60

Die Nacht schleppte sich dahin, während die Männer sie beobachteten und Tyler sie bewachte. Ab und zu gelang es ihr, für ein paar Augenblicke in einen unruhigen Schlaf zu fallen. Kahlan hatte keine Ahnung, wie spät es war. Ihrer Schätzung nach mußte es irgendwann zwischen Mitternacht und kurz vor der Dämmerung sein.

Auch wenn sie Angst hatte und wußte, daß sie früher oder später kommen würden, um sie zu enthaupten, so empfand sie doch Freude über ihre zurückgewonnene Kraft und den Sieg. Nicht die Guten Seelen hatten ihr beigestanden, sondern sie hatte sich selbst geholfen. Darüber war sie zufrieden mit sich. Sie hatte sich nicht aufgegeben.

Und die Guten Seelen hatten sie wie immer damit allein gelassen. Kahlan war außer sich über die Guten Seelen. Obwohl sie ihr ganzes Leben lang dafür gekämpft hatte, daß ihre Ideale hochgehalten wurden, hatten sie ihr nicht ein einziges Mal geholfen.

Nun, das war vorbei. Sie war fertig mit den Guten Seelen, sie war fertig damit, den undankbaren Menschen in den Midlands zu helfen. Was hatte es ihr eingebracht? Im Ratssaal hatte sie das erfahren. Den unsterblichen Haß ihres Volkes. Eben jenes Volkes, für das sie gekämpft hatte, obwohl sie dafür Kindern hatte weh tun müssen. Die Menschen mochten keine Konfessoren und hatten aus einer Vielzahl von Gründen Angst vor ihnen, doch Kahlan war verblüfft gewesen, als sie entdeckt hatte, wie sie wirklich über sie dachten.

Von jetzt an wollte sie sich nur noch um sich selbst kümmern, um ihre Freunde und um Richard, und zum Hüter mit all den anderen. Er konnte sie alle haben. Mit denen war sie fertig.

Sie war die längste Zeit die Mutter Konfessor gewesen. Jetzt war sie Kahlan.

Die Fackel erlosch flackernd und tauchte das Verlies in tiefe Dunkelheit.

»Nochmals vielen Dank, ihr Guten Seelen!« schrie sie aus Leibeskräften. Ihre Worte hallten durch das Verlies. »Zum Hüter mit euch!«

Die Männer fielen in der Dunkelheit über Tyler her. Kahlan wußte nicht, was vor sich ging. Sie hörte Ächzen, Schreie und dumpfe Schläge.

Dann vernahm sie ein hallendes, schlagendes Geräusch. Sie begriff nicht, was es war. Und dann hörte sie eine gedämpfte Stimme, die sie leise bei ihrem Titel rief. Die vertraute Stimme kam von oben.

»Chandalen! Chandalen! Ich bin hier unten! Mach die Tür auf!«

»Mutter Konfessor!« erscholl die Stimme hinter der Tür. »Wie soll ich denn die Tür aufmachen?«

Kahlan stieß einen spitzen Schrei aus, als eine Hand sie am Knöchel packte und sie von den Füßen riß. Als Chandalen ihren Schrei hörte, rief er etwas. Tyler packte die Finger an ihrem Knöchel und bog sie zurück, bis sie brachen. Der Mann schrie in der Dunkelheit auf.

»Chandalen! Du brauchst einen Schlüssel! Nimm den Schlüssel!«

»Schlüssel? Was ist das, ein Schlüssel?«

»Chandalen!« Sie stieß einen Kopf von ihrem Bauch. »Chandalen! Weißt du noch, als wir in der Stadt mit all den toten Menschen waren? Erinnerst du dich an das Gemach der Königin, das abgeschlossen war? Erinnerst du dich, wie ich dir einen Schlüssel gezeigt habe, mit dem man die Tür öffnen konnte? Chandalen, einer der Wachen hat einen Ring an seinem Gürtel! Daran hängt der Schlüssel! Beeil dich!«

Kahlan hörte Tylers Ächzen, als er krachend gegen die Wand geschleudert wurde. Sie hörte die knochenerschütternden Schläge seiner Fäuste. Von oben vernahm sie ein metallisches Klingeln.

