20

Ihr Puls pochte ihr in den Ohren. Sie hatte Mühe, ihren panischen Atem zu beherrschen, als sie sich hinter den dicken Stamm einer alten Fichte duckte und sich an die rauhe Borke preßte. Wenn die Schwestern dahinterkämen, daß sie ihnen folgte…

Sie sog die dunkle, feuchte Luft in kurzen Zügen ein. Ihre Lippen sandten stumme Gebete an den Schöpfer, in denen sie um Schutz flehte. Mit Augen so groß wie Goldstücke starrte sie in die Dunkelheit, schluckte und versuchte, ihre Kehle zu befeuchten.

Die dunklen Umrisse glitten lautlos näher. Wenn sie um den Rand des Baumes linste, konnte sie sie gerade eben so erkennen. Sie unterdrückte ihren Wunsch, laut loszuschreien, davonzurennen, und bereitete sich darauf vor zu kämpfen. Sie griff nach dem süßen Licht, umschloß ihr Han.

Der Schatten kam zögernd, suchend näher. Noch ein Schritt, nur noch einer, und sie würde hervorspringen. Sie würde es richtig machen müssen — damit es keine Gelegenheit gab, Alarm zu schlagen. Es mußte schnell gehen, und es würde verschiedene Arten von Netzen erfordern, die alle gleichzeitig geworfen werden mußten. Aber wenn es ihr gelang, schnell und präzise vorzugehen, blieb keine Gelegenheit, zu schreien oder Alarm zu schlagen, und sie würde ganz sicher wissen, wer es war. Sie hielt den Atem an.

Endlich machte die finstere Gestalt den nächsten Schritt. Sie wirbelte hinter dem Baum hervor und warf die Netze. Ein Strang aus Luft, so dick wie ein Ankertau, wand sich peitschenschnell um die Gestalt. Als der Mund sich öffnete, rammte sie einen festen Knoten aus Luft hinein und knebelte ihn damit, bevor er eine Gelegenheit hatte aufzuschreien.

Erleichtert sank sie ein wenig in sich zusammen, als kein Geräusch zu hören war, aber ihr Herz raste noch immer, während sie keuchend um Atem rang. Mit Mühe gelang es ihr, wieder Ruhe in ihre Gedanken zu bringen, obwohl sie ihr Han noch immer fest umschlossen hielt, aus Angst, ihre Vorsicht könnte nachlassen. Schließlich konnten noch andere in der Nähe sein. Sie holte tief Luft und trat näher an die gelähmte Gestalt heran. Als sie nahe genug war, um den Atem auf ihrem Gesicht zu spüren, hielt sie die geöffnete Hand in die Höhe und setzte einen Glühfaden frei, um eine kleine Flamme zu entzünden, gerade hell genug, um das Gesicht zu erkennen.

»Jedidiah!« flüsterte sie. Sie drückte ihm die Hand in den Nacken und betastete das glatte, kühle Metall des Rada’Han, dann legte sie ihren Kopf an seine Stirn und schloß dabei die Augen. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Oh, Jedidiah. Du hast mir einen solchen Schrecken eingejagt.«

Sie machte die Augen auf und betrachtete sein entsetztes Gesicht im Licht der winzigen, zuckenden Flamme. »Ich werde dich befreien«, flüsterte sie sanft, »aber du mußt ganz still sein. Versprochen?«

Er nickte, so gut es ging, wenn man bedachte, wie fest sie ihn gefesselt hatte. Sie streifte die Netze ab und zog den Luftknebel heraus. Jedidiah atmete erleichtert auf.

»Schwester Margaret«, sagte er leise und mit unsicherer Stimme, »fast hättet Ihr es geschafft, daß ich mich beschmutze.«

Sie kicherte lautlos. »Tut mir leid, Jedidiah, aber das gleiche wäre mir beinahe auch passiert.«

Sie kappte das dünne Fädchen, das die winzige Flamme speiste, und die beiden sanken aneinandergelehnt zu Boden, um sich von dem Schrecken zu erholen. Jedidiah war mehrere Jahre jünger als sie und größer — ein gutaussehender junger Mann. Fast zu gutaussehend, überlegte sie.

Sie war ihm zugeteilt worden, gleich als er in den Palast gekommen und sie noch Novizin gewesen war. Er hatte sich sehr lernbegierig gezeigt und sich sehr viel Mühe gegeben. Vom ersten Tag an war er die reinste Freude gewesen. Sie wußte, wie schwierig andere waren — nicht jedoch Jedidiah. Sie brauchte bloß einen Wunsch zu äußern, und schon stürzte er sich darauf, ihn zu erfüllen.

Andere waren der Ansicht, daß er mit dem, was er tat, eher ihr gefallen als sich selbst nützen wollte, doch niemand konnte leugnen, daß er ein besserer Schüler als alle anderen war und ein besserer Zauberer werden würde — und das war von Belang. Allein die Ergebnisse, nicht die Methode zählte, und sie hatte sich rasch durch die Art, wie sie ihn vorangebracht hatte, ihre volle Schwesternschaft verdient.

Jedidiah war bei ihrer Ernennung zur Schwester des Lichts stolzer auf sie gewesen als sie selbst. Sie war auch stolz auf ihn. Vermutlich war er der mächtigste Zauberer, den der Palast in tausend Jahren gesehen hatte.

»Margaret«, flüsterte er, »was tust du hier draußen?«

»Schwester Margaret«, verbesserte sie.

»Ist doch niemand in der Nähe.« Er gab ihr einen Kuß aufs Ohr.

»Hör auf«, schalt sie ihn. Das Kribbeln des Kusses lief ihr den gesamten Rücken hinunter — er hatte ihm einen Hauch von Magie beigegeben. Manchmal wünschte sie, sie hätte ihm das nicht beigebracht. In anderen Augenblicken verging sie fast danach, daß er es tat. »Jedidiah, was tust du hier? Wie kommst du dazu, mir, einer Schwester, aus dem Palast zu folgen?«

»Du führst irgend etwas im Schilde. Ich weiß es genau, versuch gar nicht erst, es mir auszureden. Etwas Gefährliches. Anfangs war ich nur ein wenig besorgt, aber als ich merkte, daß du zum Hagenwald wolltest, bekam ich Angst um dich. Ich werde dich an einem gefährlichen Ort wie diesem nicht einfach so herumspazieren lassen. Jedenfalls nicht allein. Nicht, wenn ich nicht mitkommen und dich beschützen darf.«

»Mich beschützen!« stieß sie schroff hervor. »Dürfte ich daran erinnern, was gerade passiert ist? Du warst im Nu hilflos. Du hast nicht mal ein einziges meiner Netze abwehren können. Du hast kein einziges brechen können. Du warst kaum in der Lage, dein Han zu berühren, geschweige denn, es zu benutzen. Du mußt noch eine Menge lernen, bevor du Zauberer genug bist, um jemanden zu beschützen. Im Augenblick kannst du schon froh sein, wenn du dir nicht ständig selbst auf die Füße trittst!«

Die Schelte brachte ihn zum Schweigen. Eigentlich mochte sie es nicht, wenn sie ihn so scharf zurechtwies, aber wenn das stimmte, was sie vermutete, dann war das hier viel zu gefährlich für ihn. Sie hatte Angst um ihn und wollte nicht, daß ihm etwas zustieß.

Was sie gesagt hatte, entsprach außerdem nicht ganz der Wahrheit. Auch wenn es nicht oft gelang — wenn er alles richtig zusammenbekam, war er bereits mächtiger als jede Schwester. Bereits jetzt gab es Schwestern, die Angst hatten, ihn zu sehr bedrängen. Sie spürte, wie er den Blick abwendete.

»Entschuldige, Margaret«, sagte er leise. »Ich hatte Angst um dich.«

Der verletzte Unterton in seiner Stimme tat ihr im Herzen weh. Sie beließ ihren Kopf ganz dicht an seinem, damit sie sich in leisem Flüsterton unterhalten konnten. »Das weiß ich, Jedidiah, und ich weiß deine Sorge zu schätzen, wirklich. Aber das ist Sache der Schwestern.«

»Margaret, der Hagenwald ist ein gefährlicher Ort. Hier gibt es Dinge, die dich töten können. Ich will nicht, daß du dort hineingehst.«

Der Hagenwald war in der Tat gefährlich. Das war er schon seit tausend Jahren. Es hieß, der Hagenwald sei das Ausbildungsgelände für eine ganz besondere Art von Zauberern. Diese Art Zauberer wurde nicht dorthin entsandt, sondern ging aus freien Stücken dorthin. Weil sie es so wollten. Es sie danach verlangte … weil sie mußten.

