15

Richard schloß sich ihr widerspruchslos an. Sie verließen das Dorf ohne ein Wort und gingen nach Norden, hinaus in die flache, offene Steppe. Während sie gingen, wurden die Geräusche der Menschen, der Boldas und der Trommeln immer schwächer und verklangen in der Nacht. Der Mond war längst nicht voll, trotzdem war es hell genug. Hoffentlich war es dunkel genug, daß sie kein gutes Ziel abgaben.

Endlich sah Richard zu ihr herüber. »Entschuldige, Kahlan.«

»Wofür?«

»Dafür, daß ich vergessen habe, wer du bist. Du bist die Mutter Konfessor, und dies hier ist deine Aufgabe. Ich hatte mir Sorgen um dich gemacht.«

Seine Entschuldigung überraschte sie. »Tut mir leid, daß ich dich angeschrien habe. Ich hätte es nicht tun sollen. Ich will einfach nicht, daß es zu irgendwelchen Kämpfen kommt. Es ist meine Aufgabe, in den Midlands jeden Krieg zu verhindern. Es macht mich wütend, wenn sie sich unbedingt gegenseitig umbringen wollen. Richard, ich bin es so leid, mitansehen zu müssen, wie Menschen getötet werden. Ich dachte, das wäre endlich vorbei. Jetzt ertrage ich es nicht mehr. Ich schwöre dir, ich ertrage es nicht mehr.«

Er legte den Arm um sie. »Ich weiß. Mir geht es genauso.« Er drückte sie im Gehen an sich. »Die Mutter Konfessor wird dem ein Ende machen.« Er sah zu ihr hinüber. Scheinbar machte er ein besorgtes Gesicht, es war jedoch zu dunkel, um es genau zu erkennen. »Mit meiner Hilfe.«

Sie schmunzelte. »Mit deiner Hilfe.« Sie legte kurz den Kopf an seine Schulter. »Von jetzt an immer mit deiner Hilfe.«

Sie entfernten sich ein gutes Stück vom Dorf, ohne etwas anderes zu sehen als den schwarzen Boden und den sternenklaren Himmel. Gelegentlich blieb Richard stehen, um die umliegende Steppe abzusuchen und um ein paar von Nissels Blättern herauszunehmen und in den Mund zu stekken. Kurz nach Mitternacht erreichten sie eine flache Senke. Er sah sich erneut um und beschloß, hier zu warten. Besser, die Bantak stießen auf sie, als wenn sie in eine Überraschung hineinspazierten.

Richard trat ein Stück Gras nieder, und sie setzten sich hin und warteten. Abwechselnd machte einer ein kleines Nickerchen, während der andere nach Norden Ausschau hielt. Sie hatte ihre Hand auf seine gelegt, sah zu, wie er schlief, suchte den Horizont ab und dachte dabei an all die Male zurück, als sie genau dies getan hatten: einer stand Wache, der andere schlief. Sie sehnte sich nach dem Tag, an dem sie einfach schlafen konnten, ohne Wache halten zu müssen. Gemeinsam schlafen konnten. Bald würde es soweit sein, hoffte sie, sehr bald. Richard würde einen Weg finden, wie er den Schleier schließen konnte, und dann wäre es vorbei. Sie würden in Frieden leben können.

Kahlan hatte sich dicht an ihn geschmiegt und den Umhang der Kälte wegen fest um sich gerafft. Seine Körperwärme machte sie noch schläfriger. Sie begann sich zu fragen, ob er recht damit hatte, daß die Bantak tatsächlich von Norden kommen würden. Wenn sie von Osten kämen, gäbe es ein großes Blutvergießen. Chandalen würde kein Erbarmen zeigen. Sie wollte nicht, daß den Schlammenschen etwas zustieß, aber ebensowenig wünschte sie das gleiche den Bantak. Auch sie waren eines ihrer Völker. Sie entschlummerte in einen unruhigen Schlaf. Ihre letzten Gedanken galten Richard.

Er weckte sie auf, indem er den Arm um ihren Körper und die Hand auf ihren Mund drückte. Im Osten, rechts von ihnen, wurde es gerade hell. Dünne Schleier dunkelvioletter Wolken bauschten sich am Horizont zusammen, als wollten sie den Sonnenaufgang verdunkeln. Richard blickte Richtung Norden. Kahlan lag tiefer als er und konnte nichts erkennen, doch aus der Anspannung seiner Muskeln schloß sie, daß sich jemand näherte.

Sie drückten sich reglos an den Boden und warteten. Eine leichte Brise brachte das trockene Gras ringsum zum Rascheln. Kahlan streifte langsam und leise den Mantel von den Schultern. Sie wollte niemanden im unklaren darüber lassen, wer sie war. Die Bantak würden ihr langes Haar erkennen, aber sie wollte, daß sie auch ihr Konfessorkleid sahen. Alle sollten wissen, wer sie war und daß sie als Mutter Konfessor gekommen war. Richard ließ seinen Umhang ebenfalls von den Schultern gleiten. Schatten huschten durch das umliegende Gras.

Als sie auf allen Seiten von Männern umzingelt schienen, richteten sich die beiden auf. Die Männer mit Speeren und Bogen, die am nächsten standen, wichen zurück und stießen überraschte Schreie aus. Die Bantak hatten sich aufgeteilt und rückten in einer langen, lockeren Linie auf das Dorf der Schlammenschen vor.

Aufgeregtes Rufen war zu hören. Männer brachen aus der Linie aus und kamen herbeigerannt. Ein paar von ihnen kreisten sie ein, die meisten blieben dichtgedrängt vor ihnen stehen. Kahlan hatte ihr Konfessorengesicht aufgesetzt, einen ruhigen Gesichtsausdruck, der nichts verriet, ganz so, wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. Richard stand dicht neben ihr, die Hand am Heft seines Schwertes. Die meisten der Männer, die in schlichte, mit Gras getarnte Häute gehüllt waren, richteten ihre Waffen auf die beiden. Sie waren sichtlich nervös.

»Ihr wagt es, die Mutter Konfessor zu bedrohen?« rief sie. »Senkt eure Waffen. Sofort

Blicke schweiften umher, man wollte feststellen, ob die beiden allein waren. Die Männer schienen zunehmend im Zweifel, ob sie ihre Speere und Pfeile auf die Mutter Konfessor richten sollten. Sie taten etwas Unerhörtes, und das war ihnen sehr wohl bewußt. Sie erweckten den Eindruck, als könnten sie sich weder dazu entscheiden, das einmal Begonnene fortzusetzen, noch dazu, ihre Waffen zu senken und auf die Knie zu fallen. Ein paar von ihnen gingen in die Hocke und machten eine halbherzige Verbeugung.

