50

Schwester Verna legte die Hand auf den Messinggriff. Der Raum war abgeschirmt. Sie atmete tief durch, dann klopfte sie.

Eine gedämpfte Stimme hinter der schweren Tür antwortete. »Herein.«

Der Schutzschild löste sich auf. Sie öffnete den rechten Flügel der Doppeltür und trat ein. Zwei Frauen saßen, jede an ihrem eigenen Schreibtisch, rechts und links von der dahinterliegenden Tür. Beide schrieben in Hauptbüchern. Keine von ihnen sah auf.

»Ja«, sagte die zur Linken, während sie weiterschrieb, »was ist?«

»Ich bin gekommen, um das Reisebuch zurückzugeben, Schwester Ulicia.«

Schwester Ulicia leckte den Finger an und schlug eine Seite um. »Ja, gut, legt es einfach auf den Schreibtisch. Solltet Ihr nicht auf dem Festessen zu Ehren Eurer Rückkehr sein? Ich könnte mir denken, daß Ihr Eure alten Freunde wiedersehen wollt.«

Schwester Verna faltete die Hände. »Ich muß mich um wichtigere Dinge als Bankette kümmern. Ich möchte das Buch der Prälatin persönlich zurückgeben. Und ich möchte mit ihr sprechen, Schwester Ulicia.«

Die beiden sahen auf. »Nun«, sagte Schwester Ulicia, »die Prälatin wünscht aber nicht, mit Euch zu sprechen, Schwester Verna. Sie ist eine vielbeschäftigte Frau. Sie darf nicht mit Nebensächlichkeiten behelligt werden.«

»Nebensächlichkeiten: Es handelt sich nicht um eine Nebensächlichkeit!«

»Bitte mäßigt Euren Ton in diesem Büro, Schwester Verna«, warnte die andere. Sie tauchte ihren Federhalter in ein Tintenfaß und beugte sich wieder über ihre Schreibarbeit.

Schwester Verna trat einen Schritt vor. Die Luft zwischen den Schreibtischen, vor der dahinterliegenden Tür, begann plötzlich unter dem Einfluß eines mächtigen Schildes zu schimmern, der warnend zischte und knisterte.

»Die Prälatin hat zu tun«, meinte Schwester Ulicia. »Sollte sie Eurer Rückkehr irgendwelche Bedeutung beimessen, wird sie Euch holen lassen.« Sie zog eine Kerze näher heran und beugte sich wieder über ihr Buch. »Legt das Reisebuch nur auf meinen Schreibtisch. Ich werde dafür sorgen, daß sie es zurückbekommt.«

Schwester Verna beherrschte ihre Stimme und biß die Zähne zusammen. »Man hat mich zur Novizin degradiert.« Die beiden sahen auf. »Und zwar deshalb, weil ich die Anordnungen der Prälatin befolgt habe. Trotz meiner Bitten und Eingaben hat sie mir verboten, meine Arbeit zu machen, meine Pflicht zu erfüllen, und deswegen soll ich nun bestraft werden! Bestraft, weil ich getan habe, was die Prälatin mir befohlen hat! Ich möchte zumindest die Gründe dafür hören!«

Schwester Ulicia lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und wandte sich an die andere Frau. »Schwester Finella, bitte schickt einen Bericht an die Leiterin der Novizinnen. Setzt sie davon in Kenntnis, daß Novizin Verna Sauventreen ohne Befugnis und unaufgefordert das Büro der Prälatin betreten hat und sich des weiteren zu einer Tirade hat hinreißen lassen, die sich einer Novizin — die darauf hofft, eines Tages eine Schwester des Lichts zu werden — nicht geziemt.«

Schwester Finella richtete sich verärgert auf und sah wütend zu Schwester Verna hoch. »Tz, tz, Novizin Verna, dein erster Tag im Streben nach höherer Berufung, und schon hast du dir einen Tadel eingehandelt.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Ich will nur hoffen, daß du lernst, dich zu betragen, falls du noch Hoffnung hast, jemals eine Schwester des Lichts zu werden.«

»Das wäre dann alles, Novizin«, sagte Schwester Ulicia. »Du bist entlassen.«

Schwester Verna machte auf dem Absatz kehrt. Sie vernahm ein Fingerschnippen. Sie blickte über die Schulter zurück und sah, wie Schwester Ulicia auf die Ecke ihres Schreibtisches tippte.

»Das Reisebuch. Außerdem glaube ich kaum, daß dies für eine Novizin die rechte Art ist, sich zu verabschieden, nachdem sie von einer Schwester entlassen wurde. Nicht wahr, Novizin?«

Schwester Verna zerrte das kleine Buch hinter ihrem Gürtel hervor und legte es vorsichtig auf die Ecke des Schreibtisches.

»Nein, Schwester, ist es nicht.« Sie machte einen Knicks. »Vielen Dank, Schwester, daß Ihr Zeit für mich hattet.«

Leise seufzend schloß Verna die Tür hinter sich. Dann blieb sie einen Augenblick lang stehen und dachte nach.

Die Augen auf den Boden geheftet, suchte sie sich ihren Weg durch den Palast, durch offene und geschlossene Flure, aus nacktem Stein wie auch holzgetäfelte, über mit Teppichen ausgelegte Böden und solche, die gefliest waren. Also sie um eine Ecke bog, trat ihr plötzlich jemand entgegen. Sie hob den Kopf und sah in ein Gesicht, dem sie lieber nicht begegnet wäre.

Er lächelte auf altvertraute Art. »Verna! Wie schön, dich zu sehen!«

Das junge Gesicht mit dem energischen Kinn war unverändert. Er trug das wellige, braune Haar ein wenig länger, bis über die Ohren, und seine Schultern waren breiter, als sie in Erinnerung hatte. Sie mußte sich zusammenreißen, um nicht seine Wange zu berühren, ihm nicht in die Arme zu fallen.

