Zedd öffnete die Tür und sah sich einer nach Holzteer riechenden Rauchwolke gegenüber. Jemand hatte das Fenster aufgemacht, um die eisig kalte Luft hinein- und den Rauch hinauszulassen. Adie saß, fast bis zum Hals in eine Decke gehüllt, auf dem Bett und bürstete ihr glattes, schwarzgraues, kinnlanges Haar.
»Was gibt’s? Was ist passiert?«
Sie zeigte mit der Haarbürste auf den Kamin. »Mir war kalt. Ich habe versucht, ein Feuer anzuzünden.«
Zedd sah kurz zum Kamin. »Dafür braucht man Holz, Adie. Ohne Holz kein Feuer.«
Er erwartete ein Stirnrunzeln. Statt dessen setzte sie eine besorgte Miene auf. »Holz war da. Ich habe mit Magie versucht, das Feuer vom Bett aus zu entfachen. Doch es gab nur einen großen Knall und Funken. Dann habe ich das Fenster aufgemacht, um den Rauch hinauszulassen. Als ich wieder in den Kamin sah, waren die Scheite verschwunden.«
Zedd ging näher zu ihr hin. »Verschwunden?«
Sie nickte und bürstete weiter. »Irgend etwas stimmt nicht. Mit meiner Gabe.«
Zedd strich ihr mit der Hand übers Haar. »Ich weiß. Ich hatte ein ähnliches Problem. Es muß an der Vergiftung liegen.« Er setzte sich, nahm ihr die Bürste aus der Hand und legte sie zur Seite. »Adie, was kannst du mir über diese Vergiftung, über den Skrin erzählen? Wir brauchen dringend Antworten.«
»Ich habe dir bereits alles gesagt, was ich weiß. Der Skrin ist eine Kraft auf der Scheidelinie zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten.«
»Aber warum verheilt die Wunde nicht? Wieso funktioniert meine Magie nicht, um sie zu heilen? Was hat die Scheite verschwinden lassen, als du deine Magie angewandt hast?«
»Der Skrin entstammt beiden Welten. Begreifst du nicht?« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Der Skrin ist Magie, Magie aus beiden Welten, daher kann sie in beiden Welten wirksam werden. Additiv und subtraktiv. Diese Kraft hat uns berührt. Die Vergiftung ist subtraktiv.«
»Soll das heißen, du glaubst, die Vergiftung durch subtraktive Magie zersetzt unsere magischen Kräfte? Unsere Gabe?«
Sie nickte. »Es ist, als hättest du gerade mit bloßen Händen den Kamin von der Asche gereinigt und wolltest, ohne dir die Hände zu säubern, frisch gewaschene Laken zum Trocknen aufhängen. Die Asche gelangt auf die sauberen, feuchten Laken. Bleibt daran kleben.«
Zedd dachte eine Weile schweigend über das Problem nach. »Adie«, meinte er leise, »irgendwie müssen wir unsere Hände reinigen. Die Vergiftung abwaschen.«
»Du hast ein Talent dafür, das Offensichtliche festzustellen, alter Mann.«
Zedd hielt seine Zunge im Zaum und versuchte es anders. »Adie, ich habe eine Kutsche für uns gemietet, die uns nach Nicobarese bringen wird. Aber du wirst schwächer, und bei mir wird es auch nicht lange dauern. Ich weiß nicht, ob wir noch so lange warten können. Wenn es einen anderen Weg gibt, vielleicht jemanden, der näher ist und der uns helfen kann, muß ich das wissen.«
»Es gibt keinen anderen Weg. Es gibt sonst niemanden.«
»Gut. Was ist mit der Frau, die diese drei Töchter hatte? Vielleicht hat sie irgendwo weniger weit entfernt studiert, um etwas über diese Dinge zu erfahren. Vielleicht könnten wir statt dessen dorthin fahren.«
»Das würde nichts nützen.«
»Warum nicht?«
Adie sah ihn einen Augenblick nachdenklich an, dann gab sie schließlich nach. »Sie hat bei den Schwestern des Lichts studiert.«
