24

Richard riß die Augen auf und sagte: »Ich glaube, da kommt jemand.«

Schwester Verna saß auf der anderen Seite des kleinen Lagerfeuers und schrieb in das kleine Buch, das sie sonst in ihrem Gürtel aufbewahrte. Sie sah unter ihren Brauen hervor auf. »Du hast dein Han berührt, ja?«

»Nein«, gestand er. Seine Beine schmerzten. Bestimmt hatte er eine Stunde lang dagesessen, ohne sich zu bewegen. »Aber ich sage Euch, ich glaube, es kommt jemand.«

Sie taten das jeden Abend, und diesmal war es nicht anders. Er hockte da, stellte sich das Schwert vor einem schwarzen Hintergrund vor und versuchte, den Ort in seinem Innern zu erreichen, von dem sie behauptete, daß es ihn gab, den er jedoch nicht finden konnte. Sie beobachtete ihn dabei, schrieb in ihr kleines Buch oder berührte selbst ihr Han. Seit dem ersten Abend hatte er sich kein Bild mehr von dem Schwert vor dem schwarzen Hintergrund mit dem weißen Rand machen können. Er hegte nicht den geringsten Wunsch zu riskieren, diesen Alptraum noch einmal zu erleben.

»Allmählich glaube ich, daß ich mein Han nicht berühren kann. Ich versuche mein Bestes, aber es gelingt mir einfach nicht.«

Sie hielt das Buch ganz nah vor ihr Gesicht und schrieb weiter. »Ich habe es dir doch schon erklärt, Richard, das braucht seine Zeit. Du hast noch nicht einmal ansatzweise genug geübt. Verliere nicht den Mut. Es kommt, wenn es soweit ist.«

»Schwester Verna, ich sage Euch, da nähert sich jemand.«

Sie schrieb weiter. »Wie willst du das wissen, Richard, wenn du nicht in der Lage bist, dein Han zu berühren? Hmm?«

»Ich weiß es nicht.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Ich war viel allein in den Wäldern. Manchmal spüre ich einfach, wenn jemand in der Nähe ist. Fühlt Ihr niemals, wenn jemand in der Nähe ist? Habt Ihr nie gespürt, wie Euch jemand ansieht?«

»Nur mit Hilfe meines Han«, sagte sie und schrieb.

Er beobachtete, wie der Schein des Feuers flackernd auf ihr leidenschaftsloses Gesicht fiel. »Schwester Verna, Ihr habt gesagt, wir befinden uns in einer gefährlichen Gegend. Ich sage Euch, da kommt jemand.«

Sie blätterte in ihrem Buch zurück und kniff die Augen zusammen und las in dem schwachen Licht. »Und wie lange weißt du das schon, Richard?«

»Ich habe es Euch gleich gesagt, als ich das Gefühl hatte. Eben gerade.«

Sie senkte das Buch in ihren Schoß und sah auf. »Aber du sagst, du hast dein Han nicht berührt? Du hast in deinem Innern nichts gespürt? Keine Kraft? Du hast kein Licht gesehen? Hast den Schöpfer nicht gespürt?« Sie kniff die Augen zusammen. »Du solltest mich nicht anlügen, Richard. Du solltest mich niemals über das Berühren deines Han anlügen.«

»Schwester Verna, Ihr hört mir nicht zu! Es kommt jemand!«

Sie klappte das Buch zu. »Richard, ich wußte schon, daß jemand kommt, als du mit deinen Übungen begonnen hast.«

Er starrte sie überrascht an. »Und warum sitzen wir dann einfach hier?«

»Wir sitzen nicht einfach hier. Du übst, dein Han zu berühren, und ich kümmere mich um meine Angelegenheiten.«

»Warum habt Ihr nichts davon gesagt? Ihr habt mir erzählt, das Land hier sei gefährlich.«

Schwester Verna seufzte und ging daran, ihr Buch wieder in ihren breiten Gürtel zu stecken. »Weil sie immer noch ein gutes Stück entfernt waren. Warum solltest du die Übung unterbrechen, die so wichtig für dich ist. Du mußt es so lange versuchen, bis du dein Han berühren kannst.« Sie schüttelte resigniert den Kopf. »Aber vermutlich bist du jetzt zu aufgeregt, um weiterzumachen. Sie sind noch immer zehn, fünfzehn Minuten entfernt; wir können ebensogut anfangen, unsere Sachen zu packen.«

»Warum gerade jetzt? Warum sind wir nicht aufgebrochen, als Ihr sie gespürt habt?«

»Weil man uns bereits gesehen hatte. Ist man erst einmal entdeckt, kann man diesen Leuten nicht mehr entkommen. Dies ist ihr Land, wir wären nicht in der Lage, ihnen davonzulaufen. Wahrscheinlich war es ein Posten, der uns entdeckt hat.«

»Und warum wollt Ihr dann jetzt zusammenpacken und aufbrechen?«

Sie sah ihn an, als wäre es hoffnungslos mit ihm. »Weil wir nicht über Nacht hierbleiben können, nachdem wir sie getötet haben!«

Richard sprang auf. »Getötet! Ihr wißt nicht einmal, wer da kommt, und schon wollt Ihr sie umbringen?«

Schwester Verna erhob sich, richtete sich auf und sah ihm in die Augen. »Richard, ich habe mein Bestes getan, um es zu verhindern. Sind wir bis jetzt jemandem begegnet? Nein. Obwohl diese Menschen das Land wie ein Schwärm zorniger Wespen überziehen, haben wir keinen einzigen von ihnen zu Gesicht bekommen. Ich bin allen aus dem Weg gegangen, die ich mit meinem Han spüren konnte. Ich habe alles getan, um Ärger zu vermeiden. Manchmal jedoch läßt sich Ärger nicht vermeiden, selbst wenn man sein Bestes gibt. Ich will diese Menschen nicht töten — doch sie sind entschlossen, uns zu töten.«

Das erklärte allerdings ihre seltsame Reiseroute. Sie waren wochenlang stets nach Südosten geritten, wenn auch in seltsamer Manier. Ohne jemals etwas zu erklären, hatte sie sie erst in die eine Richtung, dann in die andere geführt, war gelegentlich denselben Weg zurückgeritten, doch immer ging es nach Südosten weiter.

Das öde Land war zunehmend felsiger und trostloser geworden. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie nach dem Weg zu fragen, weil er nicht glaubte, daß sie ihn preisgeben würde, und weil es ihm egal war. Wohin sie auch ritten, er blieb ein Gefangener.

Richard kratzte sich den Bart und begann, Erde über das Feuer zu treten. Die Nacht war warm wie fast alle Nächte in der letzten Zeit. Er fragte sich, was aus dem Winter geworden war. »Wir wissen noch nicht einmal, wer diese Leute sind. Ihr könnt doch nicht einfach jeden töten, der sich blicken läßt.«

»Richard.« Sie faltete die Hände. »Nicht alle Schwestern, die versuchen zurückzukehren, sind dabei erfolgreich. Viele werden bei dem Versuch, diese Gegend zu durchqueren, getötet. Sie waren immer zu dritt. Ich bin nur eine. Die Chancen stehen nicht sehr gut.«

Die Pferde wieherten leise, warfen ihre Köpfe zurück und scharrten mit den Hufen. Richard hängte sich den Gurt um die Schulter. Er sah nach, ob das Schwert fest in der Scheide steckte.

»Es war ein Irrtum, Schwester, nicht gleich aufzubrechen, als Ihr Bescheid wußtet. Wenn wir jetzt kämpfen müssen, dann nur, weil wir keine andere Möglichkeit mehr haben. Ihr habt es jedoch nicht einmal versucht.«

Die Hände immer noch gefaltet, sah sie ihn an. Ihre Stimme klang sanft und doch bestimmt. »Diese Menschen sind entschlossen, uns zu töten, Richard. Uns beide. Hätten wir versucht davonzulaufen, hätte dieser eine die anderen alarmiert und Hunderte, Tausende herbeigeholt, um uns niederzumachen. Ich bin nicht fortgelaufen, weil ich diesen einen ermutigen wollte, uns allein zu überwältigen, damit wir der Bedrohung ein Ende machen können.«

»Ich werde für Euch niemanden töten, Schwester Verna.«

Während die beiden sich wütend anfunkelten, hörte er einen Schrei: den Schrei einer Frau. Er starrte hinaus in die Nacht, versuchte, im Schatten der Felsendorne etwas zu erkennen, festzustellen, woher der Schrei kam. Er konnte niemanden entdecken, doch die Schreie und Rufe kamen näher.