Sie verneigte den Kopf. »Jedidiah.« Sie sah ihm in seine braunen Augen. »Du siehst gut aus. Du siehst aus … genau wie immer. Du siehst gut aus für dein Alter.«

»Du siehst … nun ja…«

»Das Wort, nachdem du suchst, heißt alt. Ich sehe alt aus.«

»Ah, Verna, ein paar Fältchen…«, er ließ den Blick an ihrem Körper hinabgleiten, »… und ein paar Pfunde können einer Schönheit wie dir doch nichts anhaben.«

»Wie ich sehe, kannst du eine Frau noch immer so umgarnen wie früher.« Sie betrachtete sein schlichtes, hellbraunes Gewand. »Und wie ich ebenfalls sehe, bist du ein guter Schüler gewesen und vorangekommen. Ich bin stolz auf dich, Jedidiah.«

Er tat das Kompliment mit einem Schulterzucken ab. »Erzähl mir von dem Neuen, den du hierhergebracht hast.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Du hast mich seit über zwanzig Jahren nicht gesehen, seit ich mich von deinem Bett erhoben und auf diese Reise gegangen bin, und dies ist deine erste Frage an mich? Nicht, wie es mir ergangen ist? Nicht, was ich nach all der Zeit für dich empfinde? Nicht, ob ich einen anderen in mein Herz geschlossen habe? Nun, vermutlich hat der Schock darüber, wie sehr ich gealtert bin, dich diese Frage glatt vergessen lassen.«

Das verschlagene Lächeln auf seinen Lippen blieb. »Verna, du bist doch kein dummes, kleines Mädchen. Dir ist doch sicher klar, daß niemand von uns beiden nach so langer Zeit verlangen kann…«

»Natürlich weiß ich das! Ich habe mir, was uns betrifft, keine Illusionen gemacht. Ich hatte schlicht darauf gehofft, bei meiner Rückkehr mit ein wenig Takt und Einfühlungsvermögen behandelt zu werden.«

Er zuckte abermals mit den Achseln. »Tut mir leid, Verna. Ich hatte dich immer für eine Frau gehalten, die Verschwiegenheit zu schätzen weiß und die nichts auf Wortgefechte gibt.« Sein Blick verschwamm. »Vermutlich habe ich seit damals, als ich noch jung war, viel über … das Leben gelernt…«

Sie riß ihren wütenden Blick von seinem hübschen Gesicht los und wollte gehen. »Gute Nacht, Jedidiah.«

»Was ist mit meiner Frage?« Seine Stimme klang unangenehm scharf. Er schlug einen sanfteren Ton an. »Wie ist der Neue denn so?«

Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Du warst doch dabei. Ich habe dich gesehen. Richard ist genau so, wie du ihn kennengelernt hast.«

»Ich habe auch gesehen, was dir passiert ist. Ich habe ein wenig Einfluß bei einigen der Schwestern. Vielleicht kann ich etwas tun, um dir zu helfen.« Er machte eine vage Handbewegung. »Wenn du offen zu mir bist und meine Neugier zufriedenstellst, kann ich dir vielleicht aus deiner unglücklichen Zwangslage heraushelfen.«

Sie machte sich erneut auf den Weg. »Gute Nacht, Jedidiah.«

»Ich sehe dich hier im Palast, Verna. Denk darüber nach.«

Sie konnte kaum fassen, wie dumm sie gewesen war. Sie kannte Jedidiah als fürsorglichen und aufrichtigen Menschen. Vielleicht trog ihre Erinnerung.

Vielleicht dachte sie ausschließlich an sich selbst und hatte ihm gar keine Gelegenheit gelassen, freundlicher zu sein. Sie sah bestimmt fürchterlich aus. Sie hätte sich zurechtmachen, ein hübsches Kleid anziehen, wenigstens ihr struppiges Haar richten sollen, bevor sie Jedidiah begegnete. Doch dazu hatte sie keine Gelegenheit gehabt.

Wenn sie seine Wange berührt hätte, vielleicht hätte er sich dann an diesen ganz besonderen Funken erinnert, an die Tränen, die sie am Tage ihres Aufbruchs vergossen hatte, und an die Versprechungen, die er ihr gemacht hatte. Versprechungen, die, das wußte sie im selben Augenblick, als sie ihm über die Lippen kamen, schon gebrochen wären, bevor ihr Echo verhallt war — damals, vor so langer Zeit.

Sie erreichte den Flur, der zu den Kammern der Novizinnen führte. Sie stand da und betrachtete die Türen. Müde war sie. Von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang in den Ställen — das würde sehr anstrengend werden. Sie machte kehrt und ging statt dessen in die andere Richtung. Sie hatte noch etwas zu erledigen, bevor sie sich schlafen legte.


Pasha blieb vor einer großen, oben runden Tür aus dunklem Eichenholz stehen, die mit einer steinernen Einfassung umgeben war, die man Ranken nachempfunden hatte.

Pasha sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Dein Verlies.«

»Es gibt keinen Riegel außen an der Tür. Wie willst du mich einsperren?«

Die Frage schien sie zu überraschen. »Wir schließen unsere jungen Männer nicht ein. Es steht dir frei, zu kommen und zu gehen, wie es dir beliebt.«

Richard runzelte die Stirn. »Heißt das, ich kann mich in diesem Gebäude frei bewegen?«

»Ja. Es steht dir frei, dort hinzugehen, wo du willst. Du darfst dich innerhalb des Palastes fast völlig frei bewegen oder auch in die Stadt gehen, wenn du möchtest. Die meisten Jungen verbringen einen großen Teil ihrer Zeit in der Stadt.« Bei ihrer letzten Bemerkung errötete sie leicht und wandte das Gesicht ab.

