Kahlan rannte durch die dunklen, steinernen Gänge und durch die grabähnlichen Kammern. Die ersten Lichtstrahlen warfen goldene Flecken auf die rauhe, dunkelgraue Granitwand gegenüber den Fenstern, während sie eine Osttreppe hinaufhastete. Sie war sofort losgelaufen, als Jebra ihr erzählt hatte, sie habe in der Burg der Zauberer ein Licht gesehen.
Sie mußte daran denken, wie es war, mit langem Haar zu rennen: an das Gewicht des Haares, wie es hinter ihr herwehte, mit ihren Schritten zu fließen schien. Jetzt spürte sie dieses Gefühl nicht mehr. Doch das war egal, sie freute sich einfach darüber, daß Zedd zurückgekehrt war. Sie hatte so lange darauf gewartet. Im Laufen rief sie seinen Namen.
Sie platzte in das übervolle Lesezimmer, kam stolpernd zu Stehen, rang nach Atem. Zedd stand hinter einem Tisch, der mit Büchern und Papieren übersät war, genau wie sie ihn vom letzten Mal, Monate zuvor, noch in Erinnerung hatte. Kerzen verliehen dem Zimmer eine warme Behaglichkeit. Das Lesezimmer hatte nur ein einziges Fenster, das auf den noch dunklen Himmel im Westen hinausging.
Ein großer Mann mit buschigen brauen, größtenteils grauem Haar und einem verwitterten, faltigen Gesicht blickte von einem Spazierstock auf, den er gerade begutachtete. Adie saß etwas seitlich davon in einem Sessel. Ihr Kopf zuckte herum, als sie das Geräusch hörte. Zedd legte den Kopf fragend auf die Seite und runzelte die Stirn.
»Zedd!« Sie schluckte Luft. »Oh, Zedd, ich bin ja so froh, dich wiederzusehen.«
»Zedd?« Er drehte sich zu dem großen Mann um. »Zedd?« Der große Mann nickte. »Ruben gefällt mir aber besser.«
»Zedd! Du mußt mir helfen!«
»Wer ist das?« fragte Adie aus dem Sessel.
»Adie, ich bin’s, Kahlan.«
»Kahlan?« Ihr Kopf ruckte herum zu Zedd. »Kahlan, wer ist das?«
Zedd zuckte mit den Achseln. »Ein hübsches Mädchen mit kurzem Haar. Offenbar kennt sie uns.«
»Was redest du da? Zedd, ich brauche Hilfe! Richard ist in Schwierigkeiten! Ich brauche dich!«
Zedd runzelte verwirrt die Stirn. »Richard. Den Namen kenne ich. Glaube ich wenigstens…«
Kahlan war außer sich. »Was ist mit dir, Zedd! Erkennst du mich nicht? Bitte, Zedd, ich brauche dich. Richard braucht dich.«
»Richard.« Er strich sich über sein glattrasiertes Kinn und sah nachdenklich auf den Tisch. »Richard…«
»Dein Enkel! Bei den Seelen, kannst du dich nicht an deinen Enkel erinnern?«
Er starrte auf den Tisch und dachte nach. »Enkel … ich glaube, ich erinnere mich … nein, doch wohl nicht.«
»Zedd! Hör mir zu! Die Schwestern des Lichts halten ihn gefangen! Sie haben ihn mitgenommen!«
Kahlan stand stumm da und rang nach Atem. Zedd hob langsam den Kopf und sah sie mit seinen braunen Augen an. Sein Gesicht verlor seinen fragenden Ausdruck, als sich seine Brauen zusammenzogen und er wütend darunter hervorblickte. »Die Schwestern des Lichts halten Richard gefangen?«
Kahlan hatte schon gesehen, wie Zauberer wütend wurden, doch einen Blick wie jetzt bei Zedd hatte sie noch nie in den Augen eines Zauberers gesehen.
