69

Richard fluchte leise, als das Pferd unter ihm tot zusammenbrach. Er rollte im Schnee ab, rappelte sich wieder auf und machte sich daran, seine Sachen von dem leblosen, mit schaumigem Schweiß bedeckten Tier zu zerren. Die Sorge um das Tier versetzte ihm einen Stich. Es hatte alles gegeben.

Er hatte aufgehört zu zählen, wie viele Pferde unter ihm gestorben waren. Einige waren einfach stolpernd stehengeblieben und hatten sich geweigert weiterzugehen. Andere waren in Schritt verfallen und hatten nicht mehr galoppieren wollen. Wieder andere hatten alles gegeben, bis ihr Herz aussetzte.

Richard wußte, daß er zu hart mit ihnen umging, und hatte versucht, sie im Paßgang gehen zu lassen, aber er konnte sich selbst nicht bremsen. Wenn ein Pferd starb oder aufhörte zu rennen, fand er ein anderes. Manche Besitzer verkauften nur widerstrebend und wollten mit ihm feilschen. Richard warf ihnen eine Handvoll Gold an den Kopf und schnappte sich ihr Pferd.

Er war selbst halbtot vor Erschöpfung. Er hatte wenig gegessen oder geschlafen. Gelegentlich war er zu Fuß weitergegangen, während sein Pferd sich erholte. Wann immer er ein neues Pferd hatte finden müssen, war er gerannt.

Richard wuchtete sich den Rucksack auf den Rücken und trabte weiter. Zwei Wochen war es her, seit er D’Hara verlassen hatte. Er wußte, er mußte ganz in der Nähe von Aydindril sein.

Daß die Wintersonnenwende bereits zwei Wochen hinter ihm lag, schien irgendwie nicht so wichtig wie sein Drang, zu Kahlan zu gelangen. Ihm kam es so vor, als brauchte er sich nur genügend zu beeilen, um sie zu retten, als würde die Zeit schon auf ihn warten, wenn er sich nur allergrößte Mühe gab. Daß er zu spät kommen könnte, war für ihn unvorstellbar.

Am Scheitelpunkt einer Steigung der Straße blieb er keuchend stehen. Vor ihm lag Aydindril im gleißenden Licht der Sonne. In der Gebirgswand auf der anderen Seite der Stadt sah er die grauen Mauern der Burg der Zauberer. Richard rannte weiter durch den Schnee.

Die Straßen waren voller Menschen, Menschen, die durch die kalte Nachmittagsluft eilten, Menschen, die herumstanden und mit den Füßen stampften, um sie warm zu halten, während sie ihre Waren feilboten. Richard eilte an ihnen allen vorbei. Als er merkte, wie ihn die Leute wegen seines Schwerts der Wahrheit anstarrten, zog er das Mriswith-Cape darüber.

Am Straßenrand stand ein Händler, in der Hand eine Latte, die auf der Erde ruhte. Die Latte hatte ein Querholz, von dem dünne Fäden herabhingen. Als Richard hörte, was der Mann rief, wurde er mit einem Ruck aus seinem Dämmerzustand gerissen.

»Konfessorenhaar!« blökte der Mann. »Holt euch eine Locke vom Haar des Konfessors! Ganz frisch von ihrem gottlosen Kopf! Nur solange der Vorrat reicht! Zeigt euren Kindern das Haar des letzten Konfessors!«

Richards Blick blieb an dem langen Haar hängen. Es war Kahlans. Er holte alles von der Latte herunter und stopfte es sich ins Hemd. Als der Mann auf den Gedanken kam, es zu verteidigen drückte Richard ihn krachend gegen eine Wand. Er packte das Hemd des Mannes mit den Fäusten und hob ihn glatt vom Boden.

»Wo hast du das her?«

»Vom … Rat. Ich hab’ es denen abgekauft und wollte es verhökern. Gleich nachdem sie es ihr abgeschnitten hatten. Es gehört mir.« Er rief um Hilfe. »Dieb! Dieb!«

Indes die erzürnte Menge näher rückte, um den Mann zu verteidigen, kam das Schwert zum Vorschein. Die Menschen stoben auseinander. Der Straßenhändler rannte um sein Leben.