Zedd schoß hoch. »Was!« Er lief zwischen Bett und Feuerstelle hin und her. »Verdammt und noch einmal verdammt! Wußte ich’s doch. Ich wußte es!«
»Zedd, sie hat bei ihnen studiert, weil sie etwas lernen wollte. Dann ist sie nach Hause zurückgekehrt. Sie ist keine Schwester. Die Schwestern sind nicht so … unvernünftig … wie du denkst.«
Er blieb stehen und blickte sie mit einem Auge an. »Und woher willst du das wissen?«
Adie stieß einen resignierten Seufzer aus. »Der runde Skrinknochen, der, den man mir kurz vor dem Tod der Frau geschenkt hat, der wichtig ist, wie ich dir erklärt habe, und den wir in meinem Haus verloren haben … die Frau mit der Gabe, von der ich ihn habe, war eine Schwester des Lichts.«
Zedd stemmte beide Fäuste in die Hüften auf und beugte sich über sie. »Du hast das Tal der Verlorenen durchquert? Du bist in der Alten Welt gewesen! Du steckst bis zum Hals voller kleiner Geheimnisse.«
Adie zuckte mit einer Schulter. »Ich hab’ dir doch erzählt, daß ich Frauen mit der Gabe aufgesucht habe, um von ihnen so viel wie möglich zu lernen. Einige von ihnen lebten in der Alten Welt. Ich habe meinen einen Hin- und Rückweg durch das Tal dazu benutzt, so viel wie möglich über das zu lernen, was ich wissen mußte.«
Adie zog sich die Decke gemütlich enger um die Schultern. »Die Schwestern, einige von ihnen, haben mir die Kleinigkeiten beigebracht, die sie wußten. Wichtige Kleinigkeiten. Die Schwestern betrachten es als ihre Aufgabe, sich mit Wissen über den Hüter, den Namenlosen, wie sie ihn nennen, zu beschäftigen, um auf diese Weise zu verhindern, daß ihm Seelen in die Hände fallen.
Ich bin nicht lange in ihrem Palast geblieben. Sie wollten mich nur bleiben lassen, wenn ich eine von ihnen werde, eine Zeitlang jedoch ließen sie mich mit ihnen gemeinsam studieren — Dinge studieren, die sie in ihren Kellern aufbewahrten. Es gibt Schwestern im Palast, denen ich nicht soweit trauen würde, mir das Frühstück von ihnen zubereiten zu lassen, aber einige waren eine große Hilfe.«
Vor sich hin murmelnd, schritt Zedd weiter hin und her. »Die Schwestern des Lichts sind fehlgeleitete Fanatikerinnen. Im Vergleich zu ihnen erscheinen die Männer des Lebensborns geradezu vernünftig!« Er blieb stehen. »Und als du dort warst, hast du einen ihrer jungen Burschen gesehen? Hast du feststellen können, ob sie überhaupt welche mit der Gabe dort hatten?«
»Ich mußte zusehen, daß ich etwas lernte. Ich war nicht dort, um mit den Schwestern über Theologie zu diskutieren. Das wäre auch nicht klug gewesen. Sie ließen nicht zu, daß ich etwas mit ihren Schützlingen zu tun bekam, wenn sie denn tatsächlich welche hatten. Ich bin sicher, wenn sie junge Burschen dort hatten, dann waren es welche von ihrer Seite.
Sie sind klug genug, keine Verletzung dieser Übereinkunft zu riskieren. Sie haben große Angst davor, was die Zauberer auf dieser Seite andernfalls tun würden. Ich durfte lernen, soviel ich wollte, sogar in den Gewölbekellern, aber ich habe keinen Jungen zu Gesicht bekommen, und sie haben mir auch nicht verraten, ob sie welche dort hatten.«
»Natürlich haben sie keine dort!« fauchte er. »Es werden fast keine mehr mit der Gabe geboren. Zu viele Zauberer sind in den Kriegen umgekommen. Wir sind eine aussterbende Art.
