Das blutrote Licht des sterbenden Tages fiel durch das Gerippe der Bäume, die den Grat des nächsten Kammes säumten. Der Blick ihrer grünen Augen löste sich von den verborgenen Stellen, an denen man vorgeschobene Posten aufgestellt hatte. Sie standen zu weit auseinander, sonst wäre sie hier, wo sie sich im Augenblick befand, nicht unbemerkt geblieben. Sie zählte die Männer Zeltreihe auf Zeltreihe durch, die sich auf dem Talboden unten entlangzogen. Fünftausend wäre großzügig geschätzt, entschied sie.
Links von ihr hatte man Pferde angepflockt, in der Nähe von Versorgungswagen, die alle sauber aufgereiht dastanden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tales hatte man Latrinen in den Schnee gegraben. Zwischen den Männern und den Versorgungswagen waren die Küchenwagen, wo schon für die Nacht zusammengepackt wurde. Über den Kommandozelten flatterten bunte Schlachtwimpel. Es war wahrscheinlich die ordentlichste Armee, die sie je im Feld gesehen hatte. Galeaner hatten einen Hang zur Ordnung.
»Sie sehen sehr freundlich aus«, meinte Chandalen mit ruhiger Stimme, »für Männer, die bald den Tod in der Schlacht finden werden.« Seine beiden Brüder gaben ihm mit nervösem Kichern recht.
Kahlan nickte geistesabwesend. Am Morgen hatten sie die Armee gesehen, die diese Männer verfolgten. Dort war nichts ordentlich gewesen. Sie hatten nicht freundlich ausgesehen. Und deren Wachen waren nicht zu weit auseinander postiert gewesen. Trotzdem war es Chandalen und den beiden Brüdern gelungen, sie nahe genug heranzuführen, so daß sie sehen konnte, was sie hatte sehen wollen, und um eine Schätzung vorzunehmen.
Sie hatte ihre Zahl auf fünfzigtausend geschätzt. Und das war keine großzügige Schätzung.
Sie stieß einen langen Seufzer aus, der als dünne, weiße Dunstwolke in der kalten Luft hing. »Ich muß es verhindern.« Sie schob sich ihren Rucksack und den Bogen auf den Rücken. »Gehen wir hinunter.«
Chandalen, Prindin und Tossidin folgten ihr, als sie mühsam den locker verschneiten Hang hinunterstapfte. Es hatte länger als erhofft gedauert, diese Männer einzuholen. Ein Schneesturm auf dem Jara-Paß hatte die vier zwei Tage lang aufgehalten, während der sie unter einer Launenfichte Schutz gesucht hatten. Launenfichten erinnerten Kahlan stets an Richard, und als sie in ihren Fellumhang gehüllt dagelegen und auf das Heulen den Windes gelauscht hatte, da hatte sie von ihm geträumt — im Schlaf und auch im Wachen.
Sie war wütend, daß sie auf ihrem Weg nach Aydindril so viel wertvolle Zeit vergeuden mußte, um diese Armee von ihrer selbstmörderischen Verfolgung jener Streitmacht abzuhalten, die Ebinissia zerstört hatte, doch als Mutter Konfessor durfte sie nicht zulassen, daß beinahe fünftausend Mann sinnlos in den Tod gingen. Sie mußte sie aufhalten, bevor sie der anderen Armee zu nahe kamen, jener, die Ebinissia geplündert hatte. Sie waren bereits jetzt zu nah. Am nächsten Tag würden sie mit Sicherheit auf sie stoßen.
Die Armee kam augenblicklich in Alarmbereitschaft, als die vier Gestalten in den Wolfsfellumhängen auf sie zumarschierten. Rufe wurden laut und setzten sich durch die Reihen nach hinten fort. Zeltklappen wurden zurückgeschlagen, und Männer strömten heraus. Schwerter wurden gezückt, und das Klirren von Stahl erfüllte die kalte Luft der Dämmerung. Männer mit Speeren kamen durch den Schnee gerannt. Männer mit Bögen gingen in Stellung, legten Pfeile ein. Eine Wand aus mehreren hundert Mann nahm zwischen ihr und den Kommandozelten Aufstellung. Weitere kamen im Laufschritt angerannt, streiften sich Kleidungsstücke über, riefen anderen, die sich noch in den Zelten befanden, etwas zu.
Kahlan und die drei Männer in ihrer Begleitung blieben stehen. Sie stand aufrecht da, reglos. Hinter ihr stützten sich Chandalen, Prindin und Tossidin faul auf ihre Speere.
Ein Mann im Offiziersrang kam, eine schwere, braune Jacke überstreifend, aus dem größten Zelt gestolpert. Er bahnte sich einen Weg durch den Wall aus Männern und brüllte zu den Bogenschützen hinüber, sie sollten ihre Pfeile zurückhalten. Zwei weitere Offiziere gesellten sich zu ihm, während er durch die Reihen der Verteidiger stakste. Im Näherkommen erkannte sie seinen Dienstgrad. Er war Hauptmann. Die beiden Männer neben ihm, einer auf jeder Seite, waren Leutnants.
Als er schließlich keuchend vor ihr stehenblieb, ließ sie die Kapuze ihres Umhangs nach hinten fallen. Ihr langes Haar fiel über das weiße Fell.