»Ja«, sagte sie. Sie wischte sich ihre schweißnassen Hände an den Hüften ab und betrachtete einen Riß, der hinter ihm die Wand hinauflief. »Sie sind gekommen und haben ihn mitgenommen.«
Zedd stemmte sich mit den Knöcheln auf den Tisch und beugte sich zu ihr. »Ausgeschlossen. Sie hätten ihn nicht mitnehmen können, es sei denn, sie hätten ihm einen dieser gottverfluchten Ringe um den Hals gelegt. Richard würde sich niemals einen Ring um den Hals legen lassen.«
Kahlans Knie begannen zu zittern. »Er hat es aber getan.«
Sein wutschäumender Gesichtsausdruck schien die Luft in Brand zu setzen. »Warum sollte er sich einen Ring um den Hals legen lassen, Konfessor?«
»Weil«, meinte sie kleinlaut, »ich ihn gezwungen habe.«
Plötzlich schmolzen die Kerzen in einem der Ständer gleich neben ihm, und ihr Wachs sammelte sich in zischenden Pfützen auf dem Boden. Die Eisenarme, die die Kerzen gehalten hatten, erschlafften wie eine Pflanze, die verdurstet. Der große Mann drückte sich ängstlich an die mit Regalen vollgestellte Wand.
Zedd zischte sie bedrohlich an: »Du hast was getan, Konfessor?«
Das Schweigen hallte durch den Raum, sie stand da und zitterte. »Er wollte nicht. Ich mußte es tun. Ich habe ihm erklärt, er müsse ihn anlegen, als Beweis dafür, daß er mich liebt.«
Kahlan hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu prallen. Sie begriff nicht, wieso sie hingestreckt auf dem Fußboden lag. Mit zitternden Armen stemmte sie sich hoch. Sie japste nach Luft, als sie plötzlich auf die Füße gerissen und ein weiteres Mal gegen die Wand geschleudert wurde.
Zedd stand mit wildem Blick unmittelbar vor ihr. »Genau dasselbe hast du Richard angetan!«
Kahlan drehte sich der Kopf. Ihre eigene Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Du verstehst nicht. Ich mußte es tun. Zedd, ich brauche deine Hilfe. Richard hat mir aufgetragen, dich zu suchen und dir zu erklären, was ich getan habe. Bitte, Zedd, hilf ihm.«
In einem Anfall von Wut schlug er ihr den Handrücken ins Gesicht. Als sie hinschlug, schürfte sie sich die Hände auf dem Steinfußboden auf. Er riß sie auf die Beine und schmetterte sie erneut gegen die Wand.
»Ich kann ihm nicht helfen! Niemand kann das! Du törichtes Weib!«
Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Wieso? Ich muß ihm helfen, Zedd!«
Als er erneut ausholte, hielt sie sich die Arme vors Gesicht, um sich vor ihm zu schützen. Es half nichts. Ihr Kopf schlug abermals krachend gegen die Wand. Das Zimmer drehte sich. Sie zitterte am ganzen Körper. Noch nie hatte sie einen Zauberer in derart unbeherrschtem Zorn gesehen. Kahlan wußte, er würde sie umbringen für das, was sie Richard angetan hatte.
»Du Närrin. Du verräterische Närrin. Jetzt kann ihm niemand mehr helfen.«
»Zedd, bitte. Du kannst es. Bitte hilf ihm.«
»Nein, nicht einmal ich. Niemand kann zu ihm. Ich kann die Türme nicht passieren. Richard ist für uns verloren. Alles, was mir noch geblieben war, ist verloren.«
»Was meinst du damit, er ist für uns verloren?« Mit zittrigen Fingern wischte sie sich Blut aus dem Mundwinkel. Die Tränen wischte sie sich nicht ab. »Er wird zurückkommen. Er muß zurückkommen.«
Zedd starrte ihr in die Augen und schüttelte langsam den Kopf. »Nicht, solange wir noch leben. Der Palast der Propheten ist in einem Zeitbann gefangen. Richard wird für die nächsten dreihundert Jahre dort bleiben, während man ihn ausbildet. Wir werden ihn nie wiedersehen. Für diese Welt ist er verloren.«
Kahlan schüttelte fassungslos den Kopf. »Nein. Bei den Seelen, nein. Das kann nicht sein. Wir werden ihn wiedersehen. Das darf nicht wahr sein!«
»Es ist wahr, Mutter Konfessor. Du hast ihn in eine Lage gebracht, in der ihm niemand helfen kann. Ich werde meinen Enkelsohn nie wiedersehen. Und du wirst ihn auch nie wiedersehen. Richard wird nicht vor Ablauf von dreihundert Jahren in diese Welt zurückkehren. Und schuld bist du. Weil du ihn gezwungen hast, diesen Halsring anzulegen, als Beweis dafür, daß er dich hebt.«
Er drehte ihr den Rücken zu. Kahlan fiel auf die Knie. »Neeeiiin!« Sie trommelte mit den Fäusten auf den Boden. »Geliebte Seelen, warum habt ihr mir das angetan!« Sie erstickte fast an ihren Tränen.