Doch das war nur Gerede. Sie hatte von keinem Zauberer gehört, der losgezogen war, um eine gewisse Zeit im Hagenwald zu verbringen, wenigstens nicht in den letzten tausend Jahren. Wenn es überhaupt stimmte. In den Geschichten hieß es, in alten Zeiten hätte es Zauberer mit einer derartigen Macht gegeben, und diese wären in den Hagenwald gegangen. Wenige nur seien je wieder herausgekommen, hieß es dort auch. Doch es gab Regeln, selbst an diesem Ort.

»Die Sonne ist nicht untergegangen, seit ich hier bin. Ich bin nach Einbruch der Dunkelheit gekommen. Solange du keinen Sonnenuntergang im Hagenwald erlebst, kannst du ihn wieder verlassen, und ich habe nicht die Absicht, bis zum nächsten Sonnenuntergang hierzubleiben. Es ist hier durchaus sicher. Wenigstens für mich. Ich möchte, daß du nach Hause gehst. Sofort.«

»Was ist so wichtig, daß du dort hinein willst? Was hast du vor? Ich erwarte eine Antwort, Margaret. Eine ehrliche Antwort. Ich lasse mich nicht abwimmeln. Dort drinnen ist es gefährlich, und ich lasse mich nicht fortschicken.«

Sie betastete die fein gearbeitete Goldblume, die sie an einer Kette um den Hals aufbewahrte. Jedidiah hatte sie selbst für sie gemacht, nicht mit Hilfe von Zauberei, sondern mit eigener Hand. Es war eine Prunkwinde, die das erwachende Bewußtsein seiner Gabe darstellen sollte, ein Bewußtsein, zu dessen Blüte sie ihm verholfen hatte. Die kleine Blume aus Gold bedeutete ihr mehr als alles andere, was sie besaß.

Sie ergriff seine Hand und lehnte sich bei ihm an. »Also gut, Jedidiah, ich werde es dir verraten. Aber ich kann dir nicht alles verraten. Es wäre zu gefährlich für dich, wenn du alles weißt.«

»Was ist zu gefährlich? Wieso kannst du es mir nicht erzählen?«

»Sei still und hör zu, oder ich schicke dich auf der Stelle zurück. Du weißt, daß ich dazu in der Lage bin.«

Er faßte sich mit seiner freien Hand an seinen Halsring. »Das würdest du nicht tun, Margaret. Sag mir, daß du das nicht tun würdest, nicht, nachdem wir zusammen…«

»Psst!« Er schwieg. Sie wartete einen Augenblick, bevor sie weitersprach. »Ich hatte schon seit einiger Zeit den Verdacht, daß es bei einigen, die die Gabe besitzen und uns verlassen haben oder gestorben sind, nicht mit rechten Dingen zuging. Ich glaube, sie sind ermordet worden.«

»Was!«

»Nicht so laut!« fauchte sie ihn wütend an. »Willst du vielleicht auch umgebracht werden?« Er war wieder still. »Ich glaube, im Palast der Propheten geschieht etwas Ungeheuerliches. Ich glaube, ein paar der Schwestern haben sie ermordet.«

Er starrte sie in der Dunkelheit an. »Ermordet? Die Schwestern? Margaret, du mußt verrückt sein, nur so etwas zu denken.«

»Nein, das bin ich nicht. Doch würde das jeder glauben, wenn ich dergleichen innerhalb der Palastwände aussprechen würde. Ich muß irgendeinen Weg finden, es zu beweisen.«

Er dachte einen Augenblick lang nach. »Nun, ich kenne dich besser als jeder andere, und wenn du sagst, es stimmt, dann glaube ich dir. Ich werde dir helfen. Vielleicht können wir die Leichen ausgraben, irgend etwas finden, einen Beweis oder jemanden, der etwas gesehen hat. Wir könnten vorsichtig das Personal ausfragen. Ich kenne welche, die…«

»Jedidiah, das ist noch nicht das Schlimmste.«

»Was könnte noch schlimmer sein?«

Sie hielt die goldene Blume zwischen Daumen und Zeigefinger und rieb mit dem Daumen daran. Ihre Stimme wurde noch leiser als zuvor. »Im Palast gibt es Schwestern der Finsternis.«

Auch ohne es in der Dunkelheit sehen zu können, spürte sie die Gänsehaut auf seinen Armen. Die Insekten der Nacht zirpten ringsum, während sie den dunklen Umriß seines Gesichtes musterte. »Margaret … Schwestern der … das ist unmöglich. So etwas gibt es gar nicht. Das ist doch nur eine Legende … eine Sage.«

»Es ist keine Legende. Es gibt Schwestern der Finsternis im Palast.«

»Margaret, bitte, sag das nicht. Für eine solche Beschuldigung könnte man dich hinrichten. Wenn du eine Schwester dessen bezichtigst und es nicht beweisen kannst, wirst du hingerichtet. Und du kannst es nicht beweisen, weil es nicht möglich ist. Das gibt es gar nicht, so etwas wie die Schwestern der…«

Die Vorstellung allein jagte ihm einen solchen Schrecken ein, daß er das Wort nicht einmal laut aussprechen konnte. Sie wußte, welche Angst er hatte. Sie hatte dieselbe Angst gespürt, bis sie auf etwas gestoßen war, das sie nicht länger übergehen konnte. Sie wünschte, sie hätte an jenem Abend den Propheten nicht aufgesucht oder ihm wenigstens nicht zugehört.

Die Prälatin war erbost darüber gewesen, daß Margaret die Nachricht des Propheten nicht an eine ihrer Gehilfinnen weitergegeben hatte. Schließlich, bei der endlich gewährten Audienz, hatte die Prälatin sie nur leeren Blicks angestarrt und sie gefragt, was der ›Kiesel im Teich‹ zu bedeuten hätte. Margaret wußte es nicht. Daraufhin hatte die Prälatin ihr eine ernste Standpauke gehalten, weil sie sie mit Nathans Unsinn behelligt hatte. Margaret war außer sich gewesen, als Nathan abstritt, ihr je eine solche Nachricht für die Prälatin mitgegeben zu haben.

»Ich wünschte, du hättest recht, aber das ist nicht der Fall. Sie sind Wirklichkeit. Sie sind unter uns. Sie befinden sich im Palast.« Sie betrachtete einen Augenblick lang seinen dunklen Schatten. »Deswegen bin ich hier draußen. Um Beweise zu suchen.«

»Und wie willst du das anstellen?«

»Sie sind hier draußen. Ich bin ihnen gefolgt. Sie gehen hinaus in den Hagenwald, um irgend etwas zu tun. Ich will herausfinden, was.«

Er drehte den Kopf nach allen Richtungen, suchte die Dunkelheit ab. »Wer? Welche Schwestern? Kennst du sie?«

»Ja. Ein paar von ihnen jedenfalls.«

»Welche sind es?«

»Jedidiah, das kann ich dir unmöglich sagen. Wenn du es wüßtest und dir nur der kleinste Fehler unterliefe … du könntest dich nicht mehr wehren. Wenn ich recht habe und sie tatsächlich Schwestern der Finsternis sind, würden sie dich für dieses Wissen töten. Der Gedanke, daß dir etwas zustößt, ist mir unerträglich. Ich verrate es dir erst, wenn ich mit den Beweisen in der Hand zur Prälatin gehe.«

»Woher weißt du, daß es Schwestern der … Und welche Beweise hast du? Welche Beweise könntest du dafür finden?«

Sie suchte die Dunkelheit nach irgendeinem Anzeichen von Gefahr ab. »Eine der Schwestern besitzt etwas. Einen magischen Gegenstand. Einen Gegenstand Schwarzer Magie. Ich habe ihn in ihrem Arbeitszimmer gesehen. Es ist eine kleine Figur. Sie ist mir einmal aufgefallen, weil sie eine ganze Reihe von Dingen besitzt, alte Dinge, die jeder nur für alte Andenken hält. Ich hatte sie schon einmal gesehen, und wie all die übrigen Gegenstände war sie unter einer Schicht von Staub verborgen. Dieses eine Mal jedoch ging ich nach dem Tod eines der Knaben zu ihr, um mit ihr darüber zu sprechen — über ihren Bericht. Die kleine Figur stand versteckt in einer Ecke, und davor lehnte ein Buch, um sie zu verbergen — und sie war nicht mehr von Staub bedeckt. Sie war sauber.«

»Da haben wir’s! Diese Schwester staubt eine Figur ab, und du glaubst…«

»Nein. Niemand weiß, was das für eine Figur ist. Als ich sah, daß sie sie abgestaubt hatte, hatte ich allen Grund, mich zu fragen, worum es sich handelte. Ich mußte vorsichtig sein, niemand sollte wissen, was ich vorhatte, aber schließlich bin ich dahintergekommen, was es ist.«