»Was soll die…« Plötzlich bekam der Hauptmann große Augen. Er und die beiden Leutnants sanken auf ein Knie.
Jeder Mann, so weit sie sehen konnte, fiel auf die Knie. Alles senkte den Kopf. Das Rascheln von Wolle, das Knarzen von Leder und das Geklirr von Stahl verstummte. Die drei Männer in ihrer Begleitung sahen sich verwundert an. Sie hatten noch nie gesehen, wie die Mutter Konfessor von jemand anderem als dem Volk der Schlammenschen begrüßt wurde. Das einzige Geräusch war das leise Knarren der Äste im kalten Wind.
»Erhebt euch, meine Kinder.«
Durch die Bewegung, als alles auf die Beine kam, lebte der Lärm erneut auf. Der Hauptmann stand auf und machte eine zackige Verbeugung aus der Hüfte. Mit einem stolzen Lächeln richtete er sich wieder auf.
»Mutter Konfessor, was für eine Ehre!«
Ungläubig betrachtete Kahlan sein gleichmäßiges Kinn, sein welliges, hellbraunes Haar, seine klaren, blauen Augen, sein jugendliches, hübsches Gesicht.
»Ihr seid ja noch ein Kind«, sagte sie leise. Sie blickte sich um und sah die Hunderte, die Tausende strahlender Augen, die allesamt auf sie gerichtet waren. Sie war fassungslos. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg.
Sie ballte die Fäuste und bebte vor Zorn. »Ihr seid Kinder! Ihr seid alle Kinder!«
Der Hauptmann drehte sich mit einem verlegenen Gesichtsausdruck, der an Verletztheit grenzte, zu seinen Männern um. »Mutter Konfessor, wir sind noch Rekruten, aber wir sind allesamt Soldaten der Galeanischen Armee.«
»Ihr seid alle Kinder«, sagte sie leise. »Kinder!«
Stille legte sich über die versammelten Rekruten. Die meisten sahen aus wie fünfzehn oder sechzehn. Der Hauptmann und seine beiden Leutnants traten von einem Fuß auf den anderen und senkten den Kopf. Einige der Männer konnten nicht anders, sie starrten Chandalen, Prindin und Tossidin unverhohlen an. Jemand wie sie war ihnen noch nicht zu Gesicht gekommen.
Kahlan packte den Hauptmann am Kragen und zerrte ihn davon. Den beiden Leutnants knurrte sie zu: »Ihr beide kommt mit.« Sie blickte wütend über ihre Köpfe hinweg. »Alle anderen machen da weiter, wo sie aufgehört haben!«
Es erhob sich ein Rasseln von Schwertern, die in ihre Scheiden, von Pfeilen, die in ihre Köcher zurückgesteckt wurden, während sie den Hauptmann außer Hörweite seiner Männer zerrte. Als sie die Bäume erreicht hatte, zog sie ihn zu einem umgestürzten Stamm und ließ ihn los, wobei sie ihn verärgert weiterstieß.
Kahlan ließ sich auf den schneebedeckten Stamm fallen, als wäre er ein Thron. Sie verschränkte die Arme. Chandalen stand zu ihrer Rechten, Prindin und Tossidin links von ihr. Sie bohrten die hinteren Enden ihrer Speere in den Boden und warteten schweigend.
»Wie heißt Ihr, Hauptmann?«
Der Angesprochene spielte mit einem Messingknopf an seiner offenen Jacke. »Ich heiße Bradley Ryan, Mutter Konfessor.« Dann sah er schnell zur Seite, zu dem Mann rechts von ihm. »Das ist Leutnant Nolan Sloan.« Er zeigte nach links. »Das ist Leutnant Flin Hobson.«
»Wie viele Kinder habt Ihr hier bei euch, Hauptmann Ryan?«
Er richtete sich ein wenig auf. »Mutter Konfessor, wir sind vielleicht jünger als Ihr, wenn auch nicht viel, und möglicherweise habt Ihr keine hohe Meinung von uns, aber wir sind Soldaten. Gute Soldaten.«
»Gute Soldaten.« Sie konnte sich kaum beherrschen, ihn nicht anzuschreien. »Wenn Ihr tatsächlich solch gute Soldaten seid, wieso konnte ich dann unbemerkt durch eure Postenkette spazieren?« Er wurde rot und hatte sichtlich Mühe, nichts zu erwidern. »Und gibt es einen einzigen unter diesen guten Soldaten, Euch eingeschlossen, der über achtzehn ist?«
Er preßte die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
»Dann wiederhole ich, wie viele Kinder habt Ihr hier bei Euch?«
»Viereinhalbtausend stehen unter meinem Kommando.«
»Und wißt Ihr, Hauptmann Ryan, daß Ihr kurz davor steht, in eine Streitmacht hinein zustolpern, die zehnmal so groß ist wie die Eure?«
Hauptmann Ryan zog die Augenbrauen hoch, und über die eine Seite seines Gesichts spielte ein Kleinjungengrinsen. »Wir werden in niemanden ›hineinstolpern‹, Mutter Konfessor. Wir werden sie in Kürze einholen. Wir verfolgen sie schon seit einiger Zeit. Ich denke, morgen werden wir sie erreicht haben.«
Sie blickte ihn finster an. »Sie erreicht haben? Morgen, hätte ich Euch nicht eingeholt, junger Mann, würdet Ihr und alle Eure ›Männer‹ sterben. Ihr habt keine Ahnung, um was für eine Armee es sich handelt, die Ihr im Begriff steht zu ›erreichen‹?«
Er hob sein Kinn. »Wir wissen, wen wir verfolgen. Wir haben Späher, müßt Ihr wissen. Ich bekomme Berichte.«
Kahlan sprang auf die Beine, reckte ihren Arm vor und zeigte nach rechts. »Auf der anderen Seite dieses Berges warten fünfzigtausend Mann.«
»Zweiundfünfzigtausend und ein paar hundert.« Er zuckte mit den Achseln. »Wir sind nicht dumm. Wir wissen, was wir tun.«
Sie ließ ihren Arm sinken und funkelte ihn wütend an. »Ach, tatsächlich? Und was genau habt Ihr vor, wenn Ihr sie einholt?«
Hauptmann Ryan beugte sich lächelnd vor. Er war überzeugt, ihr beweisen zu können, daß er tatsächlich wußte, was er tat. »Nun, sie werden in Kürze auf eine Gabelung der Paßstraße stoßen. Dort hinauf werde ich einen Trupp schicken, der sie umgeht und sie aus beiden Gabelungen heraus angreift. Sie werden glauben, von einer großen Streitmacht angegriffen zu werden. Wir werden sie hierher zurückdrängen und sie erwarten. Hinter dem Engpaß, ein Stück weiter vorn.
