Die Blitze kamen nicht mehr zurück. Die aufgewühlten Wolken hüllten ihn noch immer ein, doch es blitzte nicht mehr. Er ging, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, wohin. Spürte er eine unerklärbare Gefahr, umging er sie. Zu beiden Seiten verlockten ihn Trugbilder hinzuschauen, doch unerschütterlich mißachtete er sie.
Anfangs hatte er ihn wegen der dunklen Wolken fast nicht bemerkt, den nächsten Turm. Er glich dem ersten, nur war er glänzend schwarz. Zuerst spielte er mit dem Gedanken, ihn zu umgehen, doch dann fand er sich plötzlich in einem der Torbögen wieder und warf einen Blick ins Innere. Der Boden war mit Sand bedeckt, der in die Ecken geweht war, doch er war schwarz, nicht weiß. Dank derselben Lichtbrechung funkelte er jedoch wie weißer Sand.
Die Neugier war stärker als die Vorsicht, also griff er hinein und fuhr mit dem Finger über den schwarzen Ruß, der die Wände bedeckte. Er schmeckte süß.
Der Zauberer, der sein Leben diesem Feuer geopfert hatte, hatte damit einen anderen retten und nicht sich selbst die Folter ersparen wollen. Dieser Zauberer war altruistisch, der andere unehrenhaft gewesen.
Wenn der Besitz der Gabe bedeutete, daß er ein Zauberer war, zu welcher Sorte gehörte er dann, überlegte Richard. Er sah sich gern als jemand, der eine hohe Gesinnung hatte, andererseits hatte er gerade einen anderen Menschen umgebracht, um sich Qualen zu ersparen. Doch war es nicht sein Recht, zu töten, um sein Leben zu schützen? Mußte er erst auf diese Weise sterben, um ehrenhaft zu sein?
Wie wollte er beurteilen, welcher der beiden Zauberer weiser gewesen war oder welcher getan hatte, was ihm zustand?
Der funkelnde schwarze Sand faszinierte ihn. Er schien das Licht aus dem Nichts anzusaugen und zu brechen, um es dann in blinkenden Farben im Turm zu verteilen. Richard holte eine leere Gewürzdose und schaufelte sie mit dem schwarzen Sand voll. Er stopfte die Dose wieder in sein Bündel, das an Geraldines Sattel hing, und pfiff nach Bonnie — sie war wieder grasen gegangen.
Sie hob den Kopf und drehte ihm die Ohren zu. Pflichtschuldig kam sie herbeigetrabt, stellte sich zu ihm und den anderen beiden Pferden und rieb ihren Kopf an seiner Schulter, in der Hoffnung, am Hals gekrault zu werden. Als sie den Turm hinter sich ließen, tat er ihr den Gefallen.
Sein Hemd war schweißdurchtränkt, als er raschen Schritts über den kahlen Boden marschierte. Er wollte raus aus diesem Tal, fort von der Magie, den Bannen und den Trugbildern. Schweiß rann ihm im Gehen von der Stirn, während er sich bemühte, die vertrauten Stimmen zu ignorieren, die ihn riefen. Er sehnte sich danach, die Gesichter seiner Lieben zu sehen, die nach ihm riefen, doch er blickte nicht hin. Andere Stimmen stießen zischend Verwünschungen und Bedrohungen aus, doch er ging weiter. Manchmal kribbelten die Banne auf seiner Haut, brannten stechend vor Hitze oder Kälte. Doch dann eilte er nur noch schneller weiter.
Als er sich den Schweiß aus den Augen wischte, fiel sein Blick auf den ausgebrannten Boden vor ihm, und er sah Spuren. Seine eigenen. Bei dem Versuch, dem Gefühl von Gefahr, den Trugbildern und Stimmen aus dem Weg zu gehen, mußte er im Kreis gegangen sein. Vorausgesetzt, die Fußspuren waren tatsächlich echt.
Ihn beschlich das unangenehme Gefühl, daß die Magie ihn in eine Falle lockte. Vielleicht war er während all der Zeit kein Stück weit aus dem Tal der Verlorenen herausgekommen. Vielleicht war auch er verloren. Wie sollte er überhaupt hier herausfinden? Er zog die Pferde weiter, setzte seinen Weg fort, doch mit einem zunehmenden Gefühl von Panik.
