65

Richard saß ruhig da, die Beine untergeschlagen, während das Schwert auf seinen Knien ruhte. Er trug das Cape des Mriswith, um sich vor Pasha und Schwester Verna zu verbergen. Keine der beiden sollte wissen, daß die Sonne im Hagenwald über ihm untergegangen war. Wenn sie wüßten, was er gerade tat, würden sie ihm gewiß beide folgen.

Er hatte eine kleine Lichtung gefunden, die hoch genug lag, um trocken zu sein, und dort seit Sonnenuntergang gewartet. Durch das dichte Astgeflecht konnte er den Mond erkennen und schätzte, daß er ungefähr zwei Handbreit hoch stand. Was nun eigentlich im Hagenwald geschah, wenn die Sonne dort über einem untergegangen war, wußte er nicht, bislang schien alles so zu sein wie immer, wenn er sich des Nachts dort aufgehalten hatte.

Er antwortete auf Lilianas Ruf, und sie trat hinter einer dicken Eiche hervor. Sie sah sich im Wald um. Ihr Blick war keinesfalls zaghaft, sondern taxierte ihn selbstbewußt.

Sie setzte sich vor ihm hin und schlug die Beine übereinander. »Ich habe den Gegenstand, der uns helfen wird. Den, von dem ich dir erzählt habe.«

Richard lächelte erleichtert. »Ich danke Euch, Liliana.«

Sie holte ihn unter ihrem Umhang hervor. Im Schein des Mondes konnte er erkennen, daß es sich um die kleine Statue eines Mannes handelte, der einen Gegenstand, klar wie Glas, in den Händen hielt. Sie hielt sie hoch, um sie ihm zu zeigen.

»Was ist das?«

»Der Kristall, der durchsichtige Teil hier, besitzt die Fähigkeit, die Gabe zu verstärken. Wenn es stimmt, daß du subtraktive Magie besitzt, habe ich nicht die Macht, dir den Rada’Han abzunehmen, denn ich besitze nur additive Magie. Halte dies in deinem Schoß. Wenn wir uns dann im Geist vereinigen, wird dies dir helfen, deine Kraft zu verstärken, damit ich sie benutzen und den Zugriff brechen kann.«

»Gut. Fangen wir an.«

Sie zog die Statuette zurück. »Erst muß ich dir den Rest erklären.«

Er blickte in ihre bleichen, blassen blauen Augen, betrachtete die dunklen Sprenkel, mit denen sie durchsetzt waren. »Also gut, erzählt es mir.«

»Der Grund, weshalb du nicht helfen kannst, den Halsring abzunehmen, ist der, daß du nicht ausgebildet bist, deine Gabe zu gebrauchen. Du weißt nicht, wie du deine Kraft lenken sollst. Dies wird diesen Mangel beheben. Hoffe ich.«

»Du versuchst mich vor irgend etwas zu warnen.«

Sie nickte einmal knapp. »Du weißt nicht, wie man den Fluß kontrolliert, daher bist du dem Gegenstand auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Doch diese magische Hilfe weiß nicht, was Schmerzen sind. Sie tut ganz einfach das, was sie tun muß. Was ich benötige.«

»Ihr sagt mir also, daß es weh tun könnte. Ich bin bereit, Schmerzen auszuhalten. Fangen wir endlich an.«

»Nicht ›könnte‹.« Sie hob warnend einen Finger. »Es ist gefährlich, Richard. Es wird dir bestimmt weh tun. Es wird sich anfühlen, als würde dein Verstand in Stücke gerissen. Ich weiß, du willst es unbedingt tun, doch ich will dir nichts vormachen. Du wirst glauben, daß du stirbst.«

Er spürte, wie ihm der Schweiß den Nacken hinablief.