Dann werden wir uns bis hierher zurückziehen, bis zum Engpaß, uns dann teilen, sie hineinlassen, bis sie nirgendwo mehr hinkönnen. Die Lanzenträger werden massiert an der engsten Stelle stehen, sie bilden das, was man einen Amboß nennt. Bogenschützen auf den Seiten werden den Feind in der Mitte binden. Die Streitmacht, die sie vor sich hertreibt, nennt man Hammer.« Sein Feixen wurde breiter. »Wir werden sie dazwischen aufreiben.«
Er machte eine beiläufige Handbewegung und richtete sich ein Stück weiter auf. »Eine klassische Taktik. Man nennt sie Hammer und Amboß.«
Kahlan starrte ihn sprachlos an. »Ich weiß, wie man sie nennt, junger Mann. Der Hammer und Amboß ist ein kühnes Manöver … unter günstigen Bedingungen. Gegen eine Streitmacht, die Euch zehnfach überlegen ist, ist er mehr als tollkühn. Ihr seid ein Dachs, der versucht, einen Ochsen in einem Stück zu verschlucken.«
»Wie man uns beigebracht hat, kann auch eine kleine Streitmacht aus guten Soldaten, die im richtigen Augenblick und entschlossen handelt, an einem engen Ort wie diesem Tal…«
»Gute Soldaten? Glaubt Ihr, das hat bei den Seelen irgendein Gewicht? Ist das die Annahme, zu der Euch Euer Stolz und Eure Vermessenheit verleitet?« Der Blick des Hauptmanns sank zu Boden. »Man kann einen Felsbrocken nicht mit einem Stöckchen aushebeln! Die einzige Möglichkeit, sie hierher zurückzutreiben, besteht darin, ihnen Angst zu machen.« Sie streckte den Arm aus und zeigte erneut in Richtung Feind. »Das sind erfahrene, kampfgestählte Männer! Sie ziehen schon lange kämpfend und mordend durch das Land. Glaubt Ihr, die wissen nicht, was ein Hammer und Amboß ist? Glaubt Ihr, die sind dumm, nur weil es Feinde sind?«
»Nein, natürlich nicht, aber…«
Sie tippte ihm mit dem Finger auf die Brust und schnitt ihm das Wort ab. »Soll ich Euch erklären, was geschehen wird, Hauptmann? Ihr habt nicht genug Männer, um sie vor euch herzutreiben. Wenn Ihr diese Unterabteilung um sie herumschickt, werden sie Euch den Gefallen tun und sich ein Stück bewegen, und dabei werden sie sich teilen und Eure Truppen hereinlassen. Das nennt man Nußknacker. Jetzt ratet mal, wer die Nuß ist.
Dann werden sie sich in Bewegung setzen. Das Ziel ist Euer Amboß. Sie werden sein wie Hunde, die Blut gerochen haben. Nachdem sie Euren Hammer aufgerieben haben, wird sie nichts mehr zurückhalten können, nichts wird ihre Flanken daran hindern können, sich zu schließen, während sie vordringen. Sie verfügen über Kampferfahrung und wissen genau, was sie tun.
Sie werden Eure Lanzenträger und Eure Bogenschützen aufspalten und sie von den Schwertkämpfern abschneiden. Ein von Schilden geschützter Keil wird in die Lanzenträger getrieben werden. Halbmonde auf den Seiten werden sie umschließen. Ihre gepanzerte Kavallerie wird Eure Bogenschützenflanken im Sturmangriff niedermähen, welche zu diesem Zeitpunkt über keine Lanzenträger mehr verfügen, die dem Ansturm etwas von seiner Wucht nehmen könnten. Ihr alle werdet tapfer kämpfen, aber Ihr werdet vielleicht zwanzig zu eins unterlegen sein, weil Ihr bereits einen Teil Eurer Männer für den Hammer geopfert habt. Und die werden zu diesem Zeitpunkt bereits alle tot sein.