»Mutter Konfessor! Er läßt sich nicht drehen!«

»Dann ist es der falsche! Probiere einen anderen!«

Jemand prallte gegen sie, stieß sie zu Boden. Sie kratze ihm die Augen aus. Er boxte sie in den Bauch.

Plötzlich fiel ein Streifen Licht in die Grube. Tyler erblickte den Kerl auf ihr und riß ihn herunter. Eine Leiter wurde heruntergelassen.

»Tyler! Halte sie von der Leiter fern!«

Kahlan stürmte zur Leiter und krabbelte nach oben. Die Männer warfen sich auf Tyler. Sie hörte ihn stöhnen, hörte, wie sein Genick brach. Als ihr jemand mit der Faust gegen die Wade schlug, glitt sie mit dem Fuß an einer Sprosse ab. Hände griffen nach ihren Knöcheln. Kahlan trat dem Mann unter ihr ins Gesicht und kletterte mühsam weiter. Er stürzte rücklings hinab und riß die anderen mit. Im Nu waren sie jedoch wieder hinter ihr her.

Kahlan streckte sich nach der Hand, die ihr nach unten gereicht wurde. Chandalen umklammerte ihr Handgelenk und riß sie durch den Türeingang. Den Kerl gleich hinter ihr erstach er. Als der Mann nach hinten stürzte, schloß Chandalen die Tür mit einem Knall. Keuchend sank sie ihm in die Arme.

»Komm, Mutter Konfessor. Wir müssen hier raus.«

Überall lagen tote Wachen, alle geräuschlos von Chandalens troga getötet. Er hielt ihre Hand, während sie durch die feuchten, dunklen Korridore und die Treppen hinaufrannten. Wie war es Chandalen nur gelungen, den Weg nach hier unten zu finden? Irgend jemand mußte ihn ihm gezeigt haben.

Hinter einer Ecke bot sich ihnen der Anblick eines blutigen Gefechts. Überall lagen Leichen. Nur ein Mann war noch auf den Beinen. Orsk. Seine riesige Streitaxt troff von Blut. Orsk wäre vor Freude fast aus der Haut gefahren, als er sie sah. Und auch sie verspürte zum ersten Mal Freude, sein zernarbtes Gesicht zu erblicken.

»Ich habe ihm gesagt, er soll warten«, erklärte Chandalen, während er sie durch das Chaos von Blut und Leichen zerrte. »Ich habe ihm gesagt, ich würde dich holen, wenn er wartet und diesen Flur bewacht.«

Chandalen sah sie stirnrunzelnd an. Kahlan merkte, daß er auf ihre Haare starrte, oder besser, darauf, was davon noch übrig war. Er sagte jedoch nichts, und sie war froh darüber. Es war mehr als seltsam, das Gewicht der Haare nicht zu spüren, nein, es zerriß ihr fast das Herz. Sie hatte ihr Haar geliebt, genau wie Richard.

Kahlan bückte sich und nahm einem der toten Wachsoldaten seine Axt ab. Solange ihre Kraft noch nicht völlig wiederhergestellt war, fühlte sie sich mit einer Waffe in der Hand wohler.

Chandalen, der Kahlan an der Hand voranzog, während Orsk die Nachhut bildete, stürzte durch eine Tür. Unmittelbar dahinter stand der Hauptmann der Palastwache und drückte eine Frau an die Wand. Er hatte ihr die Arme um den Hals geschlungen, während sie ihn küßte. Seine Hände steckten unter ihrem Kleid.

Der Hauptmann hob verblüfft den Kopf, als sie vorbeirannten. Chandalen stieß dem Mann sein langes Messer in die Rippen.