»Ich muß es tun.«

»Ich werde mein Han lenken und auf diese Weise versuchen, den Zugriff des Halsrings zu brechen. Die Hilfe wird dir Kraft entziehen, damit ich das Nötige tun kann, um den Rada’Han zu überwinden. Es wird dir weh tun.«

»Liliana, ich halte alles aus, wenn es sein muß. Es geht nicht anders.«

»Hör mir zu, Richard. Ich weiß, du willst es unbedingt tun, aber hör mir trotzdem zu. Ich werde dir deine Gabe entziehen, um dir auf diese Weise zu helfen, den Halsring zu zerbrechen. Dein Geist wird denken, ich würde versuchen, dir das Leben zu entziehen. Ganz tief in deinem Innern könntest du glauben, ich wollte dir die Gabe, das Leben selbst aussaugen.

Du wirst das Gefühl aushalten müssen, daß jemand dir das Leben entreißen will. Und zwar so lange, bis der Halsring bricht. Versuchst du, den Prozeß aufzuhalten, solange sich meine Kraft in deinem Körper befindet, so lange ich das tue, was ich tun muß…«

»Wenn ich dich recht verstehe, heißt das: Wenn es zuviel wird, und ich aufhören will, kann ich das nicht. Der Versuch, den Sog an meiner Gabe aufzuhalten, wäre tödlich.«

»Ja. Du darfst keinen Widerstand leisten. Tust du es doch, wirst du sterben.« Er hatte sie noch nie mit einem derart ernsten Ausdruck im Gesicht gesehen. »Du mußt mir unbedingt vertrauen und darfst auf keinen Fall versuchen, das, was mit dir geschieht, zu unterbinden, oder du stirbst und dadurch schließlich auch Kahlan. Bist du sicher, daß du das schaffst?«

»Liliana, um Kahlan zu retten, würde ich alles tun, alles aushalten. Ich vertraue dir. Ich lege mein Leben in deine Hände.«

Schließlich nickte sie und legte ihm die Statuette in den Schoß. Sie sah ihm lange in die Augen, dann küßte sie ihren Finger. Mit dem geküßten Finger berührte sie ihn an der Wange.

»Also dann, hinein ins Nichts, zusammen. Danke für dein Vertrauen, Richard. Du wirst niemals ermessen können, was das für mich bedeutet.«

»Oder für mich, Liliana. Was soll ich tun?«

»Das gleiche, was wir zuvor auch immer getan haben. Du versuchst einfach, dein Han zu berühren, alles übrige mache ich.«

Sie rutschte nach vorn, bis ihre Knie sich aneinanderdrückten. Dann faßten sie sich an den Händen, die sie locker auf die Knie legten. Jeder atmete einmal tief durch und schloß dann die Augen.

Anfangs war es so wie immer: ein tiefer Zustand der Entspannung, während er sich auf das Bild des Schwertes der Wahrheit konzentrierte. Der Schmerz war zu Beginn nichts weiter als ein unangenehmes Kribbeln. Er bohrte sich kreisend tiefer, setzte sich am unteren Ende seiner Wirbelsäule fest, wo er sich anfühlte wie ein gezerrter Muskel. Der Schmerz arbeitete sich seinen Rücken hoch.

Völlig unvermittelt brach er überall gleichzeitig aus, vergleichbar mit dem Schmerz des Strafers. Ein heißes Stechen, das sich durch sein Mark brannte. Denna hatte ihm beigebracht, Schmerzen auszuhalten. Im stillen bedankte er sich bei Denna für das, was sie getan hatte. Vielleicht konnte es nur dadurch alles aushalten und Kahlan so retten.

Die bohrende Qual nahm ihm den Atem. Richard saß steif da. Im Nu war sein Gesicht schweißüberströmt. Seine Lungen brannten nach Luft. Unter allergrößter Anstrengung nahm er einen Atemzug.

Schmerz explodierte in seinem Kopf und stürzte ihn in einen zeitlosen Ort endloser Qual, die ihn zu zerreißen schien. Er hatte Mühe, das Schwert in Gedanken festzuhalten. Tränen strömten ihm über das Gesicht. Er hatte keine Wahl.

Es fühlte sich an, als läge jeder Nerv in seinem Körper blank und werde in eine offene Flamme gehalten. Er glaubte, seine Augen würden zerplatzen. Er glaubte, sein Herz würde zerplatzen. Bei jedem quälenden, schmerzhaften Ziehen zuckte er zusammen. Es war eine Folter, die alles Erträgliche überstieg.