Um eine größere Streitmacht zu bekämpfen, müßt Ihr sie aufteilen und sie Stück für Stück besiegen. Ihr dagegen hättet genau das Gegenteil getan. Ihr hättet Euch für sie geteilt, so daß sie eine Hälfte nach der anderen töten können. In aller Ruhe.«
Der Hauptmann gab sich noch nicht geschlagen. »Wir sind gut darin, den Feind zu täuschen. Ihr wißt nicht, wir gut wir sind. Wir sind keine Anfänger.«
»Jedes einzelne dieser Kinder unter Eurem Kommando wird sterben! Habt Ihr jemals einen Menschen sterben sehen, Hauptmann? Nicht einen alten Mann im Bett, sondern im Kampf? Man wird euch mit Speeren durchbohren, mit Pfeilen durch die Augen schießen. Schwerthiebe werden euch die Arme abhacken, die Rippen spalten. Klingen werden euch die Bäuche aufschlitzen, und eure Eingeweide werden sich auf den kalten Erdboden ergießen.
Gesichter, die Ihr kennt, Eure Freunde, diese Kinder, werden voller Panik zu Euch aufschauen, während sie an ihrem eigenen Erbrochenen und Blut ersticken. Andere werden kreischend um Hilfe flehen, wenn Euer Feind durch die auf dem Boden liegenden Verwundeten geht, sie ausweidet und ihnen einen grauenhaften Tod beschert. Wer sich ergibt, wird hingerichtet, während Euer Feind tanzend und singend den großen Sieg feiert, den er gerade errungen hat.«
Endlich hob Hauptmann Ryan den Kopf. Seine Leutnants blickten immer noch zu Boden. »Ihr hört Euch an wie Prinz Harold, Mutter Konfessor. Er hat mir bei mehreren Gelegenheiten fast die gleiche Ansprache gehalten.«
»Prinz Harold ist ein kluger Soldat.«
Hauptmann Ryan schloß zwei der Messingknöpfe auf seiner dunkelbraunen Wolljacke. »Aber das ändert nichts an meinem Entschluß. Von allen unseren Möglichkeiten ist der Hammer und Amboß die beste Chance, die wir gegen sie haben. Ich glaube, es kann gelingen. Wir haben keine andere Wahl.«
Chandalen beugte sich vor und sagte in seiner Sprache: »Mutter Konfessor, diese Männer sind bereits so gut wie tot. Wir sollten uns von ihnen fernhalten, um nicht von ihrer Torheit angesteckt zu werden. Sie werden bis auf den letzten Mann sterben.«
Der Hauptmann runzelte die Stirn. »Was hat er gesagt?«
Kahlan beugte sich zum jungen Hauptmann vor. »Er sagt, morgen werdet ihr alle sterben.«
Hauptmann Ryan betrachtete Chandalen von Kopf bis Fuß. »Was weiß der denn schon von Schlachten? Er ist doch bloß ein Eingeborener aus der Wildnis.«
Kahlan zog die Augenbrauen hoch. »Ein Eingeborener? Er ist ein ziemlich kluger Mann. Er spricht zwei Sprachen. Seine und unsere.« Hauptmann Ryan schluckte. »Und er hat in Schlachten gekämpft. Er hat Männer getötet. Wie viele Männer habt Ihr getötet, Bradley?«
Er warf seinen beiden Leutnants einen Blick zu. »Na ja, noch keinen, schätze ich. So hört doch, es tut mir leid. Ich wollte niemanden beleidigen, aber über den Krieg weiß ich Bescheid.«
»Was weißt du schon vom Krieg, Kind?« fragte sie leise.
»Wir sind alles Freiwillige. Ich habe mich vor drei Jahren gemeldet. Kaum einer dieser Männer hier hat weniger als ein Jahr auf dem Buckel. Wir haben alle hart trainiert. Prinz Harold höchstpersönlich hat mit uns gearbeitet und uns in Taktik unterrichtet. Mehrere Male haben wir Manövergefechte gegen ihn gewonnen. Wir sind vielleicht jung, aber wir haben Erfahrung. Dieser Feldzug ist die abschließende Probe vor unserem eigentlichen Auftrag. Wir sind jetzt fast einen Monat im Feld, üben uns in Kriegsspielen und Schlachttaktiken. Wir wissen, was uns bevorsteht. Daß wir jung sind, bedeutet noch lange nicht, daß wir nicht kämpfen können. Wir sind vielleicht jung, aber das bedeutet auch, daß wir stark sind.«
Chandalen mußte lachen. »Stark? Ihr reist wie Frauen.« Er räusperte sich, als Kahlan ihn erstaunt ansah. »Nun ja, wie manche Frauen. Ihr seid nicht so stark, wie ihr glaubt. Ihr seid verweichlicht. Ihr habt Karren, auf denen ihr eure Ausrüstung transportiert. Das hat euch verweichlicht. Ihr werdet morgen sterben.«
Kahlan wandte sich wieder an die drei Soldaten. »Mein Freund irrt sich. Ihr werdet morgen nicht sterben.«
Die Miene des Hauptmanns hellte sich auf. »Wir werden nicht sterben? Dann glaubt Ihr also an uns?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ihr werdet morgen nicht sterben, weil ich das nicht zulassen werde. Ich werde euch zurückschicken. Ihr werdet Eure Division zu Eurer Kommandoeinheit zurückführen. Das, Hauptmann ist ein Befehl. Ich befinde mich auf dem Weg nach Aydindril, um mich um diese Angelegenheit zu kümmern. Ich werde dieser Armee aus Mördern Einhalt gebieten.«
