13

Die Todesursache. Sie hob gedankenverloren den Kopf und drückte das runde Ende der schlichten, mit einem Holzgriff versehenen Feder an ihre Unterlippe. Das kleine, anspruchslose Zimmer wurde schwach von Kerzen beleuchtet, die auf den unordentlichen Papierstapeln ihres Schreibtisches standen. Zwischen dicken Büchern waren Schriftrollen zu wackeligen Stapeln aufgeschichtet. Die dunkle Patina der Schreibfläche war nur an einer kleinen Stelle direkt vor ihr zu erkennen und umrahmte den wartenden Bericht.

Verschiedene magische Gegenstände standen dicht gedrängt in den Regalen hinter ihr und setzten Staub an. Die allgegenwärtigen und emsigen Putzkolonnen durften sie nicht berühren, damit blieb die Aufgabe, sie zu entstauben, an ihr hängen, doch sie hatte nie genügend Zeit, verspürte nie die rechte Lust. Zumal die Fläschchen unter einer Schicht Staub weniger bedeutsam aussahen.

Schwere Vorhänge waren zugezogen und sperrten die Nacht aus. Den einzigen Farbtupfer im Zimmer bot ein gelb-blauer Teppich, der auf der anderen Seite vor dem Schreibtisch lag. Für gewöhnlich verbrachten Besucher dieses Arbeitszimmers ihre Zeit damit, ihn gesenkten Hauptes anzustarren.

Die Todesursache. Berichte bereiteten nichts als Verdruß. Sie seufzte. Doch ein Verdruß, der sich nicht umgehen ließ. Zumindest nicht im Augenblick. Im Palast der Propheten wurden gewaltige Mengen von Berichten benötigt. Es gab Schwestern, die ihr ganzes Leben in Bibliotheken verbrachten, Berichte katalogisierten, sie umhegten und jedes noch so nutzlose Wort, das ihrer Meinung nach vielleicht eines Tages wichtig werden könnte, für die Ewigkeit aufbewahrten.

Nun, es blieb nichts anderes übrig, als sich eine passende Todesursache einfallen zu lassen. Die Wahrheit genügte einfach nicht. Ihre Schwestern mußten eine befriedigende Erklärung der Todesursache vorweisen können. Wer die Gabe besaß, war bei ihnen hoch angesehen. Diese Närrinnen.

Ein Ausbildungsunfall? Sie mußte lächeln. Ja, ein Ausbildungsunfall. Das hatte sie schon seit Jahren nicht mehr verwendet. Sie spitzte die Lippen, tauchte die Feder in das Tintenfaß und begann zu schreiben. Die Todesursache war ein Ausbildungsunfall mit dem Rada’Han. Jeder Zweig, habe ich die anderen Schwestern immer wieder gewarnt, mag noch so jung und biegsam sein, doch er wird brechen, wenn man ihn zu sehr biegt.

Wer wollte daran zweifeln? Sollten sie sich doch selbst den Kopf zerbrechen, wo der Fehler lag. Es würde sie daran hindern, allzutief zu graben — aus Angst, die Schuld könnte auf sie fallen. Während sie das Papier ablöschte, klopfte es leise an der Tür.

»Einen Augenblick, bitte.« Sie hielt eine Ecke des Briefes des Jungen in die Kerzenflamme, und als er fast verbrannt war, warf sie ihn in den erloschenen Kamin. Das aufgebrochene Siegel zerlief zu einer geschmolzenen roten Pfütze. Er würde keine Briefe mehr schreiben. »Herein.«

Die schwere, oben runde Tür öffnete sich weit genug, daß jemand den Kopf hereinstecken konnte.

»Ich bin’s, Schwester«, ließ sich eine leise Stimme aus dem Schatten vernehmen.

»Bleib nicht dort stehen wie eine Novizin, komm rein und schließ die Tür.«

Die Frau trat ein und schloß die Tür, nachdem sie den Kopf noch einmal hinausgesteckt hatte, um auf dem Gang nachzusehen. »Schwester…«

Ein Finger auf den Lippen und ein verärgertes Stirnrunzeln brachten sie zum Schweigen. »Keine Namen, wenn wir allein sind. Das habe ich dir doch schon gesagt.«

Die andere musterte die Wände, als erwartete sie, jemand könnte dort plötzlich hervorbrechen. »Aber du hast dein Zimmer doch gewiß abgeschirmt.«

»Natürlich ist es abgeschirmt. Aber es ist immer möglich, daß ein Luftzug die Worte zu den falschen Ohren trägt. Wenn das je passiert, dann wollen wir doch sicher nicht, daß unsere Namen mit hinausgetragen werden, oder?«

Die Augen der anderen suchten noch einmal hektisch die Wände ab. »Natürlich nicht. Du hast natürlich recht.« Sie rieb ihre Hände aneinander. »Irgendwann wird das nicht mehr nötig sein. Dieses Versteckspiel widert mich an. Eines Tages werden wir…«

»Was hast du herausgefunden?«

Sie sah zu, wie die Frau ihr Kleid an den Hüften glattstrich, sich dann mit den Fingern auf den Schreibtisch stützte und sich ein Stück nach vorn beugte. Ihre Augen hatten etwas Wildes, Durchdringendes. Es waren eigenartige Augen, blaß, blaßblau, mit dunkelvioletten Flecken. Es fiel ihr immer schwer, den Blick von diesen Augen zu wenden.

Sie beugte sich vor und meinte flüsternd: »Sie haben ihn gefunden.«

»Hast du das Buch gesehen?«

Sie nickte langsam. »Ich habe es gesehen. Während des Abendessens. Ich habe gewartet, bis die anderen beim Essen waren.« Sie setzte eine gleichmütige Miene auf. »Er hat das erste Angebot abgelehnt.«

Sie schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Was! Bist du sicher?«

»So stand es jedenfalls im Buch. Und nicht nur das, da stand noch mehr. Er ist erwachsen. Ein erwachsener Mann.«

»Erwachsen!« Sie mußte tief durchatmen, während sie die Schwester vor ihr musterte. »Welche Schwester war es?«

»Macht das einen Unterschied? Sie gehören doch alle zu uns.«

»Nein, das ist nicht wahr. Es war mir nicht möglich, drei von uns loszuschicken. Nur zwei. Eine gehört zu den Schwestern des Lichts.«

Die andere riß die Augen auf. »Wie konntest du das zulassen? So etwas Wichtiges wie das…«

Wieder landete ihre Hand klatschend auf der Schreibtischplatte. »Sei still!«

Ihr Gegenüber richtete sich auf und faltete die Hände. Sie zog einen leichten Schmollmund. »Es war Schwester Grace.«

Sie schloß die Augen und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Schwester Grace war eine von uns«, sagte sie leise.

Die andere beugte sich wieder über den Schreibtisch. »Dann gehört nur eine der beiden übrigen zu uns. Aber welche? Schwester Elizabeth oder Schwester Verna?«

»Das brauchst du nicht zu wissen.«

»Warum nicht? Ich kann es nicht leiden, nie Bescheid zu wissen. Ich hasse es, wenn ich nicht weiß, ob die Schwester, mit der ich spreche, eine Schwester des Lichts ist oder eine von uns, eine Schwester der Finsternis…«

Sie schlug mit der Faust auf den Tisch und biß die Zähne zusammen. »Sprich das nie wieder laut aus«, zischte sie, »oder ich werde dich dem Unaussprechlichen in Einzelteilen schicken.«

Diesmal starrte die andere auf den Teppich und erbleichte. »Vergib mir«, bat sie leise.

»Keine lebende Schwester des Lichts sieht etwas anderes in uns als eine Legende. Sollte ihnen dieser Name je zu Ohren kommen, könnten sie vielleicht auf dumme Gedanken kommen. Du darfst diesen Namen nie, niemals, laut aussprechen. Sollten dir die Schwestern des Lichts jemals auf die Schliche kommen oder herausfinden, wem du dienst, legen sie dir einen Rada’Han um den Hals, bevor du Gelegenheit hast, auch nur zu schreien.«

Die andere fuhr sich mit den Händen an die Kehle und stieß einen unterdrückten Schrei aus. »Aber ich…«

»Du würdest dir selbst die Augen auskratzen, um nicht sehen zu müssen, wie sie Tag für Tag anrücken, um dich auszufragen. Aus diesem Grund sollst du die Namen der anderen nicht kennen, damit du sie nicht verraten kannst. Deswegen kennen sie deinen Namen nicht, damit sie dich nicht verraten können. Es soll uns alle schützen, damit wir dienen können. Der einzige Name, den du kennst, ist meiner.«

»Aber Schwester … Ich würde mir eher die Zunge abbeißen, als deinen Namen zu verraten.«

»Das sagst du jetzt. Doch hättest du den Rada’Han um deinen Hals, würdest du darum betteln, mich verraten zu dürfen, nur damit man ihn dir abnimmt … Aber es ist auch egal, ob ich dir vergebe. Enttäuschst du uns, wird der Namenlose alles andere als versöhnlich sein. Ein Blick in seine Augen läßt das, was man dir bei lebendigem Leib unter dem Rada’Han antun könnte, wie ein nettes Teestündchen erscheinen.«

»Aber ich diene … ich habe geschworen … ich habe meinen Eid geleistet.«

»Wer dient, der wird seinen Lohn erhalten, sobald der Namenlose vom Schleier befreit ist. Wer ihn enttäuscht oder bekämpft, wird eine ganze Ewigkeit Zeit haben, seinen Fehler zu bereuen.«