Obwohl er das Schwert wegsteckte, wuchs Richards Zorn, je mehr er sich dem Palast der Konfessoren näherte. Er sah, wie sich das Gebäude auf dem weiten Platz vor ihm erhob. Er mußte daran denken, wie Kahlan ihm den Prunk des Palastes beschrieben hatte. Er kannte ihn fast so, als hätte er ihn schon einmal gesehen.

Auch fiel ihm wieder ein, daß Kahlan von einer Frau dort gesprochen hatte, einer Köchin. Nein, der obersten Köchin. Wie war ihr Name doch? Sanderholt, richtig. Fräulein Sanderholt.

Der Essensgeruch lockte ihn zum Kücheneingang. Er stürmte durch die Tür. Ein ganzer Raum voller arbeitender Menschen wich bei seinem Anblick erschrocken zurück. Es war offenkundig, daß niemand etwas mit ihm zu schaffen haben wollte, was immer er vorhatte.

»Sanderholt!« rief er. »Fräulein Sanderholt! Wo steckt sie?«

Die Leute zeigten nervös auf eine Diele. Er war noch nicht zehn Schritte durch den Gang gelaufen, als ihm eine Frau aus der anderen Richtung entgegeneilte.

»Was ist? Wer ruft mich?«

»Ich«, erwiderte Richard.

Ihr Stirnrunzeln wich einem bestürzten Blick. »Was kann ich für Euch tun, junger Mann?« fragte sie mit Beklemmung in der Stimme.

Richard hatte Mühe, alles Bedrohliche aus seiner Stimme zu verbannen. Er fand nicht, daß es ihm besonders gut gelang. »Kahlan. Wo kann ich sie finden?«

Ihr Gesicht wurde fast so weiß wie ihre Schürze. »Ihr seid bestimmt Richard. Ihr seht genau so aus, wie sie Euch beschrieben hat.«

»Sicher! Wo ist sie!«

Fräulein Sanderholt mußte schlucken. »Tut mir leid, Richard«, sagte sie leise. »Der Rat hat sie zum Tod verurteilt. Das Urteil wurde anläßlich der Wintersonnenwendfeier vollstreckt.«

Richard stand da und starrte die zierliche Frau an. Es fiel ihm schwer, zu entscheiden, ob sie über dieselbe Person sprachen.

»Ich glaube, Ihr habt mich mißverstanden«, brachte er hervor. »Ich spreche von der Mutter Konfessor. Mutter Konfessor Kahlan Amnell. Ihr meint sicher jemand anderes. Meine Kahlan kann unmöglich tot sein. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Ich schwöre es.«

Tränen traten ihr in die Augen. Sie versuchte sie fortzublinzeln und starrte zu ihm hoch. Langsam schüttelte sie den Kopf.

Sie legte ihm eine bandagierte Hand an die Hüfte. »Kommt, Richard. Ihr seht aus, als könntet Ihr etwas zu essen gebrauchen. Laßt mich Euch eine Schale Suppe holen.«

Richard ließ seinen Rucksack, seinen Bogen und den Köcher zu Boden fallen.

»Der Zentralrat hat sie zum Tod verurteilt?«

Sie nickte kaum merklich. »Sie ist geflohen, wurde aber wieder gefangengenommen. Der Zentralrat hat das Urteil vor dem Volk bei der Enthau … der Hinrichtung wiederholt. Und dann standen die Mitglieder des Rates lächelnd da, während das Volk ihnen zujubelte.«

»Vielleicht konnte sie noch einmal fliehen. Sie ist eine einfallsreiche Frau…«

»Ich war dabei«, meinte sie mit gebrochener Stimme, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. »Bitte zwingt mich nicht, Euch zu erzählen, was ich gesehen habe. Ich kannte Kahlan seit ihrer Geburt. Ich habe sie geliebt.«

Vielleicht gab es eine Möglichkeit, noch mal zurückzugehen und rechtzeitig wieder herzukommen. Es mußte einen Weg geben. Ihm war heiß, ihm schwindelte.