Hauptmann Ryans Miene versteinerte. »Es gibt keine Kommandoeinheit, zu der wir zurückkehren könnten. Sie wurde in Ebinissia aufgerieben. Wir wurden dort ausgebildet, befanden uns jedoch im Manöver. Wir haben die Fährte derer aufgenommen, die das getan haben, und werden sie verfolgen.«
»Eure Soldaten in Ebinissia waren um ein Vielfaches stärker als ihr, und sie wurden von der Streitmacht, die ihr verfolgt, vernichtend geschlagen.«
»Das ist uns bekannt. Wir haben mit diesen Männern unter einem Dach gelebt, gegessen und geschlafen. Sie waren unsere Ausbilder. Sie waren unsere Brüder, unsere Väter. Sie waren unsere Freunde und Kameraden.« Er verlagerte sein Gewicht, räusperte sich und versuchte das Brechen seiner Stimme zu verhindern. »Wir hätten dort bei ihnen sein sollen. Wir hätten dort sein sollen und ihnen beistehen.«
Kahlan kehrte den drei galeanischen Soldaten den Rücken zu. Sie legte die Finger an die Schläfen, schloß die Augen und rieb sie in kleinen Kreisen. Die Sorge, all diese jungen Männer könnten hingemetzelt werden, bereitete ihr Kopfzerbrechen. Sie trauerte um die Freunde dieser Männer, um die Freunde und Kameraden, die bei der Verteidigung ihrer Stadt umgekommen waren. Die Gesichter der jungen Frauen zogen an ihrem inneren Auge vorbei.
Kahlan machte auf dem Absatz kehrt und sah dem jungen Hauptmann in die Augen. Augen, die, wie sie jetzt sah, mehr gesehen hatten, als sie zunächst angenommen hatte.
»Ihr wart es«, sagte sie leise. »Ihr wart es, der die Türen geschlossen hat. Ihr habt die Türen im Palast geschlossen. Die Türen zu den Gemächern der Königin und ihrer Hofdamen.«
Er schluckte, dann nickte er. Seine blauen Augen waren feucht. Seine Unterlippe bebte. »Warum haben sie so etwas Schreckliches getan?«
Kahlans Antwort war voller Sanftmut. »Es ist das Ziel eines Soldaten, seine Feinde zu unüberlegten Handlungen zu verleiten. Er macht ihnen angst oder macht sie wütend, damit sie nicht mehr nachdenken. Eure Feinde haben das erreicht, indem sie Angst in eure Herzen gepflanzt haben, doch mehr noch, indem sie euch so wütend gemacht haben, daß ihr eine solche Torheit begeht, die es ihnen erlaubt, euch ebenfalls zu töten.«
»Diese Männer, die wir jagen, haben das verbrochen. Wir haben kein Kommando, zu dem wir zurückkehren können. Jetzt liegt es an uns.«
»Das ist die Torheit, zu der sie Euch verleiten wollen. Ihr werdet es nicht tun. Ihr werdet zu einem anderen Kommandoposten gehen. Ihr werdet diese Armee nicht angreifen.«
»Mutter Konfessor, ich bin Soldat und habe geschworen, Galea und den Midlands zu dienen. Niemals in meinem Leben, so jung es Eurer Ansicht nach auch sein mag, ist mir der Gedanke gekommen, meinen Befehlshabern, meiner Königin oder der Mutter Konfessor nicht zu gehorchen.« Hauptmann Ryan ergriff ihr Handgelenk mit Daumen und Zeigefinger und legte sich ihre Hand auf die Schulter. »In diesem Fall jedoch, muß ich Euch den Gehorsam verweigern. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mich mit Eurer Kraft bezwingen, aber ich werde nicht freiwillig tun, was Ihr verlangt.«
Zum ersten Mal meldete sich Leutnant Sloan zu Wort. »Und dann werdet Ihr mich bezwingen müssen, denn ich werde seinen Platz einnehmen und unsere Männer in den Kampf führen.«
Leutnant Hobson trat vor. »Und dann werdet Ihr mich bezwingen müssen.«
»Nach uns dreien«, fuhr Hauptmann Ryan fort, »werdet Ihr dann die Offiziere durchgehen müssen und schließlich jeden einzelnen der Männer. Wenn nur einer übrig ist, so wird er angreifen und, falls nötig, im Kampf sterben.«
Sie zog ihre Hand zurück. »Ich werde vor den Zentralrat treten und mich dieser Angelegenheit annehmen. Was Ihr vorhabt, kommt einem Selbstmord gleich.«
»Mutter Konfessor, wir werden angreifen.«
»Wozu? Um des Ruhmes willen? Wollt Ihr Helden sein, die die Ermordeten rächen? Wollt Ihr in glorreichem Kampf fallen?«
»Nein, Mutter Konfessor«, meinte er ruhig. »Wir haben gesehen, was diese Männer in Ebinissia unter Frauen und Kindern für Leid angerichtet haben. Viele der Männer unter meinem Kommando hatten dort Mütter und Schwestern. Wir alle haben gesehen, was man ihnen angetan hat, und was man unseren Vätern und Brüdern angetan hat. Unserem Volk.«
Er nahm Haltung an und blickte ihr voller Entschlossenheit in die Augen. »Wir tun dies nicht um des Ruhmes willen, Mutter Konfessor. Wir wissen, daß es ein Selbstmordkommando ist. Aber wir stehen alle allein da. Wir haben keine Familien mehr, die wir ohne Vater zurücklassen könnten. Wir tun es, weil diese Männer zur nächsten Stadt weiterziehen und den Menschen dort das gleiche Leid zufügen werden, das sie in Ebinissia angerichtet haben. Wir tun es, um sie aufzuhalten, wenn wir können.