»Komm!« sagte er zu der Frau. »Wir haben sie!«

Die Frau schloß sich den anderen an, und gemeinsam arbeiteten sie sich mühsam durch den Palast nach oben. Kahlan sah sich verwirrt um. Die Frau in dem Kapuzengewand war dieselbe, die vor ihr in Ohnmacht gefallen war — Jebra Bevinvier.

»Was wird hier eigentlich gespielt?« fragte Kahlan Jebra.

»Vergebt mir, Mutter Konfessor, weil ich in Ohnmacht gefallen bin. Ich hatte eine Vision, ich sah, wie man Euch enthauptet. Es war so grauenhaft, daß ich in Ohnmacht gefallen bin. Dann wurde mir klar, daß ich helfen muß, damit die Vision nicht Wahrheit wird. Ihr hattet mir erzählt, Ihr hättet einen Freund im Wald. Ich bin ihn holen gegangen.«

Sie drückten sich alle flach an eine Wand und warteten, bis eine Patrouille einen angrenzenden Raum passiert hatte. Als die Schritte der Soldaten verhallten, drehte Chandalen sich um und blickte Jebra wütend an.

»Was hast du dort mit diesem Mann getrieben?«

Sie blinzelte überrascht. »Er war der Hauptmann der Wachmannschaft. Er machte gerade mit einer ganzen Abteilung die Runde. Ich habe ihn überredet, die Wachen eine Weile fortzuschicken. Mir fiel nichts anderes ein, um zu verhindern, daß fünfzig Mann dir hier unten eine Falle stellen.«

Chandalen meinte knurrend, das ergäbe vielleicht sogar Sinn.

Während sie weiterrannten, erklärte Kahlan Jebra, sie sei sehr mutig gewesen. Sie wisse, wieviel Mut dazu gehöre. Jebra protestierte, sie sei keine Heldin und wolle auch keine sein.

An einer Kreuzung mit einem Gewölbegang wartete Fräulein Sanderholt. Kahlan stieß einen Schrei aus und schlang die Arme um die Frau. Fräulein Sanderholt streckte die bandagierten Hände aus.

»Nicht jetzt, Mutter Konfessor. Ihr müßt fliehen. Hier entlang ist die Luft rein.«

Als alles bereits in die Richtung stürzte, die Fräulein Sanderholt angegeben hatte, schlug Kahlan die entgegengesetzte Richtung ein. Sie machten kehrt und rannten ihr hinterher.

»Was tust du!« schrie Chandalen. »Wir müssen fliehen!«

»Ich muß etwas aus meinem Zimmer holen!«

»Was könnte wichtiger sein, als zu fliehen?«

»Das Messer deines Großvaters«, rief sie im Laufen.

Als ihnen klar wurde, daß sie ihre Meinung nicht ändern würde, folgten die vier ihr durch ein Labyrinth aus kleineren und weniger häufig benutzten Fluren. Mehrere Male stießen sie auf Wachen. Orsk hackte sie in Stücke, wenn sie Kahlan nachsetzen wollten.

Als sie am oberen Absatz einer Treppe um eine Ecke bogen, wirbelte ein überraschter Wachsoldat zu ihnen herum. Kahlan versenkte ihre Axt mit aller Kraft mitten in seiner Brust. Sein Schwert rutschte über den Boden, als er auf den Rücken stürzte.

Nachdem er zusammengebrochen war, stemmte Kahlan ihm einen Fuß auf seinen sich hebenden Bauch und versuchte, die Axt herauszubrechen. Blutbläschen schäumten hervor, doch die Axt saß in seinem Brustbein fest, daher griff sich Kahlan einfach das keltonische Schwert der Wache. Chandalen war verblüfft. Noch bevor sie ihr Gemach erreichten, hatte sie Gelegenheit, mit ähnlich tödlicher Wirkung von dem Schwert Gebrauch zu machen.