Und dann war ihm, als hätte es noch nicht einmal richtig angefangen. Er war weder imstande zu schreien, zu atmen noch sich zu bewegen. Die Seele schien ihm aus dem Leib gerissen zu werden.

Wie Liliana ihn gewarnt hatte, schien ihm das Leben selbst entrissen zu werden. Panikartig überkam ihn die Befürchtung, daß dies sein Tod sein könnte. Er spürte, wie die Finsternis des Todes in die Leere hineinsickerte, die das Entreißen bei ihm hinterließ. Verschwommen dämmerte ihm, daß dies vielleicht nicht richtig war. Tief in seinem Innern keimte eine entsetzliche Angst, dann wurde auch sie in den brodelnden Sturzbach hineingerissen, der sich gewaltsam einen Weg nach außen bahnte.

Er hatte keinen größeren Wunsch als zu schreien, so als könnte das die Qual irgendwie lindern. Doch er konnte nicht. Seine Muskeln schienen wie der Rest von ihm ihr Leben zu verlieren. Er konnte nicht atmen, konnte nicht mal seinen Kopf hochhalten.

Bitte, Liliana, bitte beeilt Euch.

Es fiel ihm schwer, ihrem Tun keinen Widerstand entgegenzusetzen. Er flehte darum, sich ihr nicht zu widersetzen. Er mußte zu Kahlan. Sie brauchte ihn.

Seine Augen standen offen. Das merkte er, als er die Statuette in seinem Schoß wiedererkannte. Sein Kopf hing herab. Der Kristall begann in einem matten Orange aufzuleuchten. Irgend etwas in ihm dachte, dies müsse bedeuten, daß er funktionierte, daß er seine Arbeit tat. Sein Kopf fühlte sich an, als wollte er in die Brüche gehen. Er erwartete, Blut herabtropfen zu sehen, doch er sah nur, wie das orangene Leuchten immer heller wurde.

Bitte, Liliana, beeilt Euch.

Schwärze hüllte ihn ein. Selbst die unerträglichen Schmerzen schienen plötzlich wie entrückt. Er spürte, wie ihm das Leben durch die Finger rann. Er spürte, wie ihn eine Leere überkam, die grauenhafter war, als alles, was er je für möglich gehalten hatte.

In den hintersten Winkeln seines schwindelnden Verstandes spürte er etwas.

Mriswiths.

Er fühlte, daß sie ganz nahe waren. Seine Beunruhigung wuchs. Sie waren überall ringsum und kamen näher.

Und dann hörte er wie aus großer Ferne Lilianas Stimme. »Wartet, meine Lieben. Ihr könnt haben, was übrig ist, wenn ich mit ihm fertig bin. Wartet.«

Im Geiste konnte er die Mriswiths undeutlich erkennen, so wie immer, wenn sie sich anschlichen. Auf Lilianas Worte hin zogen sie sich zurück.

Warum hatte sie das gesagt? Warum sollten die Mriswiths auf ihren Befehl hin zurückweichen? Was hatte sie damit gemeint? Vielleicht hatten ihn die Schmerzen wahnsinnig gemacht, und dies war nur eine krankhafte Täuschung.

Er spürte etwas hinter sich. Kein Mriswith. Schlimmer. Zehnmal grauenvoller. Er spürte fauligen Atem in seinem Nacken.

Lilianas Stimme ertönte als ein gefährliches Zischen. »Ich habe gesagt, warte.« Das Etwas zog sich ein Stück zurück, doch nicht so weit wie die Mriswiths.

Was hatte sie damit gemeint, sie könnten kriegen, was übrigbliebe? Er starb, das hatte sie gemeint. Er spürte es. Er war dabei zu sterben.

Unsinn. Liliana hatte gesagt, daß er genau das empfinden würde. Es geschah schlicht so, wie sie es vorhergesagt hatte, das war alles. Er mußte stark sein, für Kahlan. Dabei hatte er nur noch so wenig, was er geben konnte. Er war im Begriff zu sterben. Er wußte es einfach. Die Statuette in seinem Schoß leuchtete heller.