Wir haben bei unserem Leben geschworen, unser Volk zu beschützen. Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Wir müssen angreifen und versuchen, diese Männer aufzuhalten, bevor sie weitere unschuldige Menschen töten. Ich bete zu den Guten Seelen, daß Ihr in Aydindril erfolgreich sein werdet, doch das wird trotzdem zu lange dauern. Wie viele Städte sollen noch geplündert werden, bevor Ihr die Midlands dazu bringen könnt, gegen diese Männer vorzugehen? Eine Stadt wäre bereits zuviel. Wir sind die einzigen, die Kontakt zu diesen Mördern haben. Unser Leben ist alles, was zwischen ihnen und ihren nächsten Opfern steht.
Mit meinem Diensteid habe ich geschworen, den Schutz meines Volkes über alles zu stellen — egal, welche Wahl sich mir bietet, egal wie die Befehle lauten. Aus diesem Grund bin ich gezwungen, Euch den Gehorsam zu verweigern, Mutter Konfessor — nicht wegen des Ruhms, sondern um die Wehrlosen zu beschützen. Ich wünsche mir Euren Segen in dieser Angelegenheit, aber ich werde versuchen, diese Männer aufzuhalten, ob Ihr mir Euren Segen erteilt oder nicht.«
Sie sank auf den Baumstamm zurück, starrte in die Ferne und dachte über die drei Soldaten nach. Die sechs Männer warteten schweigend. Kinder, in der Tat. Sie waren älter, als sie gedacht hatte. Und sie hatten recht.
Es würde noch immer eine Weile dauern, nach Aydindril zu gelangen, und noch länger, eine Armee aufzustellen, die diese Mörder zu Strecke brachte. In der Zwischenzeit würde das Morden weitergehen. Wie viele Menschen mußten sterben, während sie auf Hilfe des Zentralrats warteten?
Wenn sie in diesem Augenblick nur jemand anderes hätte sein können als die Mutter Konfessor. Sie verwarf ihre persönlichen Gefühle und überdachte das Problem, wie es sich für die Mutter Konfessor gehörte. Sie wog die Menschenleben, die vergeudet, gegen die, die gerettet werden würden, ab.
Kahlan erhob sich und wandte sich an Chandalen. »Wir müssen diesen Männern helfen.« Chandalen faßte den Speer höher und beugte sich zu ihr vor. »Mutter Konfessor, diese Soldaten sind törichte Kinder, und sie werden sterben. Wenn wir bei ihnen bleiben, werden sie einen Feuer-Sturm des Tötens rings um uns entfachen. Wir werden zusammen mit ihnen getötet werden. Sie werden ohnehin sterben, und du kommst nicht nach Aydindril.«
»Chandalen, diese jungen Männer sind wie die Schlammenschen. Sie machen Jagd auf ihre Jocopo. Wenn wir ihnen nicht helfen, werden noch mehr Menschen sterben, wie wir es in der Stadt gesehen haben.«
Prindin beugte sich vor. »Mutter Konfessor, wir erfüllen dir jeden Wunsch, aber es gibt keinen Weg, wie wir diesen Jungen helfen können. Wir sind nur zu viert.«
Tossidin nickte. »Und dann würdest du deine Pflicht, nach Aydindril zu gehen, nicht erfüllen. Ist das nicht wichtig?«
»Natürlich ist es das.« Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Aber was wäre, wenn diese Armee, die jeden in dieser Stadt umgebracht hat, als nächstes zu den Schlammenschen zöge? Würdet ihr mir nicht helfen wollen, wenn es euer Volk wäre, das sie als nächstes ermorden wollten?«
Die drei Männer richteten sich auf. Sie drehten ihre Speere in den Händen, dachten nach und warfen gelegentlich einen Blick über die Schulter auf die drei Soldaten, die ebenfalls schweigend dastanden.
»Was würdet ihr tun, um diesen Feind zu besiegen?« fragte sie, während sie ihren Blick zwischen den dreien hin und her wandern ließ. »Vorausgesetzt, ihr hättet keine andere Wahl?«
Endlich beugte sich Tossidin wieder nach vorne. »Es sind zu viele. Es ist nicht möglich.«
Chandalen verpaßte Tossidin einen zornigen Klaps gegen die Schulter. »Wir sind Krieger der Schlammenschen! Wir sind klüger als diese Männer, die in Karren fahren und Frauen ermorden. Glaubst du etwa, das sind bessere Krieger als wir?«
Die beiden Brüder scharrten mit den Füßen und sahen zur Seite. »Gut«, meinte Prindin, »wir wissen, so wie sie es anstellen wollen, werden sie nur getötet werden. Es gibt bessere Wege.«
Chandalen lächelte. »Natürlich gibt es die. Die Seelen haben meinem Großvater beigebracht, wie man so etwas macht. Der hat es meinem Vater beigebracht und mein Vater mir. Die Zahlen sind vielleicht größer, doch das Problem ist das gleiche. Wir wissen hesser als diese Männer, was zu tun ist.« Er sah Kahlan an. »Auch du weißt besser als diese Männer, was zu tun ist. Du weißt, daß man nicht so kämpfen darf, wie es der Feind will. Aber genau das haben diese Männer vor.«
Kahlan lächelte ihn an und nickte. »Vielleicht kann ich diesen Männern helfen, weitere unschuldige Menschen zu beschützen.«
Sie wandte sich an Hauptmann Ryan. Er hatte sie beobachtet, als sie in einer fremden Sprache mit den drei seltsamen Männern gesprochen hatte.
