berührte die geschnitzte Knochenpfeife. »Magie? Und die Vögel werden ganz bestimmt kommen?«

Er lächelte sie schief an. »O ja, sie werden kommen. Daran besteht kein Zweifel. Die Magie wird sie rufen. Kein menschliches Wesen wird das Geräusch hören, aber die Vögel. Die Majendie werden nicht wissen, daß du es bist, der die Vögel ruft. Die Vögel werden hungrig sein und die ganze Saat auffressen. Jedesmal, wenn die Majendie ihre Saat in die Erde pflanzen, rufst du die Vögel und nimmst sie ihnen fort.«

Sie grinste. »Die Majendie werden verhungern!«

Richard schob sein Gesicht ganz dicht an ihres. »Nein. Ich habe dir dieses Geschenk gemacht, damit das Töten ein Ende findet, nicht um dir dabei zu helfen, die Majendie auszurotten. Du wirst die Vögel solange rufen, um ihnen die Saat zu stehlen, bis die Majendie bereit sind, mit euch in Frieden zu leben. Wenn sie ihren Teil der Abmachung erfüllt haben, mußt du deinen erfüllen und dich bereit erklären, mit ihnen in Frieden zu leben.«

Er hielt ihr den Finger drohend vor die Nase. »Mißbrauchst du mein Geschenk, werde ich wiederkommen und eine andere Magie gegen dein Volk einsetzen. Ich vertraue darauf, daß du das Richtige tust. Enttäusche mich nicht.«

Du Chaillu wendete ihren Blick ab. Sie schniefte leise. »Ich werde das Richtige tun. Ich werde dein Geschenk benutzen, wie du gesagt hast.« Sie verbarg die Pfeife unter ihrem Kleid. »Danke, daß du geholfen hast, meinem Volk Frieden zu bringen.«

»Frieden«, schnaubte Schwester Verna verächtlich. Sie funkelte Richard an. »Glaubst du, so einfach ist das? Glaubst du, nach dreitausend Jahren kannst du einfach bestimmen, daß das Töten aufzuhören hat? Du denkst, deine bloße Anwesenheit genügt, und das Verhalten ganzer Völker ändert sich? Du bist ein naiver, kleiner Junge. Zwar gehen die Verbrechen des Vaters nicht auf den Sohn über, aber deine simple Sichtweise richtet ebensoviel Unheil an.«

»Wenn Ihr glaubt, Schwester, ich nähme aus irgendeinem Grund an einem Menschenopfer teil, dann irrt Ihr Euch gewaltig.« Er wollte sich abwenden, drehte sich aber noch einmal um. »Welches Unheil habe ich denn angerichtet? An welchem Morden bin ich schuld?«

Sie beugte sich zu ihm. »Zum einen, wenn wir denen mit der Gabe, wie zum Beispiel dir, nicht helfen, dann bringt sie das um, genau wie dich. Wie sollen wir deiner Ansicht nach diese Jungen in den Palast schaffen? Durch das Land der Majendie können wir nicht mehr.« Sie sah zu Du Chaillu hinüber. »Sie hat nur dir Geleit durch ihr Land gewährt. Sie hat nicht gesagt, ob wir auch andere hindurchbringen dürfen.« Sie richtete sich auf. »Es ist deine Schuld, wenn diese Jungen sterben.«

Richard dachte einen Augenblick darüber nach. Er war erschöpft. Der Gebrauch der Magie des Schwertes hatte ihn entkräftet wie nie zuvor. Er wollte nichts lieber als schlafen. Ihm war nicht danach zumute, Probleme zu lösen oder sich zu streiten. Schließlich sah er Du Chaillu an.

»Wenn du Frieden mit den Majendie schließt, mußt du, bevor du ihnen die nächste Aussaat erlaubst, eine weitere Bedingung stellen. Du mußt ihnen klarmachen, daß sie den Schwestern gestatten müssen, ihr Land zu durchqueren — als Anerkennung des Friedens.« Einen Moment lang blickte sie ihm in die Augen, dann schließlich nickte sie. »Dein Volk wird das gleiche tun.«

Er sah die Schwester herausfordernd an. »Seid Ihr jetzt zufrieden?«

»Als du im Tal eine dieser Bestien niedergestreckt hast, sind plötzlich tausend Schlangen aus seinem Leib hervorgekrochen. Hier wird genau das gleiche passieren.