Aus dem dunklen Nebel tauchte unerwartet ein Trugbild auf, das ihn vor Schreck sofort stehenbleiben ließ. Es war Schwester Verna. Sie wanderte ziellos umher, die Hände zum Gebet gefaltet, die Augen himmelwärts gerichtet, ein seliges Lächeln auf den Lippen.
Richard eilte auf sie zu. »Verschwinde! Ich habe genug von diesen Gespenstern! Laß mich in Ruhe!« Sie schien ihn nicht zu hören. Das war unmöglich, sie war durchaus nahe genug, um ihn zu verstehen. Er ging näher. Plötzlich fühlte sich die Luft ringsum zäh an, schien zu funkeln, bis er diese Stelle hinter sich zu lassen schien. »Hörst du? Hör mir zu! Ich sagte ›Verschwinde!‹«
Entrückte braune Augen richteten sich auf ihn. Sie streckte den Arm aus, die Hand zu einer abwehrenden Geste erhoben. »Laß mich. Ich habe gefunden, was ich suche. Laß mir meinen Frieden und mein Glück.«
Als sie sich umdrehte, spürte Richard ein gespanntes Kribbeln bis hinunter in die Zehen. Sie versuchte nicht, ihn wie die anderen Trugbilder zu verleiten.
Sein Haar wollte sich sträuben.
»Schwester Verna?«
War das möglich? Lebte sie tatsächlich noch? Vielleicht hatte er sie nicht wirklich umgebracht. Vielleicht war alles eine Täuschung gewesen. »Schwester Verna, wenn Ihr es wirklich seid, antwortet mir.«
Sie betrachtete ihn mit einem verwirrten Stirnrunzeln. »Richard?«
»Natürlich, Richard.«
»Geh fort«, sagte sie leise, während sie ihre Augen erneut gen Himmel hob. »Ich bin mit Ihm vereint.«
»Mit ihm? Mit wem?«
»Bitte, Richard, du bist verdorben. Geh fort.«
»Wenn Ihr ein Trugbild seid, dann verschwindet selbst.«
Sie betrachtete ihn flehend. »Bitte, Richard. Du störst Seine Ruhe. Zerstöre nicht, was ich gefunden habe.«
»Was habt Ihr denn gefunden? Jedidiah?«
»Den Schöpfer«, sagte sie in weihevollem Ton.
Richard sah in den Himmel. »Ich sehe niemanden.«
Sie kehrte ihm den Rücken zu und schlenderte davon. »Laß mich bei Ihm bleiben.«
Richard wußte nicht, ob dies die echte Schwester Verna war oder eine Täuschung. Oder vielleicht der Geist der toten Schwester. Was mochte stimmen? Wie sollte er das entscheiden?
Er hatte der echten Schwester versprochen, daß sie es schaffen würden, daß er ihr helfen würde. Er ging ihr hinterher, bevor sie im dunklen Nebel verschwinden konnte.
»Wie sieht der Schöpfer aus, Schwester Verna? Ist er jung? Alt? Hat er langes Haar? Kurzes? Hat er noch alle seine Zähne?«
Sie drehte sich wütend um. »Laß mich in Ruhe!«
Der bedrohliche Ausdruck in ihrem Gesicht ließ ihn auf der Stelle stehenbleiben.
»Nein. Hört auf mich, Schwester. Ihr kommt mit mir. Ich werde Euch nicht in diesem Bann gefangen zurücklassen. Das ist alles, was Ihr seht: einen Bann der Verzückung.«
Seine Überlegung war folgendermaßen: wenn sie ein Gespenst war und er sie mitnahm, würde sie verschwinden, wenn sie die Magie des Tales verließen. War sie echt — gut, dann würde er sie eben retten. Sie würde überleben. Er wünschte sich zwar, sie los zu sein, aber noch mehr wünschte er sich, daß sie lebte und ihm nicht wirklich das antat, was sie im Turm getan hatte. Das durfte nicht die echte Schwester Verna gewesen sein. Er ging wieder zu ihr.
Sie hob die Hand, als wollte sie ihn zurückstoßen, obwohl er noch gut zehn Schritte entfernt war. Die Wucht des Stoßes warf ihn zu Boden. Er rollte ab, faßte sich an die Brust, betastete die getroffene Stelle, doch der Schmerz ließ bereits nach. Es hatte sich angefühlt wie das, was man ihm im Turm angetan hatte — ein heftiger, brennender Schmerz.