Kahlan machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. »Sofort!«

Die Männer erschraken und wichen geduckt ein Stück zurück. Die Spitzen sämtlicher Waffen richteten sich plötzlich nicht mehr auf sie — sondern auf Richard. Offenbar hielten sie das für einen annehmbaren Kompromiß. Für Kahlan kam es überraschend.

Sie stellte sich vor Richard. Sämtliche Waffen zeigten wieder auf sie.

»Was glaubst du eigentlich, was du hier tust?« flüsterte er ihr von hinten zu.

»Ganz ruhig. Laß mich nur machen. Wir haben keine Chance, wenn wir sie nicht dazu bringen, die Waffen zu senken und mit uns zu sprechen.«

»Warum tun sie das? Ich dachte, vor der Mutter Konfessor hätten alle Angst?«

»Sie haben Angst, aber sie sind es gewöhnt, mich in Begleitung eines Zauberers zu sehen. Vielleicht sind sie deswegen so mutig, weil sie jetzt keinen sehen. Trotzdem ist ihr Verhalten ungewöhnlich.« Sie trat einen weiteren Schritt nach vorn. »Wer spricht für die Bantak? Wer von euch hat den Bantak erlaubt, die Mutter Konfessor zu bedrohen?«

Da sie im Weg stand und es ihnen nicht mehr möglich war, ihre Waffen auf Richard zu richten, verloren sie ein wenig die Selbstsicherheit und senkten die Spitzen ein kleines Stück. Nicht ganz, aber doch ein wenig.

Schließlich trat ein alter Mann vor, drängte sich durch die Männer und blieb vor ihr stehen. Er trug einfache Fellkleidung wie die anderen, doch um seinen Hals hing ein Medaillon aus Gold, in das Bantaksymbole eingearbeitet waren. Sie kannte ihn. Er war Ma Ban Grid, der Seelenführer der Bantak. Durch den finsteren Ausdruck seines Gesichts wirkte seine faltige Haut noch runzliger, als Kahlan sie in Erinnerung hatte. Und dieser finstere Gesichtsausdruck war ihr ebenfalls neu bei ihm. Sie hatte nur sein gütiges Lächeln in Erinnerung.

»Ich spreche für die Bantak«, sagte Ma Ban Grid. Die beiden oberen Schneidezähne fehlten ihm. Sein Unterkiefer geriet bei den schwer aussprechbaren Bantakworten leicht ins Wackeln. Er warf einen Blick auf Richard. »Wer ist das?«

Kahlan erwiderte Ma Ban Grids finsteren Blick. »Jetzt stellt Ma Ban Grid der Mutter Konfessor bereits Fragen, obwohl sie vor ihm steht und er sie nicht einmal begrüßt hat?«

Die Bantakmänner scharrten unsicher mit den Füßen. Ma Ban Grid nicht. Sein Blick war fest und unerschütterlich. »Dies ist nicht die rechte Zeit. Dies ist nicht unser Land. Wir sind nicht hergekommen, um Besucher der Bantak zu begrüßen. Wir sind gekommen, um die Schlammenschen zu töten

»Warum?«

Ma Ban Grid sah sie von oben herab an. »Sie haben den Krieg provoziert, genau wie es unsere Seelenbrüder in ihrer Warnung ausgesprochen haben. Sie haben es bewiesen, indem sie einen der Meinen getötet haben. Wir müssen sie töten, bevor sie uns alle umbringen

»Es wird keinen Krieg geben! Niemand wird getötet werden! Ich bin die Mutter Konfessor und werde das nicht zulassen! Die Bantak werden es durch meine Hand zu spüren bekommen, wenn sie es dennoch versuchen!«

In der Gruppe der Männer brach besorgtes Getuschel aus, und sie traten einen Schritt zurück. Der Seelenführer blieb standhaft.

»Die Seelenbrüder haben mir auch erzählt, daß die Mutter nicht mehr die Herrschaft über die Völker der Midlands besitzt. Zum Beweis, so sagen sie, hat man ihr den Zauberer genommen.« Er blickte sie selbstgefällig an. »Ich sehe keinen Zauberer. Wie immer sagen die Seelen Ma Ban Grid die Wahrheit

Kahlan starrte den Alten sprachlos an.

Richard beugte sich zu ihr. »Was sagen sie?« Kahlan erklärte ihm, was Ma Ban Grid gesagt hatte. Er trat neben sie. »Ich will zu ihnen sprechen. Übersetzt du für mich?«

Kahlan nickte. »Sie wollen wissen, wer du bist. Ich habe es ihnen noch nicht gesagt.«

Richards Blick wurde bedrohlich kalt. »Ich werde ihnen zeigen, wer ich bin.« Seine Stimme nahm die gleiche Kälte an wie seine Augen. »Und es wird ihnen nicht gefallen.«

Er richtete seinen wütenden Habichtblick auf die Männer, Ma Ban Grid bewußt übergehend. Sie sah den Zorn der Zauberkraft des Schwertes in seinen Augen. Er rief die Magie des Schwertes herbei, obwohl es in der Scheide steckte. »Ihr Männer folgt einem alten Narren, einem alten Narren mit dem Namen Ma Ban Grid, dessen Klugheit nicht einmal ausreicht, die richtigen von den falschen Seelen zu unterscheiden.« Den Männern stockte der Atem angesichts dieser Beleidigung. Richard richtete seinen stechenden Blick auf Ma Ban Grid. »Stimmt das etwa nicht, alter Narr?«

Ma Ban Grid stammelte einen Augenblick lang vor Wut, bevor er irgendwelche Worte hervorbrachte. »Wer bist du, daß du es wagst, mich derart zu beleidigen?«

Richard funkelte ihn wütend an. »Deine falschen Seelen haben dir gesagt, die Schlammenschen hätten einen der Deinen getötet. Die falschen Seelen haben dich angelogen, und du, in deiner Torheit, hast ihnen geglaubt.«

»Lüge! Wir haben seinen Kopf gefunden! Die Schlammenschen haben ihn umgebracht! Sie wollen Krieg mit uns! Wir werden sie alle töten. Jeden einzelnen von ihnen. Sie haben einen der Meinen umgebracht!«

»Ich bin es leid, mit jemandem zu sprechen, der so töricht ist wie du, alter Mann. Die Bantak sind ein geistloses Volk, wenn sie jemandem wie dir erlauben, mit den Seelenbrüdern zu sprechen.«

»Richard, was tust du?« flüsterte Kahlan.

»Übersetze.«

Sie tat es. Mit jedem Wort wurde Ma Ban Grids Gesicht röter. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick in Flammen aufgehen.

Richard beugte sich näher zu ihm vor. »Die Schlammenschen haben den Deinen nicht getötet. Das war ich.«

»Richard! Das kann ich ihm nicht sagen. Sie werden uns töten!«

Er behielt Ma Ban Grid im Blick, während er behutsam auf sie einredete. »Irgendwas macht diesen Leuten angst, daß sie das hier tun. Sie werden uns töten, und dann werden sie losziehen und eine Menge Schlammenschen umbringen, wenn ich ihnen nicht noch größere Angst vor uns machen kann. Übersetze.«

Daraufhin seufzte sie hörbar und übersetzte den Bantak, was Richard gesagt hatte. Die Waffen richteten sich wieder auf sie.