Als Zauberer der Ersten Ordnung würde ich es niemals ablehnen, einen mit der Gabe auszubilden, wie dies Tausende von Jahren geschehen ist. Genausowenig würde dies ein Zauberer ablehnen, den ich unterrichtet habe. Und die Schwestern wissen das! Sie dürfen niemanden mit der Gabe aufnehmen, es sei denn, sämtliche Zauberer hätten sich geweigert, ihn auszubilden. Diese Regel nur ein einziges Mal zu brechen, käme für jede Schwester, die je ein zweites Mal versucht, dieses Tal zu durchqueren, einem Todesurteil gleich.«
»Das wissen sie, Zedd. Sie nehmen diese Drohung sehr ernst.«
»Nun, das sollten sie auch. In meiner Jugend bin ich einmal einer begegnet und habe der Prälatin meine Warnung überbringen lassen.« Er ballte die Fäuste und starrte in die Ferne. »Sie sind barbarisch in ihren Methoden. Wie Kinder, die Chirurgie lehren. Wenn ich wüßte, wie ich an diesen verfluchten Türmen vorbeikäme, ich würde hingehen und den Palast der Propheten in Schutt und Asche legen.«
»Zedd, in jener vergangenen Zeit sind viele mit der Gabe gestorben, weil es niemanden gab, der sie in ihrer Beherrschung unterwiesen hätte. Wer die Macht besaß, wachte eifersüchtig über sie, weil er niemanden ausbilden wollte, der eines Tages seine eigene Macht bedrohen könnte. Sie haben die mit der Gabe Geborenen aufgegeben und an der ihnen angeborenen Kraft zugrunde gehen lassen. Die Schwestern wollten diese verloren gegebenen Jungen nicht sterben lassen. Sie taten nur, was sie für die Menschen am besten hielten.«
Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Die Schwestern des Lichts tun nur, was für die Schwestern des Lichts am besten ist.«
»Das mag sein, aber sie sind darauf eingeschworen, die Regeln einzuhalten, die Übereinkunft, genau wie du dies tust, indem du sie in Frieden läßt, sobald sie hierherkommen.«
Er starrte ins Leere und schüttelte den Kopf. »Die mit der Gabe sterben zu lassen, nur um des eigenen Gewinns willen…
Wären sie ihrer Verantwortung als Zauberinnen gerecht geworden, wären die Schwestern des Lichts gar nicht erst entstanden. Man hätte sie gar nicht erst gebraucht.«
Mit dem Stiefel schob er ein Stück erloschener Glut aus der steinernen Feuerstelle zurück in den Kamin. »Sie kämen niemals auf die Idee, einem Zauberer zu erlauben, eine Magierin in der Anwendung ihrer Gabe zu unterweisen, und doch maßen sie sich an, einen jungen Zauberer in der Beherrschung seiner Gabe auszubilden.«
»Zedd, ich denke genau wie du, aber hör zu, was ich sage: Alte, längst vergessene Streits und Kriege sind nicht unsere Sorge. Der Schleier ist eingerissen. Der Stein der Tränen befindet sich in der Welt der Lebenden. Das sind unsere Sorgen.
Ich bin zu diesen Frauen gegangen, um zu lernen. Die dort erlernte Magie, die ich dir beigebracht habe, hat die Vergiftung eindämmen können, wenn es auch nicht gereicht hat, sie ganz aufzuhalten. Wir müssen das Gift loswerden, bevor wir daran sterben.«
Seine Erregung kühlte unter dem prüfenden Blick ihrer weißen Augen ab. »Du hast natürlich recht, Adie. Wir haben dringende Probleme, um die wir uns kümmern müssen.«
Sie sah ihn zaghaft lächelnd an. »Freut mich, daß du klug genug bist, um auf einen weisen Rat zu hören.«
Er massierte sich den schmerzenden Nacken, die verspannten Muskeln. »Glaubst du wirklich, diese Frau mit den drei Töchtern hat von dieser Vergiftung gehört? Es ist ein weiter Weg, nur um ihn auf einen Verdacht und eine Hoffnung hin zu beschreiten.«
»Sie hat viele Jahre bei den Schwestern des Lichts studiert. Sie haben sie gemocht und wollten, daß sie bleibt und eine Schwester wird. Doch sie hatte einen anderen Glauben als sie, und so kehrte sie schließlich nach Hause zurück. Ich weiß nicht, wie groß ihr Wissen ist, aber wenn die Schwestern überhaupt etwas über die Vergiftung wissen, und ihr dies beigebracht haben, dann hat sie es bestimmt an ihre Töchter weitergegeben. Und sie leben in Nicobarese, so wenig mir diese Vorstellung auch behagt.«
Zedd sah, wie Adie sich die Decke um die Schultern legte, und schloß das Fenster. Vor der Feuerstelle kniend, legte er eine Handvoll Zunder auf den Rost und stapelte darüber Holz aus dem danebenstehenden Eimer. Gerade wollte er das Feuer mit Hilfe von Magie entfachen, als er sich eines Besseren besann und statt dessen einen Docht in der Lampe anzündete. Er ging in die Hocke und hielt die Flamme an den Zunder.