»Was ist mit dem Land rings um die Stadt?«

Sie zuckte mit den Achseln, dann zog sie die Schulter ihres blauen Kleides ein Stück höher. »Sicher. Ich weiß zwar nicht, wieso du hinaus aufs Land gehen solltest, keiner der anderen Jungen tut das, doch nichts hindert dich daran, sowohl den Palast als auch die Stadt zu verlassen.«

Eine Sorgenfalte erschien auf ihrer Stirn. »Nur den Hagenwald darfst du nicht betreten. Dort ist es äußerst gefährlich. Hat man dich schon vor dem Hagenwald gewarnt? Hat man dir auf dem Weg in den Palast gezeigt, wo er liegt?«

Richard nickte. »Wie weit darf ich in das Land hinausgehen?«

»Der Rada’Han verhindert, daß du dich zu weit entfernst. Wir müssen dich jederzeit finden können, doch die Grenze liegt etliche Meilen im Umkreis vom Palast der Propheten entfernt.«

»Wie viele Meilen?«

»Mehr, als du dich entfernen wollen wirst. Vermutlich bis fast an das Land der Wilden heran.«

»Du meinst der Baka Ban Mana.«

Sie nickte. »Fast bis dorthin, vermutlich.«

»Ohne Bewachung?«

Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. »Du bist mir anvertraut worden. Ich werde dich fürs erste fast überallhin begleiten. Sobald unsere jungen Männer ein wenig erfahrener sind, ziehen sie auf Wunsch alleine los.«

»Ich kann mich einfach frei bewegen, wann immer ich will?«

»Nun, du wohnst natürlich hier im Palast. Und du mußt anwesend sein, wenn du deinen Unterricht bekommst. Ich werde dir Unterricht erteilen sowie auch einige der Schwestern. Wir werden dir beibringen, dein Han zu berühren, und wenn du das kannst, werden wir anfangen, dir zu zeigen, wie man es beherrscht.«

»Wieso verschiedene Schwestern? Warum nicht bloß eine oder nur du?«

»Weil das Han bestimmter Menschen manchmal besser zusammen funktioniert. Außerdem haben die Schwestern mehr Erfahrung als ich, mehr Wissen.«

»Wird Schwester Verna eine von ihnen sein?«

Pasha sah ihn unter gerunzelter Stirn hervor an. »Verna ist keine Schwester mehr. Sie ist nicht länger berechtigt, diesen Titel zu tragen. Sie ist jetzt Novizin und sollte schlicht mit Verna angesprochen werden. Novizinnen, abgesehen von der einen, die dir zugeteilt wurde — also mir –, ist es nicht erlaubt, Unterricht zu geben. Novizinnen des ersten Ranges wie Verna ist der Umgang mit unseren Jungen nicht gestattet. Die Pflicht der Novizinnen ist es, zu lernen, nicht zu lehren.«

Richard glaubte nicht, sich Schwester Verna jemals schlicht als Verna vorstellen zu können. Es klang so fremd. »Wann wird sie wider Schwester sein?«

»Sie muß als Novizin dienen und befördert werden wie jede andere Novizin auch. Ich habe damit angefangen, Töpfe in den Küchen zu schrubben, als ich klein war. Ich habe bis jetzt gebraucht, um diese Chance zu erhalten. Eines Tages, vorausgesetzt, Verna arbeitet so hart wie ich, wird auch sie die Gelegenheit bekommen, eine Schwester des Lichts zu werden. Bis dahin ist Verna Novizin.«

Die Vorstellung, daß man Schwester Verna seinetwegen degradiert hatte, machte ihn wütend. Sie würde eine alte Frau sein, bis sie es endlich wieder zur Schwester gebracht hätte. Er wechselte das Thema. »Und warum dürfen wir uns frei bewegen?«

»Weil ihr für die Menschen keine Gefahr darstellt. Eines Tages wirst du gelernt haben, dein Han zu kontrollieren, dann wird man dir allmählich Einschränkungen auferlegen, bezüglich der Orte, die du besuchen darfst. Die Menschen in der Stadt fürchten sich vor Jungen, die ihre Macht benutzen können — in der Vergangenheit ist es zu unglücklichen Zwischenfällen gekommen –, daher wird ein Junge aus der Stadt verbannt, sobald er weiß, wie er sein Han handhaben kann. Während die Jungen zu Zauberern aufsteigen, werden ihnen immer weitere Einschränkungen auferlegt, bis ihre Bewegungsfreiheit schließlich gegen Ende, kurz vor ihrer Entlassung, auf bestimmte Bereiche des Palastes beschränkt wird.

Im Augenblick jedoch steht es dir frei, fast überall dort hinzugehen, wo du willst. Durch den Rada’Han werde ich die ganze Zeit über wissen, wo du dich aufhältst.«

»Soll das heißen, daß mich jede Schwester durch dieses verfluchte Ding finden kann?«

»Nein, nur die, die ihn dir gegeben hat, denn sie hat ihn in der Hand gehalten und kann seine Kraft erkennen. Und ich muß jederzeit wissen, wo du dich befindest, da ich für dich verantwortlich bin, ich werde also dafür sorgen müssen, daß mein Han das unverwechselbare Gefühl deines Han erkennt.«

Sie stieß die Tür auf und trat in das dunkle Zimmer. Mit einer ausholenden Armbewegung schossen Flammen aus den überall im Raum verteilten Lampen.

»Den Trick mußt du mir beibringen«, murmelte er.