Ich kann mich unmöglich an all die Lügen erinnern«, meinte sie, »die du heute bereits erzählt hast. Ich habe dich schon zuvor deswegen gescholten und dich gewarnt, es nicht noch einmal zu tun. Ich habe dir erklärt, daß du heute die Axt nicht kreisen lassen darfst, und du hast es trotzdem getan, obwohl ich dich gewarnt habe. Ich kann all die Befehle kaum aufzählen, die zu mißachten dir an diesem einen Tag gelungen ist. Was du getan hast, hat das Töten nicht beendet, sondern gerade erst in Schwung gebracht.«

»In diesem Fall, Schwester, bin ich der Sucher und nicht Euer Schüler. Als Sucher kann ich Menschenopfer unmöglich dulden. Nicht ein einziges. Der Tod von anderen ist eine andere Angelegenheit. Ihr könnt ihn nicht dazu mißbrauchen, einen Mord zu rechtfertigen. Es wird in dieser Angelegenheit keine Kompromisse geben. Außerdem glaube ich nicht, daß Ihr mich für etwas bestrafen wollt, das, da würde ich wetten, Ihr schon vor langer Zeit beendet sehen wolltet.«

Die Muskeln in ihrem Gesicht entspannten sich. »Als Schwester des Lichts steht es nicht in meiner Macht, die Dinge zu verändern. Es war meine Pflicht, weitere Leben zu retten, daher mußte ich die dreitausend Jahre bestehende Abmachung aufrechterhalten. Aber ich gebe zu, ich habe es gehaßt, und in gewisser Weise bin ich froh über das, was du mir abgenommen hast. Aber das ändert nichts an den Schwierigkeiten, die deine Handlung mit sich bringt — oder an den Toten. Als du den Rada’Han angelegt hast, hast du gesagt, die Leine dieses Rings zu halten wäre schlimmer, als ihn selbst zu tragen. Deine Worte beginnen sich zu bewahrheiten.«

Ihre Augen begannen feucht zu glitzern. »Du hast meine allergrößte Liebe, meine Berufung, in ein Elend verwandelt.

Ich bin zu alt, um dich für deinen Ungehorsam zu bestrafen. In ein paar Tagen werden wir im Palast sein, dann bin ich endlich mit dir fertig. Dann werden sich andere um dich kümmern müssen.

Wir werden ja sehen, wie sie dich behandeln, wenn du ihr Mißfallen erregst. Du wirst vermutlich feststellen, daß sie nicht bereit sind, soviel Toleranz aufzubringen wie ich. Sie werden diesen Ring benutzen. Und dabei werden sie wahrscheinlich noch mehr als ich bedauern, deine Leine in der Hand zu halten. Es wird ihnen leid tun, daß sie versuchen, dir zu helfen — genau wie mir.«

Richard stopfte seine Hände in die Gesäßtaschen seiner Hose und starrte in den dichten Wald aus Eichen und Lederblatt. »Tut mir leid, daß Ihr so empfindet, Schwester, und vermutlich kann ich es sogar verstehen. Ich gebe zu, ich habe mich dagegen gewehrt, ein Gefangener zu sein, aber das hier heute hatte nichts mit Euch und mir zu tun.

Hier ging es darum, was recht ist. Als jemand, der mich ausbilden will, versteht Ihr hoffentlich diese moralische Einstellung. Ich kann nur hoffen, daß die Schwestern des Lichts niemandem die Beherrschung der Gabe beibringen wollen, der sein Mäntelchen nach dem Wind hängt.