»Was ist mit deinem Haar passiert, Mutter Konfessor?« fragte Zedd in bedrohlichem Ton, immer noch mit dem Rücken zu ihr.
Kahlan setzte sich auf die Fersen. Was spielte das noch für eine Rolle? »Der Rat hat mich des Verrats für schuldig befunden. Man hat mich zum Tod verurteilt. Bei der Verkündung des Urteils hat das Volk gejubelt. Alle wollten es vollstreckt sehen. Aber ich konnte entkommen.«
Zedd nickte. »Das Volk soll seinen Willen bekommen.« Er packte die Überreste ihres Haars mit seiner Faust und machte sich daran, sie aus dem Zimmer zu zerren. »Du sollst enthauptet werden für das, was du angerichtet hast.«
»Zedd!« kreischte sie. »Zedd! Bitte, tu das nicht!«
Mit Hilfe seiner Magie schleppte er sie wie einen Sack voll Federn durch den Gang.
»Morgen, beim Fest zur Wintersonnenwende, soll dem Volk sein Wunsch erfüllt werden. Es wird sehen, wie die Mutter Konfessor enthauptet wird. Als Oberster Zauberer werde ich mich persönlich darum kümmern. Ich werde mich selbst um die Vollstreckung des Urteils kümmern.«
Kahlan sackte in sich zusammen. Was spielte es noch für eine Rolle? Die Guten Seelen hatten sie im Stich gelassen. Sie hatten ihr alles genommen, was zählte.
Schlimmer noch, sie selbst hatte Richard für dreihundert Jahre zu dem verdammt, was er am meisten fürchtete.
Ja, sie wollte sterben. Der Tod konnte ihr nicht schnell genug kommen.
Die Hände in die Hüften gestemmt, beobachtete Richard die von den Bannen erzeugten Wolken in der Ferne, im Tal der Verlorenen. Im Sonnenaufgang boten sie einen wundervollen Anblick mit ihren goldenen Rändern und der Streifenbildung glühender Strahlen. Er hingegen wußte, wie tödlich sie waren.
Du Chaillu legte ihm zärtlich die Hand auf den Arm. »Mein Gatte macht mich stolz an diesem Tag. Er gibt uns unser Land zurück, wie es die alten Worte uns geweissagt haben.«
»Ich habe es dir schon ein dutzendmal erklärt, Du Chaillu: Ich bin nicht dein Gatte. Du hast die alten Worte schlicht falsch gedeutet. Sie bedeuten lediglich, daß wir dies zusammen tun müssen. Außerdem haben wir es noch nicht hinter uns. Ich wünschte, du hättest mich allein begleitet und nicht all die anderen mitgebracht. Ich weiß doch nicht einmal, ob es mir überhaupt gelingt. Wir könnten dabei getötet werden.«
Sie tätschelte beruhigend seinen Arm. »Der Caharin ist gekommen. Er kann alles tun. Er wird uns unser Land zurückgeben.« Sie überließ ihn seinen Gedanken und machte sich auf den Weg zurück ins Lager. »Unser ganzes Volk soll bei uns sein. Es ist sein gutes Recht.« Sie blieb stehen und drehte sich um. »Werden wir bald aufbrechen, Caharin?«
»Ja, bald«, sagte Richard abwesend.
Sie machte sich erneut auf den Weg. »Ich bin bei unserem Volk, wenn du bereit für mich bist.«
Der gesamte Stamm der Baka Ban Mana hatte hinter ihnen sein Lager aufgeschlagen. Tausende und Abertausende von Zelten verteilten sich über die Hügel — wie Pilze nach einem monatelangen Regen. Er hatte ihnen nicht ausreden können mitzukommen, hatte sie nicht überzeugen können abzuwarten, und so waren sie alle hier bei ihm.
Richard seufzte. Was machte das schon für einen Unterschied? Wenn er sich irrte und die Sache fehlschlug, brauchte er sich nicht darum zu sorgen, ob die Baka Ban Mana von ihm enttäuscht waren. Denn dann würde er tot sein.