Ächzend setzte er sich auf und sammelte rasch seine Gedanken, während er nach Luft schnappte. Er hob den Kopf, um festzustellen, wo die Schwester steckte, für den Fall, daß sie die Absicht hatte, ihm noch einmal weh zu tun. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken.
Während die Schwester wieder in den Himmel blickte, begann der dunkle Nebel, der sie umgab, zu wirbeln und verschmolz zu Gebilden, zu einer Art Geistererscheinungen: zu materielosen Figuren, in denen der Tod nur so schäumte und brodelte. In ihren Gesichtern bewegten sich dampfende, fliehende Schatten, die sich zu glühenden Augen in einem tintenschwarzen Gesicht zusammensetzten — heiß züngelnde Flammen voller Haß, die aus ewiger Nacht erglühten.
Eine kribbelnde Gänsehaut kroch über seinen Rücken. Im Haus der Seelen, als er den Screeling auf der anderen Seite der Tür gespürt hatte, als er den Mann gespürt hatte, der im Begriff stand, Chandalen zu töten, und bei seiner ersten Begegnung mit den Schwestern hatte er ein durchdringendes, unerklärliches Gefühl der Gefahr empfunden. Genau das gleiche empfand er jetzt.
Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß all dies ein Teil der Magie des Tales war und daß diese Magie endlich einen Eindringling entdeckt hatte. Ihn.
»Verna!« schrie er.
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ich habe dir doch schon gesagt, Richard, ich werde mit Schwester Verna angesprochen…«
»Ist es das, was Ihr Euren Zöglingen antut? Sie mit Eurer Kraft verletzen?«
Sie wirkte überrascht. »Aber ich…«
»Ist das Euer ewiges Paradies? Ewiger Streit mit Menschen? Menschen weh zu tun?« Er ließ sich auf die Knie fallen und betrachtete die Gebilde, die sie umwehten. »Schwester, wir müssen hier raus.«
»Ich möchte bei Ihm bleiben. Ich habe meine Seligkeit gefunden.«
»Ist das hier Eure Vorstellung vom Paradies? Jemandem weh zu tun? Antwortet mir, Schwester Verna! Ist es das, was Euer Schöpfer von Euch will? Daß Ihr den Menschen weh tut, die Euch anvertraut werden?«
Sie sah ihn mit aufgerissenem Mund an. Plötzlich gewannen ihre Bewegungen an Schnelligkeit, und sie stürzte zu ihm. »Habe ich dir weh getan?« Sie packte ihn bei den Schultern. »Oh, Kind, das tut mir leid. Das habe ich nicht gewollt.«
Er kam wieder ganz auf die Beine und schüttelte sie. »Schwester, wir müssen hier raus! Ich weiß nicht, wie! Sagt mir, wie man hier rauskommt, bevor es zu spät ist!«
»Aber … ich will doch bleiben.«
»Seht Euch um, Schwester Verna! Was seht Ihr?«
Hölzern zuckte sie mit dem Kopf, blickte von einem dunklen Gebilde zum nächsten, dann wieder zu ihm. »Richard…«
Richard zeigte wütend in den Himmel. »Seht hin, Schwester! Das ist nicht der Schöpfer! Das ist der Hüter!«
Sie starrte in die angezeigte Richtung. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund.
Der rote Schein in den Augen eines der dunklen, schwebenden Gebilde wurde greller, verwandelte sich in ein Glühen. Das Gefühl von Gefahr loderte durch die Tiefen seiner Seele. Im Nu hatte er das Schwert gezogen. Die flüchtigen Gespenstererscheinungen verhärteten sich zu festen Knochen und Muskeln, Krallen und Reißzähnen und verwandelten sich in eine mit dunkler, aufgesprungener, ledriger Haut bedeckte Bestie, die mit häßlichen, schwärenden Wunden übersät war. Sie stürzte sich mit entsetzlicher Geschwindigkeit auf ihn herab.
Das Schwert mit beiden Händen fest umklammert, ließ Richard seiner Wut mit einem Schrei freien Lauf und bohrte der Bestie das Schwert beim Angriff in die Brust. Weiches Fleisch und harte Knochen zischten beim Kontakt mit der Klinge. Das Ungeheuer glitt vom Schwert herab und klatschte wie ein Eimer feuchter Erde auf den Boden. Seine Haut war nicht imstande, den Inhalt festzuhalten. Ein Tropfen Blut spritzte auf Richards Arm, ätzte sich durch sein Hemd und fraß sich in sein Fleisch. Die Bestie brodelte und schäumte von innen heraus. Aus der schwärenden Wunde wimmelte Gewürm.