Nein. Er war zu spät. Kahlan war tot. Er hatte sie sterben lassen müssen, um dem Hüter Einhalt zu gebieten. Die Prophezeiung hatte sich bewahrheitet.

Richard biß die Zähne aufeinander. »Wo sitzt der Rat?«

Endlich gelang es ihr, den Blick von ihm zu nehmen. Mit ihrer bandagierten Hand zeigte sie den Gang entlang und beschrieb ihm den Weg.

Sie drehte sich um. »Bitte, Richard, ich habe sie auch geliebt. Jetzt kann man nichts mehr tun. Ihr könnt nichts mehr erreichen.«

Doch da war er bereits unterwegs. Mit wehendem Mriswith-Cape eilte er den Gang entlang. Wie ein Pfeil auf sein Ziel, bewegte er sich auf den Ratsaal zu.

Überall standen Wachen, doch schenkte er ihnen keinerlei Beachtung. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihm Beachtung schenkten, es war ihm auch egal. Zielstrebig flog er seinem Ziel entgegen. Er hörte, wie überall unter Waffen stehende Soldaten durch die Seitengänge liefen. Von denen auf den Galerien nahm er kaum Notiz.

Die Türen zum Sitzungssaal des Rates befanden sich am Ende einer von Säulen gesäumten Halle. Während er durch den Gang marschierte, nahmen Soldaten vor den Türen Aufstellung. Er nahm sie nur undeutlich wahr. Er sah nichts als die Türen.

Sein Schwert hatte die Scheide an seiner Hüfte noch immer nicht verlassen, und doch durchtoste die Magie ihn mit voller Wucht. Die Soldaten vor den Türen schlossen die Reihen. Er lief im gleichen Tempo weiter. Das schwarze Cape blähte sich auf, und Richard setzte eine grimmige Miene auf, während er vorwärtsstürmte.

Sie bereiteten sich darauf vor, ihn aufzuhalten. Richard marschierte weiter. Er wollte, daß sie ihm aus dem Weg gingen. Die Kraft kam instinktiv, ohne bewußte Anstrengung. Er spürte die Erschütterung. Am Rand seines Gesichtsfeldes sah er, wie Blut auf den weißen Marmor klatschte.

Ohne auch nur einen Schritt zu zögern, kam er aus dem Feuerball in dem klaffenden Loch von der doppelten Größe der Tür wieder hervor. Riesige Steinbrocken wurden durch die Luft geschleudert, zogen Rauchfahnen hinter sich her. Überall regneten Trümmer herab. Eine der Türen kreiste um die eigene Achse, als sie zusammen mit scharfkantigen Rüstungsfetzen und zerbrochenen Waffen über den Boden des Ratssaales schlitterte.

Am anderen Ende des Raumes erhoben sich wütend Männer hinter einem geschwungenen Tisch. Richard ging unaufhaltsam weiter und zog sein Schwert blank. Das unverwechselbare Klirren von Stahl hallte durch den riesigen Saal.

»Ich bin der Oberste Rat Thurstan!« meinte der in der Mitte, in dem größten Sessel. »Ich verlange zu erfahren, was dieser Auftritt zu bedeuten hat!«

Richard ging immer weiter. »Gibt es einen unter Euch, der gegen das Todesurteil über die Mutter Konfessor gestimmt hat?«

»Sie wurde wegen Verrats verurteilt. Rechtmäßig und einstimmig, durch diesen Rat! Wachen! Entfernt diesen Mann!«

Soldaten kamen durch den gewaltigen Raum herbeigeeilt, doch Richard hatte das Podest bereits erreicht. Die Räte zogen ihre Messer.

