»Der Stein der Tränen? Nun, der ist versteckt«, sagte Zedd beiläufig.
Sie nickte entschlossen. »Gut. Er darf auf keinen Fall in dieser Welt verlorengehen.« Ihr Gesicht nahm einen leicht besorgten Ausdruck an. »Er ist doch gut versteckt? In Sicherheit?«
Zedd zuckte leicht zusammen. Er hätte es ihr lieber verschwiegen, wußte er doch, wie sie reagieren würde, aber er hatte es ihr versprochen. »Ich habe ihn an einer Kette befestigt und sie dann einem kleinen Mädchen um den Hals gehängt. Ich weiß nicht … ganz genau … wo es im Augenblick steckt.«
»Du hast ihn angefaßt!« Adie bekam große Augen. »Den Stein der Tränen? Du hast ihn angefaßt und einem kleinen Mädchen umgehängt!«
Mit ihren plötzlich erstarkten Fingern packte sie sein Kinn und beugte sich dicht über sein Gesicht. »Du hast den Stein der Tränen, den Stein, den der Schöpfer Selbst der Legende nach dem Hüter umgehängt hat, um ihn in die Unterwelt zu sperren … den hast du einem kleinen Mädchen um den Hals gehängt? Und sie davon marschieren lassen?«
Zedd setzte zur Abwehr gleichfalls eine finstere Miene auf. »Irgend etwas mußte ich doch damit machen. Ich konnte ihn nicht einfach rumliegen lassen.«
Adie schlug sich die Hand vor die Stirn. »Eben noch überzeugt er mich, wie klug er ist, und gleich darauf erweist er sich als Narr. Bei den Guten Seelen, errettet mich aus den Händen, in die ihr mich gegeben habt.«
Zedd sprang auf. »Und was, bitte, hättest du damit getan?«
»Nun, ich hätte bestimmt ein wenig länger darüber nachgedacht, als du das scheinbar getan hast. Und ich hätte ihn nicht angefaßt! Er ist ein Ding aus einer anderen Welt!« Sie kehrte ihm den Rücken zu, schüttelte den Kopf und sagte leise etwas in ihrer fremden Sprache.
Zedd legte sein Gewand zurecht und zog es mit einem energischen Ruck glatt. »Ich hatte nicht die Zeit, um lange nachzudenken. Wir wurden von einem Screeling angegriffen. Hätte ich ihn liegenlassen…«
Adie wirbelte herum. »Ein Screeling! Du bringst wirklich jede Menge guter Neuigkeiten, alter Mann.« Sie bohrte ihm einen Finger in die Brust. »Das ist immer noch keine Entschuldigung. Du hättest ihn immer noch nicht…«
»Nicht was? Nicht aufheben dürfen? Hätte ich zulassen sollen, daß der Screeling ihn statt dessen an sich nimmt?«
»Screelings sind Mörder. Sie sind nicht dazu da, den Stein an sich zu nehmen.«
Zedd erwiderte ihre Geste mit dem Finger. »Bist du dir da so sicher? Wärst du vielleicht bereit gewesen, alles darauf zu verwetten? Und dem Hüter im Falle deines Irrtums den Stein zu überlassen, damit er damit tun kann, was immer ihm beliebt? Bist du dir so sicher, Adie?«
Sie ließ die Hände sinken, starrte in sein wütendes Gesicht. »Nein. Vermutlich nicht. Vielleicht hast du recht. Es besteht die Möglichkeit, daß der Screeling ihn an sich genommen hätte. Vielleicht hattest du keine andere Wahl.« Sie drohte ihm mit dem Finger. »Aber ihn einem kleinen Mädchen umzuhängen …!«
»Und wo hätte ich ihn deiner Ansicht nach aufbewahren sollen? In meiner Tasche? In der Tasche eines Zauberers? In der Tasche eines Mannes mit der Gabe, wo der Hüter mit Sicherheit zuerst nachsieht? Oder hätte ich ihn deiner Meinung nach verstecken sollen, an einem Ort, den nur ich kenne und den ich einem Verderbten, dem ich in die Hände falle und der mich irgendwie zum Sprechen bringt, sofort verrate, damit er hingehen und ihn sich holen kann?«
Adie verschränkte die Arme und stieß einen unterdrückten Fluch aus. Schließlich entspannte sich ihr Gesicht wieder. »Nun … vielleicht…«
»Nichts vielleicht. Ich hatte keine Wahl. Es war ein Akt der Verzweiflung. Ich tat das einzige, was mir unter den gegebenen Umständen möglich war.«
Sie stieß einen erschöpften Seufzer aus, dann nickte sie. »Du hast recht, Zauberer. Du hast das Beste getan, was dir möglich war.« Sie tätschelte seine Schulter. »So töricht es auch ist«, fügte sie kaum hörbar hinzu. Sie versetzte ihm einen leichten Stoß. »Setz dich. Ich will dir etwas zeigen.«
Zedd setzte sich und sah ihr zu, wie sie quer durch die Hütte zu den Regalen humpelte. »Ich hätte auch lieber etwas anderes damit gemacht, Adie«, sagte er traurig.