»Das ist kein Trick. Das war einfach mein Han. Und das ist noch das einfachste von vielen Dingen, die ich dir beibringen werde.«

Die Decke des riesigen Raumes war rings um die Stuckverzierung mit einem feinen Muster aus verschiedenfarbigen Linien geschmückt. Die Wände waren mit Kirschholz in einer warmen Farbe getäfelt. Große, mit dicken, tiefblauen Moirévorhängen verhängte Fenster gingen hinaus in die Nacht. Es gab einen offenen Kamin mit einer weißen Säule auf jeder Seite. Der größte Teil des Holzfußbodens war mit dicken Teppichen bedeckt. Bequeme Stühle und Sofas standen überall im Raum sowie vor dem Kamin.

Richard war überzeugt, daß sein ganzes Haus zweimal in diesen Raum hineingepaßt hätte. Er ließ den Rucksack von seinem Rücken gleiten und lehnte ihn neben dem Kamin an die Wand. Den Köcher für die Pfeile und den unbespannten Bogen stellte er daneben ab.

Er ging nach rechts hinüber, zu einer Doppeltür aus kleinen Glasscheiben mit hauchfeinen, cremefarbenen Vorhängen. Hinter der Doppeltür befand sich ein weitläufiger Balkon, von dem aus man die Stadt überblikken konnte. Er berührte das Marmorgeländer mit den Fingern und blickte nach rechts, vorbei an der Stelle, zu den Hügeln hinüber, aus denen er gekommen war.

»Die Sonnenuntergänge sind wundervoll von diesem Balkon aus«, meinte Pasha.

Richard war nicht an Sonnenuntergängen interessiert. Er studierte den Innenhof unten, die Tore, die Straßen, die patrouillierenden Soldaten und die Brücken in die Stadt und die darunterliegenden Hügel. Er versuchte sich alles wie eine Karte einzuprägen.

Er ging zurück nach drinnen und marschierte ans andere Ende des Raumes, zu der dortigen Tür. Hinter ihr befand sich ein Schlafzimmer, das fast so groß war wie der erste Raum. Hier stand das größte Bett, das er je gesehen hatte. Eine tiefviolette Decke war darüber ausgebreitet. Ein weiteres Paar verglaster Türen führte auf einen zweiten Balkon, und dieser ging nach Süden, aufs Meer hinaus.

»Die Aussicht ist wundervoll«, meinte Pasha. »Romantisch.« Sie sah, daß er Teile des Palastes unten betrachtete. »Auf der anderen Seite des Innenhofes liegen einige der Frauenunterkünfte, wo sich die meisten Zimmer der Schwestern befinden.« Sie drohte ihm mit dem Finger. »Du wirst dich von ihnen fernhalten, junger Mann!« Sie machte kehrt. »Es sei denn, eine Schwester bittet dich in ihr Zimmer«, fügte sie kaum hörbar hinzu.

»Wie soll ich dich nennen?« fragte er. »Schwester Pasha?«

Sie kicherte. »Nein. Ich bin Novizin, allerdings hoffe ich, eine Schwester zu werden, vorausgesetzt, ich kann mich bei dir beweisen. Bis dahin bin ich einfach Pasha.«

Richard drehte sich zu ihr um und blickte ihr wütend in die Augen. »Mein Name ist Richard. Fällt es dir eigentlich schwer, das zu behalten?«

»Hör zu, du bist mir anvertraut worden, und…«

»Wenn das für dich zu schwer zu behalten ist, wirst du nie Gelegenheit erhalten, eine Schwester zu werden. Denn wenn du weiterhin darauf bestehst, mich zu demütigen, indem du mich anders als bei meinem Namen rufst, werde ich dafür sorgen, daß du deine Prüfung nie bestehen wirst.« Er beugte sich und blickte ihr wütend in die aufgerissenen Augen. »Hast du das verstanden, Pasha?«

Sie schluckte. »Du wirst mich nicht anschreien, junger…« Sie reckte ihr Kinn ein wenig empor. »Du wirst mich nicht anschreien, Richard.«

»Das ist schon besser. Danke.« Er hoffte, sie würde es dabei belassen. Falls nicht, so war er nicht in der Stimmung, freundlich zu reagieren.

Er wandte sich ab. Von diesem Balkon waren die Dinge, die ihn interessierten, weniger gut zu überblicken, daher ging er ins Schlafzimmer zurück.

Sie folgte ihm auf den Fersen. »Hör zu, Richard, entweder gewöhnst du dir Manieren an, oder ich werde…«

Damit war seine Geduld erschöpft. Er wirbelte zu ihr herum. Sie blieb ruckartig stehen und wäre fast mit ihm zusammengestoßen.

»Du bist noch nie verantwortlich für jemanden gewesen, hab’ ich recht?« Sie rührte sich nicht. »Ich würde sagen, dies ist das erste Mal, daß man dir Verantwortung übertragen hat, und du hast entsetzliche Angst, es zu verpfuschen. Du hast keine Erfahrung, also denkst du, dein tyrannisches Auftreten könnte mich über deine Unsicherheit hinwegtäuschen!«

»Nun, ich…«

Ihre Stimme verlor sich, als er sich zu ihr hinunterbeugte und sein Gesicht ganz dicht vor ihres brachte.

»Du mußt keine Angst davor haben, ich könnte merken, wie unerfahren du bist, Pasha. Du solltest dich davor fürchten, daß ich dich töten könnte.«

Vor Empörung kniff sie die Augen zusammen. »Wage es nicht, mir zu drohen.«

»Für dich ist das hier ein Spiel. Eine Möglichkeit, irgendwelchen geheimnisvollen Regeln folgend herumzustolzieren und dein kleines Schoßhündchen an seinem Halsring herumzuzerren und ihm beizubringen, dir die Hand zu schlecken, damit du dir den nächsten Rang verdienen kannst.«

Er senkte die Stimme. »Für mich ist das kein Spiel, Pasha. Es ist eine Frage auf Leben und Tod. Ich bin ein Gefangener, der mit einem Halsring festgehalten wird wie ein wildes Tier oder besser: wie ein Sklave. Ich habe nur soviel Kontrolle über mein Leben, wie ihr erlaubt. Ich weiß, daß ich von euch gefoltert werden soll, damit mein Wille gebrochen wird.

