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Sie hörte die Stimme im Vorzimmer und hoffte, es wäre die, die sie erwartete. Sie sah dem nicht gerade freudig entgegen, andererseits wurde ihr die Zeit knapp. Richard hatte inzwischen bestimmt eine Möglichkeit gefunden, Nathan aufzusuchen, und Nathan hatte seinen Part gewiß gespielt. Jetzt war es an der Zeit, daß sie den ihren übernahm.

Natürlich konnte sie Nathan nicht vollkommen vertrauen, in dieser Angelegenheit jedoch hatte er bestimmt das Erforderliche getan. Er kannte die Folgen eines Versagens. Er hatte eine Aufgabe, um die sie ihn nicht beneidete — er sollte das Gewicht besagter Schneeflocke hinzufügen.

Ein Fingerschnippen von ihr, und die Tür flog auf. Sie hatte den Türrahmen von Schreinern reparieren lassen müssen. Richard hatte ihn mit seinem Han zertrümmert, ohne überhaupt zu merken, was er angerichtet hatte. Und das war sogar noch vor seinem Besuch bei Nathan gewesen.

»Schwester Ulicia, Schwester Finella, es ist spät, warum geht ihr nicht in eure Arbeitszimmer und kümmert euch um den Papierkram. Ich werde sie empfangen. Schwester Verna, bitte tretet ein.«

Ann erhob sich, als Schwester Verna forschen Schritts ins Zimmer trat. Sie mochte Verna. Ihr war zuwider, was sie ihr jetzt antun mußte, aber die Zeit wurde knapp. Hunderte von Jahren für die Vorbereitung, und jetzt liefen ihr sowohl die Zeit als auch die Ereignisse davon.

Die Welt stand am Abgrund.

Verna verneigte sich. »Prälatin Annalina.«

»Bitte, Verna, setzt Euch. Es ist so lange her.«

Verna zog einen Stuhl an die gegenüberliegende Seite des Tisches. Sie setzte sich, den Rücken gerade, die Hände im Schoß gefaltet.

»Sehr freundlich von Euch, Eure kostbare Zeit zu opfern, um mich zu empfangen.«

Fast hätte Ann gelächelt. Fast. Geliebter Schöpfer, danke, daß Du sie in gereizter Stimmung zu mir schickst; das macht meine Aufgabe zwar nicht weniger lästig, aber gewiß einfacher.

»Ich hatte viel zu tun.«

»Ich auch«, fauchte Verna. »In den letzten mehr als zwanzig Jahren.«

»Offensichtlich nicht genug. Wie es scheint, haben wir Schwierigkeiten mit einem jungen Mann, den Ihr gebracht habt, und der längst, bevor er überhaupt hier eintraf, hätte ins Gebet genommen werden müssen.«

Vernas Gesicht verfärbte sich tiefrot. »Hättet Ihr mir nicht untersagt, meine Pflicht zu tun und mein Können einzusetzen, dann hätte ich das auch getan.«

»Ach ja? Seid Ihr so arm an Findigkeit, Verna, daß Ihr bei so geringfügigen Einschränkungen bereits nicht mehr Eure Pflicht erfüllen könnt? Pasha, gerade erst Novizin, scheint da bessere Erfolge zu erzielen, und sie arbeitet mit den gleichen Einschränkungen.«

»Glaubt Ihr das wirklich? Glaubt Ihr tatsächlich, er ist unter Kontrolle?«

»Er hat niemanden mehr umgebracht, seit Pasha die Verantwortung übernommen hat.«

Verna versteifte sich. »Ich denke, ich kenne mich ein wenig aus mit Richard. Ich möchte der Prälatin raten, mit Ihrem Vertrauen vorsichtig umzugehen.«

Ann hielt den Kopf gesenkt, schob Papiere hin und her, als richtete sie ihr Augenmerk auf Worte, die sie in Wahrheit gar nicht sah. »Ich werde Euren Rat berücksichtigen. Vielen Dank, daß Ihr gekommen seid, Verna.«