Die anderen warteten im Vorzimmer und versuchten, wieder zu Atem zu kommen, während sie ins Schlafzimmer eilte. Sie blieb wie erstarrt stehen, als sie ihr blaues Hochzeitskleid erblickte. Sie nahm es hoch und hielt es sich an. Deswegen war sie hergekommen. Sie hatte nicht die Absicht, jemals wieder an diesen Ort zurückzukehren und wollte es nicht zurücklassen. Kahlan vergoß eine Träne über das Kleid, rollte es zu einem festen Bündel zusammen und stopfte es in ihren Rucksack.

Man hatte alle anderen Sachen aus ihrem Rucksack ebenfalls gereinigt und für sie bereitgelegt. Sie stopfte sie in ihren Rucksack, nachdem sie sich das Knochenmesser um den rechten Arm gebunden hatte. Sie warf sich den Umhang um die Schultern. Hastig legte sie die Sehne des Bogens ein.

Sie eilte durch das Vorzimmer, Rucksack und Köcher auf dem Rücken, den Bogen über der Schulter. Jetzt hatte sie alles, was sie wollte. Alles, was ihr etwas bedeutete. Sie zögerte einen Augenblick, warf einen letzten Blick in ihr Gemach, während sie spielerisch den runden Knochen an ihrer Halskette drehte, dann führte sie die anderen nach draußen, einen Nebengang entlang. Sie hielt auf eine Tür zu, die hinausführte.

Sie zählte nicht, wie viele Männer Chandalen mit seiner troga oder seinem Messer tötete. Ein großer Wachmann kam aus einem Seitengang gestürzt und versuchte sie zu überrennen. Kahlan rannte ihm das Schwert in den Körper. Die vier bewegten sich unerbittlich wie der Tod durch den Palast. Im Turm läuteten wie wild die Alarmglocken.

Auf dem Absatz, der zur großen Treppe führte, köpfte Orsk einen Posten. Seine Leiche rollte die Stufen hinunter und hinterließ dabei eine Blutspur wie einen roten Teppich, den man für sie ausrollen wollte. Der kopflose Körper blieb hilflos zappelnd am Fuß einer Statue von Magda Searus liegen, der ersten Mutter Konfessor.

Sie liefen die steinernen Stufen hinunter. Ihr Lärm hallte durch die riesige Halle. Kurz bevor sie unten ankamen, riß ein plötzlicher, stechender Schmerz Kahlan die Füße unterm Körper weg. Die letzten Stufen stürzte sie hinunter. Die anderen riefen etwas und eilten zu ihr, wollten wissen, ob ihr etwas zugestoßen sei. Sie erklärte ihnen, sie sei nur gestolpert.

Sie war nicht nur gestolpert.

Kahlan nahm ihren Bogen von der Schulter und zeigte damit nach vorn. »Durch den Saal. Los, lauft durch den Saal. Biegt am Ende rechts ab. Ich hole euch ein. Los.«

»Wir lassen dich nicht zurück!« beharrte Chandalen.

»Ich habe gesagt, lauft.« Kahlan blieb trotz der brennenden Schmerzen in ihren Beinen stehen. »Bring sie auf Trab, Orsk, sofort. Ich folge euch später. Los, verschwindet schon!«

Orsk hob die Axt und knurrte. Die beiden anderen wichen zurück in den Saal, versuchten dabei, auf Kahlan einzureden. Sie beschwerten sich, sie hätten ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um sie zu retten, und würden sie jetzt nicht im Stich lassen.

»Orsk! Schaff sie hier raus!«

»Warum?« brüllten Chandalen und Jebra wie aus einem Mund.

Kahlan zeigte mit ihrem Bogen auf die andere Seite des riesigen Saales, nach oben in eine der hinteren Arkaden. Dort stand eine Gestalt. »Weil er euch sonst töten wird!«

»Wir müssen fliehen! Dich wird er auch umbringen!«

»Wenn er überlebt, wird er uns mit seiner Magie alle zur Strecke bringen und umbringen.«

Ein gelber Lichtblitz zuckte in hohem Bogen durch den weiten Saal. Steine stürzten krachend herab und verdeckten fast die Öffnung, wo die anderen standen.