Dann saß ihm der heiße Atem wieder im Nacken. Er hörte, wie dieses abscheuliche Etwas leise knurrte. Er wünschte sich heftig, es würde von ihm ablassen.

Erneut war Lilianas drohende Stimme zu hören. »Warte. Noch einen Augenblick, dann bin ich fertig, dann kannst du seinen Körper haben. Warte.«

In diesem Augenblick verriet ihm etwas tief in seinem Innern, daß dies seine letzte Chance war. Jetzt sofort. Der Entschluß zu handeln erwuchs aus jäher Verzweiflung.

Tief aus dem Innern, aus dem Zentrum seines Geistes, aus dem Kern seines Seins, aus dem Innersten seiner Seele riß er seinen Willen los, und durch reine Willenskraft zerrte er in einer verzweifelten, ungeheuren Anstrengung seine Kraft, sein Leben — sein Selbst — zurück.

Ein donnerndes Krachen ertönte, ein Beben teilte die Luft und schleuderte die beiden auseinander. Richard landete an einem Rand der Lichtung auf dem Rücken, Liliana am gegenüberliegenden. Das Schwert der Wahrheit lag in der Mitte. Die Mriswiths und die andere Kreatur verschmolzen wieder mit den dunklen Schatten zwischen den Bäumen.

Richard rang keuchend nach Atem. Er setzte sich auf und schüttelte den Kopf. Die Statuette lag in der Mitte auf dem Boden, in der Nähe seines Schwertes. Das orangene Leuchten war erloschen.

Liliana kam mühelos, als würde sie schweben, auf die Beine. Es sah aus, als hätte eine unsichtbare Hand sie behutsam auf die Füße gestellt. Die Nackenhaare sträubten sich ihm, als er das sah.

Sie lächelte ihn voller Bosheit an. Richard hatte nie gedacht, daß Liliana zu einem derart widerlichen Grinsen fähig wäre. Die Zehen rollten sich in seinen Stiefeln ein.

»Ah, Richard, ich war ganz dicht davor. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares erlebt. Du hast ja keine Vorstellung, wie herrlich das ist, was du besitzt. Aber ich werde es doch noch bekommen.«

Richard sah kurz nach beiden Seiten, um zu entscheiden, in welche Richtung er fliehen sollte. Er kam sich vor wie ein Narr, gleichzeitig aber überkam ihn das Gefühl eines schweren Verlustes. »Liliana, ich habe Euch vertraut. Ich dachte, Ihr mögt mich.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich?« Das verhaltene Lächeln kehrte zurück. »Vielleicht hab’ ich das. Vielleicht habe ich es deshalb auf die angenehme Art versucht. Jetzt werden wir es auf die harte Tour machen.«

Richard sah sie ungläubig an. »Die harte Tour? Wie meint Ihr das?«

»Der Quillion, das war der leichte Weg. Ich habe vielen Männern ihre Gabe abgenommen. Doch du hast dich gewehrt, wo sie es nicht konnten. Jetzt muß ich dich bei lebendigem Leib häuten, um deine Gabe zu bekommen. Zuerst werde ich dich kampfunfähig machen. Und du wirst dabei hilflos zusehen.«

Sie strecke eine Hand aus. Ein Schwert kam hinter einer Eiche hervorgeschwebt, aus der Dunkelheit, und landete in ihrer Hand.

Mit einem schrillen Aufschrei stürzte sie über die Lichtung auf ihn zu. Ihr Schwert blinkte im Mondschein.

Ohne nachzudenken hob Richard seine Hand und rief sein Schwert und dessen Magie herbei. Die Reaktion erfolgte prompt. Der Zorn überflutete ihn. Er spürte, wie das Heft in seine Handfläche schlug, als Liliana mit ihrem Schwert ausholte. Das Schwert, die Magie, die Seelen, alles stand ihm bei. Er riß die Klinge hoch und blockierte ihren Schlag.

Benommen fragte sich Richard, wieso sein Schwert das ihre nicht zerbrach. Doch dann war er in Bewegung. Der Tanz mit dem Tod hatte begonnen.