»Ich bin noch nicht am Ende! Ich habe noch nicht einmal angefangen!«

Sie hob langsam den Blick. »Wenn Ihr mir gegenüber noch ein einziges Mal die Stimme erhebt, Verna, dann werdet Ihr sehr wohl am Ende sein.«

»Prälatin Annalina, bitte verzeiht meinen Ton, doch es gibt Dinge von äußerster Wichtigkeit, die ich einfach zur Sprache bringen muß.«

Ann seufzte und tat ungeduldig. »Na schön, aber dann kommt bitte zur Sache. Ich bin ausgesprochen beschäftigt.« Sie faltete die Hände auf dem Schreibtisch und sah Verna ausdruckslos an. »Also bitte, sprecht.«

»Richard ist bei seinem Großvater aufgewachsen…«

»Wie schön für ihn.«

Verna hielt verärgert über die Unterbrechung inne. »Sein Großvater ist ein Zauberer. Ein Zauberer der Ersten Ordnung. Sein Großvater wollte ihn ausbilden.«

»Nun, um seine Ausbildung kümmern wir uns. Ist das alles?«

Verna kniff die Augen zusammen. »Ich muß die Prälatin doch nicht erst daran erinnern, daß es einen glatten Bruch der Waffenruhe darstellt, einen Jungen einem Zauberer fortzunehmen, der bereit wäre, ihn auszubilden. Mir hat man erzählt, es gäbe in der Neuen Welt keine Zauberer mehr, die Jungen ausbilden. Man hat mich angelogen. Man hat mich mißbraucht. Wir haben Jungen gestohlen. Und Ihr habt mich in diese Sache hineingezogen.«

Ann lächelte nachsichtig. »Schwester, wir dienen dem Schöpfer, damit alle lernen, in seinem Licht zu leben. In Anbetracht Eurer Pflicht dem Schöpfer gegenüber, was bedeutet da ein Waffenstillstand mit heidnischen Zauberern?«

Verna verschlug es die Sprache.

Geliebter Schöpfer, ich mag diese Frau so sehr. Bitte gib mir die Kraft, sie zu brechen. Nathan hatte seine Schneeflocke hinzugefügt, sie mußte ihre hinzufügen.

»Man hat mich auf eine zwanzig Jahre währende Jagd geschickt, man hat mich getäuscht, ohne daß ich den Grund dafür kannte, meine beiden Begleiterinnen sind durch meine Hand gestorben, man hat mir untersagt, bei meiner Arbeit von meiner Kraft Gebrauch zu machen…«

»Glaubt Ihr, ich hätte Euch den Gebrauch Eurer Kraft aus einer Laune heraus untersagt? Ist es das, was Euch Kummer macht, Schwester Verna? Also schön, wenn Ihr den Grund unbedingt wissen wollt: Es geschah, um Euch das Leben zu retten.«

Verna versteifte sich und wurde vorsichtig. »Wenn ich mich recht an meine Lektionen unten in den Gewölben erinnere, dann gibt es nur einen Grund, weshalb derartige Einschränkungen mein Leben retten könnten.«

Ann mußte innerlich lächeln. Verna wollte, daß es laut ausgesprochen wurde. »So ist es. Richard besitzt subtraktive Magie.«

»Das wußtet Ihr? Ihr habt jemanden mit Subtraktiver Magie den Halsring anlegen lassen? Dieses Risiko seid Ihr eingegangen? Ihr habt ihn tatsächlich herbringen lassen, in den Palast?« Sie faltete ihre Hände auseinander und beugte sich ein wenig vor. »Warum?«

Ann hielt dem Blick der anderen Frau stand. »Weil es Schwestern der Finsternis im Palast gibt.«

Sie zuckte nicht einmal zusammen. Sie wußte es. Zumindest hatte sie bereits den Verdacht gehabt. Gesegnet seist du, Verna, du bist ein heller Kopf. Vergib mir, was ich tun muß.