Richard sprang mit einem wütenden Aufschrei auf den Tisch. Die Klinge spaltete Thurstan in zwei Hälften, vom Ohr bis zum Schritt. Ein schwungvoller Schlag zu beiden Seiten ließ Köpfe rollen. Mehrere der Männer unternahmen den Versuch, ihn zu erstechen. Sie waren nicht annähernd schnell genug. Das Schwert erwischte jeden, auch die, die zu fliehen versuchten. Sekunden später war alles vorbei, noch bevor die Wachen auch nur die Hälfte ihres Weges zurückgelegt hatten.

Richard sprang zurück auf den Tisch. Er befand sich in der Gewalt ungezügelten Zorns, hielt das Schwert mit beiden Händen. Er wartete darauf, daß sie kamen. Er wünschte sich, daß sie kämen.

»Ich bin der Sucher! Diese Männer haben die Mutter Konfessor ermordet! Entscheidet euch, ob ihr auf Seiten der toten Halsabschneider stehen wollt oder auf der Seite des Rechts!«

Der Ansturm der Soldaten geriet ins Stocken. Zögernd sahen sie sich an. Schließlich blieben sie stehen. Richard stand da und rang nach Atem.

Ein Soldat drehte sich in dem Loch in der Wand um, wo die Türen gewesen waren, und ließ dann den Blick über die am Boden verstreuten Trümmer schweifen. »Ihr seid ein Zauberer?«

Richard sah dem Mann in die Augen. »Ja, ich denke, das bin ich.«

Der Mann schob sein Schwert in die Scheide. »Das ist eine Angelegenheit unter Zauberern. Es ist nicht unsere Aufgabe, Zauberer anzugreifen. Ich werde nicht für etwas sterben, das nicht in meiner Pflicht liegt.«

Ein weiterer steckte sein Schwert zurück. Kurz darauf hallte der Saal von stählernem Scheppern wider, als die Klingen in Schlaufen und Scheiden zurückgeschoben wurden. Die ersten Männer zogen sich zurück, und das Geräusch ihrer Stiefel hallte durch den Saal. Augenblicke später war der gewaltige Ratssaal menschenleer — bis auf Richard.

Er sprang vom Tisch herunter und betrachtete den hohen Sessel in der Mitte. Er war so ungefähr der einzige Gegenstand, der nicht von Blut troff. Das mußte der Sitz der Mutter Konfessor sein, Kahlans Platz. Auf diesem Platz hatte sie gesessen.

Ohne jede Regung steckte Richard das Schwert in die Scheide zurück. Es war vorbei. Er hatte alles getan, was zu tun war.

Die Guten Seelen hatten ihn verlassen. Sie hatten Kahlan verlassen. Er hatte alles daran gesetzt, damit Gerechtigkeit geschah, und die Guten Seelen hatten nichts getan, um dabei zu helfen.

Zum Hüter mit den Guten Seelen.

Richard ließ sich auf die Knie fallen. Er dachte an das Schwert der Wahrheit. Es besaß Magie — er konnte sich vermutlich nicht darauf verlassen, daß es bei dem, was er jetzt vorhatte, seinem Willen folgte.

Statt dessen zog er das Messer aus seinem Gürtel.

Richard setzte sich die Messerspitze aufs Herz.

Mit kalter Präzision blickte er an sich hinab, um zu sehen, ob es genau auf sein Herz zeigte. Kahlans Haar, das Haar, das er dem Händler abgenommen hatte, lugte aus seinem Hemd hervor. Richard zog die Locke, die sie ihm geschenkt hatte, aus seiner Tasche.

Sie hatte sie ihm geschenkt, um ihn daran zu erinnern, daß sie ihn immer lieben würde. Er wollte nichts weiter, als seiner zügellosen Qual ein Ende zu bereiten.


»Sie ist wach«, sagte Prinz Harold. »Sie fragt nach dir.«

Schließlich löste Kahlan ihren Blick von den Flammen im Kamm. Sie warf einen kühlen Blick auf den Zauberer, der neben Adie auf der Holzbank saß. Zedd hatte zwar sein Gedächtnis wiedergefunden, Adie jedoch nicht. Sie hielt sich immer noch für Elda und war noch immer blind.