Richard trat Erde über die letzten Flammen und rannte zu den Pferden, beruhigte sie mit besänftigenden Worten und sachtem Streicheln. Was sie erzählte, war ihm egal. Er würde niemanden auf ihr Wort hin töten. Die Frau war verrückt, wenn sie nicht fliehen wollte.

Vermutlich wollte sie einen Kampf, damit sie sehen konnte, wie er sich verhielt. Ständig beobachtete sie ihn wie einen Käfer in einer Schachtel. Jedesmal, wenn er das Berühren seines Hans zu üben versuchte, fragte sie ihn aus. Was immer ein ›Han‹ war, er hatte es noch nicht gespürt und schon gar nicht berührt oder herbeigerufen. Was auch egal war, soweit es ihn betraf.

Richard wollte gerade zu den Satteltaschen gehen, um ihre restlichen Sachen zusammenzusuchen, als eine Frau aus der Nacht gelaufen kam. Mit fliegendem Gewand und vor Entsetzen schreiend, lief sie geradewegs auf ihren Lagerplatz. Sie jammerte und kam verzweifelt auf ihn zugerannt.

»Bitte!« stieß sie hervor. »Bitte helft mir! Bitte, sorgt dafür, daß sie mich nicht kriegen!«

Das ungebändigte Haar wehte ihr hinterher. Die nackte Angst in ihrem Gesicht ließ es Richard eiskalt den Rücken runterlaufen. Als sie ihn erreicht hatte, kam sie ins Stolpern. Richard fing ihren zerbrechlichen Körper auf. Ihr schmutziges Gesicht war tränennaß und voller Schweißperlen.

»Bitte, Sir«, schluchzte sie und sah aus ihren dunklen Augen zu ihm hoch, »bitte laßt mich nicht in ihre Hände fallen. Ihr habt ja keine Ahnung, was diese Männer mir antun werden.«

Die entsetzliche Erinnerung an Kahlan, die von den Quadronen verfolgt wurde, füllte Richards Gedanken. Er mußte daran denken, welche Angst sie vor diesen Männern gehabt hatte und wie sie fast dieselben Worte benutzt hatte: Ihr habt ja keine Ahnung, was diese Männer mir antun werden.

»Niemand wird dich bekommen. Jetzt bist du in Sicherheit.«

Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, doch statt dessen stieß sie ein leises Stöhnen aus und zuckte zusammen. Licht schien im Innern ihrer Augen aufzublitzen. Sie sackte schlaff und schwer in seine Arme.

Richard schaute hoch und sah Schwester Vernas unerschütterlichen Blick, als sie der Frau das silberne Messer aus dem Rücken zog. Richard merkte, wie er die ganze Last zu Boden gleiten ließ. Die Frau sank in sich zusammen und fiel auf den Rücken.

Das Klirren von Stahl hallte durch die Nacht, als Richard das Schwert zog.

»Was ist los mit Euch?« zischte er. »Ihr habt gerade diese Frau umgebracht.«

Schwester Verna erwiderte seinen wütenden Blick. »Hattest du nicht gesagt, du hättest keine törichten Bedenken, eine Frau zu töten?«

Der Zorn der Magie des Schwertes jagte durch seinen Körper und wollte befreit werden. »Ihr seid verrückt.« Er näherte sich in rasendem Tempo einem tödlichen Abgrund. Die Schwertspitze ging in die Höhe.

»Bevor du auch nur daran denkst, mich umzubringen«, sagte Schwester Verna in berechnendem Ton, »solltest du sichergehen, daß du keinen Fehler machst.« Richard antwortete nicht. Er brachte vor Wut kein Wort heraus. »Wirf einen Blick auf ihre Hand, Richard.«

Er blickte auf den leblosen Körper hinab. Die Hände waren von ihrem schweren Wollgewand versteckt. Mit dem Schwert schnippte er das Gewand von ihrem Arm und brachte ein Messer an den Tag, das die Frau noch immer mit ihrer toten Faust umklammert hielt. Die Spitze wies einen dunklen Flecken auf.

»Hat sie dich mit dem Messer verletzt?«

Richards Brust hob und senkte sich immer noch vor Wut. »Nein. Warum?«

»Ihr Messer ist vergiftet. Ein Kratzer würde schon genügen.«

»Wie kommt Ihr auf den Gedanken, das könnte mir gegolten haben? Wahrscheinlich wollte sie sich gegen die Männer verteidigen, die sie verfolgen!«

»Niemand verfolgt sie. Sie ist eine Wächterin. Ständig verlangst du von mir, ich soll dich nicht wie ein Kind behandeln, Richard. Dann hör auf, dich wie eines zu benehmen. Ich kenne diese Menschen, ich weiß, wie sie vorgehen. Sie hatte vor, uns umzubringen.«

Er spürte, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten, als er die Zähne aufeinanderbiß. »Wir hätten versuchen können, zu fliehen, gleich nachdem sie uns entdeckt hatte.«

Sie nickte. »Richtig, und wären dabei umgekommen. Ich sage dir doch, Richard, ich kenne dieses Volk. Die Wildnis ist voll von diesen Völkern, die uns alle töten werden, wenn sie uns finden. Hätten wir sie zu ihren Artgenossen zurückkehren lassen, hätte sie uns gefangengenommen und getötet. Laß nicht zu, daß der Zorn des Schwertes dir die Augen verschließt. Sie hält ein vergiftetes Messer in der Hand, sie hatte es schon in deinem Rücken, und sie ist dir in die Arme gefallen, um dicht genug heranzukommen, damit sie es benutzen kann. Du hast es törichterweise zugelassen.« Sie ließ den Arm an ihre Seite fallen. »Hier ist niemand. Ich könnte ihn sonst mit meinem Han spüren. Sie war allein. Ich habe dir gerade das Leben gerettet.«

Er schob das Schwert der Wahrheit in die Scheide zurück. »Damit habt Ihr mir keinen großen Gefallen getan, Schwester Verna.«

Er wußte nicht, was er glauben sollte. Er wußte nur, daß er der Magie überdrüssig war und auch des Mordens. »Was ist das für ein Messer, das Ihr in Eurem Ärmel aufbewahrt? Was ist das für ein Licht in ihren Augen, wenn Ihr sie damit tötet?«

»Man nennt es Dacra. Man könnte es vermutlich mit der vergifteten Klinge vergleichen, die sie bei sich hatte. Bei einem Dacra ist es nicht die Wunde selbst, die tötet. Ein Dacra löscht den Lebensfunken.« Sie senkte den Blick. »Es ist eine schmerzhafte Erfahrung, jemandem das Leben zu nehmen. Manchmal ist es die einzige Möglichkeit. Heute abend war es die einzige Möglichkeit, um unser Leben zu retten, ob du das glauben willst oder nicht.«

»Ich weiß nur, Schwester Verna, daß Ihr es ohne Zögern benutzt und gar nicht erst etwas anderes versucht habt.« Er wollte sich umdrehen. »Ich werde sie begraben.«

»Richard.« Sie strich ihren Rock glatt. »Ich hoffe, du verstehst, ich hoffe, du mißdeutest unser Tun nicht, doch wenn wir den Palast erreichen, könnte es erforderlich sein, dir das Schwert der Wahrheit wegzunehmen. Zu deinem eigenen Vorteil.«