»Du! Du hast einen der Meinen getötet!«

Richard zuckte mit den Achseln. »Ja.« Er zeigte auf seine Stirn. »Genau hier habe ich ihn mit einem Pfeil getroffen. Mit einem einzigen Pfeil. Genau hier. Mitten durch seinen Kopf, gerade als er seinen Speer in den Rücken eines Mannes stoßen wollte. Eines Mannes, der keinen Haß für die Bantak im Herzen trug. Ich habe ihn getötet, wie ich einen Kojoten töten würde, der sich anschleicht, um eines meiner Lämmer zu rauben. Wer jemandem so feige nach dem Leben trachtet, verdient es nicht, ein Volk zu führen.«

»Wir werden dich töten!«

»Tatsächlich? Ihr werdet es vielleicht versuchen, aber ihr könnt mich nicht töten.« Richard wandte dem Alten den Rücken zu und entfernte sich ungefähr zwanzig Schritte weit von ihm. Die Männer öffneten die Reihen, um ihn durchzulassen. Er drehte sich wieder um. »Ich habe einen Pfeil genommen und einen der Deinen getötet. Nimm einen Pfeil und versuche, mich zu töten, dann werden wir sehen, wen die Seelen beschützen. Suche dir von deinen Männern aus, wen du willst. Er soll mit mir machen, was ich mit dem Deinen gemacht habe. Erschieße mich mit einem Pfeil.« Wütend zeigte er erneut auf seine Stirn. »Genau hier, wo ich den Feigling getroffen habe, der einen Menschen töten wollte, weil ihm falsche Seelen etwas eingeredet haben!«

»Richard! Hast du den Verstand verloren? Ich werde ihnen nicht sagen, daß sie auf dich schießen sollen!«

»Kahlan, ich kann das. Ich spüre es.«

»Gut, du hast es einmal geschafft. Was, wenn es diesmal nicht gelingt? Ich werde hier nicht einfach stehen und mitansehen, wie man dich tötet.«

»Kahlan, wenn wir diese Leute nicht aufhalten, hier und jetzt, werden wir beide getötet, und der Hüter wird entkommen. Heute abend findet die Versammlung statt. Nur das zählt. Ich mache mir das Erste Gesetz der Magie zunutze: der erste Schritt, etwas zu glauben, besteht darin, glauben zu wollen, daß es wahr ist, oder Angst davor zu haben. Bis jetzt haben sie etwas geglaubt, weil sie es glauben wollten. Ich muß ihnen die Angst einimpfen, daß das, was ich jetzt sage, wahr sein könnte.«

»Was wirst du ihnen sagen?«

»Beeil dich. Übersetze, bevor ich ihre Aufmerksamkeit verliere und sie auf die Idee kommen, uns zu töten und über die Schlammenschen herzufallen.«

Sie wandte sich Ma Ban Grid zu und übersetzte widerstrebend. Sämtliche Männer schrien auf, jeder wollte derjenige sein, der den Pfeil abschoß. Ma Ban Grid ließ den Blick über sie schweifen, während sie tobten und mit den Armen fuchtelten.

Er lächelte. »Ihr dürft alle diesen Verbrecher erschießen, der einen der Meinen getötet hat. Ihr alle! Erschießt ihn!«

Die Bogen wurden angehoben. Richard machte ein wütendes Gesicht. »Feigling! Seht ihr Männer jetzt, wie töricht dieser Alte ist? Er weiß, daß er auf falsche Seelen hört! Er will, daß auch ihr auf sie hört! Er weiß, daß die guten Seelen mich bei meiner Herausforderung unterstützen. Er hat Angst, ihr könntet sehen, was für ein Narr er ist. Das ist der Beweis!«

Ma Ban Grids Kiefermuskeln spannten sich. Er hob den Arm, damit seine Männer innehielten. Schließlich wandte er sich einem der Männer zu und riß ihm den Bogen aus der Hand. »Ich werde es euch beweisen, daß die Seelen, die ich höre, die richtigen sind! Du wirst dafür sterben, daß du einen der Meinen getötet hast! Dafür, daß du behauptest, unsere Seelenbrüder seien falsche Seelen!«

Er spannte einen Giftpfeil in den Bogen und hatte ihn im Nu auf Richard abgeschossen. Unter seinen Männern brach Jubel aus. Kahlan stockte der Atem. Ihr wurde kalt vor Angst.

Richard schnappte den Pfeil genau vor seinem Gesicht aus der Luft.

Jetzt hielten die Männer die Luft an und verstummten, als Richard, den Pfeil in der Hand und Feuer in den Augen, zurück zum Seelenführer ging. Er blieb vor Ma Ban Grid stehen und zerbrach den Pfeil vor seinen Augen — unter dem ängstlichen Gemurmel seiner Männer.

Seine Stimme klang tödlich. »Die guten Seelen beschützen mich, alter Narr. Du hast auf die falschen Seelen gehört.«

»Wer bist du?« flüsterte Ma Ban Grid mit aufgerissenen Augen.

Richard zog langsam das Schwert der Wahrheit aus der Scheide. Das leise Klirren von Stahl erfüllte die Stille der Morgendämmerung. Er legte Ma Ban Grid die Klingenspitze an die Kehle.

»Ich bin Richard, der Sucher. Gemahl der Mutter Konfessor.« Besorgtes Flüstern wehte durch die kalte Morgenluft. »Und ich bin ein Zauberer. Ihr Zauberer.«

So weit ihr Blick reichte, riß alles die Augen auf. Den Männern fiel die Kinnlade herunter. Ma Ban Grid sank in sich zusammen. Sein Blick fiel auf das Schwert.