Kahlan durchquerte den dunklen Gastraum. Bei ihrem Eintreffen war das Gasthaus verlassen gewesen, genau wie der Rest der Stadt — aus Angst vor dem Vormarsch der keltonischen Truppen. Die menschenleere Stadt war ein guter Ort, um sich auf ihrer Flucht aus Aydindril auszuruhen. Zwei Wochen Flucht hatten in ihnen allen das Bedürfnis nach einer Pause und ein wenig Wärme geweckt.

Eine Woche, nachdem sie Aydindril verlassen hatten, war ihre kleine Gruppe, bestehend aus Zedd, Adie, Ahern, Jebra, Chandalen, Orsk und Kahlan, von einem kleinen, von Prinz Harold angeführten Trupp abgefangen worden. Prinz Harold und eine Handvoll seiner Männer waren dem Gemetzel an seiner Streitmacht in Aydindril entkommen und hatten in Lauerstellung gelegen. Während man Königin Cyrilla zum Richtstock führte, hatte Prinz Harold einen mutigen Stoßangriff gewagt, und in dem Durcheinander von Menschen, die gekommen waren, um der Hinrichtung beizuwohnen, hatte er seine Schwester dem Henker unter der Axt entreißen können.

Vier Tage nachdem sie sich Prinz Harold angeschlossen hatten, begegneten sie Hauptmann Ryan und seinen verbliebenen neunhundert Mann. Sie hatten das Heer der Imperialen Ordnung bis auf den letzten Mann aufgerieben. Sie hatten einen hohen Preis dafür gezahlt, ihren Auftrag jedoch ausgeführt.

Nicht einmal der Stolz auf diese Männer konnte ihre Stimmung heben, auch wenn sie vermied, sich dies ihnen gegenüber anmerken zu lassen.

Nachdem sie ein Tuch über dem Becken ausgewrungen hatte, setzte sich Kahlan zu ihrer Halbschwester auf die Bettkante. Cyrilla war bei Bewußtsein, was nur gelegentlich vorkam, wenn es auch nie lange dauerte, bis sie wieder in ihren starren Dämmerzustand zurückfiel. Dann sah sie nichts, hörte sie nichts, sagte sie nichts. Sie starrte nur vor sich hin.

Kahlan war ermutigt, als sie jetzt ihre Tränen sah. Es bedeutete, daß sie wach war. Wenn sie bei Bewußtsein war, konnte nur Kahlan mit ihr sprechen. Der Anblick eines Mannes rief einen Schreikrampf hervor oder ließ sie wieder in einen Dämmerzustand fallen.

Cyrilla packte Kahlans Arm, als Kahlan ihr mit dem kühlen Tuch die Stirn abtupfte. »Kahlan, hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?«

Kahlan zog den Lappen zurück. »Ich will nicht Königin von Galea sein. Du bist Königin, meine Schwester.«

»Bitte Kahlan, unser Volk braucht jemanden, der es führt. Ich bin dazu im Augenblick nicht in der Lage.« Sie krallte ihre Hand fester um Kahlans Arm. Die Tränen standen ihr in den Augen. »Kahlan, du mußt es tun, für mich und für die Menschen.«

Kahlan wischte die Tränen mit dem Tuch fort. »Cyrilla, alles wird wieder gut werden, du wirst schon sehen.«

Ihre Hand krampfte sich über ihrem Bauch zusammen. »Ich kann im Augenblick niemanden führen.«

»Cyrilla, ich verstehe dich, wirklich. Man hat mir zwar nicht dasselbe angetan wie dir, aber ich war ebenfalls in diesem Kerker. Ich verstehe dich. Aber du wirst dich wieder erholen. Ganz bestimmt, das verspreche ich dir.«

»Und du wirst unsere Königin sein? Für unser Volk?«

»Wenn ich zustimme, dann nur vorübergehend. Nur bis du deine Kräfte wiedergefunden hast.«

»Nein…«, stöhne sie. Sie schluchzte, verbarg ihr Gesicht im Kopfkissen. »Tu das nicht … bitte. Ihr Guten Seelen, so helft mir doch. Nein…«

Und dann war sie wieder bewußtlos. Hinübergewechselt in das Reich der Visionen. Sie erschlaffte, war reglos wie der Tod und starrte an die Decke. Kahlan gab ihr einen Kuß auf die Wange.