Schwester Verna starrte die blubbernde, rauchende Masse mit aufgerissenen Augen an. Richard packte sie bei ihren Locken und zwang sie, die Gebilde anzusehen, die immer näher rückten. »Ist das Eure Vorstellung vom Paradies? Seht hin! Seht sie Euch an!«
Er riß sie nach hinten, als das dunkle, wässrige Blut, das aus der Bestie herausquoll, sich entzündete und ein beißender, öligschwarzer Rauch kräuselnd aus den Flammen in die Höhe stieg. Dann fiel ihm ein, was sie ihm zuvor über das Zurückweichen in eine noch größere Gefahr erzählt hatte, und er blieb stehen. Er roch verbranntes Fleisch, und als er merkte, daß es sein eigenes war, spuckte er auf die schmerzende, rauchende Wunde, die das Blut der Bestie auf seinem Arm hinterlassen hatte.
Mit einem kurzen Blick in die Runde verschaffte er sich Übersicht. Hinten waren noch mehr dieser Gebilde. Ein weiteres materialisierte sich zu einer Bestie, diesmal mit gespaltenen Hufen und einer breiten Schnauze. Rasiermesserscharfe Eckzähne sprossen hervor und wuchsen sich zu langen, gebogenen Waffen aus.
Schnaubend griff die Bestie an. Richard hämmerte ihr sein Schwert auf den Schädel, als sie versuchte, ihn aufzuspießen. Die Bestie sackte kreischend in sich zusammen. Als der massige Körper auf dem Boden aufschlug, hatte er sich bereits in eine Masse wimmelnder Schlangen verwandelt. Beim Aufprall auf den Boden rollten und stürzten sie übereinander, das verflochtene Knäuel stob zappelnd auseinander. Hunderte roter Augen sahen zu ihm hoch. Rote Zungen leckten durch die Luft, während sich die gelb-schwarz geringelten Körper auf die beiden zuschlängelten.
Richard glaubte nicht, daß dies nur immaterielle Trugbilder waren. Die Wunde auf seinem Arm, wo der Blutstropfen hingekleckert war, brannte schmerzhaft. Die Schlangen zischten. Einige rollten sich ein, um anzugreifen, bleckten triefende Fangzähne.
»Richard, wir müssen fort von hier. Komm, Kind.«
Sie machten kehrt und rannten los, gefolgt von den rotäugigen Gebilden. Richard fühlte die dicke Luft, als er hindurchlief. Die Luft ringsum funkelte.
Schwester Verna stieß einen Schrei aus. Er drehte sich um und sah sie auf dem Boden liegen, kurz hinter ihr die Schlangen. Sie sprang auf und versuchte es noch einmal, kam aber nicht hindurch. Für sie war die Luft undurchdringlich.
Schweigend blieb sie einen Augenblick lang stehen und beruhigte sich. Sie faltete die Hände. »Richard, ich bin in diesem Bann gefangen. Ich kann ihn nicht verlassen. Der Bann hat mich wiedererkannt. Für mich ist es zu spät. Rette dich. Lauf. Ohne mich hast du vielleicht eine Chance. Beeil dich. Los.«
Es schienen nun wesentlich mehr Schlangen zu sein, als Richard anfangs gesehen hatte. Der Boden wimmelte nur so von ihnen. Sie kreisten ihn ein. Er schlug auf sie ein und enthauptete drei von ihnen, die ihm zu nahe kamen.
Die kopflosen Körper wanden sich und zerfielen zu Hunderten riesiger, glänzender, schwarz-braun geringelter Käfer. Sie flitzten in alle Richtungen davon. Ein paar krabbelten in seinem Hosenbein hinauf. Verzweifelt trat er mit dem Bein aus, um sie abzuschütteln. Jeder Biß fühlte sich an wie ein Stück glühender Kohle auf der Haut. Er trampelte, um sie loszuwerden. Aus der Erde, dort, wo er die Schlangen getötet hatte, kamen immer mehr Käfer hervorgekrabbelt, deren hart gepanzerte Körper übereinanderpurzelten und dabei raschelten wie trockenes Laub, das über ausgedörrtes Land geweht wird.