»Warum? Wie sollte das zu meinem Vorteil sein?«

Sie faltete erneut die Hände. »Die Prophezeiung, auf die du dich berufst, in der es heißt: ›Er ist der Bringer des Todes und wird sich selbst dazu ernennen‹, ist eine sehr gefährliche Prophezeiung. Des weiteren heißt es dort, der Träger des Schwertes kann den Tod auf den Plan rufen, die Vergangenheit in die Gegenwart holen.«

»Was heißt das?«

»Das wissen wir nicht.«

»Prophezeiungen«, murmelte er vor sich hm. »Prophezeiungen sind nichts als dumme Rätsel, Schwester. Ihr schenkt ihnen viel zuviel Beachtung. Ihr gebt zu, daß Ihr sie nicht versteht, und doch versucht Ihr, ihnen nachzugehen. Wäre sie wahr, dann könnte ich den Tod auf den Plan rufen und dieser Frau das Leben zurückgeben.«

»Wir wissen sehr viel mehr darüber, als du denkst. Ich glaube, es wäre am besten, wenn wir das Schwert an uns nehmen, nur zur Sicherheit, bis wir diese Prophezeiung besser verstehen.«

»Schwester Verna, wenn jemand Euch den Dacra nehmen würde, wärt Ihr dann immer noch eine Schwester?«

»Selbstverständlich. Der Dacra ist bloß ein Werkzeug, das uns bei unserer Arbeit hilft. Er macht uns nicht zu dem, was wir sind.«

Er lächelte ein kaltes Lächeln. »Mit dem Schwert ist es dasselbe. Ob mit oder ohne, ich bin immer noch der Sucher. Ich wäre keine geringere Gefahr für Euch. Es mir wegzunehmen, wird Euch nicht retten.«

Sie ballte die Fäuste. »Es ist nicht dasselbe.«

»Ihr werdet mir das Schwert nicht abnehmen«, entschied er knapp. »Ihr werdet nie verstehen, wie sehr ich dieses Schwert und seine Magie hasse und wie sehr ich mir wünschte, davon befreit zu werden, aber es wurde mir gegeben, als man mich zum Sucher ernannte. Es wurde mir gegeben, damit es mir gehört, solange ich es behalten will. Ich bin der Sucher, und ich, nicht Ihr noch irgend jemand sonst, werde entscheiden, wann ich es aus den Händen gebe.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Man hat dich zum Sucher ernannt? Du hast das Schwert nicht gefunden? Es wurde dir von einem Zauberer überreicht? Man hat dich zum Sucher ernannt? Zum echten Sucher? Von einem Zauberer?«

»Ganz recht.«

»Wer war dieser Zauberer?«

»Ich hab es Euch bereits gesagt: Zeddicus Z’ul Zorander.«

»Du hast ihn nur das eine Mal getroffen, als er dir das Schwert gegeben hat?«

»Nein. Ich habe mein ganzes Leben bei ihm verbracht. Er hat mich praktisch aufgezogen. Er ist mein Großvater.«

Einen Augenblick lang war es totenstill. »Und er hat dich zum Sucher ernannt, weil er sich geweigert hat, dir beizubringen, wie man die Gabe beherrscht? Um Zauberer zu werden.«

»Geweigert! Als er erkannte, daß ich die Gabe besitze, hat er mich praktisch angebettelt, mir beibringen zu dürfen, wie man Zauberer wird.«

»Er hat es dir angeboten?« sagte sie leise.

»Ganz recht. Ich habe ihm gesagt, ich will kein Zauberer sein.« Irgend etwas stimmte nicht. Diese Neuigkeit schien sie zu verstören. »Er hat gesagt, das Angebot gilt noch immer. Warum?«

Sie rieb sich gedankenverloren die Hände. »Es ist nur … ungewöhnlich, das ist alles. Vieles an dir ist ungewöhnlich.«

Richard wußte nicht, ob er ihr glauben sollte. Vielleicht brauchte er den Halsring gar nicht, vielleicht hätte Zedd ihm ohne helfen können.

Allerdings hatte Kahlan gewollt, daß er ihn anlege. Sie hatte gewollt, daß man ihn fortschafft. Der Schmerz verdrehte ihm die Gedärme.

Das Schwert war alles, was er von Zedd hatte. Man hatte es ihm überreicht, als er noch in Westland gewesen war, in seiner Heimat. Er vermißte sein Zuhause und die Wälder. Das Schwert war alles, was ihm von Zedd und von zu Hause geblieben war.

»Schwester, man hat mich für so lange zum Sucher ernannt, wie ich es bleiben möchte. Und genauso lange kann ich das Schwert behalten. Ich werde es sein, der entscheidet, wann die Zeit gekommen ist, es abzugeben. Wenn Ihr den Wunsch habt, es mir fortzunehmen, dann tut es jetzt. Doch wenn Ihr es versucht, wird einer von uns dabei sterben. Im Augenblick ist es mir gleichgültig, wer von uns beiden das ist. Aber ich habe die Absicht, bis zum Tod zu kämpfen. Es gehört von Rechts wegen mir, und Ihr werdet es mir nicht wegnehmen, solange noch ein Hauch von Leben in mir steckt.«

Er lauschte dem fernen Heulen eines Tieres, das einen plötzlichen und brutalen Tod starb, und dann der langen, leeren Stille, die darauf folgte.

»Da man dir das Schwert überreicht hat und du es nicht einfach gefunden oder gekauft hast, darfst du es behalten. Ich werde es dir nicht wegnehmen. Für die anderen kann ich nicht sprechen, doch werde ich deinen Wunsch vor ihnen vertreten. Die Gabe ist es, um die wir uns kümmern müssen. Jene Magie ist es, deren Beherrschung wir dich lehren müssen.«

Sie richtete sich auf und betrachtete ihn mit einem Ausdruck derart kalten Zorns, daß es ihm äußerst schwer fiel, nicht zurückzuweichen. »Doch solltest du es jemals wieder gegen mich ziehen, werde ich dafür sorgen, daß du den Tag bereust, an dem der Schöpfer dich den ersten Atemzug hat machen lassen.« Ihre Kinnmuskeln spannten sich. »Verstehen wir uns?«

»Was ist so wichtig an mir, daß Ihr töten würdet, um mich gefangenzunehmen?«

Ihre kalte Beherrschtheit ängstigte ihn mehr, als wenn sie ihn angeschrien hätte. »Es ist unsere Aufgabe, denen zu helfen, die die Gabe besitzen, denn die Gabe ist ein Geschenk des Schöpfers. Wir sind Dienerinnen des Schöpfers. Wenn wir sterben, dann für ihn. Wegen dir habe ich zwei meiner ältesten Freundinnen verloren. Ich habe mich vor Kummer deswegen in den Schlaf geweint. Ich mußte diese Frau heute abend töten, und vielleicht muß ich auch noch andere töten, bevor wir den Palast erreichen.«

Richard schien es am besten, den Mund zu halten, doch er konnte nicht. Sie hatte eine Art, die Glut seines Zorns zu offener Flamme anzufachen. »Versucht nicht, die Schuld für Euer Tun mir zuzuschieben, Schwester.«

Ihr Gesicht nahm eine Röte an, die er selbst im Mondschein sehen konnte. »Ich habe es mit Geduld bei dir versucht, Richard. Ich habe dir Spielraum gelassen, weil man dich aus deinen bisherigen Leben herausgerissen und in eine Lage gestürzt hat, vor der du Angst hast und die du nicht begreifst. Doch meine Geduld ist bald zu Ende.

Ich habe alles getan, um nicht immer nur die Leichen meiner Freundinnen zu sehen, wenn ich in deine Augen blicke. Oder wenn du mir sagst, ich sei herzlos. Ich habe versucht, nicht daran zu denken, daß du es warst, der ihrem Begräbnis beiwohnte, und nicht ich; ich wollte nicht an die Worte denken, die ich an ihrem frischen Grab gesprochen hätte. Es geschehen Dinge, die mein Verständnis übersteigen, meine Erwartungen und alles, was man mich glauben gelehrt hat. Wäre es an mir, ich hätte nicht übel Lust, dir deinen Wunsch zu erfüllen und dir den Rada’Han abzunehmen und dich im Wahn und unter Schmerzen krepieren zu lassen. Aber es ist nicht an mir. Es ist das Werk des Schöpfers, an dem ich teilhabe.«

Die Glut seines Zorns war zwar nicht erloschen, aber doch abgekühlt. »Schwester Verna, es tut mir leid.« Wenn sie ihn doch angeschrien hätte. Das wäre besser als ihr leiser Zorn, ihr stummes Mißfallen.