Du irrst dich, Pasha, wenn du glaubst, ich würde dir drohen. Das tue ich nicht. Ich gebe dir ein Versprechen.«

»Ich bin nicht so, wie du denkst, Richard«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Ich will deine Freundin sein.«

»Du bist nicht meine Freundin. Du bist meine Aufpasserin.« Er hielt ihr einen Finger drohend vors Gesicht. »Dreh mir nie den Rücken zu, denn ich werde dich töten, genau wie ich den letzten Menschen getötet habe, der mich an einem Halsring gefangengehalten hat.«

Sie sah ihn fassungslos an. »Richard, ich weiß nicht, was dir früher zugestoßen ist, aber wir sind nicht so. Ich will eine Schwester des Lichts werden, weil ich den Menschen helfen will, die Güte des Schöpfers zu erkennen.«

Richard stand gefährlich kurz davor, die Beherrschung über die Magie des Schwertes zu verlieren. Er hatte Mühe, sie im Griff zu behalten. Er hatte anderes zu tun. »Deine Theologie interessiert mich nicht. Denk einfach daran, was ich dir gesagt habe.«

Sie lächelte. »Das werde ich. Ich entschuldige mich dafür, daß ich dich anders als bei deinem Namen gerufen habe. Bitte vergib mir. Ich habe das noch nie gemacht. Ich habe nur getan, was ich glaubte tun zu sollen: die Regeln beachten, wie man es mir beigebracht hat.«

»Vergiß die Regeln. Sei einfach du selbst, und du wirst weniger Ärger haben.«

»Wenn dir das hilft, mir zu glauben, daß ich dir bloß helfen will, dann werde ich es tun.« Sie zeigte aufs Bett. »Hier. Setz dich auf die Bettkante.«

»Wozu?«

Obwohl sie sich nicht bewegte, spürte er einen sanften Stoß. Er kippte nach hinten und saß auf der Bettkante.

Sie stellte sich zwischen seine Beine, ganz dicht an seinen Körper.

»Ruhig. Laß mich meine Arbeit machen. Ich habe es dir bereits gesagt, ich muß dafür sorgen, daß mein Han deinen Rada’Han erkennt, damit ich jederzeit weiß, wo du steckst.«

Sie legte ihm die Hände zu beiden Seiten des Halses auf den Ring. Sie schloß die Augen. Ihre Brüste befanden sich genau vor seinem Gesicht und bewegten sich mit jedem Atemzug. Er spürte ein sanftes Kribbeln, das bis hinunter in seine Zehen kroch und dann wieder hinauf durch seinen Körper. Es war ein wenig beunruhigend, aber nicht unangenehm, und tatsächlich, je länger es dauerte, desto besser fühlte es sich an.

Als sie die Hände fortnahm, machte sich die Abwesenheit dieses Gefühls einen Augenblick lang schmerzlich bemerkbar. Die Welt schien zu summen, sich zu drehen. Er schüttelte den Kopf.

»Was hast du getan?«

»Ich habe lediglich mein Han mit deinem Rada’Han bekanntgemacht.« Sie sah ein wenig benommen aus. Sie schluckte, als ihr eine Träne über die Wange lief. »Und mit einem Teil deines Han, deinem inneren Wesen.«

Sie wandte sich ab. Richard stand auf.

»Soll das heißen, daß du jetzt immer weißt, wo ich bin? Durch meinen Halsring?«

Sie nickte matt und schlenderte langsam durchs Zimmer. Sie bekam ihre Stimme wieder unter Kontrolle. »Was ißt du gern?«

»Ich esse kein Fleisch.«

Sie blieb auf der Stelle stehen. »So etwas habe ich noch nie gehört.«

»Und ich mag wohl auch keinen Käse mehr.«

Sie überlegte einen Augenblick, dann ging sie weiter. »Ich werde den Köchen deine besonderen Wünsche mitteilen.«

Ein Plan formte sich in seinem Kopf, und dabei konnte er sie nicht gebrauchen. Er mußte sie loswerden.

Pasha ging zu einem abgebeizten Kleiderschrank aus Fichtenholz. Dort hingen Hosen aus feinem Garn, wenigstens ein Dutzend Hemden, größtenteils weiß, einige mit Rüschen, sowie Jacken in allen Farben.

»Die gehören dir«, meinte sie.

»Wenn alle überrascht waren, daß ich erwachsen bin, wieso haben die Kleider dann die Größe eines erwachsenen Mannes?«

Sie unterzog die verschiedenen Teile einer Betrachtung, befühlte den Stoff, nahm einige heraus und hielt sie in die Höhe, um besser sehen zu können. »Jemand muß es gewußt haben. Verna muß es jemandem erzählt haben.«

»Schwester Verna.«

Sie hängte eine schwarze Jacke zurück. »Tut mir leid, Richard, aber jetzt heißt es nur noch ›Verna‹.« Sie zog ein weißes Hemd heraus. »Gefällt dir das?«

»Nein. Ich sehe albern aus, wenn ich solch ausgefallene Kleidung trage.«

Sie lächelte kokett. »Ich glaube, du sähst sehr gut darin aus. Aber wenn es dir nicht gefällt, dort auf dem Tisch sind Münzen. Ich werde dir einige Geschäfte in der Stadt zeigen, und dort kannst du kaufen, was immer dir besser gefällt.«

Richard sah zu dem marmorgedeckten Tisch hinüber. Dort stand eine silberne Schale mit Silbermünzen und gleich daneben eine goldene Schale, zum Überfließen voller Goldmünzen. Selbst wenn er sein ganzes Leben als Waldführer arbeiten würde, niemals könnte er auch nur halb soviel Gold verdienen.