»Wie? Wie bist du dahintergekommen?«

Sie mußte an ihren Besuch bei Nathan denken und an ihren Schwur, niemals zu enthüllen, wie sie hinter das Wesen der Figur gekommen war. »Schon gut. Das darfst du nicht wissen.«

»Margaret, wie konntest du…«

Sie schnitt ihm das Wort ab. »Ich habe gesagt, ich werde es dir nicht verraten. Außerdem ist es ohnehin nicht wichtig. Wichtig ist, was die Figur bedeutet, nicht, wie ich dahintergekommen bin. Es ist ein Mann, der einen Kristall in die Höhe hält. Der Kristall ist ein Quillion.«

»Was ist ein Quillion?«

»Ein überaus seltener magischer Kristall. Er besitzt die Macht, einem Zauberer die Magie zu entziehen.«

Vor Überraschung war er einen Augenblick lang sprachlos. »Woher weißt du, daß es ein Quillion ist, wenn er so selten ist? Woran hast du ihn erkannt? Vielleicht ist es irgendein anderer Kristall, der ihm nur ähnlich sieht?«

»Das hätte zutreffen können, wenn er nicht benutzt worden wäre. Wenn ein Quillion benutzt wird, um einem Zauberer die Magie zu entziehen, dann leuchtet er wegen der Kraft seiner Gabe, seines Han, orange auf. Ich habe die Figur eine knappe Sekunde lang gesehen, beim Verlassen ihres Arbeitszimmers — sie war völlig sauber und stand versteckt hinter diesem Buch. Der Quillion leuchtete orange. Aber da wußte ich noch nicht, um was es sich handelt. Als ich es herausgefunden hatte, ging ich zurück, um ihn als Beweis zur Prälatin zu bringen, doch er glühte nicht mehr.«

»Was könnte das bedeuten?« sagte er leise mit angsterfüllter Stimme.

»Das bedeutet, daß die Kraft des Zauberers den Kristall verlassen hatte und auf jemand anderes übergegangen war. Einen Wirt. Quillion ist nur das Gefäß für die Gabe, bis sie in jemand anderes hineingegeben werden kann. Jedidiah, ich glaube, die Schwestern bringen die Leute um, die die Gabe besitzen, und stehlen sie für sich selbst. Ich glaube, sie saugen die Kraft in sich hinein.«

Seine Stimme zitterte. »Zusätzlich zu dem, was sie ohnehin schon sind? Jetzt verfügen sie auch noch über die Kraft der Gabe eines Zauberers?«

Sie nickte. »Ja. Das macht sie mächtiger, als wir uns vorstellen können. Das macht mir am meisten angst — nicht, daß man mich wegen der Anschuldigung hinrichten könnte, sondern daß diese Schwestern mir auf die Schliche kommen könnten. Wenn sie tatsächlich die Kraft in sich aufnehmen, dann weiß ich nicht, wie wir sie aufhalten können. Keiner von uns wäre ihnen gewachsen. Ich brauche Beweise, damit die Prälatin mir glaubt. Vielleicht weiß sie, was zu tun ist. Ich weiß es jedenfalls nicht.«

»Was ich nicht begreife, ist, wie die Schwestern die Kraft aus dem Quillion aufnehmen können. Die Gabe des Zauberers, sein Han, ist männlich. Die Schwestern sind weiblich. Ein Weib kann unmöglich das männliche Han aufnehmen. So einfach ist das nicht — sonst hätten sie das Han in sich hineinströmen lassen können, als sie die Zauberer umgebracht haben. Wenn sie tatsächlich das Han der Männer in sich aufnehmen, weiß ich wirklich nicht, wie sie das anstellen.«

»Und was tun sie hier draußen?«

Sie versuchte, sich durch das Verschränken der Arme gegen ein innerliches Frösteln zu wappnen, obwohl die Luft warm war. »Erinnerst du dich noch, vor ein paar Tagen, als Sam Weber und Neville Ranson alle ihre Prüfungen abgeschlossen hatten und sie ihren Halsring abgenommen bekommen und den Palast verlassen sollten?«

Er nickte im Dunkeln. »Ja. Ich war richtig enttäuscht, weil Sam versprochen hatte, sich von mir zu verabschieden und mir zu zeigen, daß man ihm den Rada’Han abgenommen hatte. Ich wollte ihm alles Gute wünschen, wo er doch jetzt ein richtiger Zauberer war. Er ist nie aufgetaucht. Man erzählte mir, er sei in der Nacht aufgebrochen, weil er keinen tränenreichen Abschied wollte. Aber Sam war mein Freund, er war ein sanftmütiger Mensch, ein Heiler, und es sah ihm überhaupt nicht ähnlich, auf diese Weise zu verschwinden, ohne sich von mir zu verabschieden. Das ist einfach nicht seine Art. Ich wollte ihm wirklich alles Gute wünschen.«

»Sie haben ihn umgebracht.«

»Was?« Er sackte ein wenig in sich zusammen. »Beim Schöpfer, nein!« Seine Stimme erstickte unter Tränen. »Bist du sicher? Woher weißt du das?«

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und versuchte ihn zu trösten. »Am Tag, nachdem er angeblich auf so seltsame Weise aufgebrochen sein soll, hatte ich den Verdacht, daß etwas Schreckliches geschehen sei. Ich ging nachsehen, ob der Quillion wieder glühte, doch ihre Tür war abgeschirmt.«

»Das beweist nichts. Schwestern schirmen ihre Zimmer des öfteren ab. Du tust es selbst, wenn du nicht gestört werden willst — zum Beispiel, wenn wir zusammen sind.«

»Ich weiß. Aber ich wollte den Quillion sehen, also wartete ich hinter einer Ecke, bis die Schwester zurückkam. Ich trat aus meinem Versteck hervor und paßte es so ab, daß sie es im selben Augenblick betreten mußte, als ich vorüberging. Während ich vorbeiging, kurz bevor sie die Tür hinter sich schloß, warf ich einen Blick in ihr dunkles Arbeitszimmer. Ich habe die Figur im Regal hinter dem Buch gesehen. Sie glühte orange. Tut mir leid, Jedidiah.«

Er senkte wütend die Stimme. »Wer war es? Welche der Schwestern?«

»Das werde ich dir nicht sagen, Jedidiah. Nicht, bevor ich der Prälatin Beweise bringen kann. Es ist zu gefährlich.«

Er dachte einen Augenblick nach. »Wenn dieser Kristall tatsächlich ein Quillion ist und beweisen würde, was diese Schwester ist, warum hat sie ihn dann nicht besser versteckt?«

»Vielleicht hält sie es für ausgeschlossen, jemand könnte wissen, um was es sich handelt. Vielleicht, weil sie keine Angst hat und sich nicht die Zeit nimmt, vorsichtiger zu sein als nötig.«

»Dann laß uns zurückgehen, den Schirm durchbrechen, das verfluchte Ding holen und zur Prälatin bringen. Ich kann den Schirm durchbrechen, ich weiß, daß ich es kann.«

»Das hatte ich auch vor. Ich bin heute abend noch einmal hingegangen, aber das Zimmer war nicht mehr abgeschirmt. Ich habe mich hineingeschlichen, um die Figur zu holen, aber sie war verschwunden. Da habe ich gesehen, wie sie den Palast verließ — sie und auch noch andere. Ich bin ihnen bis hier draußen gefolgt. Wenn ich den Quillion stehlen kann, solange er noch glüht, kann ich beweisen, daß sie Schwestern der Finsternis sind. Ich muß sie aufhalten, bevor sie noch jemandem das Leben aussaugen können. Jedidiah, sie bringen Menschen um, aber ich fürchte, noch schlimmer sind die Gründe, weshalb sie es tun.«

Er stieß einen leisen Seufzer aus. »Also schön. Aber ich komme mit.«

Sie biß die Zähne zusammen. »Nein. Du gehst zurück.«

»Margaret, ich liebe dich, und wenn du mich zurückschickst, werde ich dir das nie vergeben. Ich werde selbst zur Prälatin gehen und die Anschuldigung vorbringen, um Hilfe für dich zu bekommen. Vielleicht werde ich für die Anschuldigung hingerichtet, aber bestimmt wird es einen Verdacht erregen und vielleicht einen Alarm auslösen. Das ist die einzige Möglichkeit, wie ich dich sonst schützen kann. Entweder ich begleite dich, oder ich gehe zur Prälatin, das verspreche ich dir.«

Sie wußte, er meinte es ernst. Jedidiah hielt, was er versprach. Mächtige Zauberer taten das immer. Sie ging auf die Knie, beugte sich hinüber und schlang ihm die Arme um den Hals. »Ich liebe dich auch, Jedidiah.«

Sie gab ihm einen innigen Kuß, als er sich hinkniete und ihr entgegenkam. Seine Hände glitten hinten unter ihr Kleid. Er faßte ihren Hintern und zog sie an sich. Das Gefühl seiner Hände auf der Haut entlockte ihr ein leises Stöhnen. Er küßte sie mit heißen Lippen auf den Hals und dann aufs Ohr und jagte ihr ein magisches Kribbeln durch den Körper. Mit dem Knie zwang er ihre Beine auseinander und machte den Weg frei für seine Hände. Sie stöhnte auf, als er sie berührte.