»Ist dieser Raum abgeschirmt?« erkundigte sich Verna mit ruhiger Stimme.

»Selbstverständlich.« Sie verschwieg, daß ihr Schild gegen diese Schwestern keinen Schutz bot.

»Habt Ihr Beweise für eine derartige Behauptung, Prälatin?«

»Ich brauche fürs erste keine Beweise, denn diese Unterredung bleibt unter uns. Ihr werdet kein Wort davon erwähnen. Es sei denn, Ihr wolltet Anklage erheben. Tut Ihr dies, werde ich natürlich alles abstreiten und erklären, Ihr wäret eine verbitterte Schwester, welche eines persönlichen Vorteils wegen versucht, die Prälatin der Gotteslästerung zu bezichtigen. Und dann würden wir Euch hängen müssen. Das liegt doch nicht in Eurem Interesse, oder täusche ich mich da?«

Verna saß steif und reglos da. »Nein, Prälatin. Doch was hat das damit zu tun, daß Richard hergebracht wurde?«

»Wenn Euer Haus von Ratten überrannt wird, bleibt Euch nichts anderes übrig, als eine Katze zu besorgen.«

»Diese Katze hält uns alle für Ratten. Und das vielleicht aus gutem Grund. Manch einer könnte sagen, Ihr hättet die Katze nicht wegen Eurer Ratten hergebracht, sondern als Köder. Richard ist ein guter Mensch. Der Gedanke, daß er geopfert werden soll, gefällt mir nicht.«

»Wißt Ihr, warum man Euch ausgesucht hat, Richard aufzuspüren?«

»Ich dachte, damit hättet Ihr mir Euer Vertrauen ausgesprochen.«

Ann zuckte mit den Achseln. »In gewisser Weise war es so. Wenngleich ich nicht ganz sicher bin, ob sich Schwestern der Finsternis im Palast befinden, und ich, wenn es denn zutrifft, keine Ahnung habe, wer sie sind, so mußte ich doch annehmen, daß die Schwestern Grace und Elizabeth Schwestern der Finsternis waren, da sie ganz oben auf der Liste standen. Aus einer Prophezeiung, die nur meine Augen gesehen haben, wußte ich, daß Richard wahrscheinlich subtraktive Magie besitzt und daß er darüber hinaus die ersten beiden Angebote ablehnen würde. Die beiden ersten Schwestern würden also sterben.

Hätten die Jünger des Hüters etwas davon gewußt, dann hätten sie bestimmt gewollt, daß auch der dritte Name auf der Liste einer der ihren ist. Ich habe mein Privileg als Prälatin dazu benutzt, die dritte Schwester selbst auszusuchen.«

»Ihr habt mich ausgewählt, weil Ihr darauf vertraut habt, daß ich nicht eine von denen bin?«

Ann hätte gerne geantwortet: Ich kenne dich seit deiner Kindheit, Verna. Ich kenne deinen regen Verstand, dein Herz und deine Seele. Von all den Schwestern habe ich ausgerechnet dir das Schicksal der Welt anvertraut. Ich wußte, daß Richard in deinen Händen sicher wäre.

Doch das durfte sie nicht sagen.

»Ich habe Euch ausgewählt, Verna, weil Ihr ganz unten auf der Liste standet und weil Ihr, alles in allem, recht wenig bemerkenswert seid.«

Eine ganze Weile herrschte Stille im Raum. Verna mußte schlucken. »Verstehe.«

»Ich war nicht der Ansicht, daß Ihr eine von ihnen seid. Ihr seid ein Mensch, von dem man wenig Notiz nimmt. Ich bin überzeugt, die Schwestern Grace und Elizabeth haben es nur deshalb bis ganz oben auf der Liste geschafft, weil der, der die Schwestern der Finsternis befehligt, wer immer das ist, sie für verzichtbar hielt. Ich befehlige die Schwestern des Lichts. Ich habe Euch aus demselben Grund ausgewählt.