»Zedd, mein Freund«, sagte Adie mit leiser, ruhiger Stimme, »ich bin keine Schwester des Lichts. Ich weiß, darüber denkst du gerade nach. Ich bin keine von ihnen.«
Tatsächlich ging Zedd genau das gerade durch den Kopf.
»Und wenn«, fragte er, ohne sich umzudrehen, »würdest du es mir sagen?«
Sie schwieg. Er blickte über die Schulter und sah, daß sie ihn anlächelte. »Die Schwestern des Lichts schätzen Ehrlichkeit höher ein als alles andere. Und doch ist eine Lüge im Dienste ihres Schöpfers für sie eine Tugend.«
Das Feuer loderte auf. Zedd stand vor ihr und blickte auf sie herab, ohne das Lächeln zu erwidern. »Das ist für mich kein Trost.«
Sie ergriff seine Hand und tätschelte sie.
»Ich werde dir die Wahrheit sagen, Zedd. Ich stehe bei einigen von ihnen in der Schuld für das, was sie für mich getan haben, aber ich schwöre dir einen Eid auf die Seele meines toten Pell: Ich bin keine Schwester des Lichts. Solange ich weiß, daß es einen Zauberer gibt, der ihn ausbilden kann, würde ich niemals zulassen, daß sie einen mit der Gabe von unserer Seite bekommen. Ich würde niemals zulassen, daß ein Junge verschleppt und ihrem Willen unterworfen wird, solange ich Einfluß darauf habe.«
Zedd strich die Fransen des Teppichs mit dem Fuß glatt. »Ich weiß, daß du keine von ihnen bist, meine Liebe. Ich finde die Vorstellung nur widerlich, daß diese Frauen denen mit der Gabe diese Dinge antun, während ich ihnen die Freuden ihrer Begabung zeigen könnte. Es handelt sich um eine Gabe. Sie behandeln es wie einen Fluch.«
Sie strich mit dem Daumen über seinen Handrücken. »Wie ich sehe, hast du einen feschen neuen Stock.«
Zedd brummte. »Ich denke nur höchst ungern daran, welchen Preis Meister Hillman sich dafür ausdenken und mir auf die Rechnung setzen wird.«
»Und hast du einen Wagen für uns gefunden?«
Zedd nickte. »Ein Mann namens Ahern. Wir sollten versuchen, ein wenig zu schlafen. Er wird drei Stunden vor Tagesanbruch mit seiner Kutsche hier sein.«
Er warf ihr einen verbitterten Blick zu. »Adie, bis wir in Nicobarese sind und uns von dieser Vergiftung befreit haben, sollten wir sehr sorgfältig die Folgen bedenken, bevor wir Magie benutzen.«
»Sind wir hier sicher?«
Aus dem Dunst des fahlen Lichtes wurde eine Hand hervorgestreckt, streifte ihre Wange und tröstete sie.
Du bist hier in Sicherheit, Rachel. Ihr beide seid hier sicher. Jetzt, und für immer. Du bist in Sicherheit.
Rachel lächelte. Sie fühlte sich tatsächlich geborgen. Geborgener als je zuvor. Nicht einfach nur geborgen, so wie sie sich in Chases Gegenwart fühlte, sondern geborgen wie in den Armen ihrer Mutter. Sie hatte sich vorher nie an ihre Mutter erinnern können, doch jetzt konnte sie es, sie erinnerte an die umschließenden Arme, die sie an eine Brust drückten.
Die fürchterliche Angst, die sie mit Chase geteilt hatte, als sie gerannt waren, um Richard einzuholen, verflog. Die schwer lastende Sorge, ob sie ihn rechtzeitig einholen würden oder nicht, verflog. Das Entsetzen der Menschen, die versuchten, sie aufzuhalten, die Kämpfe, die Chase hatte ausfechten müssen, das grauenvolle Blut, das sie gesehen hatte, all das Blut das sie gesehen hatte … all das verflog.