»Das gehört mir nicht.«

»Aber natürlich tut es das. Du bist Gast des Palastes, und der Palast stellt alles zur Verfügung, was immer unsere Gäste verlangen. Wenn du es aufgebraucht hast, wirst du neues bekommen.« Sie holte eine rote Jacke mit Goldbrokat an den Schultern und Manschetten hervor. Ihre Augen strahlten. »Richard, das würde dir ganz einfach prächtig stehen.«

»Auch wenn man einen Halsring unter prächtigem Geschmeide verbirgt, es bleibt immer noch ein Halsring.«

»Das hat nichts mit deinem Rada’Han zu tun. Deine Kleidung ist entsetzlich. Du siehst aus wie ein Wilder aus den Wäldern.« Sie hielt ihm die rote Jacke an. »Hier, probier das mal an.«

Er riß ihr die Jacke aus den Händen und schmiß sie aufs Bett. Dann packte er sie am Arm und zerrte sie zur Tür.

»Richard! Laß das! Was tust du?«

Er riß die Tür auf. »Ich bin müde. Es war ein langer Tag. Gute Nacht, Pasha.«

»Richard, ich versuche doch bloß dir zu helfen, damit du besser aussiehst. In diesen Kleidern siehst du aus wie ein Wilder. Wie ein großes wildes Tier.«

Er beruhigte sich, indem er ihr blaues Kleid betrachtete, blau wie die Farbe von Kahlans Hochzeitskleid.

»Diese Farbe steht dir nicht«, meinte er. »Sie steht dir überhaupt nicht.«

Sie stand im Flur und starrte ihn aus ihren großen, braunen Augen an. Er stieß die Tür mit dem Fuß zu.

Er wartete ein paar Minuten, dann sah er auf dem Flur nach. Nichts von ihr zu sehen. Er ging zu seinem Rucksack neben dem Kamin und machte sich daran, ihn auszupacken. Alles würde er nicht brauchen. Nicht nötig, all die zusätzlichen Kleidungsstücke mitzunehmen.

Als er die Sehne auf den Bogen spannte, klopfte es leise an der Tür. Er schlich über die Teppiche und lauschte. Vielleicht ging sie wieder fort, falls er nicht öffnete. Er konnte sie nicht gebrauchen, wenn sie um ihn herumscharwenzelte und ihm vorschrieb, was er anzuziehen hatte. Er hatte etwas Wichtiges zu erledigen.

Es klopfte leise noch einmal. Vielleicht war es gar nicht Pasha. Richard zückte sein Messer und riß die Tür auf.

»Schwester Verna.«

»Ich habe gerade Pasha gesehen, wie sie weinend den Korridor entlanglief. Du überraschst mich, Richard.« Sie zog die Augenbrauen hoch und sah ihn an. »Ich hätte nicht gedacht, daß du so lange brauchst. Ich hatte mich eine Ecke weiter versteckt und hatte Angst, beim Warten erwischt zu werden.« Ein Tuch bedeckte ihr lockiges Haar und fiel breit über ihre Schultern. »Mußtest du sie unbedingt zum Weinen bringen?«

»Sie kann von Glück reden, daß ich sie nicht habe bluten lassen.«

Sie nahm das Tuch ab und legte es sich um die Schultern. Ein schwaches Lächeln spielte über ihre Lippen. »Darf ich hereinkommen?« Er streckte ihr den Arm auffordernd entgegen. »Und ich heiße jetzt schlicht Verna«, meinte sie, als sie die Schwelle überschritt. »Ich bin keine Schwester mehr.«

Er ließ das Messer in die Scheide zurückgleiten. »Tut mir leid, aber ich glaube, ich bringe es nicht über mich, Euch irgendwie anders zu nennen. Für mich seid Ihr Schwester Verna.«

»Es ist nicht richtig, mich mit Schwester anzureden.« Sie sah sich im Zimmer um, während er die Tür schloß. »Wie ist die Unterbringung?«

»Selbst ein König könnte sich wohl kaum beschweren. Schwester Verna, ich weiß, Ihr werdet mir nicht glauben, aber was passiert ist, tut mir wirklich leid. Ich hatte nicht die Absicht, Euch meinen Arger aufzuladen.«

Ihr Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Du hast ständig nichts als Ärger für mich bedeutet, Richard, doch diesmal hast du nichts damit zu tun. Diese Suppe hat mir jemand anderes eingebrockt.«

»Schwester, ich weiß, ich bin schuld, daß Ihr zur Novizin degradiert worden seid. Das war nicht meine Absicht. Daß Ihr allerdings zur Arbeit in die Ställe geschickt werden sollt, das habt Ihr Euch selber zuzuschreiben.«

»Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen, Richard.« Ihre Augen glitzerten seltsam. »Ich kann Töpfeschrubben nicht ausstehen. Als ich noch jung und Novizin war, habe ich das mehr gehaßt als alles andere. In einer Küche fühle ich mich nicht wohl, und schon gar nicht, wenn meine Hände dabei in siedendem Wasser stecken.