»Natürlich, Schwester.« Mittlerweile starrte sie wütend auf den Teppich. »Ich lebe nur, um zu dienen.« Sie faltete die Hände wieder. »Ich werde unseren Herrn und Meister nicht enttäuschen. Bei meinem Eid.«

»Bei deiner Seele.«

Sie hob trotzig den Blick. »Ich habe meinen Eid geleistet.«

Die andere nickte und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »So wie wir alle, Schwester.« Sie sah ihr einen Augenblick lang in die Augen. »Stand noch etwas in dem Buch?«

»Ich hatte nicht die Zeit, es gründlich zu lesen, doch ein paar andere Dinge sind mir aufgefallen. Er ist bei der Mutter Konfessor. Er ist ihr als Gatte versprochen.«

Sie runzelte die Stirn. »Die Mutter Konfessor.« Sie winkte ab. »Das ist kein Problem. Was noch?«

»Er ist der Sucher.«

Sie ließ ihre Hand auf den Schreibtisch krachen. »Verflucht sei das Licht!« Sie seufzte laut. »Der Sucher. Nun, damit werden wir schon fertig werden. Sonst noch was?«

Die andere nickte langsam und beugte sich weiter vor. »Er ist stark; er ist erwachsen, und doch haben ihm die Kopfschmerzen bereits zwei Tage nach Auslösen der Gabe das Bewußtsein geraubt.«

Die Schwester hinter dem Schreibtisch erhob sich aus ihrem Sessel. Diesmal war es an ihr, große Augen zu machen. »Zwei Tage«, hauchte sie. »Bist du sicher? Zwei Tage?«

Ihr Gegenüber zuckte mit den Achseln. »Ich erzähle dir nur, was in dem Buch stand. Ich weiß genau, was dort stand. Ich bin nicht sicher, ob es stimmt. Ich wüßte nicht, ob es stimmen könnte.«

Sie ließ sich in ihren Sessel zurücksinken. »Zwei Tage.« Sie starrte auf ihren Schreibtisch. »Je eher wir ihm den Rada’Han anlegen, desto besser.«

»In diesem Punkt wären sogar die Schwestern des Lichts mit dir einer Meinung. Es wurde übrigens eine Antwort zurückgeschickt. Von der Prälatin.«

Sie zog eine Braue hoch. »Die Prälatin hat selbst Anordnungen gegeben?«

Die andere nickte. »Ja.« Kaum hörbar fügte sie hinzu: »Ich würde gern wissen, ob sie mit uns oder gegen uns ist.«

Die Frage wurde übergangen. »Was hat sie gesagt?«

»Daß Schwester Verna ihn persönlich töten soll, falls er das dritte Angebot ablehnt. Hast du jemals eine solche Anordnung gehört? Wenn er wirklich so stark ist und beim dritten Mal ablehnt, wäre er doch ohnehin ein paar Wochen später tot. Warum sollte sie eine solche Anordnung geben?«

»Hast du je gehört, daß jemand das erste Angebot abgelehnt hätte?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Das ist eine der Regeln. Lehnt jemand mit der Gabe alle drei Angebote ab, muß er getötet werden, damit ihm das Leid und der Wahn am Ende erspart bleiben. Du hast eine solche Anordnung noch nie zuvor gehört, weil du noch nie erlebt hast, daß jemand das erste Angebot abgelehnt hat.«

»Ich habe Zeit in den Archiven verbracht und die Prophezeiungen durchgesehen. Dort habe ich einen Hinweis auf die Regel gefunden. Die Prälatin kennt alle verborgenen, alten Regeln. Und sie hat Angst, schließlich hat sie die Prophezeiungen auch gelesen.«

»Angst?« fragte sie fassungslos. »Die Prälatin? Ihr hat noch nie irgend etwas angst gemacht.«

Sie nickte der Frau zu. »Aber jetzt hat sie Angst. Wie auch immer, es kommt uns gelegen. Entweder legt man ihm den Halsring an, oder er stirbt. Legt man ihm den Halsring an, werden wir uns auf unsere Weise um ihn kümmern, so wie wir es immer getan haben. Ist er tot, bleibt uns das erspart. Vielleicht wäre er besser tot. Vielleicht sollte er besser sterben, bevor die Schwestern des Lichts dahinterkommen, wer er ist — wenn sie es nicht längst wissen.«

Die andere beugte sich erneut über den Schreibtisch und senkte die Stimme. »Wenn sie es wissen oder herausfinden, dann gibt es auch unter den Schwestern des Lichts einige, die ihn töten würden.«

Die hinter dem Schreibtisch betrachtete einen Augenblick lang die violetten Flecken. »Da hast du allerdings recht.« Ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Was für ein gefährliches Dilemma wäre das für sie. Und was für eine herrliche Gelegenheit für uns.« Ihr Lächeln verschwand. »Was ist mit der anderen Sache?«

Die Frau richtete sich auf. »Ranson und Weber warten dort, wo du sie haben wolltest.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie waren ziemlich großspurig, weil sie alle Prüfungen bestanden hatten und morgen freigelassen werden sollen.« Ein sadistisches Grinsen huschte über ihre Lippen und ihre fleckigen Augen. »Ich habe sie mit einem kleinen Denkzettel daran erinnert, daß sie noch immer den Halsring tragen. Eigentlich müßten wir noch hier unten hören, wie ihre Knie schlottern.«

»Ich muß Unterricht erteilen. Den wirst du übernehmen. Sag ihnen, daß ich Berichte überarbeiten müsse. Ich werde nach unseren beiden Freunden sehen. Sie mögen vielleicht alle Prüfungen der Prälatin bestanden haben, aber noch nicht alle von mir. Einer muß einen Eid schwören. Und der andere…«

Sie beugte sich halb über den Tisch, mit Hunger in den fleckigen Augen. »Welcher? Welchen wirst du … Wie gern würde ich dabei zusehen. Oder helfen. Versprichst du, mir alles zu erzählen?«

Sie mußte über den Eifer der anderen lächeln. »Alles. Ich verspreche es. Vom Anfang bis zum Ende. Jeden einzelnen Schrei. Jetzt geh und übernimm den Unterricht für mich.«

Die Frau tänzelte durch die Tür wie ein aufgekratztes Schulmädchen. Sie war übereifrig. Diese Art von Eifer war gefährlich. Diese Art der Begierde ließ einen die Vorsicht vergessen, ließ einen Risiken eingehen. Sie holte ein Messer aus einer Schublade und notierte sich in Gedanken, sie in Zukunft seltener einzusetzen und ein Auge auf sie zu haben.

Vorsichtig prüfte sie die Schneide mit dem Daumen, stellte zufrieden fest, daß sie rasiermesserscharf war, und schob sich das Messer in den Ärmel — in den Ärmel ohne die Dacra. Sie nahm eine kleine, verstaubte Figur vom Regal und ließ sie in die Tasche gleiten. Bevor sie den Schreibtisch umrundet hatte und durch die Tür war, fiel ihr noch etwas ein. Sie machte kehrt und nahm einen kräftigen Stock an sich, der an der Seite ihres Schreibtisches lehnte.

Es war spät, und die Gänge waren ruhig und zumeist menschenleer. Trotz der Hitze zog sie das kurze dünne Baumwollgewand fester um ihre Schultern. Sie fröstelte beim Gedanken an den Neuen mit der Gabe. Erwachsen. Ein Mann.

Kopfschüttelnd schritt sie über die endlosen Teppiche, vorbei an Lampen in Halterungen, die man mitten in die verzierte Kirschbaumtäfelung eingelassen hatte, vorbei an Tischen, auf denen Trockenblumen standen, und vorbei an schwer verhangenen Fenstern, von denen man die Außenmauer und den Innenhof unten überschauen konnte. Die Lichter der fernen Stadt funkelten wie ein Sternenteppich. Durch die Fenster drang leicht modrig riechende Luft herein. Vermutlich war gerade Ebbe.

Die Putzfrauen, die hier einen Sessel, dort ein Geländer polierten, ließen sich in einen tiefen Hofknicks fallen, wenn sie vorübereilte. Sie nahm kaum Notiz von ihnen, und ganz gewiß schenkte sie ihnen keine Beachtung. Das wäre unter ihrer Würde gewesen.

Ein erwachsener Mann.

Beim Gedanken daran wurde ihr Gesicht heiß vor Zorn. Wie war das möglich? Jemand hatte einen schweren Fehler gemacht. Einen Fehler gemacht oder etwas übersehen. Das mußte es sein.

Ein Dienstmädchen auf Händen und Knien, das konzentriert an einem Fleck im Teppich rieb, hob gerade noch rechtzeitig den Kopf, um mit einem »Vergebt mir, Schwester« aus dem Weg zu springen. Auf Hände und Knie gestützt, berührte sie unter einer weiteren Entschuldigung den Boden mit der Stirn.

Ein erwachsener Mann. Es wäre schwierig genug gewesen, ihn umzudrehen, wäre er noch ein kleiner Junge. Aber als Mann? Sie schüttelte erneut den Kopf. Erwachsen. Niedergeschlagen schlug sie sich mit dem Stab auf die Schenkel. Zwei Dienstmädchen fuhren bei dem Geräusch zusammen, fielen auf die Knie und verbargen ihr Gesicht hinter zum Gebet gefalteten Händen.