Prinz Harold wartete draußen vor der Tür im Dunkeln. »Wie geht es meiner Schwester?«

»Unverändert, fürchte ich. Doch verlier nicht die Hoffnung. Sie wird sich erholen.«

»Kahlan, du mußt tun, worum sie dich bittet. Sie ist Königin.«

»Warum kannst du nicht König werden? Das würde viel mehr Sinn ergeben.«

»Ich muß weiter für unser Volk kämpfen, für die gesamten Midlands. Diesem Kampf kann ich mich nicht widmen, wenn ich mich gleichzeitig mit der Sorge um das Amt des Königs belaste. Ich bin Soldat und möchte so dienen, wie ich es am besten kann. Das ist meine Bestimmung. Du bist eine Amnell, Tochter des Königs Wyborn, du mußt Königin von Galea werden.«

Kahlan wollte ihr langes Haar über die Schulter werfen, doch es war nicht da. Es fiel schwer, die lebenslangen Gewohnheiten abzulegen, zu vergessen, daß man ihr den Kopf geschoren hatte.

»Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte sie und ging.

Wieder stand sie vor dem Kamin, der einzigen Lichtquelle im Gastraum, starrte in die Flammen, beobachtete, wie die einst lebendigen Scheite zu Asche wurden. Jeder ging ihr aus dem Weg und überließ sie sich selbst.

Nach einer Weile bemerkte sie, daß Zedd neben ihr stand. Sie gewöhnte sich erst allmählich daran, daß er diese elegante Kleidung trug.

Er hielt ihr seine Tasse hin. »Warum nimmst du nicht einen Schluck Gewürztee?«

Sie sah nicht von den Flammen auf. »Nein, danke.«

Er rollte die Tasse zwischen seinen Händen hin und her. »Kahlan, du mußt aufhören, dir die Schuld zu geben, Es war nicht dein Fehler.«

»Lügen stehen dir nicht gut, Zauberer. Ich habe den Blick in deinen Augen gesehen, als ich es dir erzählt habe. Hast du das schon vergessen?«

»Das habe ich dir bereits erklärt. Du weißt, daß ich unter dem Bann der drei Magierinnen stand, den nur ein großer emotionaler Schock brechen konnte. Zorn vermochte das, doch ist der Zorn erst einmal ausgelöst, muß man ihn ungehemmt wüten lassen, wenn er den Bann brechen soll. Ich habe dir bereits erklärt, wie leid es mir tut, was ich dir angetan habe.«

»Ich habe den Blick in deinen Augen gesehen. Du wolltest mich töten.«

Er sah sie unter seinen Brauen hervor an. »Ich mußte es tun, Mutter Konfessor…«

»Kahlan. Ich habe es dir erklärt, ich bin nicht mehr die Mutter Konfessor.«

»Nenn dich, wie du willst, aber du bist immer die, die du bist. Den Namen zu leugnen ändert nichts daran. Und wie gesagt, ich mußte es tun. Um einen Todesbann auszulösen, muß die Person, die verzaubert werden soll, irgendwie überzeugt werden, daß sie sterben wird, sonst funktioniert er nicht.

Als ich durch die Wut dann mein Gedächtnis wiedergefunden hatte, wußte ich, daß ich einen Todesbann benutzen mußte, daher habe ich einfach das, was gerade geschah, dazu benutzt, das Nötige zu tun. Es war eine Verzweiflungstat. Hätte ich es anders gemacht, wären die Menschen nicht überzeugt gewesen, Zeugen deiner Enthauptung zu sein.«

Kahlan fröstelte, sobald sie an diese Art von Magie dachte. Die eisige Berührung durch den Todesbann würde sie ihr Lebtag nicht vergessen.