Kahlan zog einen von Chandalens Pfeilen mit flacher Spitze aus dem Köcher.

»Mutter Konfessor!« kreischte Chandalen. »Den Schuß schaffst du nie! Den würde nicht einmal ich schaffen! Du mußt fliehen!«

Sie verschwieg, daß der Zauberer ihr schneidende Schmerzexplosionen durch den Körper jagte und sie nicht fliehen konnte. Sie konnte sich gerade mit letzter Kraft noch auf den Beinen halten. »Orsk! Schaff sie raus! Sofort! Ich komme nach!«

Ein weiterer Lichtblitz schleuderte weitere Steine umher und scheuchte die drei durch den Saal, angetrieben von Orsk.

Kahlan stellte ein Knie auf den Boden, um einen festen Stand zu haben, als sie den Pfeil einlegte. Sie zog die Sehne an ihre Wange. Die Pfeilspitze lag waagerecht in ihrem Blickfeld. Sie konnte Ranson kaum erkennen, so weit entfernt war er, zudem trübte der Schmerz ihren Blick.

Aber sie konnte ihn lachen hören, während er ungestüm magische Stöße durch ihren Körper jagte. Es klang wie Darken Rahls Lachen. Sie biß sich auf die Innenseite der Wangen, um die Schmerzen zu beherrschen, um den Schrei, der sich seinen Weg nach draußen bahnen wollte, zurückzuhalten. Ein stoßweises Wimmern ließ sich nicht unterdrücken.

»Die Mutter Konfessor als Bogenschützin?« rief er ihr von weitem zu. Sein Lachen wurde vom Gestein, daß sie umgab, zurückgeworfen. »Eure Freiheit war nur von kurzer Dauer, Mutter Konfessor. Hoffentlich war sie Euch das wert. Ihr werdet eine Menge Zeit in der Grube verbringen und darüber nachdenken können.«

Er war zu weit entfernt. Aus so großer Entfernung hatte sie noch nie einen Schuß abgegeben. Richard schon. Sie hatte ihn mit eigenen Augen dabei beobachtet. Bitte, Richard, hilf mir. Zeig mir, wie es geht, wie an jenem Tag. Hilf mir.

Steinerne Ranken lösten sich neben ihr von der Wand, wanden sich peitschengleich um ihre Körpermitte und drückten zu. Der schneidende Schmerz ließ sie aufschreien.

Sie riß den Bogen erneut hoch. Wenn es sein muß, bis zum letzten Atemzug, sagte sie sich. Ihre Arme zitterten. Sie konnte den Zauberer kaum erkennen. Er war zu weit entfernt. Die Ranken hielten sie fest umklammert. Sie konnte nicht fortlaufen, selbst wenn sie gewollt hätte.

Hilf mir, Richard.

Die nächste brutale Schmerzwelle kroch brennend ihre Beine hoch und durch ihren Körper. Tränen strömten brennend über ihre Wangen, während sie sich keuchend schüttelte. Sie konnte den Bogen nicht hochhalten.

Ein Lichtbogen spannte sich um das Treppenhaus. Der Lärm war ohrenbetäubend. Gesteinssplitter pfiffen vorbei. Staubwolken stiegen auf, als eine Säule krachend in sich zusammenstürzte.

In Gedanken hörte sie Richards Stimme: Du mußt schießen können, egal, was gerade geschieht. Nur du und das Ziel, das ist alles, was es gibt. Nichts anderes zählt. Du mußt in der Lage sein, alles andere abzublocken. Du darfst nicht daran denken, wieviel Angst du hast, oder was geschehen wird, wenn du das Ziel verfehlst. Du mußt in der Lage sein, den Schuß unter Druck abzufeuern.

Sie mußte daran denken, wie er leise auf sie eingeredet hatte, ihr zugeflüstert hatte, das Ziel herbeizurufen.