»Also gut, Hauptmann. Wir werden diese Armee verfolgen.«
Er faßte sie bei den Schultern. »Danke, Mutter Konfessor!« Dann stellte er erschrocken fest, daß er sie tatsächlich berührt hatte, riß die Hände mit einem Ruck zurück und rieb sie sich. »Wir werden es schaffen. Ihr werdet sehen. Wir sind ihnen über. Wir werden sie überraschen und bekommen sie alle vor die Lanze.«
Sie beugte sich zu ihm vor. Er wich zurück. »Sie überraschen? Sie überraschen!« Sie packte ihn am Kragen und zog sein Gesicht näher. »Sie haben einen Zauberer, Idiot!«
Das Gesicht des Hauptmanns wurde blaß. »Einen Zauberer?« fragte er tonlos.
Sie ließ seinen Kragen los und stieß ihn verärgert von sich. »Ihr wart doch in Ebinissia. Habt Ihr das durch die Mauer geschmolzene Loch nicht gesehen?«
»Ich … ich habe wohl nicht darauf geachtet. Ich habe nur all die Toten gesehen.« Sein Blick fuhr umher, so, als sähe er sie jetzt erneut vor sich. »Sie waren überall.«
Sie nahm sich zusammen, als sie seinen gequälten Gesichtsausdruck sah. »Ich verstehe. Es waren Eure Freunde, Eure Familie. Ich kann verstehen, wieso es Euch vielleicht nicht aufgefallen ist. Aber für einen Soldaten ist das keine Entschuldigung. Ein Soldat muß alles sehen. Es kann Euch das Leben kosten, wenn Ihr Einzelheiten überseht, Hauptmann. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Kleinigkeit einen ins Verderben stürzen kann.«
Er schluckte, dann nickte er. »Ja, Mutter Konfessor.«
»Wollt Ihr die Männer töten, die Ebinissia zerstört haben?« Die drei Soldaten bejahten dies laut und deutlich. »Dann werde ich das Kommando über dieses Heer übernehmen. Wenn Ihr die Männer hier oben aufhalten wollt, müßt Ihr tun, was ich sage. Und was Chandalen, Prindin und Tossidin sagen.
Ihr kennt Euch vielleicht mit Taktiken aus, wir dagegen wissen, wie man Menschen tötet. Hier geht es nicht um eine Schlacht, Hauptmann, hier geht es darum, Menschen zu töten. Wir werden Euch nur helfen, wenn Ihr diese Männer wirklich aufhalten wollt. Solltet Ihr jedoch an einer Schlacht interessiert sein, dann werden wir Euch augenblicklich verlassen, damit Ihr Euch niedermetzeln lassen könnt.«
Hauptmann Ryan fiel auf ein Knie. Die beiden Leutnants folgten seinem Beispiel. »Mutter Konfessor, es wäre mir die allergrößte Ehre, unter Euch zu dienen. Mein Leben und das Leben jedes einzelnen meiner Männer gehört Euch. Wenn Ihr wißt, wie man diese Soldaten daran hindert, weitere Menschen zu ermorden, werden wir tun, was immer Ihr verlangt.«
Sie nickte den drei knienden Männern zu. »Dies ist nicht irgendein Kriegsspiel, Hauptmann. Damit wir gewinnen, muß jeder einzelne Mann genau das tun, was ihm befohlen wird. Wer sich unseren Anweisungen nicht fügt, der hilft dem Feind. Das ist Verrat. Wenn Ihr diese Männer aufhalten wollt, müßt Ihr alle Eure Befehlsgewalt an mich abtreten — und Ihr könnt Eure Meinung auch nicht ändern, wenn die Aufgabe grausam wird. Habt Ihr das verstanden?«
»Ja, Mutter Konfessor. Ich habe verstanden.«
Sie sah zu den anderen beiden hinüber. »Und Ihr?«
»Es ist mir eine Ehre, unter Euch zu dienen, Mutter Konfessor.«
»Und mir ebenfalls, Mutter Konfessor.«
Kahlan gab ihnen ein Zeichen, sich zu erheben, dann zog sie ihren Fellmantel fester um sich. »Ich muß nach Aydindril. Das ist von allergrößter Wichtigkeit, ich werde Euch jedoch helfen, einen Anfang zu machen. Wir werden Euch erklären, wie man vorgehen muß. Ich kann Euch höchstens ein oder zwei Tage geben. Wir werden Euch helfen, mit dem Töten zu beginnen, dann müssen wir aufbrechen.«
»Was ist mit dem Zauberer, Mutter Konfessor?«
Kahlan sah ihn unter ihren Brauen hervor an. »Den Zauberer überlaßt mir. Habt Ihr verstanden? Er gehört mir. Ich werde mich um ihn kümmern.«
»Also gut. Was sollen wir als erstes tun?«
Kahlan trat zwischen den Hauptmann und einen seiner Leutnants. »Als erstes müßt Ihr mir ein Pferd besorgen.«