»Geh jetzt mit mir fort«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Laß uns zurückgehen. Du kannst dein Zimmer abschirmen, dann gebe ich dir mehr hiervon, bis du schreist. Du kannst schreien, soviel zu willst, und niemand wird dich hören.«

Sie stieß sich von ihm ab und zog seine Hände unter ihrem Kleid hervor. Er war drauf und dran, ihren Widerstand zu brechen. Sie mußte sich zwingen, ihn zurückzuweisen. Er benutzte seine Magie, um sie von der Gefahr fortzulocken, versuchte sie auf diese Weise zu retten. Sie wußte: wenn sie es noch eine einzige Sekunde länger geschehen ließ, würde er Erfolg haben.

»Jedidiah«, stöhnte sie leise und mit rauher Stimme, »zwing mich nicht, dich mit dem Halsring zurückzuhalten. Dies ist zu wichtig. Menschenleben stehen auf dem Spiel.« Er versuchte noch einmal, nach ihr zu greifen, doch sie schickte einen Kraftstrang durch ihre Hände bis zu seinen Handgelenken.

»Ich weiß, Margaret. Deines ist eins davon. Ich will nicht, daß dir irgend etwas zustößt. Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt.«

»Jedidiah, das hier ist wichtiger als mein Leben. Hier geht es um das Leben aller. Ich glaube, es geht um den Namenlosen.«

Er erstarrte. »Das kannst du unmöglich ernst meinen.«

»Warum, glaubst du, wollen die Schwestern diese Kraft? Was wollen sie damit tun? Warum sollten sie bereit sein, dafür zu töten? Zu welchem Zweck? Wem, glaubst du, dienen die Schwestern der Finsternis?«

»Beim Schöpfer«, flüsterte er gedehnt, »gib, daß sie unrecht hat.« Er packte sie bei den Schultern. »Margaret, wer weiß sonst noch von diesen Dingen? Wem hast du davon erzählt?«

»Bloß dir, Jedidiah. Von vieren, vielleicht fünfen weiß ich, daß sie Schwestern der Finsternis sind. Aber es gibt noch andere, doch wer, weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, wem ich trauen kann. Es waren elf, denen ich heute abend hier nach draußen gefolgt bin, aber es können leicht mehr sein.«

»Und die Prälatin? Vielleicht solltest du nicht zu ihr gehen, sie könnte zu ihnen gehören.«

Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Du könntest recht haben, aber sie ist die einzige Chance, die wir haben. Ich wüßte niemanden sonst, der mir helfen könnte. Ich muß zu ihr gehen.« Sie berührte sein Gesicht mit den Fingerspitzen. »Jedidiah, bitte geh zurück. Sollte mir irgend etwas zustoßen, dann könntest du noch etwas unternehmen. Es gäbe jemanden, der Bescheid weiß.«

»Nein. Ich werde dich nicht allein lassen. Wenn du mich zwingst zurückzugehen, werde ich es der Prälatin sagen. Ich liebe dich. Lieber sterbe ich, als ohne dich zu leben.«

»Aber wir müssen auch an die anderen denken. Es stehen noch andere Leben auf dem Spiel.«

»Die anderen sind mir egal. Bitte, Margaret, verlange nicht von mir, daß ich dich in dieser Gefahr allein lasse.«

»Manchmal kannst du einen ganz schön wütend machen, mein Geliebter.« Sie ergriff seine Hände. »Jedidiah, wenn man uns erwischt…«

»Wenn wir nur zusammen sind, bin ich bereit, das Risiko einzugehen.«

Sie verschlang ihre Finger mit seinen. »Wirst du dann mein Mann? Wie wir es besprochen haben? Wenn ich heute nacht sterbe, dann als deine Frau.«

Er legte ihr die Hand in den Nacken und zog sie an sich. Dann schob er ihr die Haare zurück und flüsterte ihr leise etwas ins Ohr. »Das würde mich zum glücklichsten Mann auf der ganzen Welt machen. Ich liebe dich so sehr, Margaret. Aber können wir nicht hier miteinander vermählt werden, jetzt gleich?«

»Wir können uns das Eheversprechen geben. Das einzige, was zählt, ist unsere Liebe, nicht, daß irgendein anderer die Worte für uns spricht. Die Worte, die aus unseren Herzen kommen, werden uns fester miteinander verbinden, als das jemand anders kann.«

Er drückte sie fest an sich. »Das ist der glücklichste Augenblick in meinem Leben.« Er ließ von ihr ab und faßte sie noch einmal bei den Händen. Sie sahen sich in der Dunkelheit an. »Ich, Jedidiah, bitte dich, dein Mann werden zu dürfen — im Leben wie im Tod. Ich schenke dir mein Leben, meine Liebe und meine ewige Treue. Mögen wir in den Augen und im Herzen des Schöpfers miteinander verbunden sein — und in unseren eigenen.«

Sie erwiderte leise seine Worte, während ihr die Tränen die Wangen hinabliefen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt — und solches Glück empfunden. Sie bebte vor Verlangen nach ihm. Als sie die Worte gesprochen hatten, gaben sie sich einen Kuß. Es war der zärtlichste, liebevollste Kuß, den er ihr je gegeben hatte. Die Tränen strömten ihr noch immer über die Wangen, als sie sich an ihn, an seine Lippen preßte. Sie hielt seine breiten Schultern umklammert und drückte ihn an sich. Seine Umarmung gab ihr Sicherheit und das Gefühl, mehr geliebt zu werden als je zuvor. Schließlich lösten sie sich voneinander.

Sie hatte Mühe, wieder zu Atem zu kommen. »Ich liebe dich, mein Mann.«

»Ich liebe dich, meine Frau, auf immer und ewig.«

Sie lächelte. Auch wenn sie ihn in der Dunkelheit nicht sehen konnte, so wußte sie doch, daß er ebenfalls lächelte. »Gehen wir nachsehen, ob wir irgendwelche Beweise finden können. Vielleicht können wir den Schwestern der Finsternis ein Ende machen. Lassen wir den Schöpfer stolz auf die Schwestern des Lichts und auf einen zukünftigen Zauberer sein.«

Er drückte ihre Hand. »Versprich mir, keine Dummheiten zu machen. Versprich mir, nichts Unüberlegtes zu unternehmen und dein Leben nicht zu riskieren. Ich will mit dir noch einige Zeit im Bett verbringen, nicht in diesem Wald.«

»Ich muß wissen, was sie vorhaben. Ich muß herausfinden, ob es eine Möglichkeit gibt, all das der Prälatin zu beweisen. Aber sie sind mächtiger als ich, ganz zu schweigen davon, daß sie wenigstens zu elft sind. Hinzu kommt, wenn es tatsächlich Schwestern der Finsternis sind, dann verfügen sie über Subtraktive Magie. Dem haben wir nichts entgegenzusetzen. Ich weiß nicht, wie wir ihnen den Quillion wegnehmen können. Vielleicht sehen wir etwas anderes, das uns hilft. Wenn wir nur die Augen offenhalten und uns vom Schöpfer führen lassen, wird Er uns vielleicht offenbaren, was wir tun können. Aber wir dürfen kein größeres Risiko eingehen als nötig. Auf keinen Fall dürfen wir entdeckt werden.«

Er nickte. »Gut. Genauso will ich es auch.«

»Aber denk daran, Jedidiah, ich bin eine Schwester des Lichts. Das heißt, ich trage die Verantwortung, die Verantwortung dem Schöpfer und allen seinen Kindern gegenüber. Obwohl wir jetzt Mann und Frau sind, ist es immer noch meine Aufgabe, dich zu führen. In diesem Punkt sind wir nicht gleichgestellt. Ich trage die Verantwortung, und ich werde dir nur erlauben, mich zu begleiten, wenn du dich daran hältst. Noch bist du kein fertiger Zauberer. Du mußt gehorchen, wenn ich etwas sage. Ich kann mit meinem Han noch immer besser umgehen als du mit deinem.«