Mit einem Ruck kam das Ziel auf sie zu, so als stünde der Zauberer direkt vor ihr. Sie sah, wie Blitze flüssigen Lichts aus seinen Fingerspitzen zuckten.

Sie konnte ihr Ziel sehen — die Erhebung an seinem Kehlkopf, die auf und ab tanzte, während er lachte. Sie ließ ihren Atem hinausströmen, so wie Richard es ihr beigebracht hatte. Der Pfeil fand die Rille in der Luft.

Sachte wie der Atem eines Säuglings verließ der Pfeil den Bogen.

Sie sah, wie die Federn sich vom Bogen lösten. Sie sah, wie die Sehne gegen ihr Handgelenk prallte. Die steinerne Ranke schlang sich um ihren Hals. Sie ließ das Ziel nicht aus den Augen. Sie beobachtete die Federn des Pfeiles im Flug. Der Schmerz, der sie innerlich zerriß, nahm mit dem Lachen des Zauberers zu.

Plötzlich riß das Lachen ab. Kahlan hörte den dumpfen Aufprall, als die Pfeilspitze seine Kehle traf. Plötzlich ließ die steinerne Ranke von ihr ab, und Kahlan fiel nach vorn, auf Hände und Knie. Tränen tropften ihr vom Gesicht, während sie darauf wartete, daß der Schmerz nachließ. Er verschwand barmherzig schnell.

Kahlan rappelte sich auf. »Zum Hüter auch mit dir, Zauberer Neville Ranson!«

Es gab ein ohrenzersplitterndes Krachen, wie ein Blitzeinschlag, doch statt eines Lichtblitzes fegte eine Welle völliger Dunkelheit durch den Saal. Sie bekam eine Gänsehaut. Die Lampen erloschen flackernd und gingen wieder an.

Kahlan wußte, der Hüter hatte Zauberer Neville Ranson zu sich geholt.

Sie hörte ein Ächzen und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um einen Wachposten zu sehen, der die Treppe hinab auf sie zugesprungen kam. Kahlan duckte sich und richtete sich unter ihm auf, als er landete. Sie benutzte seinen Schwung und warf ihn über das Geländer in den dahinterliegenden Treppenschacht.

Er schnappte nach ihr, als er über das Geländer ging, bekam aber nur ihre Halskette zu fassen. Sie zerriß und fiel mit ihm in die Tiefe. Kahlan beugte sich über das Geländer und sah ihn drei Stockwerke tiefer auf den Steinfußboden schlagen. Sie sah, wie ihm die Halskette beim Aufprall entglitt und über den Fußboden schlidderte.

»Verflucht sollen die Guten Seelen sein«, brummte sie.

Kahlan wollte zur Treppe, um ihr Knochenhalsband wiederzuholen. Doch als sie das Geräusch von Stiefeln auf dem steinernen Boden hörte, kam sie rutschend zum Stehen und hob den Kopf. Weitere Wachen rückten an. Einen Augenblick lang zögerte sie, warf einen Blick nach unten, rannte jedoch statt dessen zum Korridor. Die Seelen hatten ihr nicht geholfen, was sollte dann eine Halskette bewirken? Sie war es nicht wert, ihr Leben zu riskieren.

Kahlan holte die anderen ein, als sie gerade die Tür ins Freie erreichten. Sie seufzten erleichtert auf, als sie Kahlan sahen und erfuhren, daß der Zauberer ihnen nicht mehr auf den Fersen war. Kahlan voran stürzten sie nach draußen in die Nacht. Die vier rannten die breite Treppenflucht hinunter, verfolgt vom unbarmherzigen Lärm der Alarmglocken. Sie lief nach Süden — auf dem kürzesten Weg in den Wald.