Chandalen sprang vor, packte sie am Arm und hielt sie zurück, während er seinen Kopf dicht an ihren heranschob. Seine Stimme klang zornig, voller Argwohn. »Wozu brauchst du ein Pferd? Wo willst du hin?«
Sie blieb stehen und riß ihren Arm los. Dann musterte sie alle sechs Männer genau. »Habt Ihr irgendeine Vorstellung, was ich jetzt vorhabe? Ich bin die Mutter Konfessor. Wenn ich Parteien bilde, dann für die Gesamtheit der Midlands. Ich führe die gesamten Midlands in den Krieg.« Sie sah Chandalen in die Augen. »Auf das Wort dieser Männer allein kann ich das nicht tun.«
Chandalen bekam einen Wutanfall. »Wie viele Beweise brauchst du noch? Du hast gesehen, was sie in der Stadt angerichtet haben!«
»Was ich gesehen habe, spielt keine Rolle. Ich muß den Grund wissen. Ich kann nicht einfach so den Krieg erklären. Ich muß wissen, wer diese Männer sind und für wen sie kämpfen.« Sie hatte noch einen anderen Grund, zu ihnen zu gehen, einen wichtigeren Grund, doch den verriet sie nicht.
»Sie sind die Mörder!«
»Du hast auch schon Menschen getötet. Möchtest du nicht, daß andere den Grund kennen, bevor sie Rache nehmen?«
»Törichtes Weib!« Prindin legte Chandalen die Hand zur Warnung auf den Arm und versuchte ihn zu ein wenig Besonnenheit in seinen Äußerungen zu veranlassen. Chandalen riß wütend seinen Arm los. »Du behauptest, diese Männer seien töricht, dabei sind es Tausende. Du bist allein! Du hast keine Chance zu entkommen, sollten sie beschließen, dich zu töten!«
»Ich bin die Mutter Konfessor. Niemand darf die Waffe gegen mich erheben.«
Dies war, wie sie selbst wußte, eine absurde Ausrede, doch sie mußte es tun, und es fiel ihr keine andere Rechtfertigung ein, um ihm seine Sorge zu nehmen. Chandalen brachte vor Wut kein Wort hervor. Schließlich wandte er sich knurrend ab. In der Vergangenheit wäre er verärgert gewesen, weil er nicht nach Hause zurück konnte, wenn sie getötet wurde. Jetzt hatte er vielleicht tatsächlich Angst um sie.
Ihr behagte die Vorstellung ebensowenig, doch sie hatte keine Wahl. Sie war die Mutter Konfessor. Sie stand den Midlands gegenüber in der Pflicht.
»Leutnant Hobson, beschafft mir bitte ein Pferd. Wenn möglich, einen Schimmel oder einen Grauschimmel.« Er nickte und eilte davon, um ihr den Wunsch zu erfüllen. »Hauptmann, ich möchte, daß Ihr alle Eure Männer zusammenruft und ihnen erklärt, was geschehen soll.«
Chandalen hatte ihr den Rücken zugewandt. Sie strich mit der Hand über das weiße Fell auf seiner Schulter und über das Knochenmesser seines Vaters. »"Du kämpfst jetzt für die Midlands, nicht nur für die Schlammenschen.« Er brummte mißgelaunt. »Während ich fort bin, möchte ich, daß ihr drei damit beginnt, diesen Männern zu erklären, was getan werden muß. Ich hoffe, vor Anbruch der Dämmerung zurück zu sein.«
Als sie Hobson mit dem Pferd zurückkommen sah, drohten ihre Knie nachzugeben. Bei allen guten Seelen, worauf hatte sie sich nur eingelassen?
Sie drehte sich um und sah Hauptmann Ryan an. »Sollte ich … wenn irgend etwas…« Sie atmete durch und begann noch einmal. »Falls ich mich verlaufe und den Weg zurück nicht finde, hat Chandalen den Befehl. Habt Ihr verstanden? Ihr werdet tun, was er sagt.«
»Ja, Mutter Konfessor«, antwortete er mit ruhiger Stimme und schlug sich die Faust zum Gruß aufs Herz. »Mögen die guten Seelen mit Euch sein.«
»Nach meinen Erfahrungen nehme ich lieber ein schnelles Pferd.«
»Dann ist Euer Wunsch erfüllt«, meinte Leutnant Hobson. »Nick ist schnell, und er ist wild. Er wird Euch nicht im Stich lassen.«
Der Hauptmann half ihr auf das mächtige Schlachtroß. Sie blickte auf die Männer hinab, als sie dem Grauschimmel zum Kennenlernen einen Klaps auf den Hals gab. Nick schnaubte und warf den Kopf zurück. Bevor sie der Mut verließ, riß sie den mächtigen Hengst herum und trieb ihn auf die Hänge zu, über einen Pfad, auf dem sie das feindliche Lager umgehen und es dann von der anderen Seite her betreten konnte.