Sie nickte im Gehen. »Ich weiß…« Sie blieb stehen und drehte sich um. »Ein Screeling, sagst du?« Zedd nickte. »Bist du dir sicher, daß es ein Screeling war?« Er zog eine Braue hoch. »Ja, natürlich bist du dir sicher.« Sie legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Screelings sind die Mörder des Hüters. Sie sind zielstrebig und äußerst gefährlich, aber nicht sehr klug. Sie brauchen etwas, das ihnen denjenigen zeigt, hinter dem sie her sind, einen Weg, ihn zu finden. Das Suchen in dieser Welt liegt ihnen nicht. Woher wußte der Hüter, wo du dich befindest? Wie konnte der Screeling dich finden?«
Zedd zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich war dort, wo die Kästchen geöffnet wurden. Doch das lag schon eine Weile zurück. Niemand konnte wissen, daß ich noch immer dort war.«
»Und, hast du den Screeling vernichtet?«
»Ja.«
»Das ist gut. Der Hüter wird sich nicht die Mühe machen, noch einen weiteren auszusenden, nicht, nachdem du bewiesen hast, daß du ihn besiegen kannst.«
Zedd warf die Arme in die Luft. »O ja, einfach großartig. Screelings werden ausgeschickt, um eine Bedrohung des Hüters auszuschalten. Wahrscheinlich wurde er geschickt, um den Hüter von mir zu befreien, so wie er einen Verderbten ausgesandt hat, um sich von deinen Einmischungen zu befreien. Du hast recht: er wird keinen weiteren Screeling aussenden, nachdem ich bewiesen habe, daß ich sie besiegen kann. Er wird etwas Schlimmeres schicken.«
»Wenn er überhaupt dir galt.« Sie legte einen Finger auf die Unterlippe und murmelte in sich hinein: »Wo war der Stein, als du ihn fandest?«
»Neben dem Kästchen, das geöffnet worden war.«
»Und wo tauchte der Screeling auf?«
»Im selben Raum, wo sich auch die Kästchen befanden. Und der Stein.«
Sie schüttelte verwundert den Kopf. »Vielleicht war es tatsächlich, wie du sagst. Er ist gekommen, um den Stein zu holen. Trotzdem, es ergibt keinen Sinn, wenn ein Screeling den Stein holen soll. Ich frage mich, wie er dich gefunden hat.« Sie humpelte zu den Regalen. »Irgend etwas muß ihn geführt haben.«
Auf den Zehenspitzen balancierend, linste sie hinten in eines der Regale, schob vorsichtig verschiedene Dinge zur Seite und holte endlich den gesuchten Gegenstand hervor. Sie hielt ihn in der Hand, humpelte zurück und legte ihn vorsichtig auf den Tisch. Er war ein wenig größer als ein Hühnerei, rund, vom Alter nachgedunkelt und mit einer tiefen Patina überzogen, die in den Vertiefungen bräunlichschwarz aussah. Er war meisterhaft zur Gestalt einer boshaften Bestie geschnitzt, zusammengekauert, mit wütend funkelnden Augen, die einen anzusehen schienen, egal, wie er gehalten wurde. Offenbar bestand die Figur aus Knochen und war sehr alt.