»Ein Zauberer? Du?«

»Ein Zauberer!« Richard ließ seinen wütend funkelnden Blick über die versammelten Männer schweifen. »Ein Zauberer. Ich beherrsche die Magie. Ich besitze die Gabe. Sieht ganz so aus, alter Narr, als hätten dich die falschen Seelen angelogen. Sie haben behauptet, die Mutter Konfessor hätte keinen Zauberer. Sie haben einen der Deinen ausgesandt, um einen Krieg anzuzetteln, den die Schlammenschen nicht wollen. Sie haben dich für ihre Zwecke eingespannt. Ein weiser Seelenführer hätte dies vielleicht gemerkt, ein alter Narr wohl nicht.« Unter seinen Männern wurde Murren laut. »Wenn du darauf beharrst und dich der Mutter Konfessor widersetzt, werde ich dich mit meiner Magie vernichten. Ich werde meine fürchterliche Magie dazu benutzen, das Land der Bantak in Asche zu verwandeln und für alle Zeiten mit einem Fluch zu belegen. Jeder Bantak wird eines fürchterlichen Todes sterben — eines Todes durch Magie. Ich werde die Bantak bis zum letzten Mann töten. Jung und alt.« Seine kalten Augen suchten wieder Ma Ban Grid. »Beginnen werde ich mit den Alten.«

»Magie?« brachte Ma Ban Grid leise hervor. »Du willst uns mit Magie töten?«

Richard beugte sich weiter vor. »Wenn du dich der Mutter Konfessor widersetzt, werde ich euch alle mit einer Magie töten, die fürchterlicher ist als alles, was ihr euch nur vorstellen könnt.« Während die Männer wie gebannt der Übersetzung lauschten, zählte Richard eine Litanei des Grauens auf, das er über sie bringen wollte. Das meiste davon hatte Zedd, wie sie sich erinnerte, einem Mob angedroht, der gekommen war, um ihn zu töten, weil er ein Hexer sei. Jetzt benutzte Richard die gleichen Drohungen, um den Bantak angst zu machen. Je länger er redete, desto weiter rissen sie die Augen auf.

Ma Ban Grids Blick wanderte vom Schwert zurück zu Richards Gesicht. Er war sich seiner Sache nicht mehr ganz so sicher, war aber noch nicht bereit nachzugeben. »Die Seelen haben mir gesagt, die Mutter Konfessor sei nicht in Begleitung eines Zauberers. Warum sollte ich glauben, daß du ein Zauberer bist?«

Der gesamte Zorn verschwand aus Richards Gesicht. Sie hatte noch nie gesehen, wie er das Schwert gehalten hatte, ohne die Wut der Zauberkraft des Schwertes in den Augen zu haben. In seinen Augen war tatsächlich etwas zu erkennen, aber es war weder Haß noch Zorn, er wirkte friedlich. Irgendwie war das beängstigender als sein Zorn. Es war der Frieden eines Mannes, der sich einer Sache ganz verschrieben hatte.

Die Klinge von Richards Schwert veränderte sich im schwachen Licht der Morgendämmerung. Sie begann, weiß aufzuglühen. Mit weißglühender Magie. Sie wurde immer heller, bis niemand mehr das leuchtend weiße Strahlen übersehen konnte.

Richard benutzte die einzige Magie, die er kannte, auf die er sich verlassen konnte. Die Magie des Schwertes.

Und das genügte. Eine Woge von Angst ging durch die Menge. Männer fielen auf die Knie, ließen ihre Waffen fallen, baten stammelnd um Vergebung, flehten die Seelen an, sie zu beschützen. Andere standen wie erstarrt da und wußten nicht, was sie tun sollten.

»Vergib mir, alter Mann«, sagte Richard leise, »aber ich muß dich töten, um eine sehr viel größere Zahl Menschenleben zu retten. Du sollst wissen, daß ich dir vergebe und bedauere, was ich tun muß.«

Beim Übersetzen legte Kahlan eine Hand auf Richards Arm, um zu verhindern, daß er irgend etwas unternahm. »Richard, warte. Bitte, gib mir eine Chance.«

Er nickte unmerklich. »Eine Chance. Wenn du scheiterst, töte ich ihn.«

Sie wußte, daß er den Bantak angst machen wollte, um den Bann zu brechen, unter dem sie zu stehen schienen. Aber ihr machte er ebenfalls angst. Er war über den Zorn des Schwertes hinaus, hatte einen noch gefährlicheren Zustand erreicht. Ihr Blick fiel erneut auf den Seelenführer.

»Ma Ban Grid, Richard wird dich töten. Er hat nicht gelogen. Ich habe ihn gebeten, zu warten, damit ich dir vergeben kann, vorausgesetzt, du erkennst die Wahrheit dessen, was wir sagen. Doch nur einmal. Danach werde ich keinerlei Einfluß mehr auf ihn haben. Wenn du dich nicht läuterst, wird sehr viel Tod und Leid eintreten. Richard ist ein Mann, der sein Wort hält. Er hat dir etwas versprochen, und wenn du versuchst, ihn mit deiner Antwort zu täuschen, wird er sein Versprechen einlösen.

Ich gebe dir diese eine Möglichkeit, die Wahrheit zu erkennen. Noch ist es nicht zu spät. Die Mutter Konfessor will nicht, daß eines ihrer Kinder stirbt. Jedes Leben in den Midlands ist in meinem Herzen von großem Wert. Manchmal jedoch muß ich zulassen, daß ein paar ihr Leben verlieren, damit sehr viel mehr weiterleben können. Ich erwarte deine Antwort

Die Männer standen mit gesenktem Kopf da und rührten sich nicht. Es schien, als hätten sie sich in eine Sache verrannt, die sie nicht länger wollten. Die Bantak waren ein friedliches Volk, und sie schienen ihren Raubzug zu bereuen, ihre finstere Absicht schien sie sogar zu verwirren. Es war Richard gelungen, ihnen einen größeren Schrecken einzujagen als das, was sie hierhergeführt hatte.

Die Brise ließ das trockene Gras erzittern und wehte ihr ganz nebenbei eine verirrte Strähne ins Gesicht. Kahlan schob sie zurück und wartete. Mit einem Blick, aus dem alle Leidenschaft gewichen schien, suchte Ma Ban Grid ihr Gesicht ab. Der Bann war gebrochen.

Leise und ernst begann er: »Ich habe die Seelen sprechen hören. Ich dachte, sie sprächen die Wahrheit. Es ist, wie er sagt. Ich bin ein alter Narr.« Er drehte sich zu seinen schweigenden Männern um. »Noch nie zuvor haben die Bantak anderen den Tod bringen wollen. Sie werden jetzt nicht damit anfangen

Er neigte den Kopf, zog sich das Medaillon über sein schütteres Haar und hielt es ihr hin. »Bitte, Mutter Konfessor, gib dies den Schlammenschen. Sag ihnen, es wurde in Frieden übergeben. Wir werden keinen Krieg mit ihnen anfangen.« Er blickte zu Richard. Der steckte das Schwert in die Scheide zurück. Ma Ban Grid sah wieder Kahlan an. »Danke, daß du uns aufgehalten und daran gehindert hast, auf falsche Seelen zu hören und etwas Schreckliches zu tun

Kahlan verneigte sich vor dem alten Mann. »Ich bin froh, weil ich rechtzeitig meiner Pflicht nachkommen und alle vor Schaden bewahren konnte

Richard wechselte einen Blick mit ihr. »Frag ihn, wie ihn die Seelen überzeugt haben, etwas gegen das Wesen seines Volkes zu tun.«

»Ma Ban Grid, wie haben die Seelen dir die Lust auf Krieg ins Herz gelegt? Die Lust zu töten?«