Er konterte ihre Schläge, und sie die seinen. Er wich Attacken aus, die ihn eigentlich hätten treffen müssen, und sie vereitelte Angriffe, mit denen er sie hätte erwischen müssen. Sie wirbelte wie der Wind, parierte oft im allerletzten Augenblick. Er hatte das Gefühl, gegen einen Schatten anzukämpfen. Kein Mensch konnte sich so bewegen, wie sie es in diesem Augenblick tat. Nicht einmal er.

Hinter sich spürte er das grauenhafte Etwas. Er parierte den Stoß ihrer Klinge, riß das Schwert mit der Geschwindigkeit des Lichts herum. Einen Augenblick lang sah er ein Gewirr aus Reißzähnen, ein boshaft wütendes Funkeln, dann traf das Schwert auf etwas Festes, und was immer es gewesen war, es wurde bei seiner Vernichtung bis zur Unkenntlichkeit zerstört.

Er fühlte ihre Klinge kommen und machte einen Satz über den zusammensinkenden Koloß. Er rollte sich ab und kam auf die Füße und erwiderte ihren Angriff. Wieder und wieder hallte das Klirren von Stahl auf Stahl durch die Nachtluft.

Richard erkannte, daß ihre Klinge der seinen ähnlich sein mußte. Sie besaß eine Waffe, die dem Schwert der Wahrheit ebenbürtig war. Darüber hinaus beherrschte sie die Magie, wie er es sich nur erträumen konnte. Viel Zeit zum Träumen blieb ihm nicht.

Die Kämpfenden bahnten sich einen Weg quer über die Lichtung, und beide verausgabten sich mit aller verfügbaren Wut. Plötzlich sprang sie zurück und jagte einen Feuerstrahl in seine Richtung. Richard duckte sich im letzten Augenblick, und der Strahl flog vorbei und traf einen Baum. Der Stamm explodierte in einem Splitterregen. Die Baumkrone ging krachend neben ihm nieder, wobei einige der Äste ihn von den Füßen rissen.

Liliana schlug sich durch das Geäst, das so dick wie seine Arme war, um an ihn heranzukommen. Es zersplitterte wie zuvor der Stamm. Richard kam darunter hervorgekrochen und kämpfte sie zurück ins dichte Unterholz.

Während sie, einen steilen Hang hinuntersteigend, immer wieder aneinandergerieten, begann er, über ihre Taktik nachzudenken. Sie kämpfte voller Grimm, doch ohne Eleganz — wie ein Soldat im Kampf zwischen den Linien. Wie er darauf kam, wußte er nicht — vielleicht dank der Seelen aus der Magie seines Schwertes.

So wie sie ihn attackierte, in weitem Bogen um sich schlagend, war sie offen für eine gerade, schnelle Riposte. Richard bedrängte sie hart mit seinem Vorstoß, doch als es ihm endlich gelang, ihr einen Stoß in die Körpermitte zu versetzen, glitt dieser seitlich ab, dabei hätte er eigentlich treffen müssen. Irgend etwas schützte sie. Sie beherrschte die Magie auf eine Weise, die er nicht verstand.

Richard war erschöpft und kämpfte nur noch mit Hilfe der reinen Wut und Raserei seiner Magie. Sie schien nicht mal außer Atem zu sein. »Du hast keine Chance, Richard. Ich werde dich besiegen.«

»Wieso? Am Ende kannst du nicht gewinnen!«

»Ich werde meinen Lohn bekommen.«

Er duckte sich hinter einen Baum und entwischte so knapp einem Schlag, der das Holz in einem Splitterregen davonschleuderte. »Wenn du dem Hüter hilfst zu entkommen, wird er alles Leben verschlingen!«

»Glaubst du das wirklich? Da täuschst du dich. Er wird all die belohnen, die ihm dienen. Er wird mir Dinge gewähren, die der Schöpfer mir niemals gewähren könnte.«

Er stach nach ihr, doch das Schwert glitt seitlich an ihr ab. »Er belügt dich!«

Ihre Klinge verfehlte pfeifend sein Gesicht. In aller Ruhe und Bedachtsamkeit griff sie unerbittlich an. »Wir haben einen Handel abgeschlossen. Mein Eid besiegelt ihn.«