Sie stand vor dem schillernden Becken, als die Hände ein weiteres Mal nach ihr griffen. Und das mit einem sanften, beruhigenden Lächeln. Die Hände halfen ihr, die Knöpfe ihres schmutzigen, verschwitzten Kleides aufzuknöpfen und es auszuziehen. Sie zuckte zusammen, als das Kleid an der wunden Stelle auf ihrer Schulter hängenblieb, an jenem blauen Fleck, den sie sich eingehandelt hatte, als der Mann, der sie verfolgte, sie niedergeschlagen hatte.
Die lächelnden Gesichter bekamen wegen ihrer Schmerzen einen sorgenvollen Zug. Die sanften, freundlichen Stimmen flöteten ihr Trost zu. Die glühenden Hände strichen über ihre Schulter, und als sie wieder fortgenommen wurden, war der blaue Fleck verschwunden. Und die Schmerzen auch.
Besser?
Rachel nickte. »Ja, viel besser. Danke.«
Die Hände zogen ihr Schuhe und Strümpfe aus. Sie setzte sich auf einen warmen Stein und ließ ihre nackten Füße im wohltuenden Wasser baumeln. Wie schön wäre es, zu baden und Schmutz und Schweiß abzuwaschen.
Die Hände griffen nach dem Stein, der an der Kette um ihren Hals hing. Dann wichen die Hände zurück, als hätten sie plötzlich Angst.
Wir können diesen Gegenstand nicht entfernen. Das mußt du ohne unsere Hilfe tun.
Durch die wohltuende Wärme und die Sicherheit des Landes ringsum, durch den Trost und den Frieden, den sie gefunden hatte, durch ihren Wunsch hindurch, zu tun, was dieses sanfte Murmeln von ihr verlangte, meldete sich in ihrem Kopf eine Stimme. Es war die Stimme von Zedd, die ihr erklärte, daß sie den Stein niemandem geben dürfe, aus welchem Grund auch immer, ihr erklärte, wie wichtig es war, ihn stets zu behüten.
Sie blickte von den kreisförmigen Wellen auf, die ihre Füße im Wasser machten, und sah in die freundlichen Gesichter. »Ich möchte ihn nicht abnehmen. Kann ich ihn nicht umbehalten?«
Das Lächeln kehrte wieder und wurde breiter.
Natürlich kannst du das, Rachel, wenn dies dein Wunsch ist. Wenn dich das glücklich macht.
»Ich möchte ihn umbehalten. Das würde mich glücklich machen.«
Dann wird er dort bleiben. Jetzt und für immer, wenn du es so möchtest.
Friedlich und geborgen lächelnd, ließ sie sich in das wohltuende Wasser gleiten. Es fühlte sich so gut an. Sie schwamm an der Oberfläche und ließ sich treiben. Sie spürte, wie alle ihre Sorgen mit dem Schmutz von ihr abfielen. Eben noch kam es ihr so vor, als könnte sie sich nicht sicherer oder glücklicher fühlen, und im nächsten Moment fühlte sie sich noch glücklicher, noch sicherer.
Sie zog die Arme durch das heilende, reinigende, goldene Wasser, schwamm auf die andere Seite des Beckens, wo sie, wie sie sich erinnerte, Chase zurückgelassen hatte. Sie fand ihn fast bis zum Hals im Wasser stehend, den Kopf nach hinten gelegt, auf einer weichen Grasnarbe am Ufer ruhend. Er hatte die Augen geschlossen und ein wundervolles Lächeln im Gesicht.
»Vater?«
»Ja, meine Tochter«, antwortete er leise, ohne die Augen aufzumachen.
Sie schwamm neben ihn. Er hob einen Arm, und sie schlüpfte darunter. Es war so schön, wenn er ihr den Arm um die Schultern legte und sie tröstete.