»Ich weiß, Margaret. Einer der Gründe, weshalb ich dein Mann werden wollte, ist der, daß ich dich respektiere. Ich möchte keine schwache Frau. Du hast mich immer geführt, und das wird sich jetzt nicht ändern. Du hast mir alles gegeben, was ich besitze. Ich werde dir immer folgen.«

Sie schüttelte den Kopf und mußte lächeln. »Du bringst mich zum Staunen, mein Ehemann. Und zwar auf die allerbeste Weise. Du wirst ein bemerkenswerter Zauberer werden. Wirklich bemerkenswert. Ich habe es dir nie erzählt, weil ich immer Angst hatte, es könnte dir zu Kopf steigen, wenn du es wüßtest, aber einige der Schwestern sind der Ansicht, du könntest der vielleicht mächtigste Zauberer seit tausend Jahren werden.«

Er antwortete nichts, und sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie war sicher, daß er errötete. »Margaret, die einzigen Augen, die ich von Stolz erfüllt sehen möchte, sind deine.«

Sie küßte ihn auf die Wange, dann ergriff sie seine Hand. »Wollen wir sehen, ob wir dem ein Ende machen können.«

»Woher weißt du, wohin sie gegangen sind? Hier im Wald ist es stockdunkel. Der Mond hält sich hinter den Bäumen verborgen.«

Sie zwackte ihn in die Wange. »Durch einen Trick, den mir meine Mutter beigebracht hat. Als ich sah, wie sie den Palast verließen, habe ich ihnen eine Lache von meinem Han vor die Füße gelegt. Sie sind hindurchgelaufen und hinterlassen Spuren meines eigenen Han. Nur ich kann sie sehen. Ihre Fußstapfen leuchten für mich so strahlend hell wie die Sonne auf einem Teich, aber für keinen anderen.«

»Den Trick mußt du mir zeigen.«

»Irgendwann, das verspreche ich dir. Komm jetzt.«

Sie nahm ihn bei der Hand und folgte den leuchtenden Fußstapfen der Schwestern durch den dichten Wald. In der Ferne erschollen die unheimlichen Schreie der Vögel der Nacht. Der Boden war uneben, durchsetzt von Wurzeln und Geäst, doch die leuchtenden Fußabdrücke halfen ihr, den Weg zu finden.

Die feuchte Hitze ließ ihr den Schweiß ausbrechen und das Kleid auf der Haut kleben. Sobald sie wieder zu Hause wäre, würde sie ihr Zimmer abschirmen und ein Bad nehmen. Ein langes Bad. Mit Jedidiah. Dann würde sie ihm erlauben, sie mit seiner Magie zu verwöhnen.

Immer tiefer drangen sie in den Hagenwald ein, tiefer als je zuvor. Von morastigen Stellen wehte Nebel heran, der den alles durchdringenden Gestank verrottender Pflanzen mit sich trug. Sie passierten dunkle Wasserläufe, verborgen hinter Schleiern aus Luftwurzeln und Efeu, die ihnen über Gesicht und Arme streiften und sie bei jeder unerwarteten Berührung zurückschrecken ließen. Die Fußstapfen führten einen spärlich bewachsenen, felsigen Hang hinauf.

Oben blieb sie in der feuchten, stillen Luft stehen und blickte zurück über die düstere Landschaft. In der Ferne konnte sie die flackernden Lichter von Tanimura erkennen und inmitten dieser Lichter den Palast der Propheten, der sich im silbrigen Mondlicht erhob und dessen massig dunkle Form die dahinterliegenden Lichter der Stadt verdeckte.

Sie sehnte sich dorthin zurück, nach Hause. Aber dies hier ließ sich nicht vermeiden. Es gab sonst niemanden, der es tun könnte. Das Leben aller hing von ihr ab. Der Schöpfer verließ sich auf sie. Trotzdem sehnte sie sich nach ihrem Zuhause, nach Sicherheit.

Doch ihr Zuhause war längst nicht mehr sicher. Wenn es tatsächlich Schwestern der Finsternis gab, war es dort ebenso gefährlich wie hier im Hagenwald. Trotz ihres Wissens fiel es ihr schwer, die Vorstellung zu akzeptieren. Die Prälatin mußte ihr glauben, sie mußte einfach. Es gab sonst niemanden, den sie um Hilfe bitten konnte. Wenn es doch wenigstens eine Schwester gäbe, der sie trauen könnte. Doch das wagte sie nicht. Nathan hatte sie genau davor gewarnt.

Sie wünschte sich zwar, daß Jedidiah zu Hause und in Sicherheit wäre, andererseits war sie aber auch froh, daß er bei ihr war. Er würde ihr zwar nicht helfen können, trotzdem tat es gut, jemanden zu haben, dem sie sich anvertrauen konnte. Ihren Mann. Sie mußte bei dem Gedanken lächeln. Sie würde sich nie verzeihen, wenn ihm etwas zustoßen sollte. Sie würde ihn mit ihrem Leben beschützen, wenn es sein mußte.

Der Boden neigte sich. Durch die Baumlücken hindurch konnte sie erkennen, daß sie in eine tiefe Senke im Erdboden hinabstiegen. Der Rand war steil, und sie mußten sich langsam bewegen, damit keine Steine durch den Wald hinabkullerten. Einer von ihnen geriet ins Rutschen, als sie mit dem Fuß daranstieß, und sie hielt ihn rasch mit einer Handvoll Luft fest und drückte ihn wieder fest ins Erdreich zurück. Erleichtert seufzte sie.

Jedidiah folgte ihr, ein stummer, beruhigender Schatten. Ihre Anspannung löste sich ein wenig, als sie nach dem lockeren Felsenboden wieder dichteren Wald betraten, wo der Boden moosbewachsen war und ihre Schritte dämpfte.

Gesang wehte ihnen leise aus dem dichten Wald entgegen, getragen von der schweren, übelriechenden Luft. Der tiefe, rhythmische, kehlige Klang von Worten, die sie nicht verstand, verschnürte ihr die Brust. Auch ohne sie zu verstehen, empfand sie bei den Worten Ekel, so als erfüllten sie die Luft mit Gestank.

Jedidiah packte sie am Arm und riß sie zurück, damit sie stehenblieb. Er brachte seinen Mund dicht an ihr Ohr. »Margaret, bitte«, flüsterte er, »gehen wir zurück, bevor es zu spät ist. Ich habe Angst.«

»Jedidiah!« fauchte sie und packte ihn am Kragen. »Das ist wichtig! Ich bin eine Schwester des Lichts. Du bist ein Zauberer. Wozu, glaubst du, habe ich dich ausgebildet? Damit du in irgendeinem Marktflecken auf der Straße stehst und Kunststückchen vorführst? Damit dir die Menschen Münzen zuwerfen? Wir dienen dem Schöpfer. Er hat uns alles gegeben, was wir haben, damit wir es benutzen, um anderen zu helfen. Andere Menschen sind in Gefahr. Du bist ein Zauberer! Dann benimm dich auch wie einer!«

Im schwachen Licht konnte sie seine aufgerissenen Augen erkennen. Er sank ein wenig in sich zusammen, als die Anspannung aus seinen Muskeln wich. »Tut mir leid. Du hast recht. Verzeih mir. Ich werde tun, was ich tun muß, das verspreche ich dir.«

Ihr Zorn kühlte ab. »Ich habe auch Angst. Berühre dein Han, nimm es in die Hand, aber nicht zu fest. Halte es so, daß du es jederzeit freisetzen kannst, wie ich es dir beigebracht habe. Zögere nicht, wenn irgend etwas geschieht. Hab keine Angst, wie sehr du ihnen weh tun könntest. Wenn du deine Kraft wirklich benötigst, mußt du sie ganz einsetzen, sonst wird sie nicht genügen. Wenn du den Kopf bewahrst, bist du stark genug, dich zu verteidigen. Du kannst es schaffen, Jedidiah. Hab Vertrauen in das, was ich dir beigebracht habe, was alle Schwestern dir beigebracht haben. Vertraue auf den Schöpfer und auf das, was er dir geschenkt hat. Du hast es aus einem bestimmten Grund bekommen, wie wir alle. Vielleicht ist dies der Grund. Vielleicht findet deine Berufung heute abend ihre Erfüllung.«

Er nickte, und sie widmete sich wieder den leuchtenden Fußspuren und folgte ihnen in den dichten Wald. Sie wanderten zwischen den Bäumen hindurch zum Mittelpunkt der Senke, von wo ihnen der Sprechgesang entgegenhallte. Je lauter die Stimmen wurden, desto stärker wurde auch die Gänsehaut auf ihrem Rücken. Es waren die Stimmen von Schwestern. Einige von ihnen glaubte sie zu erkennen.