Pferde gefallen mir viel besser. Sie geben keine Widerworte und streiten sich nicht mit mir. Ich bin gern in der Nähe von Pferden. Das um so mehr, seit du die Trensen zerstört hast und ich mich mit Jessup angefreundet habe. Schwester Maren war in dem Glauben, sozusagen die Zügel in der Hand zu halten, dabei hat sie mir nur einen Gefallen getan.«

Richard konnte sich ein schiefes Lächeln nicht verkneifen. »Ihr seid ein gerissenes Frauenzimmer, Schwester Verna. Ich bin stolz auf Euch. Trotzdem tut es mir noch immer leid, daß man Euch meinetwegen wieder zu Novizin gemacht hat.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich bin hier, um dem Schöpfer zu dienen. Wie, spielt keine Rolle. Und du hast nichts damit zu tun, denn die Anordnungen der Prälatin waren es, wegen derer ich zur Novizin degradiert worden bin.«

»Ihr meint die Anordnungen, die sie in das Buch geschrieben hat? Sie hat Euch verboten, Eure Kraft bei mir anzuwenden, habe ich recht?«

»Woher weißt du das?«

»Das habe ich mir so überlegt. Oft wart Ihr wütend genug, um mich mit Feuer anzuspucken, aber nie habt Ihr Eure Kraft gebraucht, um mich zu bestrafen. Ich glaube, das wäre kaum passiert, wenn Ihr nicht die Anweisung gehabt hättet, Euch nicht einzumischen. Schließlich dient der RadaHan der Kontrolle — warum sonst solltet Ihr diese Kontrolle also nicht benützen?«

Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Du bist selbst sehr gerissen, Richard. Wie lange hast du das schon gewußt?«

»Seit ich das Buch im Turm gelesen habe. Warum seid Ihr hier, Schwester?«

»Ich wollte sehen, ob es dir gut geht. Ich fange morgen an und werde nicht noch einmal die Gelegenheit bekommen, dich zu besuchen. Wenigstens für lange Zeit nicht — nicht, bevor ich wieder zur Schwester des Lichts ernannt worden bin. Novizinnen des ersten Ranges ist es nicht gestattet, mit den jungen Zauberern in Kontakt zu treten. Die Strafe ist recht hart.«

»Euer erster Tag als Novizin, und schon brecht Ihr die Regeln. Ihr hättet nicht kommen sollen. Ihr werdet bis zu den Ellenbogen in siedendem Wasser und schmutzigen Töpfen stecken, wenn sie Euch erwischen.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Es gibt Wichtigeres als Regeln.«

Richard runzelte die Stirn, als er den entrückten Blick in ihren Augen sah. »Warum setzt Ihr Euch nicht?«

»Ich habe keine Zeit. Ich bin nur gekommen, um mein Versprechen einzulösen.« Sie zog etwas aus einer Tasche. »Und um dir dies zu bringen.«

Sie ergriff seine Hand, legte etwas hinein und schloß seine Finger darum.

Als Richard seine Finger öffnete und hinsah, hätten seine Knie beinahe nachgegeben. Plötzlich spürte er einen Kloß im Hals. In seinen Augen sammelte sich Wasser, während er in seine Hand starrte.

Es war die Locke von Kahlans Haar, die er weggeworfen hatte.

Schwester Verna hakte ihre Hände ineinander. »Am ersten Abend, unserem ersten Abend, habe ich dies gefunden.«

Ohne aufzusehen sagte er leise: »Was meint Ihr damit, gefunden?«

Sie lehnte sich zurück und blickte an die Decke. »Nachdem du eingeschlafen warst, nachdem du beschlossen hattest, mich nicht umzubringen, bin ich spazierengegangen und habe sie gefunden.«

Er schloß langsam die Augen. »Ich kann es nicht annehmen«, gelang es ihm hervorzustoßen. »Ich habe ihr die Freiheit gegeben.«

»Kahlan hat ein großes Opfer gebracht, um dir das Leben zu retten. Ich habe ihr versprochen, dafür zu sorgen, daß du nicht vergißt, daß sie dich liebt.«

Richards Kräfte waren dahin. Die Muskeln seiner Beine bebten. Seine Hand zitterte.

»Ich kann es nicht annehmen. Sie hat mich fortgeschickt. Ich habe ihr die Freiheit gegeben.«

Schwester Verna sprach sanft auf ihn ein. »Sie liebt dich, Richard. Bitte, nimm es an, mir zuliebe. Ich habe die Regeln gebrochen, um dir dies zu bringen. Ich habe Kahlan mein Versprechen gegeben, dafür zu sorgen, daß du weißt, wie sehr sie dich liebt. Ich wurde heute erst wieder daran erinnert, welch selten Ding wahre Liebe ist.«

Richard kam sich vor, als wäre der Palast mit seinem gesamten Gewicht über ihm zusammengestürzt.

»Also gut, Schwester, Euch zuliebe. Aber ich weiß, daß sie mich nicht will. Wenn man jemanden liebt, dann bittet man ihn nicht, sich einen Ring um den Hals zu legen. Man schickt ihn nicht fort. Sie will frei sein. Ich liebe sie, also habe ich ihr die Freiheit gegeben.«

»Eines Tages, Richard, wirst du ihre Liebe hoffentlich erkennen — und wieviel sie geopfert hat. Liebe ist etwas sehr Kostbares und sollte niemals in Vergessenheit geraten. Ich weiß nicht, was das Leben noch für dich bereithält, aber eines Tages wirst du die Liebe wiederfinden.

Doch im Augenblick, denke ich, brauchst du einen Freund nötiger als alles andere. Ich meine es ernst mit meinem Angebot, Richard.«

»Werdet Ihr mir diesen Ring abnehmen?«

Sie schwieg einen Augenblick. Ihre Stimme war voller Bedauern, als sie antwortete. »Das kann ich nicht, Richard. Es würde dir schaden. Ich habe die Pflicht, dein Leben zu erhalten. Der Ring muß bleiben.«

Er nickte. »Ich habe keine Freunde. Ich befinde mich auf feindlichem Gebiet, in der Hände meiner Feinde.«

»Das ist nicht wahr. Aber ich fürchte, als Novizin werde ich keine Gelegenheit haben, dich vom Gegenteil zu überzeugen. Pasha scheint eine nette junge Frau zu sein. Versuche dich mit ihr anzufreunden, Richard. Du brauchst einen Freund.«

»Ich kann mich nicht mit jemandem anfreunden, den ich vielleicht töten muß. Mir war es mit jedem Wort ernst, das ich gesagt habe, Schwester.«

»Ich weiß, Richard«, erwiderte sie leise. »Ich weiß. Aber Pasha ist fast so alt wie du. Manchmal fällt es leichter, mit jemandem im gleichen Alter Freundschaft zu schließen. Ich glaube, sie wäre gern deine Freundin.