Zedd nahm die Figur hoch und wog sie in der Hand. Sie war viel schwerer, als er gedacht hatte. »Was ist das?«
»Eine Frau, eine Magierin, hat mir den Talisman geschenkt, als ich sie aufsuchte, um von ihr zu lernen. Sie lag im Sterben. Sie fragte mich, ob ich von den Skrin gehört hätte. Ich erzählte ihr, was ich wußte. Sie seufzte erleichtert, dann sagte sie etwas, das mir ein Frösteln über die Haut jagte. Sie sagte, sie hätte auf mich gewartet, wie es ihr die Prophezeiungen aufgetragen hatten. Dann legte sie mir dies hier in die Hand und meinte, es sei aus dem Knochen eines Skrin geschnitzt.«
Adie machte eine Handbewegung zu den Wänden, dann Richtung Knochenhaufen. »Ich habe einen vollständigen Skrin hier, unter den Knochen. Ich habe einmal mit einem gekämpft, im Paß. Seine Knochen liegen hier. Sein Schädel liegt im Regal. Es ist der, der heruntergefallen ist.«
Sie legte einen ihrer dürren Finger auf die geschnitzte Knochenkugel in Zedds Hand, dabei beugte sie sich vor und senkte ihre schnarrende Stimme. »Dies hier, meinte die Alte, gehört in die Obhut eines Menschen, der etwas davon versteht. Sie erklärte mir, es sei uralte Magie, hergestellt von Zauberern aus alter Zeit, und möglicherweise habe ihnen der Schöpfer selbst dabei die Hand geführt. Man habe es auf Grund von Prophezeiungen hergestellt. Sie sagte, es sei vielleicht der wichtigste magische Gegenstand, den ich je in Händen halten würde. Er sei mit mehr Kraft ausgestattet, als sie oder ich je begreifen würde. Sie meinte, er sei aus Skrinknochen und enthielte die Kraft der Skrin und er sei ein Talisman, der von großer Wichtigkeit wäre, sollte der Schleier jemals in Gefahr geraten.
Ich fragte sie, wie man ihn benutze, wie die Magie funktionierte und wie er in ihre Hände geraten war. Sie war sehr erschöpft, mein Besuch hatte sie sehr aufgeregt, und sie sagte, sie müsse sich jetzt ausruhen. Ich sollte am Morgen wiederkommen, dann wollte sie mir alles erzählen, was sie wußte. Als ich wiederkam, war sie gestorben.« Adie sah ihn bedeutungsvoll an. »Ihr Tod kam für mich ein wenig zu früh.«
Zedd hatte denselben Gedanken gehabt. »Aber du hast keine Ahnung, was es ist oder wie man ihn benutzt?«
»Nein.«
Schon jetzt benutzte Zedd Magie, um ihn mit einem Luftkissen hochzuheben, ihn im Raum schweben zu lassen, wo er zusah, wie er sich langsam drehte. Die ganze Zeit über erwiderten die fein geschnitzten Augen seinen Blick, während die Kugel vor ihm rotierte. »Hast du versucht, Magie bei ihm anzuwenden?«
»Ich hatte Angst davor.«
Zedd hielt seine knochigen Hände rechts und links neben das schwebende Schnitzwerk und untersuchte es vorsichtig mit verschiedenen Arten von Kraft, verschiedenen Arten von Magie, die er auf der Suche nach einem Riß, einem Schild, einem Auslöser vorsichtig prüfend über den rundlichen Knochen gleiten ließ.
Es fühlte sich äußerst seltsam an. Die Magie wurde zurückgeworfen, als wäre sie auf nichts gestoßen, als wäre das Ding überhaupt nicht vorhanden. Vielleicht handelte es sich um einen Schild, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Er erhöhte die Kraft. Sie glitt am Schnitzwerk ab wie eine neue Ledersohle auf Eis.
Adie rang die Hände. »Ich glaube, du solltest nicht…«
Die Flamme der Lampe erlosch mit einem leisen Puffen. Unvermittelt stieg ein dünner Faden öligen Rauchs kräuselnd vom toten Docht in die Höhe. Plötzlich war der Raum leer bis auf die flackernden Schatten, die das Feuer des Kamins warf. Zedd sah die Lampe verwundert an.
Ein plötzliches Krachen ließ ihrer beider Köpfe herumwirbeln. Der Schädel kam über den Fußboden auf sie zugerollt. Auf halbem Weg blieb er wackelnd und schaukelnd liegen. Leere Augenhöhlen starrten die beiden an. Die langen Reißzähne ruhten auf dem Dielenboden.
Der mit Schnitzereien verzierte Knochenball sprang auf den Tisch, hüpfte zweimal. Adie und Zedd sprangen auf.
»Was für eine Dummheit hast du jetzt gemacht, alter Mann?«
Zedd starrte den Schädel an. »Ich habe überhaupt nichts gemacht.«
Weitere Knochen fielen aus den Regalen. Knochen, die an der Wand gehangen hatten, landeten klappernd auf dem Boden, einige sprangen nach dem Aufprall wieder in die Luft.