»Du bist erzürnt, weil du denkst, ich behandele dich wie ein Kind und nicht wie einen Mann, und doch hast du mir keinen Anlaß gegeben, mich anders zu verhalten. Ich weiß, wo du stehst, was deine Fähigkeiten anbelangt, und daß du deinen Weg noch gehen mußt. Auf diesem Weg bist du nicht viel mehr als ein Säugling, der mit großem Geschrei verlangt, auf die Welt losgelassen zu werden, dabei jedoch noch nicht mal laufen kann.

Der Halsring, den du trägst, ist imstande, dich zu beherrschen. Er ist auch imstande, dir Schmerzen zu bereiten. Große Schmerzen. Bislang habe ich es vermieden, ihn zu benutzen, und statt dessen versucht, dich auf andere Weise anzuhalten, das Unvermeidliche anzunehmen. Doch wenn ich muß, werde ich ihn benutzen. Der Schöpfer weiß, ich habe alles andere versucht.

Wir werden bald ein Land erreicht haben, das weitaus gefährlicher ist als dieses. Um es durchqueren zu können, werden wir uns mit den Menschen dort auseinandersetzen müssen. Die Schwestern haben ein Abkommen mit ihnen, das ihnen die Durchreise ermöglicht. Du wirst tun, was ich sage und was diese Menschen sagen. Du wirst tun, was man von dir verlangt, oder es wird großen Ärger geben.«

Richards Argwohn flackerte erneut auf. »Was muß ich tun?«

Sie funkelte ihn wütend an. »Stell meine Geduld heute abend nicht weiter auf die Probe, Richard.«

»Solange Ihr begreift, daß Ihr mein Schwert nicht kampflos bekommen werdet.«

»Wir versuchen lediglich, dir zu helfen, Richard. Aber solltest du diese Waffe noch einmal gegen mich richten, werde ich dafür sorgen, daß du das sehr bedauerst.« Sie warf einen Blick auf den Strafer an seinem Hals. »Die Mord-Sith sind nicht die einzigen, die jemandem Schmerzen zufügen können.«

Daß sich sein Verdacht nun bestätigte, drehte ihm den Magen um. Sie hatten die Absicht, ihn genauso auszubilden wie die Mord-Sith. Das war der eigentliche Grund für den Halsring. So wollten sie ihn unterrichten: mit Schmerzen. Zum erstenmal hatte er das Gefühl, sie habe ihm, ohne es zu wollen, ihre wahren Absichten offenbart.

Sie zog das kleine Buch aus ihrem Gürtel. »Ich habe noch zu arbeiten, bevor wir aufbrechen. Geh und begrabe sie. Und verstecke ihre Leiche gut. Wird sie gefunden, verrät sie den anderen, was vorgefallen ist, und sie werden uns verfolgen. Und dann hätte ich umsonst getötet.«

Sie ließ sich vor dem erkalteten Feuerholz nieder. Nach einer eleganten Handbewegung über den verkohlten Resten ging es in Flammen auf. »Wenn du sie begraben hast, möchte ich, daß du einen Spaziergang machst und deinen Zorn abkühlst. Komme erst zurück, wenn das geschehen ist. Solltest du versuchen fortzulaufen, oder sollte es dir nicht gelingen, ein wenig Vernunft in deinen dicken Schädel zu bekommen, bis ich bereit zum Aufbruch bin, werde ich dich mit dem Halsring zurückholen.« Sie blickte ihn von unten herauf drohend an. »Es wird dir nicht gefallen, sollte ich dazu gezwungen sein. Mein Wort darauf, es wird dir kein bißchen gefallen.«


Die tote Frau war schmächtig und keine große Last. Er bemerkte ihr Gewicht kaum, als er den Lagerplatz verließ und in die flache, felsige Hügellandschaft wanderte. Der Mond war aufgegangen und der Weg leicht zu erkennen. Trübsinnige Gedanken kreisten in seinem Kopf, während er, gelegentlich gegen einen Stein tretend, seines Weges zog.

Richard war überrascht, denn vorher hatte Schwester Verna ihm nie gezeigt, wie tiefbetrübt sie über den Tod der Schwestern Grace und Elizabeth war. Aus diesem Grund hatte er sie für hartherzig gehalten. Jetzt tat sie ihm leid, weil sie solche Qualen litt. Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte ihm nichts davon erzählt. Es war leichter, mit jemandem zu hadern, den man für herzlos hielt.

Er hatte sich weit vom Lagerplatz entfernt und stand auf dem Gipfel einer kleinen Erhebung, umgeben von Felswänden und Felszacken. Sein Verstand befreite sich von seinen verqueren Gedanken und konzentrierte sich wieder auf die Leiche, die er auf seinem Rücken trug. Vielleicht hatte die Stichwunde des Dacra sie tatsächlich nicht getötet, trotzdem war ihr das Blut den Rücken hinabgelaufen, hatte ihr Haar verfilzt und seine Schulter durchweicht. Plötzlich fand er die Vorstellung ekelhaft, eine tote Frau auf seinem Rücken durch die Gegend zu schleppen.

Er legte die Leiche vorsichtig auf dem felsigen Boden ab und sah sich nach einem Ruheplatz für sie um. Er hatte sich eine kleine Schaufel an seinen Gürtel gehakt, doch das Graben schien nirgendwo leicht zu sein. Vielleicht konnte er sie in einer der Felsrinnen einmauern.

Als er in die schattendunklen Felsrinnen blickte, streifte er geistesabwesend die noch immer wunde Brandstelle auf seiner Brust. Nissel, die Heilerin, hatte ihm eine Salbe mitgegeben, die er jeden Tag aufstrich, bevor er die Wunde neu verband. Er sah sie sich nicht gern an. Er mochte den Handabdruck nicht, der sich in sein Fleisch eingebrannt hatte.

Schwester Verna hatte gemeint, möglicherweise habe er sich an der Feuerstelle im Haus der Seelen verbrannt, oder es sei ihnen vielleicht tatsächlich gelungen, die finsteren Günstlinge des Namenlosen herbeizurufen. Die Brandwunde stammte ganz offensichtlich nicht vom Feuer, sie war ein Mal der Unterwelt. Von Darken Rahl.

Irgendwie schämte er sich dessen und ließ es Schwester Verna niemals sehen. Die Wunde erinnerte ihn ständig daran, wer in Wirklichkeit sein Vater war. Sie schien eine Beleidigung Richard Cyphers zu sein, jenes Mannes, den er für seinen Vater hielt, der ihn aufgezogen hatte, der ihm vertraut und ihn unterrichtet, ihm seine Liebe geschenkt und dessen Liebe er erwidert hatte.

Das Mal erinnerte ihn auch ständig an das Ungeheuer, welches er war — das Ungeheuer, das Kahlan beringt und fortgeschickt sehen wollte.

Richard schlug nach einem Insekt, das sein Gesicht umsurrte. Er sah nach unten. Insekten umsurrten auch die Tote. Ein kalter Schrecken fuhr ihm in die Glieder, noch bevor er den Einstich an seinem Hals spürte.

Blutmücken.

Hastig zog er sein Schwert, als die gewaltige, schattengleiche Gestalt hinter einem Felsen vorgesprungen kam. Das Klirren des Stahls wurde von seinem Röhren übertönt. Der Gar stürzte sich mit ausgebreiteten Flügeln auf ihn. Für einen Augenblick glaubte er einen zweiten zu erkennen, der sich hinter dem ersten in dessen Schatten duckte, doch dann zog die Bestie seine ganze Aufmerksamkeit auf sich, als sie auf ihn niederging und ihn mit boshaft grünlich leuchtendem Blick fixierte.