Er sah verlegen zur Seite. »Sie haben es mir nachts eingeflüstert. Mich die Gier spüren lassen. Ich hatte schon früher das Bedürfnis nach Gewalt verspürt, aber nie danach gehandelt. Diesmal war es, als könnte ich mich nicht beherrschen. Noch nie habe ich das Bedürfnis so stark gespürt

»Der Schleier zur Unterwelt, zur Welt der Seelen, hat einen Riß.« Unter den Männern breitete sich Getuschel aus, als sie ihnen Richards Worte übersetzte. »Kann sein, daß falsche Seelen noch einmal versuchen, zu dir zu sprechen. Sei vor ihnen auf der Hut. Ich sehe wohl ein, wie man dich getäuscht hat, und hege deswegen keinen Groll gegen dich. Aber ich erwarte, daß du jetzt, da du die Wahrheit kennst und man dich gewarnt hat, vorsichtiger bist.«

»Danke, Zauberer.« Ma Ban Grid nickte. »Das werde ich tun

»Haben dir die Seelenstimmen sonst noch etwas gesagt?«

Der Alte legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Ich kann mich nicht genau erinnern, was ihre Stimmen zu mir gesagt haben. Es war eher ein Gefühl, das mich mit dieser Gier erfüllte. Mein Sohn« — er hob den Kopf –, »der, der gestorben ist … er war bei mir und hat sie auch gehört. Ich hatte den Eindruck, daß die Seelen ihm etwas anderes sagten. Seine Augen waren wild vor Haß. Sogar noch mehr als meine. Gleich nach dem Besuch der Seelen brach er auf.« Der Seelenführer senkte den Blick zu Boden.

Richard betrachtete ihn eine ganze Weile. Mit sanfter Stimme sagte er schließlich: »Es tut mir leid, Ma Ban Grid, daß ich deinen Sohn töten mußte. Es tut mir im Herzen weh, daß ich es getan habe. Du sollst wissen: hätte es einen anderen Weg gegeben, ich hätte ihn gewählt.«

Der Alte nickte, brachte aber kein Wort heraus. Er drehte sich zu seinen Männern um. Plötzlich schien er sich zu schämen. »Ich weiß nicht, was wir hier tun«, sagte er leise. »Das ist nicht die Art der Bantak

»Schuld sind die falschen Seelen. Ich bin froh, daß wir hier waren und dir helfen konnten, die Wahrheit zu erkennen«, sagte Richard.

Er nickte noch einmal und drehte sich zu seinen Männern um, sah sie an, dann marschierte er Richtung Heimat los. Kahlan stieß einen tiefen Seufzer aus. Richard verfolgte wachsam, wie die Bantak, die Speere geschultert, in den Sonnenaufgang davonzogen.

»Was hältst du davon?« fragte sie, als er sich endlich zu ihr umdrehte.

Er stützte die Hand auf das Heft des Schwertes, dann drehte er sich um und sah den Bantak nach. »Der Hüter scheint uns einen Schritt voraus zu sein.« Er drehte sich um und blickte ihr in die Augen. »Er hat sich die Mühe gemacht, dich in Mißkredit zu bringen, dich, die Mutter Konfessor. Er stellt uns Fallen. Er hat etwas im Sinn, und ich habe nicht die geringste Ahnung, was es sein könnte.«

»Was werden wir tun?«

»Was wir geplant haben. Heute abend halten wir die Versammlung ab, morgen heiraten wir und brechen nach Aydindril auf.«

Sie musterte sein Gesicht. »Du bist wirklich ein Zauberer«, sagte sie leise. »Du hast Magie benutzt, um den Bann des Hüters zu brechen.«

Sein Gesicht blieb unverändert. »Nein, das bin ich nicht. Das war nur ein kleiner Trick, den Zedd mir beigebracht hat. Er meinte einmal, daß Menschen mehr Angst hätten, durch Magie zu sterben als durch irgend etwas anderes, so als wären sie dann toter. Diese Angst habe ich zusammen mit dem Ersten Gesetz der Magie benutzt, damit sie mir glauben. Diese Angst war größer als die, die ihnen die Seelen eingeredet haben.«

»Und warum hast du das Schwert zur Weißglut gebracht?«

Er sah sie lange an. »Weißt du noch, wie Zedd uns gezeigt hat, wie das Schwert funktioniert? Daß man niemanden damit verletzen kann, den man für unschuldig hält?« Sie nickte. »Nun, er hat sich geirrt. Wenn es weiß ist, kann man jeden damit töten. Sogar den, den man liebt.« Sein Blick wurde härter. »Ich hasse Magie.«

»Richard, die Gabe hat dir gerade geholfen, das Leben vieler Menschen zu retten.«

»Aber um welchen Preis?« sagte er leise. »Jedesmal, wenn ich mir überlege, das Schwert weiß zu färben, muß ich daran denken, wie ich es bei dir getan habe und dich beinahe damit getötet hätte.«

»Aber du hast es nicht getan. Beinahe ist eben nicht ganz.«

»Das macht den Schmerz auch nicht geringer. Auch nicht das Wissen darum, wozu ich fähig bin und daß ich mit der Weißen Magie des Schwertes getötet habe. Ich fühle mich dadurch wie ein Rahl.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus und wechselte das Thema. »Ich denke, wir sollten bei der Versammlung heute abend vorsichtig sein.«

»Richard … das wirft ein völlig neues Licht auf alles. Wir sind bereits zweimal davor gewarnt worden, wie gefährlich es sein kann, sich mit den Seelen einzulassen. Willst du dir das mit der Versammlung nicht noch einmal überlegen?«

Er sah weg. »Welche Wahl habe ich? Der Hüter scheint uns voraus zu sein. Die Ereignisse überschlagen sich. Je mehr wir in Erfahrung bringen, desto deutlicher erkennen wir, wie wenig wir tatsächlich wissen. Wir müssen so viel wie möglich herausfinden.«

»Aber vielleicht können die Ahnenseelen uns gar nicht helfen.«

»Dann werden wir wenigstens das wissen. Wir dürfen uns die Gelegenheit nicht entgehen lassen, zuviel steht auf dem Spiel. Wir müssen es versuchen.« Er ergriff ihre Hand. »Kahlan … ich kann nicht zulassen, daß ich verantwortlich dafür bin. Ich will nicht in dem Bewußtsein leben, daß es meine Schuld ist.«

Sie wartete, bis er den Blick hob. »Warum? Weil Darken Rahl dein Vater ist? Du gibst dir die Schuld, weil du ein Rahl bist?«

»Kann sein. Rahl oder nicht, ich kann mich unmöglich dafür verantwortlich fühlen, daß der Hüter jeden einzelnen bekommt. Sogar dich. Ich muß einen Weg finden, das zu verhindern. Darken Rahl verfolgt mich noch aus dem Grab heraus. Irgendwie trage ich die Schuld daran. Wie, weiß ich nicht, doch immerhin war es mein Fehler. Ich muß alles tun, was notwendig ist, um es zu verhindern, oder es wird ein schreckliches Leid geben. Und der Hüter wird dich bekommen, auf ewig.