Atemlos packte Jebra sie am Arm und riß sie zurück, so daß sie stehenbleiben mußte. »Mutter Konfessor …!«

»Ich bin nicht mehr die Mutter Konfessor. Ich bin Kahlan.«

»Dann also Kahlan. Ihr müßt mir zuhören. Ihr könnt nicht weglaufen.«

Kahlan drehte sich zum Pfad um, der durch den Innenhof führte. »Ich habe diesen Ort satt.«

»Zedd braucht Euch.«

Kahlan wirbelte herum. »Zedd? Du kennst Zedd? Wo ist er?«

Jebra schnappte nach Luft. »Zedd hat mich nach Aydindril geschickt. Am Tag nach Eurer Abreise aus D’Hara. Er sagte, er müsse zu einer Frau namens Adie, und dann werde er zur Burg der Zauberer kommen. Er hat mich hergeschickt, damit ich Euch und Richard helfe und dafür sorge, daß ihr wartet. Zedd braucht Euch.«

Kahlan faßte Jebra bei den Schultern. »Ich brauche Zedd. Ich brauche ihn dringend.«

»Dann müßt Ihr Euch von mir helfen lassen. Ihr dürft nicht fort. Bestimmt rechnen sie damit, daß Ihr flieht, und suchen die Umgebung ab. Sie erwarten sicherlich nicht, daß Ihr in Aydindril bleibt.«

»Bleiben? Ich soll in Aydindril bleiben?«

Sie dachte einen Augenblick lang nach. In Aydindril kannte man sie. Nein, genaugenommen stimmte das nicht. Man kannte ihr langes Haar. Abgesehen von den Ratsmitgliedern, den Botschaftern, dem Personal und Edelleuten bekam kaum jemand die Mutter Konfessor aus der Nähe zu Gesicht, und wenn doch, dann starrten sie bloß auf ihr langes Haar. Dieses Haar hatte sie nicht mehr.

Der Gedanke an den Verlust schnürte ihr das Herz zusammen. Ihr war gar nicht klar gewesen, wieviel ihr ihre Kraft und ihr langes Haar bedeuteten — bis sie beides nicht mehr besessen hatte.

»Es könnte eine Möglichkeit sein, Jebra. Aber wo sollen wir uns verstecken?«

»Zedd hat mir Gold gegeben. Niemand weiß, daß ich mit Eurer Flucht etwas zu tun habe. Ich werde Zimmer anmieten und Euch verstecken, Euch alle.«

Kahlan dachte einen Augenblick lang nach, dann lächelte sie. »Wir könnten als deine Diener auftreten. Eine Lady wie du hätte sicher Personal.«

Jebra wich erschrocken zurück. »Das könnt Ihr unmöglich tun, Mutter Konfessor. Ich bin doch selbst nur eine Dienerin. Zedd hat mich gezwungen, so zu tun, als sei ich eine Dame. Aber ich kann nicht heucheln. Ihr seid eine richtige Dame.«

»Daß du eine Dienerin bist, macht dich nicht zu etwas Geringerem, als ich es bin. Wir können immer nur das sein, was wir sind, nicht mehr und nicht weniger.« Kahlan setzte die Gruppe wieder in Bewegung und führte sie in ein Viertel von Aydindril mit ruhigen, vornehmen Gasthäusern. »Außerdem ist es verblüffend zu erfahrend, wozu man fähig ist, wenn man muß. Wir werden tun, was wir müssen. Aber wenn du mich weiter Mutter Konfessor nennst, bringst du uns alle um.«

»Ich werde mein Bestes geben … Kahlan. Ich weiß nur, daß wir warten müssen, bis Zedd nach Aydindril zurückkehrt.« Sie zupfte beharrlich an Kahlans Ärmel. »Mutter Konfessor! Wo steckt Richard? Das ist von äußerster Wichtigkeit!« Sie senkte beklommen die Stimme. »Ich will Euch nicht herabwürdigen und hoffe, Ihr faßt es nicht so auf, aber es geht um Richard. Zedd braucht Richard.«

»Und deswegen brauche ich Zedd«, sagte Kahlan.

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