Inmitten der raschelnden Käfer und der wimmelnden Schlangen herumspringend, trat er zurück in die funkelnde Luft. »Ohne Euch habe ich keine Chance. Ihr kommt mit.«
Er schlang die Arme um sie und stürzte sich mit dem Schwert voran vor die funkelnde Barriere. Zuerst schien die Wand hart zu sein, doch dann explodierte die Luft ringsum zu glitzernden Blitzen. Lichtzacken wie von zersprungenem Glas schossen in alle Richtungen davon. Die Luft zerbarst mit krachendem Donner in einer Funkenexplosion. Die umherschießenden funkelnden Teilchen wurden langsamer und rieselten wie dicke Schneeflocken zur Erde. Bei der Berührung mit dem Boden erlosch ihr Licht. Die beiden schoben sich an der verschwundenen Barriere vorbei, vom Bann befreit.
Die dunklen Gebilde folgten ihnen. Die Schlangen verfolgten sie. Käfer zerplatzten knirschend unter seinen Stiefeln.
Richard packte das Schwert fester. »Machen wir, daß wir von hier fortkommen.«
Sie machte zwei Schritte und erstarrte.
»Was ist?«
»Ich kann den Weg nicht fühlen«, sagte sie leise. »Richard, ich spüre die Lücken nicht.« Sie drehte sich zu ihm um. »Fühlst du etwas?« Er schüttelte den Kopf. »Versuch es! Versuche zu spüren, wo weniger Gefahr lauert, Richard.«
Er stampfte mit den Füßen auf, um die Käfer von den Beinen zu abschütteln, und wischte einen fort, der es bis zu seinem Gesicht geschafft hatte. Noch immer strömten Schlangen aus der Erde, dort, wo das Monster zu Boden gegangen war. Sie sprudelten hervor wie Wasser aus einer Quelle. »Ich kann nicht. Ich spüre überall Gefahr. Es ist überall das gleiche. Wohin?«
Sie raffte ihr Kleid zusammen. »Ich weiß es nicht.«
Richard hörte einen Schrei. Die vertraute Stimme hatte seine Aufmerksamkeit erregt, bevor er sich bremsen konnte. Kahlan stand genau dort, wo die Schlangen aus dem Boden hervorsprudelten. Sie glitten an ihr hinauf und über sie hinweg, als wäre sie ein Fels in einem Strom aus Schlangen. Sie streckte die Hände nach ihm aus.
»Richard! Hilf mir! Du hast gesagt, du würdest mich immer lieben! Bitte, Richard! Laß mich jetzt nicht allein. Hilf mir.«
Leise und verunsichert fragte er: »Schwester Verna, was seht Ihr?«
»Jedidiah«, antwortete sie ruhig. »Er ist über und über mit Schlangen bedeckt. Er will meine Hilfe. Möge der Schöpfer uns gnädig sein.«
»Warum sollte er ausgerechnet jetzt damit anfangen?«
»Bitte, keine Gotteslästerungen!«
Er zwang sich, dem Trugbild den Rücken zuzukehren. Er packte die Schwester am Arm und führte sie fort. Sie beobachteten, wie die Gebilde um sie herumwehten, und wichen ihnen aus. Den Schlangen konnten sie aus dem Weg gehen, aber es war unmöglich, nicht auf die riesigen Käfer zu treten. Er wußte, daß es gefährlicher sein konnte, ziellos umherzulaufen, als stehenzubleiben, jetzt, da die Magie sie gefunden hatte. Trotzdem drängten ihn seine Füße immer weiter. Schließlich erreichten sie eine Stelle, die fürs erste frei von Schlangen und Käfern war.
»Die Zeit läuft uns davon. Spürt Ihr noch immer nichts? Könnt Ihr den Weg schon fühlen?«
»Nichts. Tut mir leid, Richard. Ich habe in meiner Pflicht versagt, den Schöpfer enttäuscht. Ich habe uns beide in den Tod geführt.«
»Noch nicht ganz.«
Richard pfiff die Pferde herbei. Sie kamen angetrabt, unbeachtet von den dunklen Gebilden. Bonnie rieb ihren Kopf an ihm, drückte ihn einen Schritt zurück. Schwester Verna nahm die Leine auf und wollte Jessup wegführen.