Erwachsen oder nicht, er würde einen Rada’Han um den Hals bekommen, und ein ganzer Palast voller Schwestern würde ihn bewachen. Doch selbst mit einem Rada’Han war er noch immer ein erwachsener Mann. Und der Sucher. Vielleicht würde es schwierig, ihn zu kontrollieren. Gefährlich schwierig.

Falls erforderlich, konnte es mal wieder zu einem ›Ausbildungsunfall‹ kommen. Und wenn nicht das, so gab es für jemanden mit der Gabe gewiß noch genügend andere Gefahren, die ihm Schlimmeres als den Tod bescheren konnten. Wenn sie ihn aber umdrehen und ihn benutzen konnte, dann hätte sich all die Mühe gelohnt.

Sie bog in einen Gang ein, den sie zuerst für leer gehalten hatte, dann bemerkte sie eine junge Frau, die im Schatten zwischen zwei Lampen stand und aus dem Fenster blickte. Sie glaubte sie zu kennen. Eine der Novizinnen. Sie blieb hinter der jungen Frau stehen und verschränkte die Arme. Die Novizin tappte mit dem Fuß auf den Boden, während sie sich, auf die Ellenbogen gestützt, aus dem Fenster lehnte und das Tor unten beobachtete.

Auf ein Räuspern hin fuhr die junge Frau herum und sank in einen Hofknicks nieder.

»Vergib mir, Schwester, ich habe dich nicht kommen hören. Einen guten Abend wünsche ich dir.«

Als die junge Frau den Blick wieder hob und sie aus großen braunen Augen ansah, schob sie ihr das Ende des Stabes unters Kinn und hob es noch ein wenig höher. »Pasha, nicht wahr?«

»Ja, Schwester. Pasha Maes. Novizin im dritten Rang. Die als nächste ernannt werden wird.«

»Als nächste«, schnaubte sie verächtlich. »Mutmaßungen, Liebes, stehen einer Schwester nicht zu, und erst recht keiner Novizin. Nicht einmal einer im dritten Rang.«

Pasha schlug die Augen nieder und machte einen Knicks — so gut das mit dem Stab unter ihrem Kinn möglich war. »Ja, Schwester. Vergib mir.«

»Was tust du hier?«

»Ich schaue bloß hinaus, Schwester. Hinaus in die Nacht.«

»Du schaust hinaus in die Nacht? Ich würde sagen, du beobachtest das Tor. Irre ich mich, Novizin?«

Pasha versuchte, den Blick zu senken, doch der Stock hob ihr Kinn, so daß sie ihre Vorgesetzte ansehen mußte. »Nein, Schwester«, gestand sie, »du täuschst dich nicht. Ich habe tatsächlich das Tor beobachtet.« Sie leckte sich mehrmals über ihre vollen Lippen.

Schließlich sprudelten die Worte nur so hervor. »Ich habe etwas gehört, was man sich unter den Mädchen so erzählt. Es heißt, na ja, es heißt, drei der Schwestern seien jetzt schon lange fort, und das könne nur bedeuten, daß sie einen mit der Gabe hierherbringen. Einen Neuen. In all den Jahren, die ich hier bin, habe ich noch nie gesehen, wie man einen Neuen hergebracht hat.« Sie leckte sich wieder ihre Lippen. »Na ja, ich bin … ich meine … hoffentlich bin ich die nächste. Und wenn ich tatsächlich ernannt werden sollte, dann muß ich einen Neuen zugeteilt bekommen.« Sie knetete ihre Finger. »Ich wünsche mir so sehr, zur Schwester ernannt zu werden. Ich habe hart studiert, hart gearbeitet. Gewartet und gewartet. Und immer noch ist kein Neuer gekommen. Vergib mir, Schwester, aber ich kann nicht anders, ich bin einfach aufgeregt und hoffe, mich würdig zu erweisen. Ja, ich habe das Tor beobachtet, in der Hoffnung, zu sehen, wie ein Neuer hergebracht wird.«

»Und du hältst dich stark genug für diese Aufgabe? Für einen Neuen?«

»Ja, Schwester. Ich studiere und übe meine Formeln jeden Tag.«

Sie rümpfte die Nase und blickte auf die Novizin herab. »Tatsächlich? Zeig es mir.«

Die beiden starrten sich an. Plötzlich spürte sie, wie ihre Füße ein paar Zentimeter vom Boden gehoben wurden. Ein fester Luftgriff, kräftig. Nicht schlecht. Sie fragte sich, ob die Novizin wohl der Interferenz fähig wäre. Parallel zu diesem Gedanken brach an beiden Enden der Halle ein Feuer aus und raste mit Geheul auf die beiden Frauen zu. Pasha zuckte nicht mit der Wimper. Das Feuer prallte gegen eine Wand aus Luft, bevor es sie erreichte. Luft war nicht das beste, um Feuer abzuhalten. Ein kleiner Fehler, den Pasha schnell korrigierte. Bevor das Feuer durchbrannte, wurde die Luft feucht, triefend. Das Feuer erlosch zischend.

Obwohl sie nicht versuchte, sich zu bewegen, wußte sie, daß sie es nicht konnte. Sie spürte, daß der Griff sie festhielt. Sie machte den Griff kalt, spröde wie Eis, dann brach sie ihn. Als sie sich befreit hatte, hob sie Pasha vom Boden hoch. Verteidigungsnetze des Mädchens verflochten sich mit ihrem schlangengleichen Ansturm, doch es gelang ihnen nicht, ihren Zugriff zu brechen. Ihre Füße hoben sich erneut. Eindrucksvoll — das Mädchen konnte sogar kontern, wenn es festgehalten wurde.

Die Zauberkräfte verflochten sich, kollidierten, kämpften miteinander, verfilzten sich zu Knoten. Die beiden nahmen es miteinander auf, wehrten sich, schlugen zurück, sobald sich eine Gelegenheit bot. Der stumme, bewegungslose Kampf tobte eine Zeitlang weiter, während die beiden ein paar Zentimeter über dem Boden schwebten.

Schließlich war sie den Wettkampf leid, trennte sich aus den Netzen, verband sie mit dem Mädchen und schloß es darin ein. Sie landete sanft auf dem Boden und überließ es Pasha, sich mit dem gesamten Gewicht der Ladung abzumühen. Eine einfache, wenn auch krumme Art, sich aus der Affäre zu ziehen. Indem man seinem Gegner nicht nur die Angriffszauberkräfte aufhalste, sondern auch die eigenen. Pasha traf dies unvorbereitet, und sie konnte sich dagegen nicht wehren. So hatte man das ihr nicht beigebracht.

Der Schweiß lief der Novizin herunter, und sie verzog leicht das Gesicht. Die Kräfte, die hier im Gang wirkten, bogen die Teppichecken hoch. Lampen zersprangen in ihren Halterungen. Pasha wurde wütend. Sie legte die Stirn in Falten. Mit einem lauten Krachen, das einen Spiegel am anderen Ende des Gangs zerspringen ließ, brach sie den Bann. Ihre Pantoffelfüße landeten auf dem Boden.

Pasha mußte ein paarmal tief durchatmen. »So etwas habe ich vorher noch nie gesehen, Schwester. Das entspricht nicht den … Regeln.«

Sie schob der anderen den Stab erneut unters Kinn. »Regeln sind etwas für Kinderspiele. Du bist kein Kind mehr. Wenn du eine echte Schwester bist, mußt du dich mit Situationen auseinandersetzen, für die es keine Regeln gibt. Du mußt darauf vorbereitet sein. Wenn du dich immer an irgend jemandes ›Regeln‹ hältst, wirst du dich vielleicht an der Spitze eines sehr scharfen Messers wiederfinden — das von einer Hand gehalten wird, die nichts von deinen ›Regeln‹ weiß.«

Pasha zuckte mit keiner Wimper. »Ja, Schwester. Danke, daß du es mir gezeigt hast.«

Insgeheim mußte sie lächeln, hütete sich aber davor, es sich anmerken zu lassen. Das Mädchen hatte Rückgrat, wenn auch nur wenig. Eine seltene Eigenschaft bei einer Novizin, selbst bei einer dritten Ranges.

Sie ließ ihren Blick erneut über Pasha schweifen: weiches, braunes Haar, das gerade ihre Schultern berührte, große, braune Augen, ein hübsches Gesicht, Lippen von der Art, wie sie Männer liebten, stolze, erhobene Schultern und eine Figur, die nicht einmal das Novizenkleid verhüllen konnte.

Sie strich Pasha mit dem Stab übers Kinn, dann den Hals hinunter, bis tief hinein in die deutlich sichtbare Kerbe ihres Busens.

Ein erwachsener Mann.

»Und seit wann, Pasha«, sagte sie mit einer Stimme, die beides hätte sein können, bedrohlich oder freundlich, »ist es Novizinnen erlaubt, ihr Kleid derart aufgeknöpft zu tragen?«

Pasha errötete aufs heftigste. »Vergib mir, Schwester. Die Nacht ist so warm. Ich war allein … ich dachte nicht, daß jemand in der Nähe ist. Ich wollte nur meine Haut in der Brise kühlen.« Ihr Gesicht wurde noch röter. »Ich schwitze an dieser Stelle so. Ich hatte nie die Absicht, jemanden verlegen zu machen. Vergib mir.«

Pasha griff hastig nach den Knöpfen. Mit dem Stab schob sie die Hände sacht von der Wölbung des Busens der jungen Frau fort.