Schwester Verna, ich hatte nicht die Absicht, Euer Mißfallen zu erregen. Ich hätte nur alle Achtung vor mir selbst verloren, wenn ich diesen Mord zugelassen, geschweige denn mich daran beteiligt hätte.«

»Das weiß ich, Richard. Aber das macht es nur noch schlimmer, weil es alles ein und dasselbe ist.« Sie faltete ihre Hände auseinander, betrachtete das Feuer und ihre Vorräte und zog schließlich ein Stück Seife aus der Satteltasche. »Ich werde einen Eintopf kochen und Bannock.« Sie warf ihm das Stück Seife zu. »Du Chaillu braucht ein Bad.«

Du Chaillu verschränkte empört die Arme. »Als ich an die Wand gekettet war, haben die Hunde, die mich bestiegen haben, vergessen, mir Wasser anzubieten, damit ich gut für euch rieche.«

Schwester Verna ging in die Hocke und kramte Vorräte hervor. »Ich wollte dich nicht kränken, Du Chaillu. Ich dachte nur, du wolltest dir vielleicht den Schmutz dieser Männer vom Leib waschen. Ich an deiner Stelle täte nichts lieber, als mir das Gefühl ihrer Hände von der Haut zu waschen.«

Du Chaillus Empörung geriet ins Wanken. »Natürlich will ich das!« Sie entriß Richard das Stück Seife. »Du stinkst nach dem Tier, auf dem du reitest. Du wirst dich auch waschen, oder ich will dich nicht mehr in der Nähe haben und werde dich wegschicken, damit du allein essen kannst.«

Richard mußte lachen. »Wenn das den Frieden mit dir wahrt, dann werde auch ich mich waschen.«

Während Du Chaillu zum Teich hinstapfte, rief Schwester Verna ihn zu sich. Er wartete neben ihr, derweil sie einen Topf aus der Satteltasche zog.

»Seit wenigstens dreitausend Jahren hat ihr Volk jeden ›magischen Mann‹ getötet, der ihm in die Hände fiel. Für langen Geschichtsunterricht ist keine Zeit.« Sie hob den Blick, sah ihm in die Augen. »Mit alten Gewohnheiten ist man ebensoschnell zur Hand wie mit einem Messer. Dreh ihr nicht den Rücken zu. Früher oder später wird sie versuchen, dich umzubringen.«

Ihr ruhiger Tonfall ließ ihm unerwartet eine Gänsehaut über den Rücken laufen. »Ich werde versuchen, am Leben zu bleiben, Schwester, damit Ihr mich im Palast abliefern könnt und endlich von Eurer lästigen Bürde befreit seid.«

Richard eilte zum Teich und holte Du Chaillu ein, als sie gerade durch das Schilf watete. »Wieso hast du dieses Kleid Gebetskleid genannt?«

Du Chaillu breitete die Arme aus, so daß die Brise die Stoffstreifen an ihrem Kleid durcheinanderwirbelte. »Das sind die Gebete.«

»Was sind die Gebete? Meinst du diese Stoffstreifen?«

Sie nickte. »Jeder Streifen ist ein Gebet. Wenn der Wind weht und sie fliegen, schickt jeder Streifen ein Gebet an die Seelen.«

»Und wofür betest du?«

»Jedes einzelne dieser Gebete ist dasselbe — es stammt aus dem Herzen dessen, der mir sein Gebet gegeben hat. Es sind alles Gebete, damit man uns unser Land zurückgibt.«

»Euer Land? Aber du bist doch in deinem Land.«

»Nein. Hier leben wir, aber es ist nicht unser Land. Vor langer Zeit wurde unser Land von den magischen Männern geraubt. Sie haben uns hierher verbannt.«

Sie erreichten das Ufer des Teiches. Eine Bö kräuselte das dunkle Wasser. Das Ufer war mit Gras bewachsen, mit dichten Büscheln Binsen, welche auch noch im niedrigen Wasser standen.