»Nein!« Richard sprang zu Bonnie. Er schlug zwei klickende Käfer von seinem Hosenbein. »Steigt auf. Rasch.«
Schwester Verna starrte ihn an. »Richard, wir können die Pferde nicht nehmen. Das sind nur dumme Tiere. Sie werden einen Schrecken bekommen und uns in ein magisches Unwetter tragen. Ohne die Kandaren können wir sie nicht kontrollieren.«
»Schwester, Ihr habt mir gesagt, Ihr hättet Die Abenteuer von Bonnie Day gelesen. Erinnert Ihr Euch noch daran, wie die drei Helden die Verletzten in Sicherheit bringen und sie an den Giftfluß kommen, den man nicht überqueren kann? Was haben sie da gesagt? Sie sagten, die Menschen sollten nur darauf vertrauen, daß man es schaffen kann. Bonnie, Geraldine und Jessup haben sie über den Fluß geführt. Habt Vertrauen, Schwester. Steigt auf. Beeilt Euch.«
»Du willst, daß ich etwas tue, was uns in den sicheren Tod führt, nur weil du irgendeine Torheit in einem Buch gelesen hast? Wir müssen zu Fuß gehen!«
Bonnie warf ihren Kopf zurück und tänzelte. Richard zog an den Zügeln, um sie still zu halten. »Ihr kennt den Weg nicht. Ich kenne den Weg nicht. Wenn wir hier bleiben, kommen wir um.«
»Was soll uns denn das Reiten nützen!« Sie mußte scharf an der Leine reißen, um Jessup ruhig zu halten. Bonnies Erregtheit hatte ihn aufgescheucht.
»Schwester, was haben die Pferde den ganzen Tag getan, wenn wir sie gelassen haben?«
»Sie haben gegrast — auf einer Weide, die nicht existiert. Sie haben Halluzinationen.«
»Wirklich? Wißt Ihr was? Angenommen, wir wären diejenigen, die Halluzinationen haben? Vielleicht sehen sie, was wirklich existiert. Und jetzt laßt uns losreiten.«
Die dunklen Gebilde waren näher gekommen, ihre Augen erglühten in einem helleren Rot. Schwester Verna warf einen Blick darauf, dann zog sie sich in den Sattel. »Aber -«
»Habt ein wenig Vertrauen, Schwester.« Bonnie tänzelte zur Seite, wollte fort. »Ich habe versprochen, Euch zu retten, und genau das habe ich vor. Ich übernehme die Führung. Bleibt nicht zurück.«
Richard trat seinem Pferd hart in die Flanken. Das Tier machte einen Satz nach vorn und fiel in äußersten Galopp. Die beiden anderen Pferde setzten hinterher und folgten. Er beugte sich nach vorn über Bonnies Widerrist, als sich die Stute im Galopp streckte. Er ließ die Zügel schießen, ohne ihr im geringsten den Weg vorzugeben. Er hielt den Blick auf ihre Ohren gerichtet, statt auf das, was vor ihm lag — er wollte sie nicht beeinflussen.
»Richard!« schrie Schwester Verna von hinten. »Im Namen des Schöpfers, paß auf, wohin du reitest. Siehst du nicht, wohin du das Pferd lenkst!«
»Ich lenke es nirgendwohin«, rief er über das Geräusch der donnernden Hufe hinweg. »Es sucht sich seinen eigenen Weg.«
Die Schwester galoppierte neben ihm her, die Brauen vor Wut zusammengezogen. »Bist du wahnsinnig? Sieh doch, wohin du reitest!«
Richard riskierte einen kurzen Blick. Sie stürzten geradewegs auf den Rand einer Klippe zu.
»Schließt die Augen, Schwester.«
»Hast du den Verstand ver…«
»Schließt die Augen! Das ist eine Täuschung. Die Halluzination einer Angst, die uns gemeinsam ist, der Angst zu fallen. Aus dem gleichen Grund haben wir beide die Schlangen gesehen.«
»Die Schlangen waren echt! Wenn du dich irrst, werden wir umkommen!«
»Schließt die Augen. Wenn dort wirklich eine Klippe ist, werden die Pferde nicht über ihren Rand hinausrennen.« Hoffentlich irrte er sich in diesem Punkt nicht.