»Du hättest Magie benutzen und statt dessen diesen Rat des Bösen vernichten sollen. Du hättest mir erspart, diese Männer umzubringen.«

»Dann hätte jeder gewußt, daß du noch lebst. Alle, die dort waren, waren von einem wahnhaften Haß ergriffen. Hätte ich das getan, dann hätten wir die gesamte Armee und Zehntausende von Menschen auf den Fersen gehabt. So verfolgt uns niemand. Jetzt können wir weiter das tun, was nötig ist.«

»Du kannst allein weitermachen. Ich habe die Sache der Guten Seelen aufgegeben.«

»Kahlan, du weißt, was geschieht, wenn du aufgibst. Du selbst bist letzten Herbst nach Westland gekommen, um mich zu suchen und mir genau das zu sagen. Du hast dazu beigetragen, mich zu überzeugen, daß wir dem Feind den Sieg kampflos überlassen, wenn wir die Seite der Magie, des Rechts verlassen und den Machtlosen nicht helfen.«

»Die Seelen haben es für richtig befunden, mich im Stich zu lassen. Sie haben tatenlos mitangesehen, als ich Richard in die Hände der Schwestern des Lichts ausgeliefert habe, sie haben zugelassen, daß ich ihm weh tue, daß er mir für immer genommen wurde. Diese Guten Seelen haben sich entschieden, allerdings nicht für mich.«

»Es ist nicht die Aufgabe der Guten Seelen, die Welt der Lebenden zu bestimmen. Es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe der Lebenden, uns um unsere Welt zu kümmern.«

»Erzähl das jemandem, dem daran gelegen ist.«

»Dir ist doch daran gelegen. Nur ist dir das im Augenblick nicht bewußt. Ich habe Richard ebenfalls verloren, aber ich weiß, ich darf nicht zulassen, daß mich das vom rechten Weg abbringt. Glaubst du, Richard würde dich lieben, wenn du wirklich zu der Sorte Menschen gehörtest, die jene im Stich lassen, welche Hilfe brauchen?«

Sie schwieg, also fuhr er mit seiner Attacke fort.

»Richard liebt dich zum Teil wegen deiner Lebenslust. Er liebt dich, weil du mit allem, was du hast, dafür kämpfst, mit derselben Inbrunst wie er. Das hast du längst bewiesen.«

»Er war das einzige, was ich je vom Leben wollte, das einzige, um das ich die Guten Seelen je gebeten habe. Und sieh, was sie ihm angetan haben. Er denkt, ich hätte ihn verraten. Ich habe ihn gezwungen, einen Halsring anzulegen, etwas, das er mehr fürchtet als den Tod. Ich bin nicht dafür geschaffen, jemandem zu helfen. Ich richte nichts als Unheil an.«

»Kahlan, du besitzt Magie. Wie ich dir bereits erklärt habe, man darf nicht zulassen, daß die Magie ausstirbt. Die Welt der Lebenden braucht Magie. Wird die Magie ausgerottet, wird alles Leben ärmer und kann sogar vernichtet werden.

Niemand weiß von uns. Wir werden nach Ebinissia gehen, was niemand erwartet, und von dort aus die Streitkräfte der Midlands zusammenziehen und zum Gegenschlag ausholen. Niemand wird wissen, daß wir Ebinissia der Asche des Todes entrissen haben.«

»Also gut! Wenn es dich endlich zum Schweigen bringt, werde ich Königin sein. Aber nur, bis es Cyrilla besser geht.«

Das Feuer knisterte und knackte. Zedd sprach mit leise warnendem Unterton. »Du weißt genau, daß ich das nicht meine, Mutter Konfessor.«

Kahlan schwieg. Sie biß sich auf die Innenseite ihrer Wange, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie wollte nicht, daß er sah, wie sie weinte.