Für einen langschwänzigen Gar war er zu groß und nach der Art zu urteilen, wie er Richards ersten Hieb ahnte und ihm auswich, auch zu gerissen. Also ein kurzschwänziger Gar, fluchte er leise. Er war dünner als die kurzschwänzigen Gars, die er zuvor gesehen hatte — wahrscheinlich als Folge magerer Beute in dieser öden Gegend, aber dünn oder nicht, er war noch immer riesengroß und überragte ihn um eine halbe Körperlänge.

Richard stolperte und fiel über die Tote, als er nach hinten taumelte, um dem Hieb einer mächtigen Kralle auszuweichen. Wütend mit dem Schwert um sich schlagend, kam er wieder auf die Beine und ließ sich von der Magie des Schwertes durchfluten. Mit der Schwertspitze riß er eine klaffende Wunde in den weichen, straffen, rosa Bauch. Der Gar heulte vor Wut auf, griff Richard erneut an und stieß ihn unerwartet mit einem ledrigen Flügel zu Boden.

Richard wälzte sich wieder auf die Beine, wirbelte im Hochkommen das Schwert herum. Die Klinge blitzte im Mondlicht auf und rasierte in einer Gischt aus Blut eine Flügelspitze ab. Das trieb den Gar nur zum nächsten wutentbrannten Angriff. Lange, triefende Reißzähne bissen durch die Nachtluft. Die Augen leuchteten noch grüner auf. Das grollende Geheul tat Richard in den Ohren weh. Krallen griffen von beiden Seiten nach ihm.

Die Magie jagte durch seinen Körper, wollte Blut. Statt dem Angriff auszuweichen, duckte sich Richard darunter durch. Dann sprang er wieder auf und rammte der riesenhaften, pelzbewachsenen Bestie das Schwert in die Brust. Unter dem lauten Todesgeschrei des Gars drehte Richard die Klinge und riß sie zurück.

Er hob das Schwert nach hinten, bereit, den widerwärtigen Kopf mit mächtigem Schlag abzutrennen, doch der Gar griff gar nicht an. Mit den Krallen griff er nach der Wunde in seiner Brust, aus der das Blut sprudelte, schwankte einen Augenblick, bevor er schwer auf seinen Rücken stürzte. Die Flügelknochen zerbrachen krachend, als er darauf fiel.

Aus den Schatten war ein durchdringender Klagelaut zu hören. Richard trat ein paar Schritte zurück. Eine kleine, dunkle Gestalt huschte über den Boden zu der besiegten Bestie und warf sich über sie. Und schlang die kleinen Flügel um die sich hebende Brust.

Richard machte ein ungläubiges Gesicht. Ein ganz junger Gar.

Die angeschlagene Bestie hob zitternd eine Kralle und griff kraftlos nach dem winselnden Körper. Ein gurgelnder Atemzug hob den kleinen Gar in die Höhe. Der Arm sank schlaff zur Seite. Das Garweibchen schien den Kleinen mit ihren schwach grünlich leuchtenden Augen aufzusaugen, dann hob es den Kopf und sah Richard flehend an. Blutiger Schaum blubberte aus dem Maul, als es seinen letzten, rasselnden Atemzug aushauchte. Die Glut in seinen Augen erlosch, dann lag das Garweibchen still. Das Jungtier krallte sich unter jämmerlichem Geschrei mit seinen kleinen Fäusten in sein Fell.

Klein oder nicht, überlegte Richard, es war trotzdem ein Gar. Er trat näher. Er mußte ihn töten. Der Zorn jagte durch seinen Körper. Er hob das Schwert über seinen Kopf.

Der kleine Gar hob zitternd einen Flügel über seinen Kopf und wich zurück. So verängstigt er auch war, seine Mutter wollte er nicht verlassen. Er winselte vor Angst und Pein.

Ein erschrockenes, kleines Gesicht linste über den zitternden Flügel. Weit aufgerissene, feuchte, grüne Augen blinzelten Richard an. Tränen rannen durch die tiefen Falten seiner Wangen, als das Garjunge verzweifelt schluchzend einen Klagelaut murmelte.

»Bei den guten Seelen«, sagte Richard leise, während er wie erstarrt dastand, »das kann ich nicht tun.«

Zitternd verfolgte der kleine Gar, wie die Schwertspitze im Boden versank. Richard drehte ihm den Rücken zu und schloß die Augen. Ihm war schlecht, sowohl von der Magie des Schwertes, die die Qualen seines besiegten Opfers auf ihn übertrug, als auch von der schrecklichen Vorstellung dessen, was er zu tun bereit gewesen war.

Er steckte das Schwert zurück und atmete tief durch, um sich zu beruhigen, dann hievte er die Tote über seine Schulter und zog los. Er hörte das erstickte Schluchzen des kleinen Gars, der sich an seine reglose Mutter klammerte. Er brachte es nicht fertig, ihn zu töten. Er konnte einfach nicht. Außerdem, so redete er sich ein, würde das Schwert das nicht zulassen. Die Magie wirkte nur, wenn er bedroht wurde. Sie würde nicht zulassen, daß er den kleinen Gar tötete. Das wußte er.

Natürlich konnte er die Klinge weiß färben, doch diese Schmerzen waren unerträglich. Er war nicht bereit, sich diesen Qualen auszusetzen, wenn es nur darum ging, ein hilfloses Jungtier umzubringen.

Er schleppte die Leiche zur nächsten Anhöhe und lauschte auf das schwächer werdende Gewinsel. Dann legte er die Leiche ab und setzte sich, um Luft zu holen. Im Mondschein konnte er die Bestie gerade noch erkennen, als dunklen Fleck vor dem etwas helleren Felsen, und darauf die kleinere Gestalt. Er hörte die schwerfälligen Laute der Qual und der Verwirrung. Richard blieb lange sitzen, sah hinüber und lauschte.

»Bei den guten Seelen, was habe ich nur getan?«

In den Augenwinkeln erweckte eine Bewegung seine Aufmerksamkeit. Zwei ferne Schattenrisse zogen vor dem großen, leuchtendhellen Mond vorbei. Sie schwenkten allmählich seitlich ab und setzten zur Landung an. Zwei Gars.

Richard sprang auf. Vielleicht entdeckten sie den kleinen Gar und halfen ihm. Er ertappte sich dabei, wie er sie insgeheim anfeuerte, dann merkte er, wie absurd es war, darauf zu hoffen, daß ein Gar weiterlebte. Andererseits entwickelte er ein eigenartiges Mitgefühl für diese Ungeheuer.

Richard duckte sich. Die beiden Gars weiter oben kamen ganz in seine Nähe, während sie mit weitem, kreisendem Blick die Situation auf dem Nachbarhügel erfaßten. Ihr Blickkreis wurde enger.

Der kleine Gar verstummte.

Die dunklen Gestalten stürzten hinab und landeten flügelschlagend ein gutes Stück voneinander entfernt. Vorsichtig umkreisten sie den toten Gar und seinen Sprößling. Mit ausgebreiteten Flügeln stürzten sie sich plötzlich auf den kleinen Gar, der sich noch immer stumm verhielt. Er brach sein Schweigen mit einem Schrei. Plötzlich gab es ein Durcheinander aus Flügelschlagen, boshaftem Röhren und verängstigten, schrillen Schreien.

Richard stand auf. Viele Tiere verspeisten die Jungen eines anderen ihrer eigenen Art. Besonders die männlichen Tiere, und vor allem, wenn Nahrung knapp war. Sie hatten nicht die Absicht, ihn zu retten, sie hatten vor, ihn zu fressen.

Bevor ihm bewußt wurde, was er tat, raste Richard den Hügel hinunter. Er rannte, ohne auf die Torheit zu achten, die er im Sinne hatte. Während er die Hügel zu dem kleinen Gar hinaufstürmte, zog er das Schwert. Dessen angstvolles Gejammer trieb ihn weiter. Das wilde Knurren seiner Angreifer löste den Zorn der Magie des Schwertes aus.