Es gibt Schwestern, die für unsere Sache wertvoll sind. Für diese Aufgabe mußte ich eine Schwester aussuchen, deren Verlust uns nicht schmerzen würde. Der Junge erweist sich möglicherweise als wertvoll für uns, doch er ist nicht so wichtig wie andere Angelegenheiten im Palast. Möglicherweise ist er eine Hilfe. Es war schlicht eine Gelegenheit, die zu ergreifen ich für angebracht hielt.

Hätte es Schwierigkeiten gegeben und keine von Euch hätte es geschafft, zurückzukommen, nun, ich bin sicher, Ihr habt Verständnis dafür, daß ein General seine Truppen nicht bei einer Mission von geringer Dringlichkeit verlieren möchte.«

Vernas Atem wirkte gepreßt. Ihre Stimme klang ebenso. »Selbstverständlich, Prälatin Annalina.«

Ann schob ungeduldig ihre Papiere ineinander. »Ich muß mich jetzt wieder um wichtige Dinge kümmern. Gibt es sonst noch etwas, Schwester?«

»Nein, Prälatin.«

Als die Tür sich schloß, senkte die Prälatin ihr Gesicht in die zitternden Hände. Auf ihre Unterlagen fielen Tränen.


Sie sah ihm lange musternd in die Augen. Richard wußte nicht, ob sie zustimmen würde oder nicht, doch er hatte ihr einen Großteil dessen erzählen müssen, was er hatte in Erfahrung bringen können, damit sie wenigstens einverstanden war, sich seine Bitte anzuhören. Ein Scheitern konnte er sich nicht erlauben. Er brauchte Hilfe. Irgend jemandem mußte er vertrauen.

»Also gut, Richard, ich werde dir helfen. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was du sagst, muß ich dir helfen.«

Richard seufzte und schloß erleichtert die Augen. »Danke, Liliana. Das werde ich Euch nie vergessen. Ihr seid die einzige hier, die bereit ist, auf die Vernunft zu hören. Können wir es jetzt sofort tun? Die Zeit ist knapp.«

»Jetzt?« flüsterte sie mit rauher Stimme. »Hier? Wenn es stimmt, daß du subtraktive Magie besitzt, geht es nicht einfach nur darum, dir den RadaHan abzunehmen. Ich werde mir einen magischen Gegenstand besorgen müssen, den die Schwestern unter Verschluß halten. Es handelt sich um ein Hilfsmittel, mit dem man Kraft vermehren kann. Vielleicht gelingt es damit und mit deiner Hilfe, den Halsring abzunehmen.

Und nicht nur das. Wenn der Namenlose seine Hand im Spiel hat, läßt sich unmöglich sagen, wer dich belauscht oder mit seinem Han ausspioniert.«

»Wann also? Und wo? Es muß bald geschehen.«

Sie wischte sich mit der Hand über die Augen und überlegte. »Nun, ich denke, ich kann den Gegenstand vor heute abend besorgen, also können wir es noch heute abend versuchen. Aber wo? Im Palast geht es nicht. Das wäre zu gefährlich.«

»Im Hagenwald«, schlug Richard vor. »Kein Mensch traut sich in den Hagenwald.«

Liliana hob den Kopf. »Das ist doch nicht dein Ernst, Richard. Es ist gefährlich dort.«

»Nicht für mich. Ich habe Euch doch schon erzählt, daß ich spüre, wenn die Mriswiths kommen. Dort ist es sicher genug. Außerdem brauchen wir nicht zu befürchten, daß irgendwelche Schwestern oder Pasha zufällig des Weges kommen, während wir versuchen, dieses vermaledeite Ding von meinem Hals herunterzubekommen.«