Geliebter Schöpfer, betete sie, gib mir die Kraft, zu tun, was ich tun muß, um Dir zu helfen. Gib auch Jedidiah Kraft. Hilf uns, Dir zu dienen, damit wir anderen helfen können.

Winzige, flackernde Lichter drangen durch das Blattwerk. Sie schlichen näher. Die Bäume ringsum waren riesig. Die beiden schoben sich von einem Stamm zum nächsten war, folgten jetzt nicht mehr den Spuren. Inzwischen war durch die Lücken im Unterholz schon etwas zu erkennen. Langsam schlichen sie auf Zehenspitzen über den offenen Waldboden unter hohen, ausladenden Fichten. Die Nadeln waren weich und dämpften ihre Schritte. Schulter an Schulter duckten sie sich hinter einem niedrigen, dichten Gebüsch am Rand der Bäume. Näher konnten sie nicht heran. Dahinter lag eine flache, runde Lichtung.

Wenigstens hundert Kerzen waren ringförmig auf dem Boden aufgestellt worden — wie ein Zaun oder eine Begrenzung –, so als sollte der dunkle Wald zurückgehalten werden. Im Kerzenring war ein Kreis auf den Boden gezeichnet. Er sah aus, als wäre er aus Sand gemacht, in dem winzige Spitzen gebrochenen Lichts aufblitzten. Er glich den Beschreibungen des Zauberersandes, von dem sie gehört, den sie aber noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Im Schein der Kerzen und des Mondes oben war er deutlich zu erkennen.

Mit demselben weißen Sand hatte man Symbole gezeichnet. Sie befanden sich innerhalb des Kreises und berührten mit den Spitzen in unregelmäßigen Abständen dessen äußere Umrandung. Margaret hatte solche Symbole noch nie gesehen, doch ein paar der Elemente kannte sie aus einem alten Buch. Sie dienten der Kontaktaufnahme mit der Unterwelt.

Ungefähr auf halbem Weg zwischen der äußeren weißen Linie und dem Ring aus Kerzen saßen elf Schwestern im Kreis. Margaret strengte sich an und versuchte im schwachen, flackernden Licht mehr zu erkennen. Über den Kopf hatten alle eine Kapuze mit Löchern für die Augen gezogen. Sie intonierten einstimmig ihren Gesang. Die Schatten der Schwestern trafen sich an einem Punkt in der Mitte.

Im Mittelpunkt lag eine Frau, nackt bis auf eine ähnliche Kapuze, wie sie die anderen trugen. Sie lag auf dem Rücken, die Hände über der Brust verschränkt, die Beine zusammengepreßt.

Zwölf. Mit der Frau im Mittelpunkt waren es zwölf. Sie suchte noch einmal den Kreis der Schwestern ab. Trotz der Kerzen war es noch immer dunkel, außerdem standen die Kerzen im Rücken der Schwestern.

Ihr Blick blieb auf einer Gestalt am gegenüberliegenden Rand des Kreises haften. Ihr stockte der Atem. Die Gestalt war größer als die übrigen. Sie war geduckt, hielt den Kopf gesenkt und trug keine Kapuze. Sie hockte an einer Stelle, wo die Linien der Symbole zusammenliefen.

Eine Schwester war es nicht. Mit Schrecken entdeckte sie das schwache, orangene Glühen. In ihrem Schoß ruhte die Figur mit dem Quillion.

Sie und Jedidiah duckten sich erschrocken und beobachteten den Kreis der singenden Schwestern. Nach einer Weile erhob sich eine von ihnen neben der geduckten Gestalt. Der Sprechgesang brach ab. Sie sprach kurze, knappe Worte in einer Sprache, die Margaret nicht kannte. An bestimmten Stellen der Ansprache reckte sie die Hand in die Höhe und schleuderte funkelnden Staub über die nackte Frau in der Mitte. Der Staub entzündete sich und tauchte die Schwestern mit ihren Kapuzen in ein jähes, grelles Licht. Das Aufblitzen wurde mit eigenartig rhythmischen Worten beantwortet. Margaret und Jedidiah tauschten Blicke aus, und ihre verwirrten Gefühle spiegelten sich in seinen Augen.

Die stehende Schwester warf beide Hände in die Höhe und rief eine Reihe eigenartiger Worte. Dann ging sie zu der nackten Frau, stellte sich neben ihren Kopf und warf die Arme wieder in die Höhe. Der funkelnde Staub fing erneut Feuer. Diesmal glühte auch der orangefarbene Quillion hell auf.

Die gedrungene Gestalt hob langsam den Kopf. Margaret schnappte stumm nach Luft, als sie das Gesicht des Ungeheuers sah. Sein reißerbesetztes Maul öffnete sich zu einem leisen Knurren. Die Schwester zog ein fein geschmiedetes Silberzepter aus ihrem Gewand, schüttelte es ein paarmal mit scharfem Ruck, während sie wieder zu singen begann, und besprenkelte die ausgestreckt daliegende Frau mit Wasser.

Irgend etwas geschah mit dem Quillion. Er wurde heller und verblaßte dann. Das Ungeheuer beobachtete die nackte Frau aus seinen dunklen Augen. Margaret riß entsetzt die Augen auf. Ihr Herz pochte so stark, als wollte es ihr ein Loch in die Brust reißen.

Mit dem Verblassen des Quillion begannen die Augen des Ungeheuers orange zu leuchten — in der gleichen Farbe wie der Quillion. Mit dem Schwächerwerden des Quillion wurde das Leuchten in den Augen des Ungeheuers kräftiger, bis die Figur dunkel war und die Augen des Wesens strahlend leuchteten.

Zwei weitere Schwestern erhoben sich. Sie stellten sich zu beiden Seiten neben die erste.

Die erste kniete nieder. Sie senkte den Kapuzenkopf und musterte die nackte Frau. »Es ist soweit, wenn du dir sicher bist. Du weißt, was zu tun ist, dasselbe hat man auch mit uns getan. Du bist die letzte, der die Gabe offenbart wird. Willst du sie entgegennehmen?«

»Ja! Das ist mein Recht. Sie gehört mir. Ich will sie.«

Margaret glaubte, beide Stimmen wiederzuerkennen, war sich aber nicht sicher, weil die Kapuzen die Worte dämpften.

»Dann soll sie dir gehören, Schwester.« Die beiden anderen knieten neben ihr nieder, als sie ein Tuch aus ihrem Gewand zog und zusammendrehte. »Du mußt diese Schmerzensprobe bestehen, um die Gabe zu erlangen. Während dies geschieht, können wir dich nicht mit unserer Magie berühren, aber wir werden dir helfen, so gut es geht.«

»Ich werde alles tun. Sie gehört mir. Es soll geschehen.«

Die nackte Frau breitete die Arme aus. Die Schwestern lehnten sich zu beiden Seiten mit ihrem ganzen Gewicht auf ihre Handgelenke.

Die Schwester an ihrem Kopf hielt ihr das verdrehte Tuch über das Kapuzengesicht. »Öffne den Mund und beiß darauf.« Sie schob der Frau das Tuch zwischen die Zähne. »Jetzt mach die Beine breit. Du mußt sie geöffnet halten. Wenn du versuchst, sie zu schließen, so gilt dies als Verweigerung dessen, was man dir anbietet, und du hast deine Chance vertan. Für immer.«

Die nackte Frau hatte den Blick starr ins Nichts gerichtet. Sie keuchte vor Angst, ihre Brust hob und senkte sich. Langsam breitete sie die Beine auseinander.

Das Ungeheuer rührte sich und stieß ein leises Grunzen aus.

Margaret packte Jedidiahs Unterarm und krallte ihre Finger hinein.

Das Ungeheuer nahm Witterung auf. Als es langsam hochkam, sah Margaret, daß es erheblich größer war als in seiner geduckten Haltung. Es war kräftig gebaut und glich größtenteils einem Mann. Der flackernde Schein der Kerzen wurde von den schweißnassen harten Muskeln an Armen und Brust zurückgeworfen. An den schmalen Hüften begann ein flaumiger Haarwuchs, der weiter unten an den Beinen bis hin zu den Knöcheln, wo er am dichtesten war, immer drahtiger wurde. Doch der Kopf war völlig anders als bei einem Mann. Er bot ein grauenvolles Bild aus Bosheit und Reißzähnen.

Eine lange, dünne Zunge schnellte hervor, schien die Luft zu schmekken. Die Augen leuchteten in dem schwachen Licht orange auf — orange von der Kraft der Gabe, die es aus dem Quillion gezogen hatte.