Die Klinge voran, stürzte er sich in das Durcheinander aus Fell, aus Krallen und aus Flügeln. Die beiden Gars waren größer als der, den er getötet hatte, was seinen Verdacht bestätigte, daß es sich um Männchen handelte. Seine Klinge traf nur auf Luft, als die beiden zurücksprangen, doch der eine von ihnen ließ den kleinen Gar fallen. Der flitzte über den Boden und krallte sich in das Fell seiner Mutter. Die beiden anderen kreisten ihn ein, sprangen vor, griffen an, schlugen mit ihren Krallen nach ihm. Richard schwang das Schwert, versuchte zuzustechen. Einer von ihnen versuchte, das Jungtier an sich zu reißen. Richard bekam es mit seinem freien Arm zu fassen und zog sich rasch ein Dutzend Schritte zurück.

Sie fielen über den toten Gar her. Mit einem Aufschrei reckte das Jungtier seine Arme nach seiner Mutter, schlug dabei Richard in dem Bemühen, sich loszureißen, die Flügel klatschend ins Gesicht. Die beiden Gars rissen und zerrten wild an dem Kadaver.

Richard fällte einen durchdachten Entschluß. Solange der tote Gar noch dalag, würde das Jungtier ihn nicht verlassen. Der Kleine hätte eine bessere Überlebenschance, wenn ihn nichts mehr an diesem Ort hielt. Der Kleine wand sich mächtig in seinem Arm. Er war zwar mindestens halb so groß wie Richard, aber wenigstens war er leichter, als er gedacht hatte.

Er täuschte einen Angriff vor, um die beiden fortzuscheuchen. Zu ausgehungert, um sich ohne Mahlzeit fortjagen zu lassen, schnappten sie nach ihm. Kämpften gegeneinander. Ihre Krallen schlitzten und fetzten, rissen den Kadaver in Stücke. Richard griff noch einmal an, als sich der kleine Gar losriß und kreischend vor ihm herrannte. Die beiden flatterten in die Luft, jeder mit einer Hälfte der Beute. Im Nu waren sie verschwunden.

Der kleine Gar stand an der Stelle, wo seine Mutter gelegen hatte, und klagte sein Weh, während er die beiden am dunklen Himmel verschwinden sah.

Richard schob keuchend und erschöpft sein Schwert in die Scheide zurück, dann ließ er sich auf einen niedrigen Felsen fallen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er legte den Kopf in die Hände, und Tränen traten ihm in die Augen. Er hatte sichtlich den Verstand verloren. Was in aller Welt hatte er getan? Er riskierte sein Leben für nichts. Nein, nicht für nichts.

Er hob den Kopf. Der kleine Gar stand in der Blutlache, dort, wo seine Mutter gelegen hatte, die zitternden Flügel ermattet ausgestreckt, mit eingesunkenen Schultern, und ließ die flauschigen Ohren hängen. Große, grüne Augen sahen ihn an. Richard und der Gar starrten sich eine Weile gegenseitig an.

»Tut mir leid, Kleiner«, sagte er leise.

Der Gar machte einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er wagte einen weiteren kleinen, schwankenden Schritt.

Richard breitete die Arme aus. Der Gar sah das, dann stürzte er sich mit einem jammervollen Klagelaut hinein.

Er klammerte sich mit seinen langen, dürren Armen um Richard. Die warmen Flügel schlangen sich um seine Schultern. Richard drückte ihn fest an sich.

Sacht sein struppiges Fell streichelnd, beruhigte er den Gar mit tröstenden Worten im Flüsterton. Richard hatte selten eine Kreatur in solchem Elend gesehen, eine Kreatur, die so dringend Trost brauchte, daß sie sich von dem trösten ließ, der ihr Elend verursacht hatte. Vielleicht sah der Kleine in ihm auch denjenigen, der ihn davor bewahrt hatte, von zwei Riesenmonstern gefressen zu werden. Vor die entsetzliche Wahl gestellt, hatte er vielleicht beschlossen, in ihm seinen Retter zu sehen. Vielleicht war der letzte Eindruck, daß er vor dem Gefressenwerden gerettet wurde, schlicht der stärkere.

Der kleine Gar schien kaum mehr zu sein als pelzige Haut und Knochen. Er war halb verhungert. Richard konnte seinen Magen knurren hören. Sein schwacher, moschusartiger Geruch war weder angenehm noch ekelhaft. Er versprach ihm säuselnd Hilfe, bis das Winseln des Tieres nachließ. Als er sich schließlich mit einem schweren, matten Seufzer beruhigt hatte, stand Richard auf. Seine scharfen, kleinen Krallen rissen an Richards Hosenbein, und der kleine Gar blickte zu ihm auf. Er hätte dem Kleinen gern etwas Futter dagelassen, doch er hatte seinen Rucksack nicht mitgenommen und konnte ihm nichts anbieten.

Er löste die Krallen von seiner Hose. »Ich muß jetzt gehen. Die zwei werden nicht mehr wiederkommen. Versuch, dir ein Kaninchen zu fangen oder irgend etwas anderes. Du mußt jetzt allein sehen, wie du zurechtkommst. Geh schon.«

Der Kleine blinzelte ihn an, gähnte und reckte die beiden Flügel und ein Bein dabei. Richard drehte sich um und wollte gehen. Er warf einen Blick über seine Schulter. Der kleine Gar lief ihm hinterher.

Richard stampfte mit dem Fuß auf und blieb stehen. »Du kannst nicht mitkommen.« Er streckte die Arme aus und versuchte, ihn zu verscheuchen. »Geh schon. Mach, daß du verschwindest.« Er ging rückwärts weiter. Der Gar folgte ihm. Er blieb erneut stehen und scheuchte ihn energischer fort. »Verschwinde! Du kannst nicht mit mir kommen. Hau ab!«

Er ließ die Flügel hängen und machte ein paar taumelige Schritte rückwärts, als Richard erneut losging. Diesmal blieb der Kleine, wo er war.

Richard mußte die Leiche der Frau begraben, und er mußte wieder im Lager sein, bevor Schwester Verna sich entschloß, ihn mit dem Halsring zurückzuholen. Er hatte nicht die geringste Absicht, ihr einen Grund zu liefern, sie würde früh genug selbst einen finden. Er sah noch einmal kurz nach hinten, um sich zu vergewissern, daß ihm der Gar nicht gefolgt war. Er war allein.

Er fand die Leiche auf dem Rücken liegend dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Erleichtert stellte er fest, daß keine Blutmücken in der Nähe waren. Er mußte entweder einen Flecken Erde finden, der weich genug war, um ein Loch auszuheben, oder irgendeine tiefe Spalte, in der er ihre Leiche verstecken konnte. Schwester Verna hatte ausdrücklich darauf bestanden, sie gut zu verstecken.

Er suchte das Gelände ab, als er einen leisen Flügelschlag vernahm und der kleine Gar ein Stück von ihm entfernt mit einem dumpfen Plumps landete. Er verwünschte den Kleinen still, während der die Flügel faltete, sich gemütlich vor ihm niederließ und ihn aus seinen großen, grünen Augen ansah.

Richard versuchte erneut, ihn zu verscheuchen. Der Kleine rührte sich nicht von der Stelle. Richard stemmte die Hände in die Hüfte.

»Du kannst nicht mit mir kommen! Verschwinde!«

Der Gar kam auf ihn zugewatschelt und umschlang seine Beine. Was sollte er nur tun? Er konnte nicht zulassen, daß ein Gar sich an ihn hängte.