Warren und Schwester Verna näherten sich leise von hinten.
»Richard«, fragte Warren, »können wir mit dir reden?«
Richard starrte weiter hinaus in die Stürme. »Natürlich, Warren.« Er sah sich kurz um. »Was hast du auf dem Herzen?«
Warren schob die Hände in den jeweils anderen Ärmel seiner Robe. Richard fand, daß er durchaus wie ein Zauberer aussah, wenn er das tat. Eines Tages würde Warren das verkörpern, was Richard sich unter einem idealen Zauberer vorstellte: Weisheit, Einfühlungsvermögen und ein Wissen, über das Richard nur staunen konnte. Vorausgesetzt, sie kamen hier nicht alle um.
»Also, Schwester Verna und ich haben miteinander gesprochen. Über das, was geschieht, wenn du durch das Tal hindurch bist. Ich weiß, was du vorhast, Richard, aber unsere Zeit ist knapp. Wir hatten von Anfang an nicht genügend Zeit. Morgen ist die Wintersonnenwende. Es ist unmöglich.«
»Nichts ist nur deshalb unmöglich, weil man nicht weiß, wie man es anstellen soll.«
»Das verstehe ich nicht.«
Richard lächelte die beiden an. »Das werdet ihr noch. In ein paar Stunden werdet ihr es verstehen.«
Warren blickte fort, ins Tal. Er kratzte sich ruhig an der Nase. »Wenn du es sagst, Richard.«
Schwester Verna schwieg. Richard fiel es noch immer schwer, sich daran zu gewöhnen, daß sie nicht mehr widersprach, sobald er sich unklar ausdrückte. Vielleicht hätte sie es doch gern getan.
»Warren, diese Prophezeiung, in der es um das Tor und die Wintersonnenwende geht. Bist du sicher, daß diese Wintersonnenwende gemeint war?« Warren nickte. »Und angenommen, es gibt einen Agenten, dazu ein geöffnetes Kästchen der Ordnung sowie den Skrinknochen, sind das die einzigen Elemente, die benötigt werden, um das Tor zu öffnen und den Schleier zu zerreißen?«
Ein heißer Windhauch fuhr in Warrens Haar. »Ja … aber du hast mir doch erzählt, Darken Rahl sei tot. Es gibt keinen Agenten.«
Es war eher eine besorgte Frage als eine Feststellung.
»Muß der Agent lebendig sein?« fragte Schwester Verna.
Warren verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß. »Nun, prinzipiell vermutlich nicht. Vorausgesetzt, man hätte ihn irgendwie in diese Welt zurückgerufen. Aber ich wüßte nicht, wie man das hätte bewerkstelligen sollen. Aber wenn, dann wäre das alles, was man brauchte.«
Richard seufzte frustriert. »Und dann könnte dieser Agent das tun, was auch ein lebendiger Agent tun würde?«
Warren kam ein Verdacht. »Ja und nein. Man brauchte ein weiteres Element. Ein Geist kann die körperlichen Bedingungen nicht erfüllen, um das Bündnis zu vollziehen. Er braucht einen Gehilfen.«
»Du meinst, der Geist könnte bestimmte notwendige Aufgaben nicht erfüllen, deshalb braucht er Gehilfen, die in dieser Welt handlungsfähig sind.«
»Ja. Mit einem Helfer könnte ein Geist das tun, was nötig ist. Aber wie könnte ein Geist in die Welt zurückgerufen worden sein? Ich wüßte nicht, wie man das machen soll.«
Schwester Verna wandte den Blick ab. »Es wäre besser, du sagst es ihm.«
Richard zog sein Hemd hoch und zeigte Warren die Narbe. »Darken Rahl hat mich mit seiner Hand verbrannt, als ich ihn versehentlich in diese Welt zurückgerufen habe. Er meinte, er sei gekommen, um den Schleier zu zerreißen.«
Warren starrte ihn mit großen Augen an. Sein besorgter Blick fuhr hinüber zu Schwester Verna, dann zurück zu Richard. »Wenn Darken Rahl ein Agent ist, wie du sagst, und er jemanden hat, der ihm hilft, dann fehlt nur noch ein Element zur völligen Vernichtung — der Skrinknochen. Das müssen wir wissen.«
Richard schob das Mriswith-Cape auf seine Schulter zurück. »Schwester Verna, würdet Ihr mir helfen?«
»Was soll ich tun?«
»Als Ihr mir zum ersten Mal erklärt habt, wie ich versuchen soll, mein Han zu berühren, beschloß ich, mich auf ein geistiges Bild meines Schwertes zu konzentrieren. Aber damals, beim ersten Mal, habe ich einen Hintergrund benutzt, etwas aus dem magischen Buch, von dem ich Euch erzählt habe. Dem Buch der Gezählten Schatten.