»Der Schöpfer hat dich so erschaffen. Warum solltest du dich einer Sache schämen, die dir der Schöpfer in seiner ganzen Weisheit hat zuteil werden lassen? Pasha, du solltest dich niemals dessen schämen, womit Er dich gesegnet hat. Nur jemand, dessen Loyalität dem Schöpfer gegenüber fragwürdig ist, wird dich dafür tadeln, daß du das Wirken des Schöpfers voller Stolz in seiner ganzen Größe zeigst.«

»Aber … danke, Schwester. So hab’ ich das noch nie betrachtet.« Eine Frage legte ihre Stirn in Falten. »Was meinst du mit ›fragwürdiger Loyalität‹?«

Sie zog den Stab zurück und zog eine Braue hoch. »Wer den Namenlosen verehrt, verbirgt sich nicht im Schatten, Liebes. Sie können überall sein. Ja, selbst du könntest eine von ihnen sein. Sogar ich.«

Pasha fiel auf ein Knie und senkte den Kopf. »Oh, bitte, Schwester«, flehte sie, »sag so etwas nicht von dir, nicht einmal im Scherz. Du bist eine Schwester des Lichts, und wir befinden uns im Palast der Propheten und in Sicherheit vor dem Namenlosen, wie ich hoffe.«

»In Sicherheit?« Sie gab der Novizin ein Zeichen mit dem Stab, sie solle sich erheben. Als sie aufgestanden war, warf sie ihr einen strengen Blick zu. »Nur eine Närrin glaubt sich in Sicherheit, selbst hier. Die Schwestern des Lichts sind keine Närrinnen. Selbst sie müssen immer wachsam vor der Finsternis sein.«

»Ja, Schwester. Ich werde daran denken.«

»Denke jedesmal daran, wenn dir jemand Schani einreden will, weil dein Schöpfer dich so erschaffen hat. Frage dich selbst, wieso sie angesichts des Werks des Schöpfers erröten. So erröten wie der Namenlose.«

»Ja, Schwester, danke«, stammelte sie. »Du hast mir einiges gegeben, über das ich nachdenken muß. So habe ich den Schöpfer noch nie betrachtet.«

»Er hat seine Gründe für das, was er tut. Nicht wahr?«

»Wie meinst du das?«

»Nun, wenn er einem Mann einen kräftigen Rücken gibt, was besagt das?«

»Das weiß jeder. Er hat den kräftigen Rücken bekommen, damit er ihn benutzt. Es bedeutet, daß der Schöpfer ihm den kräftigen Rücken gegeben hat, damit er arbeiten und seine Familie ernähren kann. Damit er arbeitet und sein Auskommen hat. Damit der Schöpfer stolz auf ihn ist. Und nicht, damit er faul ist und das Geschenk des Schöpfers vergeudet.«

Die Schwester wedelte mit dem Stab vor Pasha hin und her. »Und was, glaubst du, hat der Schöpfer sich gedacht, als er dir diesen Körper gegeben hat?«

»Ich … ich weiß es nicht … genau. Damit ich ihn benutze … um den Schöpfer … irgendwie … stolz zu machen auf sein Werk?«

Sie nickte. »Denk darüber nach. Denk darüber nach, weshalb du hier bist. In dieser Zeit. Wir sind alle aus einem bestimmten Grund hier. Die Schwestern des Lichts sind aus einem bestimmten Grund hier, nicht wahr?«

»Aber ja, Schwester. Wir sind hier, um die auszubilden, die die Gabe besitzen, ihnen beizubringen, wie man sie benutzt, und sie so anzuleiten, daß sie das Raunen des Namenlosen nicht hören, sondern nur ihren Schöpfer.«

»Und wie können wir das tun?«

»Man hat uns das Geschenk gemacht, Magierinnen zu sein, damit wir sie anleiten.«

»Und wenn der Schöpfer so weise war, dir dieses Geschenk zu machen, das Geschenk, eine Magierin zu sein, meinst du nicht auch, daß er dir dann auch dein Aussehen aus einem bestimmten Grund gegeben hat? Weil es vielleicht zu deiner Berufung als Schwester des Lichts gehört? Weil du es benutzen sollst, um ihm zu dienen?«

Pasha starrte vor sich hin. »Also, so habe ich das noch nie betrachtet. Und wie soll mein Aussehen nützlich sein?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Die Wege des Schöpfers sind unergründlich. Wenn es ihm beliebt, offenbart er sich uns.«

»Ja, Schwester.« Ihre Stimme klang unsicher.

»Pasha, wenn du einen Mann siehst, den der Schöpfer mit einem guten Aussehen gesegnet hat, einem schön geformten Körper, was denkst du dann? Was empfindest du?«

Pasha wurde rot. »Ich … manchmal … manchmal fängt mein Herz an zu rasen. Nehme ich an. Ich fühle mich … gut. Voller Sehnsucht.«

Endlich gestattete sich die Schwester ein dünnes Lächeln. »Es gibt keinen Grund zu erröten, Liebes. Jeder sehnt sich danach, etwas zu berühren, das die Hand des Schöpfers hervorgebracht hat. Meinst du nicht, es gefällt dem Schöpfer, daß du sein Werk zu schätzen weißt? Meinst du nicht, er möchte, daß dir gefällt, was er geschaffen hat? Damit du es genießt? Genauso genießen Männer es, deine Schönheit zu bewundern, und sie sehnen sich danach, ein Werk aus der Hand des Schöpfers zu berühren. Es wäre ein Verbrechen gegen den Schöpfer, von dem, was er dir gegeben hat, nicht zu seinem Lob Gebrauch zu machen.«

Pasha lächelte schüchtern. »So habe ich das wirklich noch nie betrachtet. Du hast mir eine neue Sicht geschenkt, Schwester. Je mehr ich lerne, desto weniger scheine ich zu wissen. Hoffentlich werde ich eines Tages als Schwester des Lichts nur halb so weise sein wie du.«

»Das Wissen kommt, wann es ihm beliebt, Pasha. Die Lektionen des Lebens ereilen einen in den überraschendsten Augenblicken. Wie zum Beispiel heute abend.« Sie deutete mit dem Stab aufs Fenster. »Hier stehst du, schaust aus einem Fenster und hoffst, etwas Bestimmtes zu erfahren, und dann lernst du etwas viel Wichtigeres.«

Pasha legte der Schwester die Hand auf den Arm. »Ich danke dir, Schwester, daß du dir die Zeit genommen hast, mir etwas beizubringen. So offen hat noch keine Schwester zu mir gesprochen.«

»Dies, Pasha, ist eine Lektion, die nicht im Lehrplan des Palastes steht. Es ist eine Lektion, über die der Namenlose sehr verärgert wäre, also behalte sie für dich. Wenn du über das nachdenkst, was ich dir gesagt habe, und das Werk des Schöpfers sich offenbart, wirst du besser verstehen, wie es ist, für ihn zu arbeiten. Und wenn du ein tieferes Verständnis suchst, dann bin ich immer hier, um dich zu führen. Aber halte unser Gespräch vor anderen geheim. Wie ich schon sagte, man kann nie wissen, wer den Eingebungen des Namenlosen lauscht.«

Pasha machte einen Knicks. »Das werde ich, Schwester. Danke.«

»Eine Novizin wird zahlreichen Prüfungen unterzogen. Prüfungen, die der Palast ersonnen hat. Dabei sind Regeln zu befolgen. Die letzte Prüfung, um als Schwester des Lichts ernannt zu werden, besteht darin, mit einem Neuen betraut zu werden. In dieser, der abschließenden Prüfung, gelten die Regeln nicht immer. Neue können unberechenbar sein. Das heißt aber nicht, daß sie schlecht sind.«

»Unberechenbar?«

»Natürlich. Sie kommen her, herausgerissen aus ihrem vertrauten Leben, und werden an einen neuen Ort verfrachtet, mit neuen Anforderungen, die sie nicht begreifen. Sie können rebellisch sein, schwer zu beherrschen. Das liegt daran, daß sie Angst haben. Wir müssen geduldig sein.«

»Angst …? Vor den Schwestern? Und dem Palast?«

»Hast du keine Angst gehabt, als du hierhergekommen bist? Nur ein wenig?«

»Nun ja, vielleicht ein wenig. Aber es war mein Traum, hierherzukommen. Ich wollte es mehr als alles andere.«

»Für die Neuen ist es nicht unbedingt ihr Traum. Sie sind verwirrt durch ihre Kraft. Deine ist mit dir zusammen gewachsen. Du warst daran gewöhnt, sie war ein Teil von dir. Bei ihnen kommt sie manchmal plötzlich, unerwartet. Es ist nichts, was sie geplant oder gewollt hätten. Der RadaHan kann diese Kraft auslösen, und auch er ist für sie neu. Das kann beängstigend sein. Die Angst läßt sie manchmal dagegen ankämpfen. Und gegen uns.