Dieser Gedanke macht mir mehr angst als alles andere zuvor in meinem Leben. Er bereitet mir Alpträume. Es gibt nichts, was ich nicht tun würde, um zu verhindern, daß er dich bekommt. Ich werde kein Risiko scheuen, ganz gleich, wie groß es ist.« Er sah ihr in die Augen. »Auch wenn ich Angst habe, es könnte eine Falle sein, ich muß es versuchen.«

»Eine Falle? … Du glaubst, es könnte eine Falle sein?«

»Wäre doch möglich. Man hat uns bereits gewarnt. Zumindest sollten wir die Augen offenhalten.« Er betrachtete ihre Hand, die er noch immer hielt. »Während der Versammlung werde ich das Schwert nicht bei mir tragen. Glaubst du, du kannst den Blitz herbeirufen, wenn es nötig ist?«

Kahlan schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Richard. Ich weiß nicht, wie ich es gemacht habe. Ich weiß nicht, wie man diese Blitze beherrscht.«

Er nickte und strich ihr mit dem Daumen über den Handrücken. »Vielleicht ist es ja gar nicht nötig. Vielleicht können uns die Seelen der Ahnen helfen. Sie haben es schon einmal gekonnt.«

Richard hob seine Hand und packte den Strafer. Man sah seinen grauen Augen an, welche Qualen ihm seine Kopfschmerzen bereiteten. Er sackte zusammen und legte den Kopf in die Hände. Sie setzte sich neben ihn. »Ich muß mich eine Weile ausruhen, bevor wir zurückgehen. Die Kopfschmerzen bringen mich um.«

Sie hatte Angst, er könnte das wörtlich meinen und die Kopfschmerzen würden ihn tatsächlich töten. Sie konnte kaum den nächsten Tag abwarten, wenn sie Zedd aufsuchen und Hilfe finden würden.


Es war später Nachmittag, als sie zu der Feier, zu dem Festessen, zurückkehrten. Richards Kopf ging es ein wenig besser, doch noch immer waren die Schmerzen so heftig, daß man sie ihm an den Augen ansah. Die Ältesten erhoben sich, als sich die beiden dem offenen, auf Pfählen ruhenden Schutzdach näherten. Der Vogelmann kam ihnen entgegen.

»Was ist mit den Bantak? Habt ihr sie gesehen? Von Chandalen haben wir nichts gehört

Kahlan hielt ihm das goldene Medaillon hin und ließ es ihm in die Hand fallen.

»Wir haben sie gefunden. Im Norden, wie Richard angekündigt hatte. Ma Ban Grid schickt dies den Schlammenschen als Geschenk, um ihnen zu versichern, daß er keinen Krieg gegen sie führen wird. Sie haben einen Fehler gemacht, und es tut ihnen leid. Wir haben ihnen klargemacht, daß die Schlammenschen ihnen nichts Böses wollen. Auch Chandalen hat einen Fehler gemacht

Der Vogelmann nickte ernst, wandte sich an einen in der Nähe stehenden Jäger und sagte ihm, er solle Chandalen und seine Männer zurückholen. Kahlan schien er nicht ganz so erfreut auszusehen, wie sie erwartet hatte.

»Verehrter Ältester, stimmt irgend etwas nicht?«

Seine braunen Augen wirkten schwermütig. Sein Blick wanderte kurz zu Richard, dann zurück zu ihr. »Zwei der Schwestern des Lichts sind zurückgekommen. Sie warten im Haus der Seelen.«

Kahlan stockte das Herz. Sie hatte gehofft, daß sie nicht so schnell zurückkommen würden. Wie lange war es her, vielleicht ein paar Tage? Sie drehte sich zu Richard um.

»Die Schwestern des Lichts warten im Haus der Seelen.«

Richard stieß einen Seufzer aus. »Nichts ist jemals einfach.« Er wandte sich an den Vogelmann. »Heute abend findet die Versammlung statt. Seid ihr bereit?«

»Heute abend werden die Seelen bei uns sein. Wir sind bereit

»Sei vorsichtig. Betrachte nichts als selbstverständlich. Unser aller Leben hängt davon ab.« Er nahm ihren Arm. »Dann wollen wir mal sehen, ob wir dem ein Ende machen können.«

Zusammen gingen sie über die freie Fläche, vorbei an den lodernden Feuern. Noch immer tanzten überall Menschen, aßen oder spielten Boldas und Trommeln. Kinder waren nicht mehr so viele auf den Beinen. Einige hatten sich auf ein Nickerchen hingelegt, andere hingegen tanzten und spielten ausdauernd weiter.

»Drei Tage«, murmelte er.

»Was?«

»Es ist jetzt fast drei Tage her, seit sie das letzte Mal hier waren. Ich werde sie fortschicken, und morgen sind wir fort. Wenn sie nach drei Tagen wiederkommen, werden wir schon zwei Tage in Aydindril sein.«

Kahlan starrte geradeaus, während sie weitergingen. »Vorausgesetzt, sie halten sich an ihren Zeitplan. Wer sagt, daß sie beim dritten Mal nicht schon nach einem Tag auftauchen? Oder nach einer Stunde?«

Sie spürte seinen Blick auf sich liegen, drehte sich aber nicht um, als er sprach. »Worauf willst du hinaus?«

»Du bekommst nur drei Chancen, Richard. Ich habe Angst um dich. Diese Kopfschmerzen machen mir angst.«

Jetzt sah sie ihn an, er aber nicht sie. »Ich werde keinen Halsring anlegen. Um nichts in aller Welt. Für niemanden.«

»Ich weiß«, flüsterte sie.

Er riß die Tür auf und trat mutig ins Haus der Seelen. Sein Kiefer war entschlossen vorgereckt. Er heftete den Blick auf die beiden Frauen, die in der Mitte des schwach beleuchteten Raumes standen, und ging auf sie zu. Beide trugen ihr Gewand und hatten die Kapuze zurückgezogen. Ihre leicht mißbilligenden Gesichter wirkten fast gelassen.