Als ich versuchte, mein Han mit Hilfe des Schwertes vor diesem Hintergrund zu berühren, ist etwas passiert. Irgendwie war ich plötzlich in D’Hara, im Palast des Volkes, dort, wo sich die Kästchen befinden. Ich sah Darken Rahl. Er sah mich ebenfalls und sprach zu mir. Er meinte, er hätte auf mich gewartet.«
Schwester Verna zog die Brauen hoch. »Ist das später jemals wieder passiert?«
»Nein. Es hat mich fast um den Verstand gebracht vor Angst. Ich habe den Hintergrund nie wieder benutzt. Ich denke, wenn ich den Hintergrund jetzt wieder benutze, kann ich vielleicht erkennen, was dort geschieht.«
Sie faltete die Hände vor ihrem Körper. »So etwas habe ich noch nie gehört. Aber möglicherweise hat es etwas mit der Magie der Ordnung zu tun. Es wäre nicht das erste Mal, daß du mich überraschst. Es könnte Wirklichkeit sein oder auch nur eine Befürchtung, wie in einem Traum.«
»Ich muß es versuchen. Setzt Ihr Euch zu mir? Ich habe Angst, nicht wieder herauszukommen.«
»Natürlich, Richard.« Sie setzte sich auf die Erde und hielt eine Hand in die Höhe. »Komm. Ich werde dir beistehen.«
Richard zog das Mriswith-Cape um sich, setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Dieses Cape verbirgt mein Han, vielleicht kann mich Darken Rahl dann auch nicht sehen.«
Richard entspannte sich, während er Schwester Vernas Hände hielt. Er konzentrierte sich auf das geistige Bild des Schwertes vor dem schwarzen Hintergrund mit der weißen Umrandung, genau wie beim ersten Mal. Als er sich konzentrierte, den ruhigen Mittelpunkt suchte, geschah etwas.
Das Schwert, das schwarze Rechteck und der weiße Rand begannen zu flirren, als betrachtete man sie durch Hitzeschlieren — genau wie beim ersten Mal. Die klaren Umrisse des Schwertes lösten sich auf, es wurde durchsichtig und verschwand schließlich ganz. Der Hintergrund löste sich auf. Richard blickte wieder in den Garten des Lebens im Palast des Volkes.
Er ließ den Blick über das verschleierte Bild schweifen und sah weiße Knochen an der Stelle, wo er zuvor die verkohlten Leichen gesehen hatte. Er erinnerte sich, daß die Leichen auf der niedrigen Mauer gelegen hatten, im Gebüsch und im Gras verteilt. Sie lagen größtenteils noch so da wie in seiner Erinnerung, nur waren es jetzt blanke Knochen.
Richard sah die weiße, leuchtende Gestalt Darken Rahls. Doch stand er nicht vor dem steinernen Altar, nicht vor den drei Kästchen der Ordnung. Er stand neben dem Rund, das weißen Sand enthielt. Als er diese Vision beim ersten Mal hatte, war der weiße Sand noch nicht dagewesen.
Eine Frau in einem langen, braunen Rock und einer weißen Bluse kniete zu Darken Rahls Füßen und beugte sich über den Kreis aus weißem Sand. Richard wünschte sich näher heran. Sie zeichnete Linien in den weißen, glitzernden Zauberersand. Richard erkannte einige der Symbole wieder, die sie zeichnete. Als Darken Rahl damals das Kästchen geöffnet hatte, hatte er sie noch selbst gezeichnet.
Richard beobachtete, wie die Frau ihre Hand langsam und mit Bedacht bewegte und die Linien der Banne zog. Ihm fiel auf, daß an ihrer rechten Hand der kleine Finger fehlte.