Deine Arbeit, deine Aufgabe als Novizin dritten Ranges ist es, sie zu ihrem eigenen Besten zu beherrschen, bis sie von den Schwestern unterrichtet werden. In all deinen anderen Lektionen hat es Regeln gegeben. In dieser gibt es manchmal keine. Die Neuen wissen noch nichts von unseren Regeln. Sie können schwer zu kontrollieren sein, wenn du nur den Regeln folgst, die du schon kennst. Manchmal reicht der Halsring nicht. Du mußt alles benutzen, was der Schöpfer dir mitgegeben hat. Du mußt in der Lage sein, alles Erforderliche zu tun, um den Willen dieser unausgebildeten Zauberer zu beherrschen. Dies ist die wahre und letzte Prüfung, um Schwester zu werden. Es ist schon vorgekommen, daß Novizinnen in dieser letzten Prüfung versagt haben und aus dem Palast gewiesen wurden.«

Pasha hatte die Augen aufgerissen. »Davon habe ich noch nie gehört.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Dann war ich dir eine Hilfe. Ich bin froh, daß der Schöpfer mich ausersehen hat, dir zu helfen. Vielleicht haben dir andere den Erfolg nicht gegönnt und haben sich deshalb zurückgehalten. Vielleicht tätest du gut daran, mit deinen Fragen über jeden Neuen, der dir zugeteilt wird, zu mir zu kommen.«

»Aber ja. Danke für deine Hilfe, Schwester. Ich muß zugeben, es macht mir Sorge, daß Neue unberechenbar sein können. Wahrscheinlich habe ich mir immer vorgestellt, daß sie erpicht sein müßten, zu lernen, und daß es eine Freude ist, ihnen etwas zu zeigen und beim Lernen zu helfen.«

»Jeder ist anders. Manche sind so einfach wie ein Säugling in der Wiege. Andere werden deinen Scharfsinn auf die Probe stellen. Ich habe sogar alte Aufzeichnungen gesehen, in denen von Neuen die Rede ist, die die Gabe ausgelöst haben, bevor wir sie erreichen konnten, bevor wir ihnen den Rada’Han umlegen und ihnen helfen konnten.«

»Nein … Das muß ja fürchterlich für sie gewesen sein — daß ihre Kraft ohne unsere Anleitung erweckt wurde.«

»Ganz recht. Und Angst kann sie schwierig für uns machen, wie gesagt. Ich habe sogar einen alten Bericht von jemandem gesehen, der den Halsring beim ersten Angebot verweigert hat.«

Pasha schlug die Hand vor den Mund, ihr Atem stockte. Dann nahm sie die Hand wieder fort. »Aber … das bedeutet … eine der Schwestern…«

Sie nickte ernst. »Dies ist der Preis, den wir alle zu zahlen bereit sind. Wir tragen eine große Verantwortung.«

»Aber warum haben seine Eltern ihn nicht dazu bewegen können, das Angebot anzunehmen?«

Die Schwester beugte sich vor und senkte die Stimme. »In dem Bericht, den ich gesehen habe, war es ein Erwachsener, der die Gabe besaß. Ein Mann.«

Pasha starrte sie ungläubig mit großen Augen an. »Ein Mann …?« wiederholte sie leise. »Wenn schon ein Junge schwierig zu beherrschen sein kann … was ist dann mit einem erwachsenen Mann?«

Die Schwester warf der Novizin einen gleichmütigen Blick zu. »Wir sind hier, um im Namen des Schöpfers zu dienen. Man kann nie wissen, was der Schöpfer in seinem Plan vorgesehen hat, warum er dich so ausgestattet hat, wie du bist. Eine Novizin, der man einen Neuen anvertraut hat, muß alle Mittel nutzen, die ihr der Schöpfer mitgegeben hat. Der Halsring genügt nicht immer. Man weiß nie ganz genau, was notwendig sein wird. Die Regeln können übertreten werden.

Willst du noch immer eine Schwester des Lichts werden? Auch wenn du weißt, daß man dir einen Neuen zuteilen kann, der vielleicht schwieriger ist als alle, die je eine Novizin bekommen hat?«

»Aber ja! Ja doch, Schwester. Wenn der Neue schwierig ist, dann weiß ich, daß es sich um eine Prüfung des Schöpfers handelt, ob ich mich wirklich würdig erweise. Ich werde ihn nicht enttäuschen. Ich werde tun, was getan werden muß. Ich werde alles anwenden, was ich gelernt habe, alles, was der Schöpfer mir mitgegeben hat. Ich werde wachsam darauf achten, daß er vielleicht aus einem anderen Land kommt oder fremdartige Gebräuche kennt, ängstlich, voller Kummer oder unberechenbar ist. Und daß ich vielleicht meine eigenen Regeln aufstellen muß, um Erfolg zu haben.« Sie zögerte. »Und wenn du so freundlich wärst und mir tatsächlich helfen würdest, dann werde ich bestimmt niemanden enttäuschen.«

Sie nickte und sah sie lächelnd an. »Du hast mein Wort darauf. Und darauf kannst du dich verlassen, wie schwierig es auch werden wird.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Vielleicht bist du deshalb mit deinem Aussehen gesegnet, damit ein Neuer durch dich die Schönheit des Schöpfers erkennt — durch sein Werk. Vielleicht sollst du auf diese Weise einem Neuen den Weg weisen.«

»Es wäre mir in jedem Fall eine Ehre, einem Neuen das Licht im Werk des Schöpfers zu zeigen.«

»Da hast du allerdings recht, Liebes.« Sie richtete sich auf und faltete die Hände. »Gut. Ich möchte, daß du zur Herrin der Novizinnen gehst und ihr sagst, du hättest zuviel freie Zeit und würdest mit dem morgigen Tag gern ein paar neue Aufgaben übernehmen. Sag ihr, du hättest zuviel Zeit darauf verschwendet, aus dem Fenster zu schauen.«

Pasha neigte den Kopf und machte abermals einen Knicks. »Ja, Schwester«, meinte sie unterwürfig.

Die Schwester lächelte, indes die Novizin den Kopf hob. »Auch ich habe gehört, daß drei der Schwestern nach einem Neuen mit der Gabe suchen. Ich denke, es wird noch eine Weile dauern, bis sie mit ihm zurückkehren — wenn überhaupt –, und wenn sie ihn mitbringen, werde ich die Prälatin daran erinnern, daß du als nächste an der Reihe bist und für diese Aufgabe bereitstehst.«

»Oh, danke, Schwester! Danke!«

»Du bist eine nette junge Frau, Pasha. Der Schöpfer hat in dir wahrhaftig die Schönheit seiner Schöpfung offenbart.«

»Danke, Schwester«, sagte sie, ohne rot zu werden.

»Bedanke dich bei unserem Schöpfer.«

»Bestimmt, Schwester. Schwester? Bevor der Neue hergebracht wird, könntest du mir noch mehr darüber beibringen, was der Schöpfer für mich vorgesehen hat? Mir helfen, es zu verstehen?«

»Wenn du möchtest.«

»Aber ja. Ganz bestimmt.«

Sie tätschelte Pasha die Wange. »Natürlich, Liebes. Natürlich.« Dann richtete sie sich auf. »Und jetzt ab mit dir zur Herrin der Novizinnen. Ich werde nicht zulassen, daß eine zukünftige Schwester nichts Besseres zu tun hat, als aus dem Fenster zu schauen.«

»Ja, Schwester.« Pasha machte lächelnd einen Knicks und lief den Gang hinunter. Dann blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. »Schwester … ich fürchte, ich weiß gar nicht deinen Namen.«

»Geh!«

Pasha zuckte zusammen. »Ja, Schwester.«

Sie sah den Schwung von Pashas runden Hüften, als diese schnellen Schritts den Gang hinunterlief und dabei die aufgerollten Teppichecken glatt trat. Das Mädchen hatte wunderschöne Fesseln.

Ein erwachsener Mann.

Sie nahm ihre Gedanken zusammen und setzte ihren Weg durch Gänge und Treppenhäuser fort. Als sie weiter nach unten kam, wurden aus Holztreppen steinerne. Die Hitze ließ nach, wenn auch nicht die Stickigkeit oder der Geruch der Watten. Der warme Schein der Lampen wich zunehmend dem flackernden Schatten weit voneinander entfernter Fackeln. Personal des Palastes war immer seltener zu sehen, bis ihr niemand mehr begegnete. Sie stieg weiter hinab in die untersten Stockwerke, unter die staubigen Lagerräume, unter die Quartiere der Dienerschaft und die Werkstätten. Die Fackeln hingen in immer größeren Abständen an den Wänden, und schließlich gab es gar keine mehr. Sie entzündete einen Feuerball in ihrer Handfläche und hielt ihn in die Höhe, um Licht zu haben.

Als sie die richtige Tür erreicht hatte, schickte sie die Flamme in eine erkaltete Fackel in einer Halterung gleich neben dem Eingang. Der gemauerte Raum war klein. Es war irgendein aufgegebener Keller, leer bis auf das verfaulte Stroh auf dem Boden, eine brennende Fackel und die beiden Zauberer. Ein unangenehmer Geruch von brennendem Pech und feuchtem Moder erfüllte die Luft.

Bei ihrem Eintreten erhoben sich die beiden leicht schwankend. Sie trugen die schlichten Gewänder, die ihrem hohen Rang geziemten. Beide hatten ein dümmliches Halbgrinsen im Gesicht stehen. Kein Zeichen der Aufsässigkeit, wie sie erkannte, sondern die beiden hatten getrunken. Wahrscheinlich, um ihre letzte Nacht im Palast der Propheten zu feiern. Ihre letzte Nacht bei den Schwestern des Lichts. Die letzte Nacht, in der sie den Rada’Han trugen.