Zedd und Adie drehten sich gleichzeitig um, als sie hinter sich Lärm hörten. Der Knochenhaufen fiel klappernd auseinander, Knochen stürzten und fielen übereinander, als der Haufen sich selbst auseinanderzerrte. Als wären sie lebendig, rutschten oder rollten einige der Knochen über den Fußboden auf den Schädel zu. Ein Rippenknochen, der über den Boden glitt, verfing sich an einem Stuhlbein und wirbelte herum, setzte seinen Weg dann fort.
Zedd wandte sich Adie zu, die jedoch zu dem Regal über der Arbeitsplatte eilte, zu jenem Regal, das mit dem blau-weiß gestreiften Tuch bedeckt war.
»Was tust du, Adie? Was ist hier los?«
Knochen in wachsender Zahl sammelten sich um den Schädel.
Sie riß das Tuch fort, zerrte es von seinem Haken. »Geh! Bevor es zu spät ist.«
»Was ist hier los?«
Gläser und Dosen schlugen scheppernd aneinander, als sie sie zur Seite fegte. Sie schob die Hand tiefer ins Regal, ihre Finger tasteten blind herum. Gefäße stürzten mit dumpfem Schlag zu Boden. Ein Glasbehälter kippte aus dem Regal und zerschellte auf der Kante der Arbeitsplatte, verteilte seine funkelnden Glassplitter über Tisch und Stühle. Eine dicke, dunkle Masse quoll über den Arbeitsplattenrand und nahm Splitter mit sich — sie sah fast aus wie ein zerschmolzener Igel.
»Tu, was ich sage, Zauberer! Verschwinde! Sofort!«
Zedd lief zu ihr, unter seinen Füßen knirschte Glas. Er blieb mit einem Ruck stehen, als er über seine Schulter einen Blick auf den Schädel warf.
Er befand sich in Augenhöhe. Unter ihm sammelten sich Knochen und setzten sich zusammen, während er weiter in die Höhe wuchs. Ein paar Rippenknochen reihten sich ein, Wirbel glitten an ihren Platz, Krallen setzten sich auf Klauen, neben beiden Flanken richteten sich Beinknochen auf. Der Kiefer rastete an seinen Platz ein, als der Kopf sich zur Decke hob.
Zedd wirbelte zu Adie herum, packte sie am Arm, riß sie zu sich hin. Sie löste sich von der Arbeitsplatte und hielt eine kleine Blechdose in der anderen Hand.
»Adie, was ist hier los?«
Sie deutete mit dem Kopf auf den Schädel, der bereits die Decke streifte. »Was siehst du?«
»Was ich sehe! Verdammt, Frau! Ich sehe, wie ein Haufen Knochen zum Leben erwacht!«
Der Skrin zog den Kopf zwischen die Schultern, während die Bestie immer weitere Knochen anzog und weiter in die Höhe wuchs.
Adie glotzte ihn mit offenem Mund an. »Ich sehe keine Knochen. Ich sehe Fleisch.«
»Fleisch! Verdammt! Ich dachte, du hättest das Ungeheuer umgebracht.«
»Ich habe gesagt, ich hätte mit ihm gekämpft. Ich weiß nicht, ob man einen Skrin überhaupt töten kann. Ich glaube, sie leben nicht einmal. In einem Punkt hattest du recht, Zauberer: weil du einen Screeling besiegen konntest, hat der Hüter Schlimmeres geschickt.«
»Woher wußte er, wo wir sind? Woher weiß der Skrin, wo wir uns befinden? All diese Knochen sollten uns eigentlich unsichtbar machen!«
»Ich weiß es nicht. Ich verstehe nicht, wieso…«
Ein Knochenarm kam auf sie zu. Zedd sprang zurück und riß Adie mit. Noch immer setzten sich weitere Knochen zusammen. Adie war in verzweifelter Hektik damit beschäftigt, die Dose aufzuschrauben, während Zedd sie hinter den Tisch zerrte. Der Deckel löste sich, fiel zu Boden, wo er sich wie eine Münze um sich selbst drehte. Der Skrin holte aus, schlug mit einem Arm zu. Der Tisch zersplitterte unter lautem Krachen.
Der mit Schnitzereien verzierte Ball hüpfte über den Boden. Zedd versuchte, ihn mit Magie zu schnappen, doch ebensogut hätte man versuchen können, einen Kürbiskern mit fettigen Fingern zu packen. Er versuchte ihn mit einer Hülle aus komprimierter Luft aufzuheben, doch er glitt fort und rollte in die Ecke.