»Die Zauberer von einst haben die Konfessoren geschaffen. Du besitzt einzigartige Magie. Sie weist Elemente auf, die keine andere Magie besitzt, nicht einmal meine. Du bist der letzte Konfessor, Kahlan. Man darf nicht zulassen, daß deine Magie mit dir stirbt. Richard ist für uns verloren. So ist es eben. Wir aber müssen weiterbestehen. Das Leben und die Magie müssen weiterbestehen.

Du mußt einen Gefährten erwählen und der Welt diese Magie in die Zukunft mitgeben.«

Sie starrte immer noch ins Feuer.

»Kahlan«, sagte er leise, »du mußt es tun, um Richards Liebe und seinen Glauben an dich zu bestätigen.«

Langsam drehte sie sich um und blickte hinter sich. Orsk saß mit verschränkten Beinen auf dem Boden neben Chandalen. Er allein sah sie aus seinem einen Auge an, während die Narbe über seinem anderen im Schein des Feuers weiß und zornig leuchtete. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen. Alle anderen im Raum versuchten den Eindruck zu erwecken, sie seien mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt.

»Orsk«, rief sie.

Der riesenhafte Mann war sofort auf den Beinen und kam herüber. Geduckt blieb er vor ihr stehen und wartete auf den Befehl, ihr eine Tasse Tee zu bringen oder jemanden umzubringen.

»Orsk, geh hinauf in mein Zimmer und warte dort auf mich.«

»Ja, Herrin.«

Nachdem er die Treppen hinaufgesprungen war, durchquerte sie langsam den Raum. Sie hörte das Bett knarren, als er sich darauf setzte, um zu warten.

Als sie ihre Hand auf den Geländerpfosten legte, legte Zedd seine Hand darüber und hielt sie so zurück. »Mutter Konfessor, es muß nicht unbedingt er sein. Du findest bestimmt einen, der eher deinem Geschmack entspricht.«

»Was macht das für einen Unterschied? Ich habe ihn bereits mit meiner Kraft berührt. Warum soll ich noch einem anderen weh tun, wenn es um nichts weiter geht als das?«

»Kahlan, es muß nicht sofort geschehen. Nicht so kurz danach. Ich sage nur, daß du es irgendwann akzeptieren mußt und daß es irgendwann geschehen muß.«

»Heute, morgen, nächstes Jahr. Was macht das schon? In zehn Jahren wird es noch das gleiche sein wie heute. Zauberer haben Konfessoren Jahrtausende lang benutzt. Warum sollte es bei mir anders sein? Ich kann es ebensogut hinter mich bringen, damit du endlich zufrieden bist.«

Sein tränenfeuchter Blick ließ sie nicht los. »So ist das nicht, Kahlan. Es geht um die Hoffnung auf das Leben.«

Sie spürte, wie ihr eine Träne über die Wange lief. Sie sah den Schmerz in seinen Augen, zeigte ihm aber deswegen keine Gnade.

»Nenn es, wie du willst. Das ändert nichts daran, was es ist. Es ist Vergewaltigung. Meine Feinde haben es nicht geschafft, es brauchte meine Freunde, um es zu vollenden.«

»Ich weiß das, meine Liebe. Wie gut ich das weiß.«

Sie machte sich erneut auf den Weg die Treppe hinauf, doch seine Hand auf ihrem Arm hielt sie zurück.

»Bitte, Kahlan, tust du mir noch einen Gefallen? Geh und mache zuerst einen kleinen Spaziergang, denke über alles nach und bitte die Seelen um Unterweisung. Bete zu den Guten Seelen, ersuche sie um Führung.«

»Ich habe den Guten Seelen nichts zu sagen. Sie wollen es so, sie haben dich geschickt, damit du mir ›Führung‹ gibst.«

Er strich ihr mit seiner dürren Hand über das kurzgeschorene Haar. »Dann tu es für Richard.«

Sie stand da und starrte ihn an. Schließlich warf sie einen kurzen Blick durch das Fenster der Hintertür hinaus in den kleinen, erfrorenen Garten hinter dem Gasthaus. Draußen wurde er gerade dunkel.

Kahlan kam von der Treppe herunter. »Für Richard.«

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