Richard blieb vor den beiden stehen. »Ich habe Fragen, und ich erwarte Antworten.«

»Wir freuen uns, daß du immer noch wohlauf bist, Richard«, meinte Schwester Verna. »Daß du noch lebst.«

»Warum hat Schwester Grace sich umgebracht? Warum habt Ihr das zugelassen?«

Schwester Elizabeth trat vor Schwester Verna, den aufgeklappten Halsring in der Hand. »Wir haben es dir schon einmal gesagt, die Diskussionen sind vorbei. Jetzt geht es nach den Regeln.«

»Auch ich habe Regeln.« Die Hände in die Hüften gestemmt, sah er von einer Frau zur anderen. »Meine erste Regel lautet: heute wird sich keine von Euch umbringen.«

Sie ignorierten ihn. »Du wirst jetzt zuhören. Ich, Schwester des Lichts, Elizabeth Myric, teile dir den zweiten Grund für den Rada’Han mit. Und gebe dir die zweite Chance auf Hilfe. Der erste der drei Gründe für den Rada’Han besteht darin, die Kopfschmerzen zu beherrschen und deinen Geist zu öffnen, damit man dir den Gebrauch der Gabe beibringen kann. Die erste Chance auf Hilfe hast du abgelehnt. Ich gebe dir den zweiten Grund, mache dir das zweite Angebot.«

Sie sah ihm in die Augen, vergewisserte sich, ob sie seine volle Aufmerksamkeit hatte. »Der zweite Grund für den Rada’Han besteht darin, daß wir dich kontrollieren können.«

Richard funkelte sie wütend an. »Mich kontrollieren? Was soll das heißen, mich kontrollieren?«

»Es heißt, was es heißt.«

»Ich lege mir keinen Ring um den Hals, damit Ihr mich ›kontrollieren‹ könnt.« Er beugte sich ein Stückchen vor. »Und auch aus keinem anderen Grund.«

Schwester Elizabeth hielt den Halsring in die Höhe. »Wie man dir bereits gesagt hat, fällt es dir schwerer, das zweite Angebot anzunehmen. Bitte glaube uns, du schwebst in großer Gefahr. Deine Zeit läuft ab. Bitte, Richard, nimm das zweite Angebot jetzt an, bei der zweiten Chance. Den dritten der drei Gründe zu akzeptieren, wird nur noch schwerer werden.«

In seinen Augen lag ein Ausdruck, den Kahlan nur ein einziges Mal zuvor bei ihm gesehen hatte — als man ihm den Halsring zum ersten Mal angeboten hatte. Etwas Fremdes, Furchteinflößendes. Es ließ sie kalt erschaudern. Sie bekam eine Gänsehaut auf den Armen. Der Zorn wich aus seiner Stimme.

»Ich habe es Euch schon einmal erklärt«, sagte er leise. »Ich werde keinen Halsring anlegen. Für niemanden. Aus keinem Grund. Wenn Ihr mir beibringen wollt, wie man die Gabe nutzt, wie man sie beherrscht, gut, darüber können wir reden. Es geschehen Dinge, von denen Ihr nichts wißt, wichtige Dinge, gefährliche Dinge. Als Sucher trage ich Verantwortung. Ich bin keines der Kinder, mit denen Ihr umzugehen gewohnt seid. Ich bin erwachsen. Wir können darüber reden.«

Schwester Elizabeth warf ihm einen wilden stechenden Blick zu. Richard wich einen halben Schritt zurück. Er schloß die Augen und erbebte. Schließlich richtete er sich wieder auf. Er öffnete die Augen und atmete tief durch. Er erwiderte den starren Blick der Schwester. Irgend etwas war geschehen, und Kahlan hatte nicht die geringste Ahnung, was.

Die Kraft im Blick der Schwester schwand. Sie ließ die Hände, die den Halsring hielten, sinken. Ihre Stimme klang ängstlich. »Nimmst du das Angebot des Rada’Han an?«

Richard stand da und blickte sie entschlossen an. Seine Stimme hatte zu alter Kraft zurückgefunden. »Ich weigere mich.«

Schwester Elizabeth erblaßte. Sie sah ihn noch einen Augenblick lang an, dann drehte sie sich zu der Frau hinter ihr um. »Vergib mir, Schwester, ich habe versagt.« Sie legte den Rada’Han Schwester Verna in die ausgestreckten Hände. Mit leiser Stimme sagte sie: »Jetzt liegt es bei dir.«

Schwester Verna gab ihr einen Kuß auf jede Wange. »Das Licht vergibt dir, Schwester.«

Schwester Elizabeth drehte sich wieder zu Richard um, ihr Gesicht war wie erschlafft. »Möge das Licht dich immer auf sanften Händen tragen. Auf daß du eines Tages den Weg findest.«

Richard hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihr in die Augen. Sie hob das Kinn. Wie Schwester Grace hob sie den Arm, und mit einer kurzen Bewegung des Handgelenks schnellte das Messer in ihre Hand. Richard sah sie noch an, als sie es mit einer kurzen Drehung gegen sich selbst richtete. Kahlan hielt den Atem an und verfolgte wie gebannt, wie die Frau ihren Selbstmord vorbereitete. Einen Herzschlag lang standen alle wie erstarrt da.

Richard bewegte sich im selben Augenblick wie das Messer. Seine Geschwindigkeit war schockierend. Bevor Schwester Elizabeth begriff, was geschehen war, hatte Richard sie am Handgelenk gepackt. Mit der anderen Hand machte er sich daran, ihr das eigenartige Messer zu entwinden, während sie sich alle Mühe gab, es festzuhalten. Sie hatte seiner Kraft nichts entgegenzusetzen.

»Ich habe Euch meine Regeln mitgeteilt. Ihr dürft Euch heute nicht töten.«

Die sinnlose Anstrengung verzerrte ihr Gesicht. »Bitte! Laß los -«

Ein Zucken ging durch ihren Körper. Sie warf den Kopf zurück. Dann ein Lichtblitz, der aus ihrem Innern, aus ihren Augen zu kommen schien. Schwester Elizabeth sackte nach vorn und brach zusammen, während Schwester Verna der Frau ihr Messer aus dem Rücken zog.

Schwester Verna löste den Blick von der Toten und sah Richard an. »Du mußt ihre Leiche selbst begraben. Wenn du es einen anderen für dich tun läßt, wirst du für den Rest deines Lebens Alpträume haben, Alpträume, hervorgerufen durch Magie. Es gibt kein Mittel gegen sie.«

»Ihr habt sie umgebracht! Ihr habt sie ermordet! Was ist los mit Euch? Wie konntet Ihr sie töten!«

Sie steckte sich das Messer in den Ärmel und sah ihn wütend an. Dann streckte sie die Hand aus, entriß ihm das silberne Messer und ließ es in ihr Gewand gleiten.

»Du hast sie umgebracht«, sagte Schwester Verna leise.

»Ihr habt das Blut doch noch an Euren Händen!«

»Auch die Axt des Henkers ist blutverschmiert, und trotzdem schwingt sie sich nicht von selbst.«

Richard wollte ihr an die Kehle gehen. Sie rührte sich nicht, sondern starrte ihn einfach weiter an. Seine Hände hielten inne, bevor er sie erreicht hatte. Richard schüttelte sich, stemmte sich gegen die unsichtbare Barriere, während sie ihn beobachtete.

In diesem Augenblick begriff Kahlan, was es mit den Schwestern auf sich hatte.