Als es auf Händen und Knien auf die nackte Frau zukroch, wäre Margaret vor Schreck fast die Luft weggeblieben — sie kannte das Ungeheuer. In einem alten Buch hatte sie eine Zeichnung von ihm gesehen. In demselben Buch, in dem sie auch Teile der Symbole gefunden hatte. Sie wollte schreien.

Es war ein Namble. Einer der Günstlinge des Namenlosen.

Lieber Schöpfer, betete sie fieberhaft, bitte beschütze uns.

Mit einem tiefen Knurren reckte er seine mächtigen Muskeln, seine Augen glühten orange auf. Der Namble schlich wie eine riesenhafte Katze auf die am Boden liegende Frau zu. Mit gesenktem Kopf ließ er sich zwischen ihren Beinen nieder. Fast völlig starr vor Angst hielt die Frau den Blick weiter ins Nichts gerichtet.

Der Namble schnupperte an ihrem Schoß. Er ließ die lange Zunge hervorschnellen und leckte sie. Sie zuckte zusammen, stieß einen kurzen Schrei in den Knebel zwischen ihren Zähnen, hielt die Beine aber weiter ausgebreitet. Ihr Blick war starr. Sie sah den Namble nicht an. Die Schwestern im Kreis stimmten einen leisen Gesang an. Der Namble leckte sie erneut, langsamer diesmal, und stöhnte dabei. Sie kreischte in den Knebel. Schweißperlen glänzten auf ihrer Haut. Sie hielt die Beine weit auseinander.

Das Ungeheuer erhob sich auf die Knie und stieß ein kehliges Röhren in den schwarzen Himmel. Sein spitzer, stacheliger Phallus stand, ein deutlich sichtbarer Schattenriß vor dem Schein der dahinter stehenden Kerzen. Die Muskeln an Armen und Schultern ballten sich zu knorrigen Strängen, als der Namble sich vornüberbeugte und sich zu beiden Seiten der Frau auf seine Fäuste stemmte. Seine Zunge schleckte rings um ihre Kehle, während er ein rollendes Knurren von sich gab, um sich dann auf sie herabzusenken und sie unter seinem massigen Körper zu begraben.

Seine Hüften bewegten sich ruckartig nach vorn. Die Frau preßte gequält die Lider zusammen und kreischte in den Knebel zwischen ihren Zähnen. Der Namble setzte zu einem schnellen, kraftvollen Stoß an, und die Frau riß in panischer Erwartung des Schmerzes die Augen auf. Selbst mit dem zwischen ihre Zähne geklemmten Stoffetzen übertönte ihr Schreien jedesmal den Gesang der Schwestern, wenn das Ungeheuer ihr den Atem aus den Lungen preßte und so den Schreien zusätzlich Nachdruck verlieh.

Margaret mußte sich beim Zusehen zwingen, Luft zu holen. Sie haßte diese Frauen. Sie hatten sich etwas unaussprechlich Bösem verschrieben. Und doch, es waren ihre Mitschwestern, und sie konnte es kaum ertragen mitanzusehen, wie einer von ihnen Schmerz zugefügt wurde. Sie bemerkte, wie sie zitterte. Sie umklammerte die goldene Blume an ihrem Hals mit einer Hand und Jedidiahs Arm mit der anderen, während ihr die Tränen übers Gesicht rannen.

Das Ungeheuer warf sich immer wieder auf die am Boden liegende Frau, während die drei Schwestern sie festhielten. Ihre unterdrückten, gequälten Schreie zerrissen Margaret fast das Herz.

Schließlich sagte die Schwester, die das Tuch festhielt, etwas. »Wenn du die Gabe willst, mußt du ihn ermutigen, sie dir zu geben. Er wird sie dir nicht überlassen, wenn es dir nicht gelingt, seine Beherrschung zu bezwingen — und du sie ihm nimmst. Du mußt sie dir von ihm holen. Verstehst du mich?«

Weinend, die Augen fest geschlossen, nickte die Frau mit dem Kopf.

Die Schwester nahm den Knebel fort. »Dann gehört er jetzt dir. Hol dir die Gabe, wenn du sie willst.«

Die anderen beiden ließen ihre Arme los, und zu dritt kehrten sie auf ihre Plätze im Kreis zurück und stimmten in den Sprechgesang der anderen ein. Die Frau stieß einen Klagelaut aus, der Margarets Blut zu Eis gefrieren ließ.

Die Frau schlang Arme und Beine um den Namble, klammerte sich an ihn, folgte seinen Bewegungen, bewegte sich im Rhythmus des Gesangs. Ihre Schreie verstummten, als sie vor Anstrengung zu keuchen begann.

Margaret konnte es nicht länger mitansehen. Sie schloß die Augen und schluckte ein Jammern hinunter, das sich aus ihrer Kehle lösen wollte. Doch selbst mit geschlossenen Augen wurde es nicht besser. Sie konnte es noch immer hören. Bitte, geliebter Schöpfer, flehte sie in Gedanken, mach ein Ende. Mach dem ein Ende.

Und dann endete es — mit einem rohen Grunzlaut. Margaret öffnete die Augen und sah den Namble reglos, mit durchgebogenem Rücken. Er schüttelte sich und erschlaffte dann langsam. Die Frau hatte Mühe, unter seinem Gewicht Luft zu holen.

Mit einer unvorstellbar scheinenden Kraftanstrengung stieß sie den Namble von sich herunter. Schwer atmend wälzte er sich auf Hände und Knie und stahl sich zurück auf seinen Platz im Kreis, wo er sich zu einem dunklen Knäuel zusammenrollte. Der Gesang war verstummt. Die Frau blieb noch eine Weile keuchend auf der Erde liegen, um sich zu erholen. Sie war mit einer glänzenden Schweißschicht bedeckt, in der sich das gelbliche Licht der Kerzen spiegelte.

Mit einem letzten, tiefen Seufzer kam die Frau auf die Beine. Dunkles Blut lief ihr die Beine hinab. Mit einer ruhigen Gewißheit, die es Margaret eiskalt den Rücken hinunterlaufen ließ und ihr den Atem raubte, drehte die Frau sich zu ihr um und nahm ihre Kapuze ab. Das bedrohliche orangene Glühen in ihren Augen schwand, und sie nahmen wieder das helle Blau mit den violetten Flecken an, die Margaret so gut kannte.

»Schwester Margaret.« Ihr Tonfall war ebenso spöttisch wie das Lächeln auf ihren dünnen Lippen. »Hat es dir gefallen zuzusehen? Das dachte ich mir schon.«

Margaret riß die Augen auf und kam langsam auf die Beine. Auf der anderen Seite des Kreises erhob sich die Schwester, die den Knebel gehalten hatte, und zog die Kapuze zurück. »Margaret, Liebes, wie schön, daß du soviel Interesse an unserer kleinen Gruppe zeigst. Ich hätte dich nicht für so dumm gehalten. Meinst du, ich hätte dich den Quillion in meinem Büro zufällig sehen lassen? Glaubst du, ich hätte nicht gewußt, daß jemand neugierig geworden war? Ich mußte wissen, wer sich überall herumdrückt und seine Nase in Dinge steckt, die ihn nichts angehen. Ich habe dich ihn sehen lassen. Ich war allerdings erst völlig sicher, als du uns gefolgt bist.« Ihr Lächeln ließ Margaret den Atem gefrieren. »Hältst du uns für Trottel? Ich habe die Lache deines Han gesehen, in die wir treten sollten. Den Gefallen habe ich dir getan. Wie schade. Für dich.«

Margaret hielt die Goldblume um ihren Hals fest umklammert, die Fingernägel bohrten sich in ihre Handfläche. Wie hatten sie die Lache ihres Han sehen können? Weil sie sie unterschätzt hatte, ganz einfach. Sie hatte unterschätzt, was sie mit der Gabe anstellen konnten. Es würde sie das Leben kosten.

Aber nur sie. Nur sie. Bitte, geliebter Schöpfer, nur sie. Sie spürte Jedidiah dicht neben sich.

»Jedidiah«, hauchte sie. »Lauf fort. Ich versuche, sie aufzuhalten, während du fliehst. Lauf fort, mein Geliebter. Lauf um dein Leben.«

Er hob seine kräftige Hand und packte sie am Arm. »Ich glaube kaum, ›meine Liebe‹.« Sein grausam leerer Blick hielt dem ihren stand. »Ich habe versucht, dich zu retten, Margaret. Ich habe versucht, dich zur Umkehr zu bewegen. Aber du wolltest nicht hören.« Er blickte kurz zu den Schwestern auf der anderen Seite der Lichtung. »Wenn sie es mir schwört, könnten wir dann nicht einfach…« Die Schwester erwiderte den Blick. Er seufzte. »Nein, das können wir wohl nicht.«

Er stieß sie mit einem kräftigen Schubs auf die Lichtung. Vor dem Ring aus Kerzen kam sie stolpernd zum Stehen. Sie war wie betäubt. Ihr Verstand verweigerte den Dienst. Ihre Stimme versagte.