»Es sei denn, es gibt sie wirklich und die Magie gaukelt ihnen einen ebenen Erdboden vor, um uns umzubringen!«
»Wenn wir hier bleiben, kommen wir ebenfalls um! Wir haben keine Wahl!«
Er hörte, wie sie knurrend fluchte, als sie ihren linken Zügel nach hinten riß und versuchte, ihr Pferd zu wenden, doch Jessup blieb bei Bonnie. Bonnie hatte die Führung, Jessup und Geraldine wollten sie nicht verlassen.
»Ich hab’ dir doch gesagt, es war töricht, die Kandaren zu vernichten! Jetzt können wir sie nicht kontrollieren! Sie gehen mit uns durch!«
»Ich habe gesagt, daß ich Euch retten werde. Das Vernichten der Kandaren wird Euch retten. Ich habe die Augen geschlossen. Wenn Ihr überleben wollt, dann schließt sie ebenfalls!«
Schwester Verna schwieg, während die drei Pferde weiterdonnerten. Richard hatte die Augen fest zugekniffen. Als sie nach seiner Schätzung die Klippe erreicht haben mußten, hielt er den Atem an. Er betete, daß die guten Seelen ihm dieses eine Mal beistehen mochten.
In der Erwartung, gleich in die Tiefe hinabzustürzen, begannen seine Beine zu kribbeln. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie es auf dem Weg nach unten wäre. Eine verbreitete Furcht, mehr war es im Grunde nicht. Er merkte, daß er sich in Todesangst an Bonnies Mähne klammerte. Er lockerte den Griff, hielt die Augen aber geschlossen.
Der Absturz in die Tiefe blieb aus.
Die drei Pferde galoppierten weiter. Er unternahm nichts, um sie zu bremsen, sondern ließ sie nach Belieben weiterrennen. Da sie den ganzen Tag gegrast hatten, waren sie in ausgelassener Stimmung, und er sah, daß ihnen das Rennen Freude bereitete. Sie rannten aus schierem Vergnügen.
Nach einer Weile bemerkte Richard, daß das Geräusch der Hufe sich verändert hatte. Es klang nicht mehr so hell, sondern gedämpfter.
»Richard! Wir sind raus aus dem Tal!«
Er warf einen Blick über die Schulter und sah die dunklen Fetzen der Sturmwolken am Rand des Horizonts tosen. Die goldene Sonne stand tief am Himmel über dem grasbewachsenen, sanft gewellten Land zu ihren Füßen. Ihre Pferde wurden langsamer und verfielen in einen leichten Galopp.
»Seid Ihr sicher? Seid Ihr sicher, daß wir das Tal hinter uns haben?«
Sie nickte. »Dies ist die Alte Welt. Ich kenne diesen Ort.«
»Aber es könnte dennoch ein Trugbild sein, um uns in Sicherheit zu wiegen und uns in eine Falle zu locken, bevor wir ganz hindurch sind.«
»Mußt du eigentlich immer in Frage stellen, was ich dir sage? Ich spüre es mit meinem Han. Dies ist keine Täuschung. Das Tal liegt hinter uns, und wir sind die Magie los. Jetzt kann sie uns nicht mehr einholen.«
Richard überlegte kurz, ob sie vielleicht trotzdem eine Illusion sein konnte. Aber auch er spürte, daß die Gefahr vorüber war. Er beugte sich vor und schlang die Arme überschwenglich um Bonnies warmen Hals.
Die gewaltigen Hügel, in die sie nun hineinkamen, waren baumlos und mit Grasbüscheln und Wildblumen bedeckt, die Niederungen mit sandfarbenen Felsen übersät. Die Sonne schien warm, brannte jedoch nicht mehr auf das Land herab. Richard lachte in den Wind, der ihm ins Gesicht wehte.
Er grinste Schwester Verna an, doch die lächelte nicht. Sie zog die Brauen zusammen und setzte eine finstere Miene auf, während sie das ausgedehnte Hügelland vor ihnen absuchte.
»Hör auf, so dreckig zu grinsen«, fuhr sie ihn an.
»Ich bin doch nur froh, daß wir es geschafft haben. Ich bin glücklich, daß Ihr lebt, Schwester.«
»Hättest du eine Vorstellung, wie wütend ich auf dich bin, Richard, du wärst längst nicht mehr so hoch erfreut, daß ich noch bei dir bin. Nimm dir diesen Rat zu Herzen: du würdest dir selbst einen sehr großen Gefallen tun, wenn du deine Zunge im Zaume halten würdest.«
Er konnte nur den Kopf schütteln.