Richard lockerte den Druck, mit dem er sich gegen die Barriere stemmte. Er zog seine Hände ein Stück zurück und entspannte sichtlich. Sacht, mit gelöster Miene, streckte er eine Hand nach Schwester Verna aus. Seine Finger schlossen sich um ihre Kehle. Sie riß schockiert die Augen auf.

»Richard«, fauchte sie erbost, »nimm deine Hand von mir!«

»Wie Ihr gesagt habt, dies ist kein Spiel. Warum habt Ihr sie umgebracht?«

Er wurde von den Füßen gehoben. Richard schwebte ein paar Zentimeter weit über dem Boden. Er verstärkte den Griff an ihrer Kehle. Als er sie nicht losließ, brach rings um die beiden Feuer aus, erwachte brüllend zum Leben, ein Feuerwirbel, der sich um ihn schloß.

»Ich habe gesagt, nimm deine Hand von mir!«

Noch ein Augenblick, dann hätte das Feuer Richard verschlungen. Bevor sie merkte, was sie tat, hatte Kahlan ihre Faust gegen die Schwester ausgestreckt. Blaues Licht zuckte knisternd um ihr Handgelenk und um ihre Hand. Kleine Lichtblitze lösten sich von den Seiten, während sie sich mit aller Kraft dagegen sträubte, den Kraftblitz freizusetzen. Blaue Flämmchen lösten sich britzelnd, tanzten durch das Haus der Seelen, die Wände hinauf, über Decke und Fußboden, überallhin — nur nicht dorthin, wo die beiden standen. Sie zitterte vor Anstrengung, die Kraft zurückzuhalten.

»Hör auf damit!« Die kleinen, blauen Blitze sogen das Feuer in sich auf. »Heute wird niemand mehr getötet.« Das blaue Licht erlosch.

Stille füllte den Raum. Schwester Verna und Kahlan sahen sich an. Ein harter, gereizter, wuterfüllter Blick trat in die Augen der Schwester. Richard landete auf dem Boden und zog die Hand vom Hals der Frau zurück.

»Ich hätte ihm nichts angetan. Ich wollte ihm nur angst machen, damit er mich losläßt.« Sie richtete ihren wutentbrannten Blick auf Richard. »Wer hat dir beigebracht, wie man ein Netz zerreißt?«

»Niemand. Ich habe es mir selber beigebracht. Warum habt Ihr Schwester Elizabeth getötet?«

»Du hast es dir also selbst beigebracht«, äffte sie ihn nach. »Ich habe es dir bereits gesagt. Dies ist kein Spiel. Die Regeln müssen befolgt werden.« Die Gereiztheit wich aus ihrer Stimme. »Ich habe sie viele Jahre lang gekannt. Hättest du das Schwert an deiner Hüfte jemals weiß gefärbt, dann würdest du begreifen, was mich das gekostet hat.«

Richard verriet ihr nicht, daß er sein Schwert bereits weiß gefärbt hatte. »Erwartet Ihr tatsächlich, daß ich mich in Eure Hände begebe, nach allem, was Ihr angerichtet habt?«

»Deine Zeit läuft ab, Richard. Nach allem, was ich heute gesehen habe, wäre ich nicht überrascht, wenn dich deine Kopfschmerzen schon bald umbringen würden. Ich weiß nicht, warum sie es nicht längst getan haben. Was immer dich beschützt, wird nicht mehr lange halten. Ich weiß, du magst es nicht, jemanden sterben zu sehen. Wir auch nicht. Aber bitte glaube uns, was immer hier geschieht, geschieht, um dich zu retten.«

An Kahlan gewandt, meinte sie: »Nimm dich mit deiner Kraft in acht, Mutter Konfessor. Ich glaube, Ihr habt nicht die geringste Vorstellung, wie gefährlich sie ist.« Schwester Verna zog die Kapuze über und sah Richard aus ihren braunen Augen an. »Man hat dir die erste und die zweite von drei Chancen geboten, und du hast abgelehnt. Ich werde wiederkommen.« Sie beugte sich vor. »Dir bleibt nur noch eine Chance. Lehnst du sie ab, wirst du sterben. Denk sorgfältig darüber nach, Richard.«

Als sich die Tür hinter Schwester Verna geschlossen hatte, kniete Richard neben der toten Schwester nieder. »Sie hat irgend etwas mit mir gemacht. Es war Magie. Ich konnte es spüren.«

»Wie hat es sich angefühlt?«

Richard schüttelte leicht den Kopf. »Als sie das erste Mal hier waren, hatte ich das Gefühl, irgend etwas würde an mir ziehen, damit ich ihr Angebot annehme, aber ich hatte solche Angst vor dem Halsring, daß ich nicht weiter darauf geachtet habe. Diesmal war es viel stärker. Es war Magie. Die Magie versuchte, mich zu zwingen, ja zu sagen, das Angebot der Schwestern anzunehmen. Ich habe einfach so lange an den Halsring gedacht, bis die Kraft nachließ und ich nein sagen konnte.«

Er hob den Kopf und sah sie an. »Hast du irgendeine Idee, was hier gespielt wird? Was sie getan hat, was Schwester Verna getan hat, mit dem Feuer und all dem anderen?«

Kahlans Hand kribbelte noch immer von dem blauen Blitz. »Ja. Die Schwestern sind Magierinnen.«

Richard war sofort auf den Beinen. »Magierinnen.« Er sah ihr lange in die Augen. »Wieso bringen sie sich um, wenn ich ›nein‹ sage?«

»Ich denke, damit geben sie ihre Kraft an die nächste Schwester weiter, um sie für den nächsten Versuch zu stärken.«

»Was macht mich so wichtig, daß sie sich töten, um mich zu bekommen?«

»Vielleicht ist es wirklich so, wie sie sagen: um dir zu helfen.«

Er sah sie kurz aus den Augenwinkeln an. »Sie wollen nicht, daß ein einzelner Mann, ein Fremder stirbt, und doch sind bereits zwei von ihnen bei dem Versuch umgekommen, mich zu überreden, ihre Hilfe anzunehmen, damit ein einziges Leben gerettet wird. Wie paßt das zusammen?«

»Ich weiß es nicht, Richard, aber ich habe Schmerzen vor Angst. Ich fürchte, sie haben die Wahrheit gesagt: daß dir nicht viel Zeit bleibt und die Kopfschmerzen dich töten könnten. Ich fürchte, viel länger wirst du sie nicht mehr beherrschen können.« Ihre Stimme brach vor Mitgefühl. »Ich will dich nicht verlieren.«

Richard legte den Arm um sie. »Ich komme schon zurecht. Ich werde sie begraben. In ein paar Stunden findet die Versammlung statt. Morgen sind wir in Aydindril, und dort bin ich in Sicherheit. Zedd wird wissen, was zu tun ist.«

Sie konnte nichts anderes tun, als ihm den Kopf an die Schulter zu legen und zu nicken.

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