Die Schwester auf der anderen Seite des Kreises faltete die Hände und hielt nach Jedidiah Ausschau. »Hat sie es sonst noch jemandem erzählt?«

»Nein. Nur mir. Sie wollte erst einen Beweis, bevor sie jemand anderes um Hilfe bat.« Sein Blick kehrte zu ihr zurück. »Nicht wahr, meine Liebe?« Er schüttelte erneut den Kopf, ein krankhaftes Grinsen auf den Lippen. Auf den Lippen, die sie geküßt hatte. Ihr war übel. Sie kam sich wie der größte Narr vor, den der Schöpfer je gesehen hatte. »Wie schade.«

»Du hast deine Sache gut gemacht, Jedidiah. Dafür wirst du belohnt werden. Und was dich angeht, Margaret … nun, morgen wird Jedidiah melden, daß er, nachdem er versucht hat, sich den beharrlichen Annäherungsversuchen einer älteren Frau zu entziehen, dich endgültig und entschlossen abgewiesen hat und du vor Scham und Demütigung davongelaufen bist. Wenn sie hierherkommen und deine Knochen finden, wird das ihre Befürchtungen bestätigen, daß du deinem Leben ein Ende machen wolltest, weil du dich nicht mehr für wert gehalten hast, als Schwester des Lichts weiterzuleben.«

Die Augen mit den dunklen Sprenkeln wandten sich Margaret zu. »Überlaß sie mir. Laß mich meine neue Gabe ausprobieren. Ich will auf den Geschmack kommen.«

Dieser Blick ließ Margaret noch immer erstarren. Sie hielt noch immer die goldene Blume an ihrem Hals umklammert. Die betäubende Qual, zu wissen, daß Jedidiah sie verraten hatte, raubte ihr den Atem.

Sie hatte den Schöpfer angefleht, Jedidiah Kraft zu geben, die Kraft, anderen zu helfen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wer diese anderen sein würden. Der Schöpfer hatte ihre Gebete erhört, so töricht sie auch waren.

Als die Schwester einverstanden war, verzogen sich die dünnen Lippen zu einem breiten Grinsen. Margaret kam sich unter dem durchdringenden Blick dieser gesprenkelten Augen nackt vor, hilflos.

Schließlich zwang Margaret ihren Verstand zu arbeiten. Sofort sprangen ihre Gedanken auf die verzweifelte Suche nach einer Fluchtmöglichkeit an. Ihr fiel nur eine einzige ein, bevor es zu spät war. Voller Panik ließ sie ihr Han durch jede Faser ihres Seins schießen und schuf einen Schild — den kräftigsten Schild, den sie kannte –, einen Schild aus Luft. Sie machte ihn hart wie Stahl. Undurchdringlich. Sie legte ihren ganzen Haß, ihre ganze Verletztheit hinein.

Das dünne Lächeln blieb. Die scheckigen Augen rührten sich nicht. »Luft also, ja? Mit der Gabe kann ich es jetzt erkennen. Soll ich dir zeigen, was ich mit Luft alles tun kann? Was die Gabe damit anstellen kann?«

»Die Kraft des Schöpfers wird mich beschützen«, brachte Margaret hervor.

Das dünne Lächeln wurde spöttischer. »Glaubst du wirklich? Laß mich dir die Unfähigkeit des Schöpfers darlegen.«

Sie hob die Hand. Margaret hatte einen Ball Zaubererfeuer erwartet. Das war es nicht — es war ein Ball aus Luft, so dicht, daß sie ihn auf sich zufliegen sehen konnte. Er war so dicht, daß alles, was sie durch ihn sah, verzerrt wurde. Margaret hörte, wie er sich rauschend näherte, wie er vor Kraft pfiff. Er durchbrach den Schild wie eine lodernde Pechfackel ein Blatt Papier.

Das hätte er eigentlich nicht können dürfen — schließlich war ihr Schild aus Luft. Luft hätte einen Schild aus Luft nicht durchbrechen können dürfen, jedenfalls keinen, der so kräftig war wie ihrer. Doch das hier war nicht einfach Luft einer Schwester, sondern Luft einer Schwester, die die Gabe besaß. Die Gabe eines Zauberers.

Verwirrt mußte Margaret feststellen, daß sie auf der Erde lag und in die Sterne blickte — hübsche Sterne: die Sterne des Schöpfers. Sie bekam keine Luft. Einfach keine Luft.

Seltsam — sie konnte sich nicht erinnern, wie die Luft auf sie geprallt war. Nur, daß ihr der Atem brutal aus den Lungen gerissen worden war. Ihr war kalt, doch etwas Warmes berührte ihr Gesicht. Warm und feucht. Ein Trost.

Ihre Beine schienen ihr nicht zu gehorchen. Sosehr sie es auch versuchte, sie ließen sich nicht bewegen. Mit allergrößter Anstrengung gelang es ihr, den Kopf ein kleines Stück zu heben. Die Schwestern hatten sich nicht von der Stelle gerührt, aber irgendwie schienen sie jetzt weiter entfernt. Sie sahen alle zu ihr hin. Margaret sah an sich herunter.

Irgend etwas war grauenhaft verkehrt.

Unterhalb ihres Brustkorbes war so gut wie nichts mehr. Nur die zerfetzten Überreste ihrer Eingeweide, dann nichts mehr. Wo der Rest hätte sein müssen, war nichts mehr. Wo waren ihre Beine hin? Sie mußten doch irgendwo sein. Irgendwo mußten sie doch sein.

Da waren sie. Sie lagen ein Stück entfernt, dort, wo sie gestanden hatte.

Aha. Deswegen konnte sie also nicht mehr atmen. Luft hätte nicht dazu imstande sein dürfen. Das war unmöglich. Wenigstens nicht die von einer Schwester bewegte Luft. Es war ein Wunder.

Geliebter Schöpfer, warum hast Du mir nicht beigestanden? Ich war dabei, Dein Werk zu verrichten. Warum hast Du das zugelassen?

Eigentlich müßte es doch weh tun, oder? Müßte es nicht weh tun, in zwei Hälften gerissen zu werden? Aber das tat es nicht. Es tat kein bißchen weh.

Kalt. Nur kalt war ihr. Aber die warme Schnur ihrer Eingeweide an ihrem Gesicht fühlte sich gut an. Warm. Die Wärme hatte etwas Tröstliches.

Vielleicht tat es deswegen nicht weh, weil der Schöpfer ihr half. Das mußte es sein. Der Schöpfer hatte ihr die Schmerzen abgenommen. Geliebter Schöpfer, ich danke Dir. Ich habe mein Bestes gegeben. Tut mir leid, daß ich Dich enttäuscht habe. Schicke eine andere.

Ganz in der Nähe standen Stiefel: Jedidiah. Ihr Gatte Jedidiah, das Ungeheuer Jedidiah.

»Ich habe versucht, dich zu warnen, Margaret. Ich habe versucht, dich von hier fernzuhalten. Du kannst nicht behaupten, ich hätte es nicht versucht.«

Ihre Arme lagen ausgestreckt zu beiden Seiten. In der Rechten fühlte sie die kleine Goldblume. Sie hatte sie nicht losgelassen. Selbst als sie in Stücke gerissen wurde, hatte sie sie nicht losgelassen. Sie versuchte es jetzt, konnte aber ihre Hand nicht öffnen. Gern hätte sie die Kraft besessen, ihre Hand zu öffnen. Sie wollte nicht mit diesem Ding in ihrer Hand sterben. Aber sie brachte die Finger einfach nicht auseinander.

Geliebter Schöpfer, auch darin habe ich versagt.

Da sie es nicht loslassen konnte, tat sie das einzige, was ihr jetzt noch einfiel. Sie ließ den Rest ihrer Kraft hineinfließen. Vielleicht würde irgend jemand es sehen und die richtige Frage stellen.

Müde. Sie war so fürchterlich müde.

Sie versuchte, die Augen zu schließen, aber sie wollten sich nicht schließen lassen. Wie konnte man sterben, wenn man nicht die Augen schließen konnte?

Es waren viele Sterne. Hübsche Sterne. Es schienen weniger zu sein, als sie in Erinnerung hatte. Kaum noch welche. Sie dachte, ihre Mutter hätte ihr einmal erzählt, wie viele es waren. Aber sie konnte sich nicht mehr erinnern.

Nun, sie würde sie eben zählen müssen.

Eins, zwei…

Загрузка...