»Vater, müssen wir jemals wieder fort von hier?«
»Nein. Sie haben gesagt, hier können wir für immer bleiben.«
Sie kuschelte sich an ihn. »Ich bin so froh.«
Sie schlief, schlief wirklich, so wie sie sich nicht erinnern konnte, je zuvor geschlafen zu haben, so sicher und beschützt, wenn sie auch nicht wußte, wie lange. Als sie sich anzog, waren ihre Kleider sauber und schienen zu strahlen, als wären sie neu. Auch Chases Kleider leuchteten und strahlten. Sie faßte sich an den Händen und tanzte mit anderen Kindern im Kreis, strahlenden Kindern, deren Stimmen und Lachen widerhallte. Das brachte sie zum Lachen, sie lachte vor Glück, wie sie es nie zuvor gespürt hatte.
Wenn sie hungrig waren, lagen sie und Chase im Gras, umgeben von einem warmen Dunst und lächelnden Gesichtern, und aßen Dinge, die süß und köstlich schmeckten. Wenn sie müde war, schlief sie, ohne sich je sorgen zu müssen, wo sie schlafen sollte, denn sie war geborgen, endlich. Und wenn sie spielen wollte, kamen die anderen Kinder, um mit ihr zu spielen. Sie liebten sie. Rachel liebte sie alle.
Manchmal ging sie allein spazieren. Zarte Strahlen des Sonnenlichts fluteten durch die Bäume. Leuchtende Wiesen standen voller Wildblumen, die sich in der sanften Brise wiegten und deren strahlende Farbtupfer aufleuchteten.
Manchmal ging sie auch mit Chase spazieren und hielt seine Hand. Sie war so glücklich, daß er jetzt ebenfalls zufrieden war. Er brauchte nie mehr gegen irgend jemanden zu kämpfen. Auch er war in Sicherheit. Er behauptete, seinen Frieden gefunden zu haben.
Manchmal nahm er sie auf Spaziergänge mit und zeigte ihr die Wälder, wo er, wie er erzählte, aufgewachsen war, wo er gespielt hatte, als er so klein war wie sie. Sie lächelte vor Wonne, wenn sie das Glück in seinen Augen sah. Sie liebte ihn und war erfüllt von dem Gedanken, daß auch er, wie sie, endlich seinen Frieden gefunden hatte.
Sie hob den Kopf, und ein dünnes Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie hatte kein Geräusch gehört und brauchte sich nicht umzudrehen, um in der fast völligen Dunkelheit etwas zu erkennen. Sie wußte, daß er das war, auf der anderen Seite der Tür. Sie wußte, wie lange er dort gestanden hatte.
Die Beine noch immer übereinandergeschlagen, stieg sie leicht auf einem Kissen aus Luft in die Höhe und schwebte über dem strohbedeckten Boden. Die Arme des Jungen hingen schlaff herab und pendelten wie eine beschwerte Angelschnur. Bar allen Lebens und jeglicher Spannung bog sich sein Rücken nach hinten und hing über ihrem Arm. Mit ihrer anderen Hand hielt sie die Figur gepackt.
Sie faltete ihre Beine auseinander, streckte ihre in Pantoffeln steckenden Füße zum Boden und stützte ihr Gewicht auf sie. Als ihr der Junge aus den Armen glitt, schlug das volle Gewicht seines Kopfes mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden. Arme und Beine fielen schräg auf eine Seite. Seine Kleidung war verdreckt. Angewidert wischte sie sich die Hände an ihrem Rock ab.
»Wieso kommst du nicht herein, Jedidiah.« Ihre Stimme hallte von den kalten Mauern wider. »Ich weiß, daß du da bist. Versuche nicht so zu tun, als wärst du es nicht.«
Die schwere Tür öffnete sich langsam, quietschend, und die schattengleiche Gestalt trat beherzt in den Schein einer einzelnen Kerze, die auf einem nahen, wackeligen Tisch stand, der die einzige Ausstattung des unteren Raumes darstellte. Er stand entspannt da und beobachtete stumm, wie das orangene Glühen in ihren Augen verblaßte und sie wieder ihre blasse, bläulich-bleiche, von violetten Sprenkeln durchbrochene Farbe annahmen.