Die beiden Männer waren miteinander befreundet, seit man sie als kleine Jungen fast gleichzeitig in den Palast gebracht hatte. Sam Weber war ein einfacher Mann von durchschnittlichem Wuchs mit lockigem hellbraunem Haar und einem sauber rasierten Kinn, das zu groß schien für sein weichgeschnittenes Gesicht. Neville Ranson war etwas größer, hatte glattes schwarzes Haar, das kurzgeschnitten war und eng anlag. Er trug einen kurzen, gepflegten Bart, in dem sich die ersten grauen Stellen zeigten. Seine Augen waren fast so dunkel wie sein Haar. Neben seinem weichlichen Freund wirkten seine Gesichtszüge um so markanter.

Immer schon war sie der Ansicht gewesen, daß er zu einem ansehnlichen Mann herangewachsen war. Sie kannte ihn, seit er als kleiner Junge in den Palast gekommen war. Damals war sie Novizin gewesen, und man hatte ihn ihr zugeteilt, in ihre Obhut übergeben — ihre endgültige Prüfung als Schwester des Lichts. Das war lange her.

Zauberer Ranson schwenkte den Arm vor seiner Körpermitte und machte eine übertriebene, wenn auch wankende Verbeugung. Als er sich wieder aufrichtete, wurde sein Grinsen noch breiter. Immer wenn er grinste, bekam sein Gesicht etwas Jungenhaftes, trotz seiner Jahre und dem beginnenden Grau.

»Einen guten Abend, Schwester…«

Sie zog ihm den Stab mit einem Rückenhandschlag, so fest sie konnte, durchs Gesicht. Sie spürte, wie sein Wangenknochen brach. Er sackte mit einem Aufschrei zu Boden.

»Ich habe es dir schon mal gesagt«, preßte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »sprich meinen Namen niemals aus, wenn wir allein sind. Betrunken zu sein ist keine Entschuldigung.«

Zauberer Weber stand starr wie Stein, mit aufgerissenen Augen. Sein Gesicht war blaß, das Grinsen verschwunden. Ranson wälzte sich mit den Händen vorm Gesicht auf dem Boden und hinterließ eine blutige Spur im Stroh.

Die Röte schoß Weber ins Gesicht. »Wie kannst du es wagen? Wir haben alle Prüfungen bestanden! Wir sind Zauberer!«

Sie jagte einen Energiestoß in den Rada’Han. Der Aufprall schleuderte den Mann rücklings an die Mauer, wo der Halsring wie ein Nagel an einem Magnet haftenblieb. »Die Prüfungen bestanden! Meine Prüfungen habt ihr nicht bestanden!« Sie verdrehte Weber den Hals, bis ihm vor Qual die Luft wegblieb. »Sprecht ihr so etwa mit einer Schwester? Ist das die Art, wie ihr Respekt bekundet?«

Sie beendete den Energiestoß, und Weber sackte ächzend auf dem Boden zusammen. Er hatte Mühe, sich auf die Knie zu bringen.

»Vergebt mir, Schwester«, stieß er mit gequälter, heiserer Stimme hervor. »Ich flehe Euch an, vergebt uns die Respektlosigkeit.« Er hob vorsichtig den Kopf und begegnete ihrem wutentbrannten Blick. »Das war nur der Schnaps, der aus uns gesprochen hat. Vergebt Ihr uns? Bitte!«

Sie stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah ihn an. Mit dem Stab zeigte sie auf den sich am Boden wälzenden, stöhnenden Mann. »Heile ihn. Für diesen Unsinn fehlt mir die Zeit. Ich bin gekommen, um euch zu prüfen, und nicht, um mir sein Gejammer und Gegreine wegen dieses kleinen Klapses anzuhören.«

Weber beugte sich über seinen Freund und wälzte ihn vorsichtig auf den Rücken. »Alles in Ordnung, Neville. Ich helfe dir. Lieg still.«

Er nahm dem Mann die zitternden Hände vom Gesicht und ersetzte sie durch seine eigenen. Dann begann er zu sprechen, ihn zu heilen. Sie wartete ungeduldig mit verschränkten Armen. Es dauerte nicht lange. Weber war ein talentierter Heiler. Er half seinem Freund, sich aufzusetzen, dann wischte er ihm mit Stroh das Blut von der verheilten Wunde.

Ranson erhob sich auf die Füße. In seinen Augen blitzte Wut auf, aus seiner Stimme hielt er den geringsten Anflug davon fern. »Vergebt mir, Schwester. Was wollt Ihr?«

Weber rappelte sich neben ihm auf. »Bitte, Schwester, wir haben alles getan, was die Schwestern von uns verlangt haben. Wir sind fertig.«

»Fertig? Fertig? Wohl kaum. Habt ihr vergessen, was wir besprochen haben? Habt ihr vergessen, was ich euch gesagt habe? Habt ihr geglaubt, ich würde nicht mehr daran denken? Und euch einfach hier herausspazieren lassen? Frei wie Vögel? Hier kommt keiner so leicht raus. Der Eid steht noch aus.«

Die beiden sahen sich an und wichen einen halben Schritt zurück.

»Wenn Ihr uns nur gehen laßt«, bot Weber an, »werden wir Euch auch den Eid schwören.«

Sie sah beide einen Augenblick lang an, dann kam leise ihre Stimme. »Mir einen Eid schwören? Mir braucht ihr keinen Eid zu schwören, Jungs. Der Eid gilt dem Hüter. Das wißt ihr doch.« Die beiden erbleichten. »Und auch erst dann, wenn einer von euch die Prüfung bestanden hat. Nur einer von euch braucht diesen Eid zu leisten.«

»Nur einer?« fragte Ranson. Er mußte schlucken. »Nur einer von uns braucht den Eid zu schwören? Warum nur einer?«

»Weil der andere«, sagte sie leise, »keinen Eid zu leisten braucht. Denn er wird sterben.«

Den beiden stockte kurz der Atem, sie rückten enger aneinander.

»Was ist das für eine Prüfung?« erkundigte sich Weber.

»Zieht eure Gewänder aus, dann fangen wir an.«

Sie sahen sich kurz an. Ranson hob ein Stück weit seine Hand. »Unsere Gewänder, Schwester? Jetzt? Hier?«

Sie sah die beiden nacheinander an. »Nur keine Scheu, Jungs. Ich habe euch zwei schon nackt im See schwimmen sehen, als ihr noch so klein wart.« Sie hielt ihre Hand knapp unter ihre Hüfte.

»Aber damals waren wir noch Kinder«, beklagte sich Weber. »Seit wir erwachsen sind, nicht mehr.«

Sie warf ihnen einen finsteren Blick zu. »Zwingt mich nicht, es euch noch einmal zu sagen. Beim nächsten Mal brenne ich sie euch vom Leib.«

Die beiden zuckten zusammen und zogen sich die Gewänder über den Kopf. Sie sah sich die beiden von Kopf bis Fuß an, nur um ihnen zu zeigen, wie sehr ihr ihre Widerworte mißfielen. Die beiden Männer wurden im Schein der Fackeln rot.

Mit einer schnellen Bewegung des Handgelenks hielt sie ein Messer in der Hand. »Los, an die Wand. Beide.«

Als sie sich nicht rasch genug bewegten, benutzte sie die Halsringe, um sie krachend gegen die Wand zu schleudern. Mit einem Energiestoß in jeden Rada’Han heftete sie sie bewegungslos an das Gestein. Sie wurden an die Wand gepreßt und konnten nicht einmal den kleinen Finger bewegen.

»Bitte, Schwester«, meinte Ranson leise, »bitte bringt uns nicht um. Wir machen alles. Alles.«

Sie sah zu ihm hinüber. »Das werdet ihr, allerdings. Wenigstens einer von euch. Aber wir sind noch nicht beim Eid angelangt. Jetzt haltet eure Zunge still, sonst besorge ich das.«

Die beiden klebten hilflos an der Wand. Zuerst ging sie zu Weber. Sie drückte ihm die Spitze der Klinge oben in die Brust und zog sie ganz langsam nach unten, so daß sie vorsichtig die Haut durchschnitt, nicht mehr. Der Schweiß rann Weber über das Gesicht, er biß die Zähne zusammen. Sein Unterkiefer zitterte. Nach dem ungefähr ellenlangen Schnitt ging sie zum Anfang zurück und machte gleich daneben einen zweiten, so daß die zwei Schnitte ungefähr einen Fingerbreit auseinander lagen. Der Mann brachte leise, schrille Schreie hervor, während sie die Klinge nach unten zog. Die Enden der parallelen Linien trafen sich in einem Punkt. Kleine Rinnsale von Blut liefen ihm die Brust hinab. Sie schob die Messerspitze zwischen den beiden Einschnitten hoch und trennte ihm die Haut vom Leib, bis sie in einem großen Lappen herunterhing.

Dann wechselte sie zu Ranson hinüber, ritzte dieselben Zwillingsschnitte in seine Haut, bis diese ebenfalls als Lappen von oben herabhing. Ihm liefen Schweiß und Tränen übers Gesicht, doch er gab keinen Mucks von sich. So dumm war er nicht. Als sie fertig war, richtete sie sich auf und betrachtete ihr Werk. Sie sahen genau gleich aus. Gut. Sie schob sich das Messer wieder in den Ärmel.