»Die magischen Männer haben euch das Land geraubt? Welches Land?«

»Sie haben unser Land von unseren Vorfahren geraubt.« Sie zeigte in die Richtung des Tales der Verlorenen. »Das Land auf der anderen Seite der Majendie. Ich war mit unseren Gebeten auf dem Weg in unser Land, um die Seelen zu fragen, ob sie dabei helfen, uns das Land zurückzugeben. Aber die Majendie nahmen mich gefangen, und ich konnte unsere Gebete nicht zu den Seelen bringen.«

»Wie werden die Seelen euch das Land zurückgeben?«

Sie zuckte mit den Achseln. »In den alten Worten heißt es nur, daß wir jedes Jahr jemanden in unser Land schicken müssen, um zu den Seelen zu beten, und wenn wir das tun, wird uns das Land zurückgegeben werden.«

Sie löste den Gürtel und ließ ihn zu Boden gleiten. Mit verwirrender Anmut schleuderte sie das Messer mit dem grünen Griff zur Seite, wo es im runden Ende eines Astes auf einem umgestürzten Stamm steckenblieb.

»Aber wie?«

Sie sah ihn verständnislos an. »Indem sie uns unseren Herrscher wiedergeben.«

»Ich dachte, ihr wärt die Baka Ban Mana, die ohne Herrscher.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Weil uns die Seelen noch keinen geschickt haben.«

Während Richard noch darüber nachdachte, bückte sie sich, faßte ihren Rocksaum und zog ihn sich über den Kopf.

»Was denkst du eigentlich, was du da tust?«

Sie runzelte die Stirn. »Mich muß ich waschen, nicht mein Kleid.«

»Aber doch nicht vor mir!«

Sie sah an sich herab. »Du hast mich doch schon gesehen. Ich habe mich seit heute morgen nicht verändert.« Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Dein Gesicht ist wieder rot.«

»Da hinüber.« Er zeigte in die angegebene Richtung. »Geh auf die andere Seite der Binsen. Du auf der einen Seite, ich auf der anderen.«

Er drehte ihr den Rücken zu.

»Aber wir haben nur eine Seife.«

»Du kannst sie mir zuwerfen, wenn du fertig bist.«

Sie ging um ihn herum und stellte sich vor ihn hin. Er versuchte sich erneut umzudrehen, doch sie folgte ihm und zerrte an seinen Knöpfen.

»Ich kann mir nicht selbst den Rücken schrubben. Außerdem ist das nicht fair. Du hast mich gesehen, also sollte ich dich auch sehen. Deswegen wirst du auch rot, weil du nicht fair gewesen bist. Danach wirst du dich besser fühlen.«

Er schob ihre Hände fort. »Laß das, Du Chaillu. Wo ich herkomme, gehört sich das nicht. Männer und Frauen baden nicht zusammen. Man tut es einfach nicht.« Er drehte ihr wieder den Rücken zu.

»Komm schon, nicht einmal mein dritter Ehemann ist so schüchtern wie du.«

»Dein dritter! Du hattest drei Ehemänner?«

»Nein. Ich habe fünf.«

Richard versteifte sich. »Du ›hast‹ fünf?« Er drehte sich zu ihr um. »Was soll das heißen, du ›hast‹ fünf?«

Sie sah ihn an, als hätte er gefragt, ob im Wald Bäume wachsen. »Ich habe fünf Ehemänner. Fünf Ehemänner und meine Kinder.«

»Und wie viele Kinder hast du?«

»Drei. Zwei Mädchen und einen Jungen.« Ein versonnenes Lächeln zog über ihr Gesicht. »Es ist lange her, seit ich sie in den Armen gehalten habe.« Ihr Lächeln wurde traurig. »Meine armen Kleinen haben bestimmt jede Nacht geweint und gedacht, ich sei tot. Noch nie ist jemand von den Majendie zurückgekehrt.« Sie mußte grinsen. »Meine Ehemänner werden es bestimmt gar nicht abwarten können, Lose zu ziehen, wer als erster versuchen darf, mir ein weiteres Kind zu schenken.« Ihr Schmunzeln verblaßte, ihre Stimme verlor sich. »Aber wahrscheinlich hat das bereits ein Majendie-Hund getan.«

Richard gab ihr die Seife. »Es wird alles gut werden. Du wirst sehen. Geh und bade jetzt. Ich werde auf die andere Seite der Binsen gehen.«

Er entspannte sich im kühlen Wasser, lauschte auf ihr Planschen und wartete darauf, daß sie mit der Seife fertig wurde. Der Nebel über dem Teich wurde dichter und kroch langsam, geräuschlos in die umstehenden Bäume.