Das Skelett des Skrin sprang auf sie zu. Zedd riß Adie nach unten, und die beiden sanken zu einem Haufen zusammen. Zedd zerrte sie auf die Beine, während sie ihre Hand in die kleine Dose steckte. Der Skrin hatte Mühe, sich schnell zu bewegen, er war so sehr in die Höhe geschossen, daß er nicht mehr unter das Dach paßte.
Die Bestie riß das Maul auf, als wollte sie brüllen. Man hörte kein Geräusch, doch Zedd konnte den Luftzug spüren, der ihre Kleider wie in einer Windbö flattern ließ.
Adie zog die Hand aus der Dose und schleuderte funkelnden weißen Sand auf die Bestie.
Zauberersand. Diese verrückte Frau besaß Zauberersand.
Der Skrin torkelte einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Er hatte sich im Nu erholt und taumelte wieder nach vorn. Zedd setzte einen Feuerball frei. Er flog durch die Knochen hindurch und klatschte als flüssiges Feuer an die gegenüberliegende Wand. Die Flammen züngelten, erloschen zischend und hinterließen einen Rußfleck. Zedd versuchte es mit Luft, da Feuer nichts nützte. Es war zwecklos.
Die beiden wichen quer durch den Raum zurück, als die Bestie herumwirbelte, um erneut anzugreifen. Zedd probierte die unterschiedlichsten magischen Elemente, während er Adie hinter sich herzerrte. Sie ignorierte die Gefahr und schüttete den restlichen Zauberersand in ihre Hand. Als der Skrin einen weiteren stummen Schrei ausstieß, schleuderte sie den Sand mit einer seltsamen Beschwörung fort. Der kräftige Hauch des Schreis erstarb, als sie die Worte aussprach. Der Skrin schien den funkelnden weißen Sand einzuatmen, aufzusaugen. Die Kiefer schlossen sich mit einem klackenden Geräusch, als der Kopf zurückgezogen wurde.
»Das war alles, was ich habe«, meinte sie. »Hoffentlich war es genug.«
Der Skrin schüttelte den Kopf und spie den Staub in einer funkelnden Wolke aus. Er griff erneut an, doch als Zedd an ihrem Ärmel zerrte, riß sie sich los. Zedd schleuderte der Knochenbestie Holzscheite und Stühle entgegen, versuchte sie abzulenken, während Adie ihr in den Rücken fiel. Alles prallte einfach von dem Ungeheuer ab.
Zedd stopfte die Hand in seine Tasche und holte eine Handvoll seines eigenen funkelnden Sands hervor. Mit einer kurzen Handbewegung schleuderte er ihn mitten in die Ansammlung von Knochen, die vor ihm stand. Er zeigte genausowenig Wirkung wie Adies Zauberersand. Was er auch tat, nichts schien das Untier abzulenken, und kurz darauf richtete es ihr Augenmerk auf Adie. Die riß gerade einen uralten Knochen von der Wand. An einem Ende baumelten Federn, am anderen Schnüre mit roten und gelben Perlen.
Zedd packte einen Knochenarm, doch die Bestie schleuderte ihn einfach zur Seite.
Als der Skrin zu ihr herumwirbelte, drohte sie der Bestie mit dem Knochen, sprach Zaubersprüche in ihrer eigenen Sprache. Der Skrin schnappte nach ihr. Sie konnte ihre Hand gerade noch rechtzeitig zurückziehen, um sie zu retten, doch nicht den Knochentalisman. Er splitterte entzwei.
Das war’s. Zedd wußte nicht, wie er die Bestie bekämpfen sollte, und Adie hatte ebenfalls keinen Erfolg. Er tauchte unter dem Kopf des Ungeheuers hindurch zu Adie, rollte ab und kam auf die Beine.
»Komm schon! Wir müssen hier raus!«
»Ich kann nicht von hier fort. Hier gibt es Dinge von größtem Wert.«
»Schnapp dir, was du kriegen kannst, wir verschwinden von hier.«
»Hol den runden Knochen, den ich dir gezeigt habe.«
Zedd täuschte seitlich an, versuchte, sich in die Ecke zu stürzen, doch der Skrin schnappte zu und schlug mit krallenbewehrten Klauen nach ihm. Er wehrte sich mit Schüben jeder Art von Magie, die er kannte. Bevor er es richtig mitbekam, verlor er an Boden und wurde in die Ecke gedrängt.