»Wo sind deine Mücken? Du hast ja nicht mal eigene Blutmücken. Wie willst du ohne eigene Mücken dein Essen fangen?« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Na ja, das ist nicht mein Problem.«

Das kleine, faltige Gesicht linste um seine Beine herum. Aus der Kehle des Gars drang ein tiefes Knurren, als er seine Zähne bleckte und seine kleinen, scharfen Reißzähne zeigte. Richard sah sich um. Er knurrte die tote Frau an. Dann schloß er stöhnend die Augen. Der Kleine war hungrig. Wenn er die Leiche vergrub, würde der Gar sie wieder ausbuddeln.

Richard beobachtete, wie der Gar zu der Leiche hinübersprang und sie betatschte, während sein Knurren lauter wurde. Richards Kehle war trokken, er mußte schlucken — und der Gedanke, der ihm kam, behagte ihm gar nicht.

Schwester Verna hatte ihm gesagt, er solle die Leiche loswerden. Die Leute hier dürften nicht wissen, wie die Frau gestorben war, hatte sie gesagt. Die Vorstellung, daß ihre Überreste gefressen wurden, war unerträglich. Doch gefressen würde sie in jedem Fall, auch wenn er sie vergrub — von Würmern. Wieso waren Würmer besser als ein Gar? Dann kam ihm der nächste grausige Gedanke: Wer war er schon, sich ein Urteil erlauben zu dürfen? — Er hatte selbst Menschenfleisch gegessen. Wieso war das etwas anderes? War er etwas Besseres?

Außerdem konnte er sich aus dem Staub machen, solange der Kleine mit Fressen beschäftigt war, und sie wären verschwunden, bevor er Zeit fand, ihnen zu folgen. Danach wäre der Kleine auf sich gestellt. Und er wäre ihn los.

Richard sah, wie der kleine Gar vorsichtig die Leiche untersuchte. Probeweise zerrte er mit seinen Zähnen an einem Arm. Das Jungtier war noch nicht erfahren genug, um zu wissen, was man mit einer Beute machte. Sein Knurren wurde lauter. Richard wurde schlecht bei diesem Anblick.

Er ließ den Arm los und sah Richard an, als wollte er ihn um Hilfe bitten. Er flatterte aufgeregt mit den Flügeln. Er war hungrig.

Zwei Probleme auf einen Schlag.

Welchen Unterschied machte es? Sie war tot. Ihre Seele hatte ihren Körper verlassen und würde ihn nicht vermissen. Damit wären zwei Probleme auf einmal gelöst. Angesichts des gerade gefaßten Plans biß er die Zähne aufeinander und zog das Schwert.

Richard schob den ausgehungerten Gar mit einem Bein zurück, holte zu einem mächtigen Schlag aus und schlug eine riesige Wunde. Der kleine Gar fiel darüber her.

Richard ging schnell fort, ohne sich umzusehen. Bei den Geräuschen drehte sich ihm der Magen um. Wer war er, daß er sich ein Urteil erlauben durfte? Benommen fiel er in einen Trab zurück zum Lagerplatz. Sein Hemd war schweißgetränkt. Das Schwert hatte sich an seiner Hüfte noch nie so schwer angefühlt. Er versuchte, den ganzen Vorfall aus den Gedanken zu verbannen. Er dachte an die Wälder Kernlands und wünschte, er wäre zu Hause. Er wünschte, noch immer der sein zu können, der er einmal gewesen war.

Schwester Verna war gerade damit fertig geworden, Jessup zu striegeln, und sattelte ihn. Sie musterte Richard mit einem kurzen Seitenblick, bevor sie zum Kopf des Pferdes ging und ihm leise ein paar Worte zuflüsterte, es dabei unterm Kinn kraulte. Richard holte sich den Striegel, bürstete Geraldine rasch den Rücken und gab ihr in scharfem Tonfall zu verstehen, daß sie still stehen und sich nicht ständig umdrehen sollte. Er wollte schnell von hier fort.

»Hast du dafür gesorgt, daß man ihre Leiche nicht findet?«

Seine Hand mit dem Striegel erstarrte auf Geraldines Flanke. »Sollte jemand ihre Überreste finden, wird er nicht wissen, was passiert ist. Ich wurde von Gars angegriffen. Sie haben sich die Leiche geholt.«

Sie dachte einen Augenblick lang schweigend darüber nach. »Ich dachte schon, ich hätte Gars gehört. Nun, vermutlich wird das ausreichen.« Er machte sich wieder ans Striegeln, als sie erneut das Wort ergriff. »Hast du sie getötet?«

»Einen.« Er spielte mit dem Gedanken, ihr nichts zu erzählen, entschied dann aber, daß es keine Rolle spielte. »Da war ein kleiner Gar. Ihn habe ich nicht getötet.«

»Gars sind mörderische Bestien. Du hättest ihn töten sollen. Vielleicht solltest du zurückgehen und es nachholen.«

»Ich kann nicht. Er läßt mich nicht nahe genug an sich heran.«

Mit einem kurzen Stöhnen zurrte sie den Sattelgurt fest. »Du hast einen Bogen.«

»Welchen Unterschied macht das? Laßt uns einfach aufbrechen. Ganz auf sich gestellt, wird er vermutlich ohnehin verhungern.«

Sie bückte sich und sah nach, ob der Gurt das Pferd nicht kniff. »Vielleicht hast du recht. Das Beste wäre, wenn wir von hier verschwinden.«

»Schwester? Wieso haben die Gars uns nicht schon vorher angegriffen?«

»Weil ich mich mit meinem Han gegen sie abgeschirmt habe. Du warst zu weit fort, jenseits meines Schildes, deswegen haben sie dich angegriffen.«

»Dieser Schild wird uns also sämtliche Gars vom Leibe halten?«

»Ja.«

Nun, zumindest gab es etwas, wozu das Han gut war. »Kostet das nicht eine Menge Kraft? Gars sind große Tiere. Ist das nicht schwierig?«

Die Frage zauberte ein dünnes Lächeln auf ihre Lippen. »Ganz recht, Gars sind groß, und es gibt außer ihnen auch noch andere Bestien, gegen die ich mich mit meinem Han abschirmen muß. Das alles würde zuviel Kraft kosten. Man muß immer nach einer Möglichkeit suchen, sein Ziel mit dem geringsten Aufwand zu erreichen.«

Sie streichelte dem Pferd den Hals, während sie fortfuhr. »Ich habe die Gars nicht dadurch ferngehalten, daß ich die Bestien selbst vertrieben habe, sondern indem ich mich gegen die Blutmücken abgeschirmt habe. Das ist viel einfacher. Wenn die Fliegen den Schild nicht durchbrechen können, kommen die Gars nicht auf den Gedanken, daß sich dahinter etwas Lohnendes verbirgt, und deshalb haben wir Ruhe vor ihnen. Dieser Schirm verbraucht daher nur wenig meiner Kraft, und doch erreiche ich mein Ziel.«

»Und warum habt Ihr diesen Schirm nicht gegen die Menschen hier benutzt? Gegen die Frau, heute abend?«

»Einige Völker in der Wildnis besitzen einen Zauber gegen unsere Kraft. Deswegen sterben auch zahlreiche Schwestern bei dem Versuch, das Land zu durchqueren. Wüßten wir, wie diese Zauber oder Talismane funktionieren, könnten wir ihnen etwas entgegensetzen, doch wir wissen es nicht. Sie sind uns ein Rätsel.«

Richard beendete das Satteln von Geraldine und Bonnie schweigend. Die Schwester wartete geduldig. Er dachte, daß sie noch mehr zu sagen hätte — über ihren Streit vorhin, doch sie schwieg. Er beschloß, es dann eben selbst zur Sprache zu bringen.