Sie blies nachdenklich ihre Wangen auf. Schließlich legte sie ihm eine Hand auf die Schulter, drückte sie und lächelte. »Also gut. Also dann im Hagenwald.«

Mit strengem Blick packte sie ihn an der Schulter und hielt ihn auf Armeslänge von sich. »Ich breche jede Menge Regeln, wenn ich das tue. Ich weiß, es ist wichtig, doch wenn sie uns erwischen, bevor wir fertig sind, werden sie dafür sorgen, daß ich nie wieder nah genug an dich herankomme, um es noch einmal zu versuchen.«

»Ich bin soweit. Gehen wir.«

»Nein. Zuerst muß ich versuchen, den Gegenstand zu besorgen.« Sie legte den Kopf auf die Seite und runzelte die Stirn. »Gerade fällt mir noch etwas anderes ein. Immer wieder sagen sie dir, du dürftest nie die Sonne im Hagenwald über dir untergehen lassen. Warum?«

Richard zuckte mit den Achseln. »Weil es gefährlich ist.«

»Und nach allem, was du erfahren hast, glaubst du ihnen? Du vertraust ihnen? Und wenn sie nur deshalb wollen, daß du die Sonne hier nicht über dir untergehen läßt, weil du dadurch etwas Nützliches in Erfahrung bringen könntest? Du hast gesagt, die Zauberer aus alter Zeit, die subtraktive Magie besaßen, hätten den Hagenwald geschaffen, um Menschen wie dir zu helfen. Was, wenn die Schwestern dir einfach nur diese Hilfe versagen wollen? Was, wenn sie dir nur Angst machen wollen, damit du nicht dahinterkommst?«

Das Erste Gesetz der Magie. Führte man ihn hinters Licht? Glaubte er einer Lüge? »Vielleicht habt Ihr recht. Wir brechen kurz vor Sonnenuntergang auf.«

»Nein. Es ist besser, wenn wir nicht zusammen gesehen werden. Außerdem werde ich einige Zeit brauchen, um die Hilfe zu stehlen. Weißt du, wo der lange, gespaltene Felsen im Bach steht, in der südwestlichen Ecke des Hagenwaldes?«

»Ich kenne die Stelle.«

»Gut. Geh dorthin, bevor die Sonne untergeht. Du bist es, für den die Magie bestimmt ist. Geh zu dem gespaltenen Felsen im Wald. Dort werde ich dich treffen, wenn der Mond zwei Handbreit hoch am Himmel steht. Und, Richard, du darfst niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählen, sonst setzt du nicht nur mein und dein Leben aufs Spiel, sondern auch Kahlans.«

Richard nickte dankbar lächelnd. »Mein Wort darauf. Also, bis heute abend.«

Nachdem sie gegangen war, lief er im Zimmer auf und ab. Er konnte kaum erwarten, es hinter sich zu bringen und von hier fortzukommen. Die Zeit lief ihm davon. Wenn Darken Rahl den Skrinknochen hatte, wäre es bereits zu spät. Doch das war töricht. Wie sollte er ihn bekommen? Er war ein Geist. Vielleicht war es, wie Warren gesagt hatte, daß kaum jemals alle Elemente an Ort und Stelle waren.

Kahlan war es, um die er sich Sorgen machte. Er mußte ihr helfen.

Ein Klopfen an der Tür riß ihn aus seinen Gedanken. Er dachte, es könnte vielleicht Liliana sein, die zurückgekehrt war, doch als er die Tür öffnete, drängte sich Perry, das Gesicht in Sorgenfalten gelegt, herein.