»Ich habe noch nie von einer Frau gehört, die mehr als einen Ehemann hat. Haben alle Frauen der Baka Ban Mana mehr als einen Mann?«

Sie mußte kichern. »Nein. Nur ich.«

»Warum du?«

Das Planschen hörte auf. »Weil ich das Gebetskleid trage«, antwortete sie, als wäre das eine Selbstverständlichkeit.

Richard verdrehte die Augen. »Schön, aber was hat das…«

Sie kam durch die Binsen zu ihm geschwommen. »Bevor du die Seife haben kannst, mußt du mir den Rücken waschen.«

Richard stieß einen ärgerlichen Seufzer aus. »Also gut. Wenn ich dir den Rücken wasche, wirst du dann wieder zurück auf deine Seite gehen?«

Sie hielt ihm den Rücken hin. »Wenn du es richtig machst.«

Als sie zufrieden war, schwamm sie schließlich zurück, um sich anzuziehen, während er sich wusch. Über das Zirpen der Käfer und das Quaken der Frösche hinweg erklärte sie ihm, sie habe Hunger.

Er streifte sich gerade die Hosen über, als sie ihm zurief, er solle sich beeilen, damit sie essen könnten.

Er warf sich das Hemd über die Schulter und lief ihr nach, um sie einzuholen, während sie bereits auf den Duft des Essens zusteuerte. Sauber sah sie viel besser aus. Ihr Haar war jetzt wie das eines normalen Menschen und nicht mehr wie das eines wilden Tieres. Sie sah nicht mehr aus wie eine Wilde, sondern irgendwie edel.

Noch war es nicht dunkel, aber hell konnte man das Dämmerlicht auch nicht mehr nennen. Der Dunst, der sich über dem Teich gebildet hatte, zog heran und hüllte sie ein. Die Bäume versanken im dichter werdenden Nebel.

Als die beiden in den Kreis aus Licht rings um das Feuer traten, erhob sich Schwester Verna. Richard schob gerade den rechten Arm durch seinen Ärmel, als er Schwester Vernas entgeisterten Gesichtsausdruck sah und erstarrte. Sie blickte wie gebannt auf seine Brust, auf dieses Etwas, das er bislang vor ihr verborgen gehalten hatte.

Auf die Narbe. Auf den Handabdruck, der dort eingebrannt war. Auf jenen Handabdruck, der ihn immer daran erinnerte, wer ihn gezeugt hatte.

Schwester Verna war bleich wie ein Gespenst. Ihre Stimme war so leise, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen. »Woher hast du das?«

Auch Du Chaillu starrte auf die Narbe.

Richard zog sein Hemd zusammen. »Das habe ich Euch bereits erklärt. Darken Rahl hat mich mit seiner Hand versengt. Ihr habt behauptet, ich hätte Halluzinationen.«

Langsam hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen. In ihrem Blick lag etwas, das er dort noch nie gesehen hatte. Unbeherrschte Angst.

»Richard«, hauchte sie, »im Palast darfst du das niemandem zeigen. Außer der Prälatin. Vielleicht weiß sie, was zu tun ist. Ihr mußt du es zeigen. Aber niemandem sonst.« Sie trat näher. »Hast du verstanden? Niemandem!«

Richard knöpfte langsam sein Hemd zu. »Wieso?«

»Weil man dich sonst töten wird! Das ist das Mal des Namenlosen.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Die Sünden des Vaters.«

Aus der Ferne drang das klagende Geheul von Wölfen herüber. Du Chaillu fröstelte und schlang die Arme um sich, während sie in den Nebel blickte.

»Menschen werden sterben heute nacht«, verkündete Du Chaillu leise.

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