»Einem von euch wird morgen der Rada’Han abgenommen, er ist dann frei und kann gehen. Zumindest, soweit es die Schwestern des Lichts betrifft. Nicht jedoch, soweit es mich oder, was wichtiger ist, den Hüter betrifft. Es wird der Anfang eurer Dienste für ihn sein. Dient ihr ihm gut, werdet ihr belohnt, sobald er den Schleier hinter sich gelassen hat. Versagt ihr bei dem, was man euch aufträgt … nun, ihr werdet ganz gewiß nicht wissen wollen, was euch blüht, wenn ihr ihn enttäuscht.«

»Schwester«, fragte Ranson mit zitternder Stimme, »warum nur einer von uns? Wir könnten doch beide den Eid leisten. Wir könnten ihm beide dienen.«

Weber warf seinem Freund einen Seitenblick zu. Er mochte es nicht, wenn man in seinem Namen sprach. Er war schon immer eigensinnig gewesen.

»Bei dem Eid handelt es sich um einen Bluteid. Einer von euch wird meine Prüfung bestehen müssen, um das Privileg zu erwerben, ihn abzulegen. Der andere wird heute nacht seine Gabe, seine magischen Kräfte verlieren. Wißt ihr, wie ein Zauberer seine Gabe verliert?«

Sie schüttelten beide den Kopf.

»Wenn man ihn häutet, strömt die Magie aus seinem Leib.« Es klang, als spräche sie darüber, wie man eine Birne schält. »Und zwar so lange, bis sie ganz verschwunden ist.«

Weber starrte sie an, sein Gesicht war bleich geworden. Ranson schloß die Augen und zitterte.

Währenddessen wickelte sie sich die Hautlappen der beiden Männer um ihre beiden Zeigefinger. »Ich werde jetzt um einen Freiwilligen bitten. Dies ist nur eine kleine Demonstration dessen, was dem bevorsteht, der sich freiwillig meldet. Ich möchte nicht, daß einer von euch glaubt, der Tod sei der einfachste Ausweg.« Sie lächelte die beiden herzlich an. »Ihr habt meine Erlaubnis zu schreien, Jungs. Ich denke, es wird weh tun.«

Sie riß ihnen den Hautlappen von der Brust. Geduldig wartete sie ab, bis die Schreie verstummten, und sogar noch ein wenig länger, während die beiden schluchzten. Es war immer gut, eine Lektion richtig wirken zu lassen.

»Bitte, Schwester, wir werden dem Schöpfer dienen, wie es die Schwestern uns gelehrt haben«, greinte Weber. »Wir dienen dem Schöpfer, nicht dem Hüter.«

Sie sah ihn kühl an. »Da du dem Schöpfer so ergeben bist, Sam, werde ich dir die erste Wahl lassen. Möchtest du derjenige sein, der überlebt, oder willst du heute nacht sterben?«

»Wieso er?« wollte Ranson wissen. »Wieso darf er sich zuerst entscheiden?«

»Halt den Mund, Neville. Du hast etwas zu sagen, wenn du gefragt wirst.« Ihr Blick fixierte wieder Weber. Sie hob sein Kinn mit einem Finger. »Nun, Sam? Wer stirbt, du oder dein bester Freund?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Er hob den Kopf und sah sie aus eingefallenen Augen an. Seine Haut war aschfahl. Er vermied es, seinen Freund anzusehen. Seine Stimme war ein tonloses Flüstern.

»Ich. Tötet mich. Laßt Neville leben. Ich werde dem Hüter keinen Eid schwören. Lieber sterbe ich.«

Sie sah ihm einen Augenblick lang in die leeren Augen, dann wandte sie sich an Ranson. »Und was meinst du dazu, Neville? Wer soll überleben? Wer sterben? Du oder der beste Freund, den du auf dieser Welt hast? Wer leistet den Eid auf den Hüter?«

Er sah zu Weber hinüber, der seinen Blick nicht erwiderte. Er leckte sich über die Lippen. Sein Blick wanderte zu ihr zurück.

»Du hast gehört, was er sagt. Er hat sich für den Tod entschieden. Wenn er sterben möchte, dann laß ihn sterben. Ich ziehe es vor zu leben. Ich werde dem Hüter einen Eid leisten.«

»Ihm deine Seele geben.«

Er nickte entschlossen. »Meine Seele.«

»Also schön« — sie lächelte –, »wie es aussieht, seid ihr beiden Freunde euch einig. Alle sind zufrieden. So soll es denn sein. Ich freue mich, Neville, daß du es bist, der bei uns bleibt. Ich bin stolz auf dich.«

»Muß ich hierbleiben?« fragte Ranson. »Muß ich mir das ansehen?«

»Ansehen?« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Du mußt es tun.«

Er schluckte, trotzdem blieb der harte Blick in seinen Augen. Sie hatte immer gewußt, daß er es sein würde. Nicht daß es keine Zweifel gegeben hätte, aber sie hatte es gewußt. Sie hatte ihn gut ausgebildet. Sie hatte sehr viel Zeit auf ihn verwandt.

»Dürfte ich vielleicht einen Wunsch äußern?« fragte Weber leise. »Könnte man mir vor meinem Tod den Halsring abnehmen?«

»Damit du ein Zaubererfeuer entfachst und dir selbst das Leben nimmst, bevor wir Gelegenheit haben, es dir zu entreißen? Für wie dumm hältst du mich? Für eine dumme, mitleidige Alte?« Sie schüttelte den Kopf. »Abgelehnt.«

Sie löste die beiden Rada’Han von der Wand. Weber sank auf die Knie und ließ den Kopf hängen. Er stand ganz allein da, soviel wußte er.

Ranson richtete sich auf und reckte seine Schultern. Er zeigte auf die blutverschmierte Wunde auf seiner Brust. »Und was ist hiermit?«

Sie blickte Weber an. »Sam. Steh auf.« Weber kam hoch, sein Blick blieb auf den Boden gerichtet. »Dein guter Freund ist verletzt. Mach ihn gesund.«

Wortlos drehte Weber sich schließlich um, legte Ranson die Hände auf die Brust und begann mit der Heilung. Ranson stand aufrecht da und wartete darauf, daß der Schmerz aufhörte. Sie ging zur Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und sah zu, wie Weber seine Arbeit tat. Zum letzten Mal.

Als er fertig war, sah er weder sie noch Ranson an, sondern schlich zur gegenüberliegenden Wand und ließ sich mit dem Rücken daran herabgleiten, bis er auf dem Boden saß. Er vergrub den Kopf zwischen den Knien und schlang die Arme darum.

Der geheilte, aber immer noch nackte Zauberer ging zu ihr und stellte sich wartend vor sie. »Was muß ich jetzt tun?«

Eine schnelle Bewegung mit dem Handgelenk, und sie hatte das Messer wieder in der Hand. Sie warf es kurz in die Höhe und fing es an der Klinge auf. Dann hielt sie ihm den Griff hm.

»Du mußt ihn häuten. Bei lebendigem Leib.«

Sie schob ihm die Klinge hin, bis er die Hand hob und danach griff.

Ranson wich ihrem stechenden Blick aus. Er starrte auf das Messer in seiner Hand. »Bei lebendigem Leib«, wiederholte er.

Sie griff in eine Tasche und holte den kleinen Gegenstand hervor, den sie mitgebracht hatte: die Zinnfigur eines knienden Mannes, der einen Kristall über seinen Kopf hielt. Er hatte sein winziges, bärtiges Gesicht erhoben und betrachtete ihn voller Verwunderung. Der Kristall war leicht länglich und endete in geschliffener Spitze. Drinnen schwebten erstarrt Einschlüsse wie Gestirne am Himmel. Mit einem Zipfel ihres leichten Gewandes wischte sie den Staub ab, dann hielt sie Ranson die kleine Figur hin.

»Dies ist magisch und ein Gefäß für Magie. Der Kristall wird Quillion genannt. Er wird die Magie auffangen, wenn sie aus deinem Freund strömt, nachdem er gehäutet wurde. Wenn und nur wenn alle Magie in den Quillion geflossen ist, wird er ein orangenes Leuchten von sich geben. Du wirst mir den Kristall bringen, zum Beweis dafür, daß du deine Arbeit erledigt hast.«

Ranson schluckte. »Ja, Schwester.«

»Bevor ich heute abend gehe, wirst du den Eid ablegen.« Sie hielt ihm das Figürchen mit dem Kristall hin, bis er es ergriff. »Dies wird deine erste Aufgabe nach Ablegen des Eides sein. Scheiterst du daran oder bei einer der folgenden Aufgaben, wirst du dir wünschen, mit deinem Freund die Plätze tauschen zu können. Und zwar in alle Ewigkeit.«

Er stand da, umklammerte das Messer mit der einen, die Figur mit der anderen Hand. »Ja, Schwester.« Er warf einen verstohlenen Blick über die Schulter auf den Mann, der an der Wand auf dem Boden hockte. Er senkte die Stimme. »Schwester, könntet Ihr … könntet Ihr ihn zum Schweigen bringen? Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen, wenn er spricht, während ich es tue.«

Sie runzelte die Stirn. »Du hast ein Messer, Neville. Wenn dich seine Worte bedrücken, dann schneide ihm die Zunge raus.«

Er mußte schlucken und schloß für einen Moment die Augen. Riß sie wieder auf. »Und wenn er stirbt, bevor all seine Magie hinübergeflossen ist?«