Für eine Novizin ist diese Zeit genauso wichtig wie für einen jungen Zauberer. Das Verhältnis zwischen einer Novizin und dem Zauberer, der ihr anvertraut ist, ist einzigartig. Das Band, das sich daraus entwickelt, ist etwas ganz Besonderes und wird für beide ein Leben lang währen.

Auch sie hat Angst. Ihr ganzes Leben war sie Schülerin, Novizin. Jetzt ist sie zum ersten Mal Lehrerin. Nicht nur der Junge lernt, das Mädchen ebenfalls. Sie beide treten in ein neues Leben ein. Das ist für beide etwas ganz Besonderes.«

»Sklave und Herr. Das ist das einzige Band.«

Sie seufzte. »Ich bezweifle, daß je eine Novizin einer ähnlichen Aufgabe wie Pasha gegenübergestanden hat. Versuche ihr gegenüber verständnisvoll zu sein, Richard. Pasha wird alle Hände voll mit dir zu tun haben. Der Schöpfer weiß, selbst die Prälatin hätte alle Hände voll mit dir zu tun.«

Richard starrte ins Leere. »Habt Ihr jemals einen Menschen getötet, den Ihr liebt, Schwester?«

»Nun ja, nein…«

Richard wog den Strafer in der Faust. »Denna hielt mich mit Hilfe von Magie fest, genau wie die Schwestern. Sie legte mir einen Ring um den Hals, genau wie die Schwestern.

Man hat sie gefoltert, bis sie irre genug war, mir dasselbe anzutun. Ich verstand, wieso sie dazu fähig war, weil ich alles getan hätte, was sie mir befahl, um nicht länger gequält zu werden.«

Er spürte den Schmerz des Strafers kaum, der durch seinen Körper tobte.

»Ich verstand sie, und ich liebte sie.« Eine Träne lief ihm über die Wange. »Das war für mich die einzige Möglichkeit zu entkommen. Sie kontrollierte den Zorn des Schwertes. Weil ich aber fähig war, sie zu lieben, konnte ich die Klinge des Schwertes der Wahrheit weiß färben.«

»Gütiger Schöpfer«, sagte Schwester Verna leise, »du hast die Schwertklinge weiß gefärbt?«

Richard schloß die Augen und nickte. »Ich mußte die Liebe zu ihr in mein Herz aufnehmen. Erst danach konnte ich die Klinge weiß färben. Erst danach konnte ich sie damit durchbohren, während sie mir gleichzeitig liebevoll in die Augen sah. Nur weil ich sie liebte, konnte ich sie töten und entkommen.

Solange ich lebe, werde ich mir das nicht verzeihen können.«

Schwester Verna nahm ihn tröstend in die Arme. »Gütiger Schöpfer«, hauchte sie, »was hast du deinem Kind nur angetan?«

Richard stieß sie von sich. »Geht, Schwester, bevor Ihr in Schwierigkeiten kommt.« Er wischte sich über die Augen. »Ich benehme mich wie ein Narr.«

Sie packte ihn an den Schultern. »Warum hast du mir nicht vorher schon davon erzählt?«

Er wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. »Ich bin nicht gerade stolz darauf. Und Ihr seid mein Feind, Schwester.« Er blickte in ihre feuchten Augen. »Ich habe Euch die Wahrheit gesagt, ich habe heute den anderen Schwestern die Wahrheit gesagt: Ich werde jeden töten, wenn ich muß. Schwester, ich bin fähig, jeden zu töten. Ich bin der Bringer des Todes. Ich bin ein Ungeheuer. Deshalb wollte Kahlan, daß ich fortgeschickt werde.«

Sie strich ihm das Haar aus dem Gesicht. »Sie liebt dich, Richard. Sie hat versucht, dir das Leben zu retten. Irgendwann wirst du das erkennen.« Sie seufzte. »Entschuldige. Ich muß gehen. Wirst du zurechtkommen?«

Sein Lächeln war hohl. »Ich glaube nicht, Schwester. Ich glaube, es wird Krieg geben. Ich glaube, es wird damit enden, daß ich Schwestern töte. Hoffentlich werdet Ihr nicht zu ihnen gehören.«

Sie fuhr ihm mit den Fingern über die Wange. »Wir wissen nie, was der Schöpfer für uns bereithält.«

»Wenn Euer Schöpfer über irgendwelche Macht verfügt, dann werdet Ihr erheblich schneller wieder zu einer Schwester ernannt werden, als Ihr glaubt, Schwester.«

»Ich muß gehen. Viel Glück, Richard. Hab Vertrauen.«

Sofort nachdem sie gegangen war, warf er sich den Umhang über die Schultern und setzte den Rucksack auf. Er mußte jetzt handeln, solange sie sich noch vor ihm fürchteten, solange sie noch unsicher waren. Er vergewisserte sich, daß das Schwert locker in der Scheide steckte. Er hakte den Köcher an seinen Rucksack und schulterte den Bogen, dann trat er hinaus auf den Balkon.

Mit einer Schlinge befestigte Richard das Seil am steinernen Geländer. Er nahm das Messer zwischen die Zähne, dann ließ er sich über die Kante gleiten, hinein in die Dunkelheit, in sein Element.

Загрузка...