»Richard! Ich brauch’ deine Hilfe.« Er deutete auf seine Robe. »Sieh dir das an! Ich bin befördert worden!«

Richard betrachtete die schlichte, braune Robe von oben bis unten. »Glückwunsch. Das ist großartig, Perry.«

»Es ist eine Katastrophe! Richard, ich brauche deine Hilfe!«

Richard runzelte die Stirn. »Wieso ist das eine Katastrophe?«

Perry warf die Arme in die Luft, als müßte dies für jeden offensichtlich sein. »Weil ich nicht mehr in die Stadt kann! In dieser Robe unterliege ich Beschränkungen. Es ist mir nicht erlaubt, die Brücke zu überqueren!«

»Nun, das tut mir leid, Perry, aber ich sehe nicht, wie ich dir helfen könnte.«

Perry nahm einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen. Er sah flehend auf. »Es gibt da eine Frau in der Stadt … ich habe mich in der letzten Zeit regelmäßig mit ihr getroffen. Ich mag sie wirklich, Richard. Ich bin heute abend mit ihr verabredet. Wenn ich heute nicht hingehe, wenn ich überhaupt nicht mehr komme, wird sie denken, ich würde mir nichts aus ihr machen.«

»Ich begreife immer noch nicht, was ich dabei tun kann, Perry«

Perry packte ihn an seinem Hemd. »Man hat mir alle meine Kleider abgenommen. Richard, du könntest mir welche von deinen leihen. Dann würde mich niemand erkennen, und ich könnte heimlich in die Stadt gehen und mich mit ihr treffen. Bitte, Richard, leihst du mir ein paar von deinen Sachen?«

Richard dachte einen Augenblick lang nach. Ihm war es egal, ob er irgendeine undurchschaubare Regel des Palastes brach, verglichen mit dem, was er vorhatte, schien das unbedeutend, trotzdem machte er sich Sorgen wegen Perry. »Die Wachen kennen mich. Sie werden merken, daß du das bist, in meinen Kleidern, und es den Schwestern verraten. Dann bist du dran.«

Perry blickte zur Seite und dachte hektisch nach. »Nachts. Ich warte, bis es Nacht ist, und dann gehe ich. Nachts werden sie vielleicht nicht erkennen, wer ich bin. Bitte, Richard? Bitte?«

Richard seufzte. »Von mir aus gern, Perry, wenn du es riskieren willst. Laß dich nur nicht erwischen. Ich will wirklich nicht dabei geholfen haben, dich in Schwierigkeiten zu bringen.« Er deutete zum Schlafzimmer, wo der Kleiderschrank stand. »Komm mit. Nimm dir, was immer dir gefällt. Du hast nicht ganz meine Größe, aber bestimmt wird dir etwas einigermaßen passen.«

Perry sah ihn von der Seite an und lächelte. »Die rote Jacke? Kann ich die rote Jacke nehmen? Darin werde ich ihr gefallen.«

»Sicher.« Richard führte den überglücklichen Perry ins Schlafzimmer.

»Nimm sie dir ruhig. Es freut mich, wenn sie dir gefällt.«

Perry durchwühlte den Kleiderschrank auf der Suche nach einer Hose und einem Hemd, die zur roten Jacke paßten.

»Ich habe gesehen, wie Schwester Liliana dein Zimmer verlassen hat, kurz bevor ich gekommen bin.« Er zog ein weißes Rüschenhemd heraus. »Ist sie eine deiner Lehrerinnen?«

»Ja. Ich mag sie. Sie ist die netteste von allen.«

Perry hielt das Hemd vor seinen Körper. »Wie steht mir das?«

»Besser als mir. Kennst du Liliana?«

»Eigentlich nicht. Mir läuft es nur immer kalt den Rücken runter, wenn ich sie sehe. Sie hat so seltsame Augen.«

Richard mußte an Lilianas sehr, sehr blasse blaue Augen denken, die mit violetten Sprenkeln durchsetzt waren. Er zuckte mit den Achseln. »Zuerst dachte ich auch, sie wären komisch. Aber sie ist so temperamentvoll und freundlich, daß sie mir kaum noch auffallen. Sie hat so ein warmes Lächeln, daß es schwerfällt, überhaupt noch etwas anderes zu sehen.«

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