»In Anwesenheit des Quillions wird er leben, solange noch eine nennenswerte Spur davon in ihm enthalten ist. Wenn sich alles in dem Kristall befindet, wird der Stein aufglühen. Auf diese Weise wirst du erkennen, wann du fertig bist. Danach ist mir egal, was du mit ihm machst. Wenn du willst, kannst du ihn rasch erledigen.«

»Und wenn er sich wehrt?« Er beugte sich ein wenig näher. »Mit seiner Magie?«

Sie nickte und sah ihn lächelnd an. »Das werde ich unterbinden, mit seinem Halsring. Er wird sich nicht wehren können. Nach seinem Tod wird keine Lebenskraft mehr in ihm sein, die den Rada’Han an ihm hält. Er wird sich öffnen. Bring ihn mit und gib ihn mir zusammen mit dem Kristall.«

»Und seine Leiche?«

Sie sah ihn streng an. »Du weißt, wie man Subtraktive Magie ausübt. Ich habe eine Menge Zeit darauf verschwendet, dir das beizubringen, und andere auch.« Sie sah kurz zu Weber hinüber. »Benutze sie. Schaff dir die Leiche mit Hilfe Subtraktiver Magie vom Hals. Bis hin zum letzten Stückchen. Bis zum letzten Tropfen Blut.«

Ranson richtete sich ein wenig auf und nickte. »Also gut.«

»Wenn du hier fertig bist, und bevor du in der Morgendämmerung zu mir kommst, gibt es noch eine Aufgabe, die du in dieser Nacht erledigen wirst.«

Ranson holte tief Luft und atmete langsam aus. »Noch eine Aufgabe? Ich muß heute nacht noch etwas tun?«

Sie lächelte und tätschelte ihm die Wange. »Diese zweite Aufgabe wird dir gefallen. Es wird eine Belohnung für die Erledigung der ersten sein. Dem Hüter zu dienen zahlt sich aus, wie du feststellen wirst. Ihn zu enttäuschen zieht Strafe nach sich, wie du hoffentlich nie erfahren wirst.«

Er sah sie argwöhnisch an. »Und worin besteht diese zweite Aufgabe?«

»Kennst du eine Novizin namens Pasha?«

Er brummte verächtlich. »Es gibt keinen einzigen Mann im Palast, der Pasha Maes nicht kennt.«

»Und wie gut ›kennen‹ diese Männer sie?«

Ranson zuckte mit den Achseln. »Sie drückt sich gern knutschend in den Ecken rum.«

»Tut sie vielleicht noch mehr?«

»Ich kenne ein paar Männer, die ihr die Hand unter den Rock geschoben haben. Ich habe sie darüber reden hören, was für tolle Beine sie hat und daß sie ihre Gabe dafür hergeben würden, wenn sie diese Beine um sie schlingen würde. Aber ich glaube, das hat noch keiner geschafft. Ein paar dieser Männer passen auf sie auf, als wäre sie ein hilfloses Kätzchen. Besonders der junge Warren hält ein wachsames Auge auf sie.«

»Dieser Warren ist einer der Männer, mit denen sie sich knutschend in den Ecken rumdrückt?«

»Ich glaube, sie würde ihn nicht einmal wiedererkennen, wenn er vor ihr stünde.« Er lachte leise in sich hinein. »Selbst wenn er genügend Mut aufbringen würde, um seine Nase aus den Archiven zu nehmen und ihr ins Gesicht zu sehen.« Er runzelte die Stirn. »Und worin besteht nun die Aufgabe?«

»Wenn du hier fertig bist, möchte ich, daß du auf ihr Zimmer gehst. Sag ihr, daß du morgen freigelassen werden sollst und daß dir der Schöpfer in einer Vision erschienen sei, nachdem du sämtliche Prüfungen bestanden hättest. Sag ihr, der Schöpfer hätte dir in der Vision erklärt, daß du zu ihr gehen und ihr zeigen sollst, wie sie die großartige Gabe ihrer Figur, die Er ihr gegeben hat, benutzen soll, wie sie diese Gabe zum Vergnügen der Männer einsetzen soll, damit sie auf die besondere Aufgabe, für die er sie ausersehen hat, vorbereitet ist.

Sag ihr, der Schöpfer hätte gemeint, es würde ihr helfen, sich um den Neuen zu kümmern, der der Schwierigste werden würde, den jemals eine Novizin zugeteilt bekommen hätte. Sag ihr, der Schöpfer hätte dies zu einer heißen Nacht gemacht, damit sie zwischen ihren Brüsten, über ihrem Herzen, schwitzt, um seine Wünsche zu erwecken.« Sie lächelte ihn aalglatt an. »Anschließend möchte ich, daß du ihr zeigst, wie sie einen Mann zufriedenstellt.«

Er starrte sie verblüfft an. »Wie kommt Ihr darauf, sie würde irgend etwas davon glauben oder sich darauf einlassen?«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Sag du ihr, was ich dir aufgetragen habe, Neville, dann wirst du ihr eine Menge mehr unter den Rock stecken können als nur deine Hand. Wahrscheinlich hat sie die Beine um dich geschlungen, bevor du ausgeredet hast.«

Er nickte dumpf. »Also gut.«

Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Es freut mich, daß du der Aufgabe … ganz offensichtlich gewachsen bist.« Sie blickte ihm abermals in die Augen. »Bring ihr alles bei, was dir einfällt, um einem Mann zu gefallen. Zumindest, was dir bis zum Morgengrauen einfällt. Unterrichte sie gut. Ich will, daß sie weiß, wie man einen Mann so glücklich macht, daß er wiederkommt und noch mehr will.«

Er grinste. »Ja, Schwester.«

Sie legte ihm die Spitze des Stabes unters Kinn und hob es ein Stück an. »Und sei zärtlich zu ihr, Neville. Ich will nicht, daß du ihr weh tust. Es soll für sie eine sehr angenehme Erfahrung sein. Ich möchte, daß es ihr gefällt.« Sie sah erneut an ihm herab. »Mache das Beste aus dem, was du hast.«

»Bis jetzt hat sich noch keine beschwert«, protestierte er.

»Idiot. Frauen sagen einem Mann die Beschwerden nicht ins Gesicht. Das tun sie hinter seinem Rücken. Wage es nicht, sie zu bespringen, dich zu befriedigen und dann einzuschlafen. Du hast Zeit bis zum Morgengrauen. Ich will nicht, daß du heute nacht schläfst. Sie soll dieses Erlebnis in bester Erinnerung behalten. Unterrichte sie gut. Zeige ihr alles, was du weißt.«

Sie drückte sein Kinn noch ein wenig höher. »Die Aufgabe mag angenehm sein, trotzdem handelt es sich um eine Aufgabe im Dienste des Hüters. Scheiterst du hierbei oder bei irgendeiner anderen, dann enden deine Dienste augenblicklich. Doch deine Qual wird ewig sein. Bleib wachsam, wenn du mit ihr zusammen bist. Ich erwarte am Morgen einen ausführlichen Bericht über alles, was du ihr beigebracht hast. Du wirst mir alles ganz genau berichten. Ich muß wissen, was sie weiß, damit ich sie führen kann.«

»Ja, Schwester.«

Sie sah an ihm vorbei zu dem an der Wand kauernden Mann. »Je eher du hier fertig bist, desto eher kannst du bei Pasha sein, und desto mehr Zeit hast du, sie zu unterrichten.«

Er nickte grinsend. »Ja, Schwester.«

Sie zog den Stab zurück, und er atmete erleichtert auf. Mit einer Handbewegung befahl sie seinem Gewand, in ihre Hand zu schweben. Sie drückte es ihm in die Arme.

»Zieh das an. Du bringst dich in Verlegenheit.« Sie sah zu, wie er den Stoff an sich raffte und ihn sich über den Kopf stülpte. »Morgen beginnt die eigentliche Arbeit, die eigentliche Aufgabe.«

Sein Kopf lugte aus dem Gewand hervor, gefolgt von erst dem einen, dann dem anderen Arm. »Was für eine Arbeit? Was für eine Aufgabe?«

»Nach deiner Freilassung mußt du sofort aufbrechen und in die Dienste deines Heimatlandes treten. Du weißt doch noch, wo deine Heimat ist, oder? Du gehst nach Aydindril, als Berater des Hohen Prinzen Fyren. Dort hast du etwas zu erledigen. Etwas Wichtiges.«

»Das wäre?«

»Darüber werden wir uns morgen früh unterhalten. Jetzt jedoch, bevor du dich an die erste, die zweite und all die übrigen Aufgaben machen kannst, hast du noch einen Eid zu leisten. Entspricht das deinem freien Willen, Neville?«

Sie beobachtete seine Augen. Sein Blick huschte kurz zu seinem Freund, der zusammengesunken an der Wand hockte. Dann drehte er sich um und musterte das Messer und den Quillion. Sie sah, wie sich der Blick seiner dunklen Augen trübte, und wußte, daß er an Pasha dachte. Er antwortete im Flüsterton.

»Ja, Schwester.«

Sie nickte. »Sehr gut, Neville. Auf die Knie. Die Zeit des Eides ist gekommen.«

Als er auf die Knie sank, hob sie die Hand. Die Fackel erlosch mit einem Puffen und tauchte den Raum in völlige Dunkelheit.

»Der Eid an den Hüter«, sagte sie leise, »wird in jener Dunkelheit geleistet, die seine Heimat ist.«

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