Sein Blick wanderte zu der Statuette in ihrer Hand. »Ihre Besitzerin schickt mich, sie zu suchen. Sie will die Figur zurück.«
Das dünne Lächeln wurde breiter. »Weiß sie Bescheid?« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich bin sowieso fertig.« Sie hielt ihm die Figur hin. »Im Augenblick.«
Jedidiahs Gesicht war wie eine Maske der Ruhe, als er die Figur entgegennahm. »Sie mag es nicht, wenn du dir ihre Sachen ›borgst‹.«
Sie strich ihm mit dem Finger über die Wange. »Ich diene nicht nur ihr allein. Es ist mir im Grunde egal, was sie mag und was nicht.«
»Du tätest gut daran, ein wenig vorsichtiger zu sein.«
Ihr Lächeln wurde strahlend. »Ach, wirklich? Ich könnte ihr denselben Rat erteilen.« Sie deutete mit dem Arm auf den am Boden liegenden Körper. »Er hatte die Gabe.« Langsam fand ihr harter Blick wieder seine Augen. Das Lächeln war verschwunden, als hätte nie im Leben eines ihre Züge berührt. Ihre Worte kamen wie ein giftiges Zischen. »Jetzt habe ich sie.«
Die Andeutung eines verwirrten Stirnrunzelns huschte über sein kaltes Gesicht.
»Du glaubst, wir müssen die Zeremonie abhalten, Jedidiah? Das Ritual im Hagenwald?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nicht mehr. Das gilt nur beim ersten Mal, weil wir weiblich sind und das weibliche Han das männliche nicht aufnehmen kann.« Sie senkte die Stimme zu einem spöttischen Flüstern. »Das ist jetzt nicht mehr nötig. Jetzt, da ich über die Gabe eines Mannes verfüge, kann ich die Gabe anderer ohne das Ritual aufnehmen.«
Sie schob ihr Gesicht zentimeternah an seines. »Und du kannst es auch, Jedidiah«, hauchte sie. »Mit dem Quillion kannst du es auch. Ich kann es dir beibringen. Es ist soooo einfach. Ich habe ihm das Vereinigungsritual einfach deswegen gezeigt, weil ich ihm sein Han vorführen wollte.« Ihre Wange berührte seine, als sie ihm ins Ohr flüsterte. »Aber er konnte seine Gabe nicht beherrschen. Ich habe ein Vakuum im Quillion erzeugt.« Sie ließ von ihm ab und musterte seine Augen. »Es hat ihm das Leben einfach aus dem Leib gesogen. Und seine Gabe auch. Jetzt gehört sie mir.«
Er betrachtete eine Weile ihre Augen, bevor er einen kurzen Blick auf die Leiche warf. »Ich erinnere mich nicht, ihn schon mal gesehen zu haben.«
Sie redete weiter flüsternd auf ihn ein, aus nur wenigen Zentimetern Entfernung. »Treib keine Spielchen mit mir, Jedidiah. Was du tatsächlich meinst, ist, wo habe ich ihn gefunden und wieso nicht die Schwestern, wenn er die Gabe hat.«
Er zuckte unbekümmert mit den Achseln. »Wenn er die Gabe besitzt, wieso trägt er dann keinen Halsring?«
Sie legte ihren Kopf auf die Seite. »Weil er so jung ist. Sein Han ist zu schwach, um von den anderen Schwestern aufgespürt zu werden.« Sie legte den Kopf auf die andere Seite. »Aber das gilt nicht für mich.« Sie berührte seine Nase mit ihrer. »Er war hier, mitten in der Stadt. Direkt unter ihrer Nase. Vermutlich der Sproß einer Tändelei von einem von euch ungezogenen Jungs.«
»Sehr praktisch. Man braucht sich um keine Berichte zu scheren. Vermeidet unangenehme Fragen.«
Sie warf einen Blick auf die Leiche. »Sei ein guter Junge und schaffe ihn für mich fort. Ich habe ihn in armseligen Verhältnissen unten in der Nähe des Flusses aufgegabelt. Lade ihn dort irgendwo ab. Niemand wird sich etwas dabei denken.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Du willst, daß ich hinter dir herräume?«