»Schwester Verna, das mit Schwester Grace und Schwester Elizabeth tut mir leid.« Er streichelte Bonnies Schulter, während er den Blick auf den Boden gerichtet hielt. »Ich habe ein Gebet an ihrem Grab gesprochen. Ich wollte nur, daß Ihr das wißt. Ein Gebet an die Guten Seelen, damit sie über sie wachen und sie gut behandeln. Ich habe ihren Tod nicht gewollt. Vielleicht denkt Ihr darüber anders, aber ich wünsche niemandem den Tod. Ich bin das Töten leid. Ich kann nicht einmal mehr Fleisch essen, weil ich den Gedanken nicht ertragen kann, daß irgend etwas sterben mußte, nur um mich zu ernähren.«

»Danke für das Gebet, Richard, doch du mußt lernen, daß wir nur zum Schöpfer beten dürfen. Sein Licht ist es, das uns führt. Ein Gebet an die Seelen ist heidnisch.« Sie schien sich eines Besseren zu besinnen und milderte ihren harschen Ton. »Allerdings bist du noch nicht ausgebildet und konntest das nicht wissen. Ich kann dir keinen Vorwurf machen, denn du hast dein Bestes gegeben. Ich bin sicher, der Schöpfer hat dein Gebet gehört und die wohlwollende Absicht verstanden.«

Richard gefiel ihre engstirnige Haltung nicht. Vielleicht wußte er sogar mehr über die Seelen als sie. Über ihren Schöpfer wußte er allerdings nicht sehr viel, aber Seelen hatte er schon selbst gesehen, sowohl gute wie auch böse. Er wußte, wie gefährlich es war, sie zu ignorieren.

Ihre Dogmen kamen ihm ebenso töricht vor wie der Aberglaube der Landbevölkerung im Kernland. Überall hatte er eine andere Geschichte darüber gehört, wie die Menschen entstanden waren. Jede entlegene Region, die er besucht hatte, besaß ihre eigene Version, wie der Mensch aus diesem oder jenem Tier, aus dieser oder jener Pflanze erschaffen worden war. Richard hatte den Geschichten gern gelauscht. Sie steckten voller Wunder und Magie. Doch suchten die Geschichtenerzähler mit ihren Mythen und Legenden nur zu begreifen, wie sich der Mensch in die Welt fügte. Richard war nicht bereit, die Dinge, die die Schwester ihm erzählt hatte, nur deshalb als wahr anzusehen, weil sie daran glaubte.

Er stellte sich den Schöpfer nicht wie einen König vor, der auf einem Thron saß und auf jedes armselige Gebet lauschte, das ihm zu Ohren kam. Seelen waren dagegen einmal selbst lebendig gewesen und verstanden die Bedürfnisse der Sterblichen, kannten die Nöte von lebendem Fleisch und Blut.

Zedd hatte ihm beigebracht, der Schöpfer sei nur ein anderer Name für die Kraft der Ausgewogenheit in allen Dingen — und kein weiser Mann, der über alles Gericht hielt.

Doch was spielte das für eine Rolle? Er wußte, daß Menschen an ihren Grundsätzen festhielten und in diesem Punkt sehr engstirnig waren. Schwester Verna glaubte, was sie eben glaubte, daran würde er nichts ändern können. Er hatte Menschen niemals ihren Glauben vorgehalten und wollte damit jetzt auch nicht anfangen. Ein solcher Glaube, ob er nun stimmte oder nicht, konnte ein Trost sein.

Er streifte den Gurt über seinen Kopf und hielt ihr das Schwert hin. »Ich habe über das nachgedacht, was Ihr vorhin gesagt habt. Ich habe mich entschieden, daß ich das Schwert nicht mehr will.«

Sie hob die Hände, und er legte das Schwert mit Scheide und Gurt in sie. hinein.

Sie zeigte keinerlei Regung. »Meinst du das wirklich ernst?«

Er nickte. »Ja. Ich bin damit fertig. Das Schwert gehört jetzt Euch.«

Er machte kehrt, um nach seinem Sattel zu sehen. Selbst ohne das Schwert an seiner Hüfte spürte er noch das kribbelnde Gefühl seiner Magie. Das Schwert konnte er aufgeben, doch seine Magie blieb ihm. Er war der wahre Sucher, und das konnte ihm niemand nehmen. Aber wenigstens konnte er sich von der Klinge trennen und damit von den Taten, die er damit beging.

»Du bist ein sehr gefährlicher Mann, Richard«, sagte sie leise.

Er sah zurück über seine Schulter. »Deshalb gebe ich Euch das Schwert. Ich will es nicht mehr, Ihr wollt es, also soll es Euch gehören. Jetzt werden wir sehen, wie es Euch gefällt, damit zu töten.«

Er zog das Ende des Sattelgurtes durch die Schnalle und zurrte es fest. Er versetzte Bonnie einen freundlichen Klaps, bevor er sich umdrehte. Schwester Verna hielt das Schwert noch immer in der ausgestreckten Hand.

»Bis jetzt hatte ich keine Vorstellung, wie gefährlich du bist.«

»Das ist vorbei. Jetzt habt Ihr das Schwert.«

»Ich kann es nicht annehmen«, sagte sie leise. »Es war meine Pflicht, dir das Schwert bei deiner Rückkehr abzunehmen — um dich auf die Probe zu stellen. Du hattest nur eine Möglichkeit, zu verhindern, daß du es verlierst. Und genau das hast du getan.« Sie hielt ihm das Schwert hin. »Kein Mann ist gefährlicher als der, der unberechenbar ist. Es gibt keine Möglichkeit vorherzusagen, wie du dich unter Druck verhalten wirst. Das wird großen Ärger bringen. Dir. Und uns.«

Richard wußte nicht, wovon sie sprach. »Was ist daran unberechenbar? Ihr wolltet das Schwert haben, und ich bin die Dinge leid, die ich damit tue, also habe ich es Euch überlassen.«

»Du glaubst, es zu verstehen, denn das ist deine Art zu denken. Andere denken nicht so. Du bist ein Rätsel. Schlimmer, dein unerklärliches Verhalten tritt auf, wenn du es am meisten brauchst. Das ist die Gabe. Du gebrauchst dein Han, ohne zu wissen, was du tust. Das ist gefährlich.«

»Ein Grund für den Halsring ist, daß er meinen Geist für die Gabe öffnen soll. Das habt Ihr selbst gesagt. Wenn ich die Gabe nutze — und das verlangt Ihr schließlich von mir — und ich eben das tun muß, dann sehe ich nicht, was daran gefährlich sein soll.«

»Was du tun mußt und was richtig ist, braucht nicht unbedingt dasselbe sein. Etwas zu wollen, heißt nicht, daß es auch richtig ist.« Sie deutete mit dem Kopf auf das Schwert. »Nimm es zurück. Ich kann es im Augenblick nicht annehmen. Du mußt es behalten.«

»Ich habe Euch schon gesagt, ich will es nicht.«

»Dann wirf es ins Feuer. Ich kann es nicht annehmen. Es ist mit einem Makel behaftet.«

Richard riß es ihr aus der Hand. »Ich werde es nicht ins Feuer werfen.« Er steckte seinen Kopf durch den Gurt und zog ihn an seiner Hüfte zurecht. »Ich glaube, Ihr seid zu abergläubisch, Schwester Verna. Es ist nur ein Schwert. Es ist mit keinem Makel behaftet.« Sie irrte sich. Es war die Magie, die mit einem Makel behaftet war, und die hatte er ihr nicht angeboten. Auch wenn er seine Magie, alle Magie, loswerden wollte, er konnte nicht. Sie war ein Teil von ihm. Kahlan hatte das erkannt und hatte sich davon befreit. Von ihm.

Sie wandte sich von ihm ab und bestieg Jessup. Ihre Stimme klang kalt und abweisend. »Wir müssen aufbrechen.«

Richard ließ sich in seinem Sattel nieder und ritt ihr hinterher. Hoffentlich hatte der kleine Gar eine Chance zu überleben. Er verabschiedete sich im stillen von ihm und ritt hinter Schwester Verna in die Nacht.

Auch wenn es ihm ernst damit gewesen war, ihr das Schwert zu überlassen, so fühlte er sich seltsam erleichtert, es zurückzuhaben. Es gehörte zu ihm und machte ihn auf irgendeine Weise zu einem Ganzen. Zedd hatte es ihm geschenkt, und das Schwert war es gewesen, das ihn verändert hatte, es war das einzige, was ihn an seinen Freund und an zu Hause erinnerte.

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