»Und Ihr glaubt tatsächlich, er wird sich an seinen Teil halten?«

»Schließ dich uns an, Richard, und ich werde dir die Herrlichkeit zeigen, die jene erwartet, die ihm dienen. Du könntest ewig leben!«

Richard sprang auf einen Fels. »Niemals!«

Sie hob den Kopf und sah ihn mit kalter Gleichgültigkeit an. »Ich dachte, dies würde vergnüglich werden, aber ich muß feststellen, daß ich mich zunehmend langweile.«

Liliana streckte schwungvoll eine Hand aus. Aus der Hand wand sich schlangelnd ein Blitz hervor, doch er war anders als alle Blitze, die er zuvor gesehen hatte.

Es war ein schwarzer Blitz.

Statt aus Hitze und einem Lichtblitz bestand er aus einer wellenförmigen Leere, die so dunkel war wie der Stein der Nacht, so dunkel wie die Kästchen der Ordnung, so finster wie der ewige Tod. Die schwach vom Mond beschienene Szene war im Vergleich dazu ein heller Sonnentag.

Richard wußte: Er hatte subtraktive Magie vor sich.

Liliana fegte mit dem schwarzen Blitz über den Fels unter seinen Füßen hinweg. Mühelos schnitt dieser eine scharfkantige Leere durch den Stein. Der Rest, auf dem er stand, sackte auf die untere Hälfte. Bis weit nach hinten gingen Bäume, die auf die gleiche Weise von eben diesem schwarzen Blitz getroffen worden waren, unter donnerndem Getöse krachend zu Boden.

Richard verlor den Halt und stürzte rücklings in den steilen Hang. Er rollte sich überschlagend den Hügel hinunter. Als er den ebenen Boden unten erreichte, breitete er die Arme aus, um sich zu bremsen, und wälzte sich augenblicklich auf den Rücken. Er hob den Kopf. Ihm stockte der Atem.

Liliana stand direkt über ihm, das Schwert mit beiden Händen erhoben. Er sah, wohin ihr Blick gerichtet war, und wußte, daß sie die Absicht hatte, ihm die Beine abzuhacken. Er erstarrte, als er sah, wie sich ihr Schwert zu senken begann.

So, wie er sich bisher verteidigt hatte, würde er sie nicht aufhalten können. Er mußte etwas anderes versuchen, sonst wäre dies sein Tod.

Ihre Klinge war eine verwischte Bewegung im Schein des Mondes. Er befreite sich, ließ seinem inneren Selbst, seiner Gabe, vollkommen freien Lauf. Was immer dort war, er wollte sich ihm hingeben — oder sterben. Es war seine einzige Chance. Er fand das ruhige Zentrum in seiner Mitte und überließ sich dessen Willen.

Er sah, wie er das Schwert der Wahrheit nach oben stieß. Seine Knöchel waren weiß vor Anstrengung. Das Schwert erglühte weiß im trügerischen Licht.

Mit aller Kraft trieb er die zischend weiße Klinge in Liliana hinein, unterhalb der Rippen. Sie erschlaffte, als die Spitze ihr das Rückgrat durchtrennte und zwischen den Schulterblättern wieder zum Vorschein kam. Nur sein Schwert und seine Körperkraft hielten sie noch aufrecht.

Ihr Kinn klappte mit einem Stöhnen herunter. Ihr Schwert fiel ihr aus den Händen, blieb seitlich im Boden stecken. Aus aufgerissenen, blassen Augen starrte sie auf ihn herab.

»Ich vergebe Euch, Liliana«, sagte Richard leise.

Ihre Arme zuckten unkontrolliert. Todesangst füllte ihre Augen. Sie versuchte zu sprechen, doch es kam nur blutiger Schaum über ihre Lippen.

Es gab ein ohrenbetäubendes Krachen, wie bei einem Blitzeinschlag, doch statt eines Lichtblitzes fegte ein Kräuseln aus absoluter Finsternis durch den Wald. Als es ihn berührte, setzte sein Herz einen Schlag lang aus. Nachdem es sich verzogen hatte, schien das Licht des Mondes zu gleißen, und Liliana war tot.