Sie strich ihm mit dem Finger über den Nacken und über seine Kehle, dann über seinen Rada’Han. »Du machst einen schwerwiegenden Fehler, Jedidiah, wenn du glaubst, ich sei nichts weiter als eine Schwester. Ich besitze jetzt die männliche Gabe, genau wie du. Und ich weiß sie zu gebrauchen. Du würdest es nicht für möglich halten, wie sehr die Kraft zunimmt, wenn man ihr das Han eines anderen hinzufügt.«
»Sieht ganz so aus, als würdest du zu einer Schwester, mit der man rechnen muß. Ein kluger Mensch wäre vorsichtig mit dir.«
Sie tätschelte ihm die Wange. »Kluger Junge.«
Sie sah ihn nachdenklich an, als sie ihre Hände zu seiner Hüfte hinabgleiten ließ. »Weißt du, Jedidiah, du hältst dich mit deiner Gabe vielleicht für ebensostark, aber ich denke, du solltest dir ein paar Gedanken darüber machen. Dir hat noch nie jemand deine Fähigkeiten streitig gemacht, deinen rechtmäßigen Platz unter den Zauberern hier, aber es kommt ein Neuer. Er wird bald hier sein, und jemanden wie ihn hast du noch nie gesehen. Könnte sein, daß du nicht länger der Stolz des Palastes sein wirst.«
Seine Miene zeigte keine Reaktion, doch sein Gesicht erglühte langsam rot. Er hielt die Figur in die Höhe. »Nun, du hast doch gesagt, du würdest es mir beibringen.«
Sie wedelte mit dem Finger vor seinem Gesicht herum. »Nein, nein, nein. Der gehört mir. Du kannst einen anderen haben. Jede Gabe wird deine Kraft anschwellen lassen, doch dieser gehört mir.«
Er wedelte ihr drohend mit der Figur vor dem Gesicht. »Ich weiß. Vielleicht hat sie ein Wörtchen dabei mitzureden. Sie hat ihre eigenen Pläne. Mit ihm.«
Sie lächelte aus einem Winkel ihres Mundes. »Ist mir bekannt. Und du wirst mich über ihre Pläne auf dem laufenden halten.«
Er runzelte die Stirn. »Du hast Pläne mit mir?«
Ihr Lächeln erreichte auch den zweiten Mundwinkel. »Und zwar ganz besondere.« Ihre Hände wanderten über seine Hüften und fühlten die Straffheit seiner jungen Muskeln unter seinem Gewand. »Du bist gut mit deinen Händen, kannst gut Dinge herstellen, Dinge aus Metall. Es gibt etwas, das du für mich machen sollst. Etwas, das mit Magie ausgestattet ist. Wie ich gehört habe, ist dies eines deiner Talente.«
»Du willst ein Schmuckstück, ein Amulett vielleicht, aus Silber oder Gold?«
»Nein, nein, mein Lieber. Du sollst es aus Stahl fertigen. Du sollst den Stahl von hundert Schwertspitzen sammeln. Ganz besonderen Schwertspitzen. Schwertspitzen aus der Waffenkammer, alte, sehr alte, die bereits benutzt worden sind. Die im Kampf Fleisch durchbohrt haben.«
Er zog eine Braue hoch. »Und was möchtest du daraus gefertigt haben?«
Sie schob ihre Hand an der Innenseite seines Schenkels hoch. »Darüber reden wir später.«
Sie mußte lächeln, als sie merkte, wie prompt er auf ihre Berührung reagierte. »Du bist bestimmt einsam, seit Margaret davongelaufen ist. Sooo einsam. Ich denke, du brauchst eine Freundin, die dich versteht. Wußtest du, Jedidiah, daß mit dem männlichen Han ein einzigartiges Verständnis alles Männlichen einhergeht? Jetzt sehe ich das, was Männer mögen, in einem völlig neuen Licht. Ich denke, wir werden ganz besonders gute Freunde werden. Und als ganz besonders guter Freund wirst du deine Belohnung bekommen, bevor du deine Arbeit getan hast.«
Sie ließ ein dünnes Rinnsal von Magie in seinen Körper tröpfeln und richtete es auf jene Stelle, wo es am meisten nützt. Ihr Lächeln wurde breiter, als sein Kopf nach hinten rollte. Er schloß die Augen und gab ein kehliges Stöhnen von sich, dann stockte ihm der Atem. Keuchend krallte er seine Hände in ihr Hinterteil, zog sie an sich und preßte seinen geöffneten Mund auf ihre Lippen.
Sie stieß den Toten aus dem Weg und ließ sich von Jedidiah auf den strohbedeckten Boden zwingen.