»Adie, wir müssen hier raus, und zwar sofort!«
»Wir dürfen den Knochen nicht zurücklassen! Er ist wichtig für den Schleier!«
Sie stürzte sich in die Ecke. Zedd griff nach ihr, verfehlte sie jedoch. Der Skrin erwischte sie mit einer Kralle und riß ihr eine lange, klaffende Wunde in den Arm. Mit einem Aufschrei wurde sie gegen die Wand geschleudert, prallte zurück und landete mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Neben ihr gingen weitere Knochen krachend nieder.
Zedd bekam den Saum ihres Gewandes zu fassen und riß sie zurück, als Krallen über die Wand kratzten und dabei seinen Kopf nur knapp verfehlten. Adie krallte sich in den Boden, versuchte von ihm fortzukriechen, zu der Knochenkugel in der Ecke.
Der Skrin bäumte sich mit einem stummen Schrei auf. Das Dach zerbarst, als die Bestie sich zu voller Größe aufrichtete. Ein Regen riesiger Holzstücke und -splitter ging nieder. Das Untier schlug wild mit den Krallen um sich, riß die Holzverkleidung von der Wand. Zedd zerrte die sich wehrende Adie zur Tür.
»Es gibt hier Dinge, die ich unbedingt mitnehmen muß! Wichtige Dinge! Ich habe ein ganzes Leben gebraucht, um sie zu sammeln!«
»Dafür ist keine Zeit, Adie. Wir können sie jetzt unmöglich mitnehmen!«
Sie riß sich los und stürzte zu den Knochentalismanen an der Wand. Der Skrin griff sie an. Zedd riß sie mit Hilfe von Magie zurück. Er packte sie mit beiden Armen und stürzte im selben Augenblick rücklings durch die Tür, als eine Kralle sie in Splitter schlug.
Sie wälzten sich nach draußen und sprangen auf die Beine. Zedd fing stolpernd an zu rennen, zerrte die sich wehrende Adie hinter sich her. Sie versuchte, Magie gegen ihn einzusetzen, doch er schirmte sich dagegen ab. Die Nachtluft war eiskalt. Der kalte Wind wehte ihren warmen Atem wie eine weiße Fahne davon, während die beiden rannten und sich bekriegten.
Adie jammerte wie eine Mutter, die mitansehen muß, wie ihr Kind zerfleischt wird. Sie reckte die Arme, einen davon blutverschmiert, zum Haus. »Bitte! Meine Sachen! Ich darf sie nicht zurücklassen! Du verstehst nicht! Sie sind wichtige Magie!«
Der Skrin riß an den Wänden, um sich zu befreien, um an die beiden ranzukommen.
»Adie!« Er zog sie dicht an sein Gesicht. »Tot nützen sie dir nichts. Wir werden sie holen, sobald wir die Bestie los sind.«
Ihre Brust hob und senkte sich. Tränen traten ihr in die Augen.
»Bitte, Zedd. Bitte, meine Knochen. Du verstehst nicht. Sie sind wichtig. Sie besitzen magische Kräfte. Sie könnten uns helfen, den Schleier zu verschließen. Wenn sie in die falschen Hände fallen…« Zedd pfiff nach seinem Pferd. Er hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und zerrte sie hinter sich her. Sie protestierte mit jedem Schritt.
»Zedd, bitte! Tu das nicht! Laß sie nicht zurück!«
»Adie, wenn wir tot sind, können wir niemandem mehr helfen!« Das Pferd galoppierte heran, kam rutschend zum Stehen. Als es sah, wie die Bestie ihren Körper durch die Wände des Hauses zwängte, dabei Balken und Bohlen knickte und zersplitterte, verdrehte es in einem Anflug von Panik die Augen. Es stieß einen entsetzten Schrei aus, wich aber nicht zurück, als Zedd es bei der Mähne packte, sich auf seinen Rücken warf und Adie hinter sich nach oben zog.
»Los! Flieg wie der Wind, Mädchen!«
Moos- und Erdbrocken wurden von den Hufen hoch in die Luft geschleudert, als das Pferd davonsprang, während Reißzähne nach seinen Flanken schnappten. Zedd beugte sich nach vorn, Adie umklammerte seine Hüfte, als sie in die Dunkelheit galoppierten. Der Skrin war keine zehn Schritte hinter ihnen und schien ebenso schnell zu sein wie das Pferd. Wenigstens war er nicht schneller. Zedd hörte das schnappende Geräusch der Reißzähne. Das Pferd schrie jedesmal auf, streckte sich und gab alles, was es hatte. Zedd fragte sich, wer das wohl länger durchhielt, das Pferd oder der Skrin. Er fürchtete, die Antwort zu wissen.