Richard wußte es — der Hüter hatte sie geholt.

Früher hatte er die weiße Magie des Schwertes auf den Plan gerufen und genau gewußt, was sie bedeutete. Diesmal hatte er getan, was Nathan ihm geraten hatte, und sie durch seinen Instinkt, durch seine Gabe rufen lassen. Es hatte ihn überrascht, wie er die weiße Magie hatte heraufbeschwören können, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Irgend etwas in seinem Innern hatte gewußt, was man brauchte, um sich des Hasses des Hüters zu erwehren, von dem Liliana erfüllt war. Richard war immer noch benommen. Er betrachtete Liliana, während er sein Schwert aus ihr herauszog. Er hatte sich ihr anvertraut. Er hatte ihr vertraut.

Ihm wurde bewußt, daß er genausoweit war wie zuvor — er hatte den Ring noch immer um den Hals und keine Ahnung, wie er ihn herunterbekommen konnte. Ring oder nicht, er mußte die Barriere durchbrechen, die ihn an diesem Ort gefangenhielt. Er beschloß, seine Sachen aus dem Palast zu holen und sich dann einen Weg durch die unsichtbare Mauer zu suchen.

Als er das Schwert an ihren Kleidern abwischte, mußte er daran denken, wie es in der Mitte der Lichtung gelegen hatte, ein gutes Stück von ihm entfernt. Irgendwie hatte er es zu sich gerufen, zusammen mit der Magie. Das Schwert war durch die Luft geflogen und in seiner Hand gelandet.

Er legte das Schwert auf die Erde und rief versuchsweise seine Magie. Der Zorn, die Wut erfüllte ihn, ganz so wie immer. Er streckte die Hand aus und wünschte, daß die Klinge zu ihm kam. Sie blieb felsenfest auf dem Boden liegen. Sosehr er sich auch mühte, sie wollte sich nicht von der Stelle rühren.

Entnervt steckte er das Schwert in die Scheide zurück. Er nahm Lilianas Schwert vom Boden auf und zerbrach die Klinge über seinem Knie. Als er es zur Seite warf, entdeckte er in der Nähe etwas Weißes.

Weiße, im Mondlicht leuchtende Knochen waren im wesentlichen alles, was von einer vertrockneten Leiche übrig war. Nur die obere Hälfte war vorhanden. Vermutlich hatten sich Tiere über den Rest hergemacht. Doch dann entdeckte er ein Stück entfernt das Becken und die Beine. Zerfetzte Überreste eines Kleides, das mit der oberen Hälfte übereinstimmte, umschlangen noch immer die Knochen der Beine.

Richard kniete nieder und untersuchte den Oberkörper. Da waren keine Tiere dran gewesen. Auf keinem der Knochen gab es auch nur eine einzige Spur von einem Zahn. Die Leiche lag genau so da, wie sie gefallen war.

Mit einem Stirnrunzeln stellte er fest, daß die Knochen der unteren Wirbelsäule zertrümmert waren. Er hatte noch nie gesehen, daß Knochen auf diese Weise zersplittert waren. Die Frau schien bei lebendigem Leib in zwei Hälften gesprengt worden zu sein.

Schweigend kniete er da, starrte, dachte nach. Irgend jemand hatte diese Frau umgebracht. Und irgendwie wußte er auch wie: durch Magie.

»Wer hat Euch das nur angetan?« flüsterte er der Toten kaum hörbar zu.

Langsam reckte sich ein Skelettarm im Mondschein zu ihm hoch. Die Finger öffneten sich. Ein dünnes Kettchen fiel herab und blieb am Knochen eines Fingers hängen.

Richard, dessen Haar sich aufzurichten schien, nahm das Kettchen vorsichtig aus den Fingern. An der Kette hing ein einzelner Gegenstand. Er hielt ihn ins Mondlicht und sah, daß es ein klumpiges Gold war, zum Buchstaben R geformt.

»Jedidiah«, sagte Richard tonlos, ohne zu wissen, wie er darauf kam.

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