In der Mitte des Kreises, in der Mitte des Zauberersandes, lag ein runder Gegenstand. Richard ging näher. Er war überall mit Schnitzereien wilder Tiere verziert, genau wie die Prälatin ihn beschrieben hatte.
Richard hätte vor Wut am liebsten aufgeschrien.
Genau in diesem Augenblick hob Darken Rahl den Kopf und blickte genau in Richards Augen. Ein Lächeln breitete sich langsam auf seinen Lippen aus.
Richard wußte nicht, ob Darken Rahl ihn tatsächlich ansah oder nicht, er wollte es auch nicht wissen. Mit verzweifelter Anstrengung zwang er das Bild des Schwertes wieder vor sein inneres Auge und verbannte gleichzeitig den schwarz-weißen Hintergrund.
Richard schnappte nach Luft und riß die Augen auf. Schwer atmete er.
Auch Schwester Verna öffnete die Augen. »Ist alles in Ordnung, Richard? Du warst eine ganze Stunde fort. Ich spürte, wie du versucht hast, dich herauszuziehen, also habe ich mit dir gezogen. Was ist passiert? Was hast du gesehen?«
»Eine Stunde?« Richard hatte noch immer Mühe, wieder zu Atem zu kommen. »Ich habe Darken Rahl gesehen und den Skrinknochen. Bei ihm war eine Frau, die ihm half, Banne in den Zauberersand zu zeichnen.«
Warren beugte sich über Richards Schulter. »Vielleicht war es nur eine Angstvision. Möglicherweise war sie nicht real.«
»Warren könnte recht haben«, meinte Schwester Verna. Sie biß sich auf die Unterlippe und dachte nach. »Wie sah die Frau aus?«
»Welliges, schulterlanges, braunes Haar, vielleicht Eure Größe. Sie hatte sich über eine Zeichnung im Sand gebeugt, deshalb konnte ich ihre Augen nicht erkennen.« Richard preßte seine Finger an die Stirn und überlegte. »Ihre Hand. Ihr fehlte der kleine Finger ihrer rechten Hand.«
Warren stöhnte. Schwester Verna schloß entsetzt die Augen.
»Was ist? Was ist denn los?«
»Schwester Odette«, sagte sie. »Das ist Schwester Odette.«
Warren bestätigte es mit einem Nicken. »Sie ist jetzt fast sechs Monate fort. Ich dachte, sie sei losgezogen, um einen Jungen abzuholen.«
»Fluch den Seelen«, stieß Richard kaum hörbar hervor. Er sprang auf. »Warren, lauf und hole Du Chaillu. Erkläre ihr, daß wir sofort aufbrechen müssen.«
Er biß verzweifelt die Zähne aufeinander. Er hatte geglaubt, alle Zeit zu haben, die er brauchte. Nun, ihm blieb noch genug Zeit, wenn er sich beeilte.
Du Chaillu schien wie in Trance zu sein, als Richard sie an der Hand weiterzog. Richard hielt das Schwert der Wahrheit in der anderen Hand. Auch er befand sich in einer ganz eigenen Welt. Sein wütender Zorn war den zornigen, schwarzen Wolken ebenbürtig. Die magischen Banne umkreisten sie wie eine Meute von Hunden ein Stachelschwein: wütend und hartnäckig, dabei auf Abstand bedacht, suchten sie nach einer Blöße.
Feine Lichtstreifen stießen aus der Dunkelheit hervor und umwirbelten sie spiralförmig, um dann in einer Aura rings um Du Chaillu zu verschwinden. Sie schien die Magie in sich aufzusaugen, wie sie es laut Schwester Verna früher schon getan hatte. Zusammen bildeten sie jene Verbindung, die, so stand es nach Warrens Angaben in den alten Büchern, die Kraft bändigen und die Türme zum Einsturz bringen würde.
Richard entdeckte den ersten Turm inmitten der Hitzewellen und des brodelnden Dunstes. Er zog Du Chaillu zu der glänzenden, schwarzen Wand, die sich nach oben in der Dunkelheit verlor. Überall wirbelten Staub und Schmutz auf, als sie auf die bogenförmige Öffnung in der Mauer zustürzten. Banne versuchten, sie zu packen, ihr Licht jedoch wurde von Du Chaillu angesogen.
Richard handelte ohne nachzudenken. Er wußte nicht, was ihn weiterzog, er versuchte nicht, es aufzuhalten. Wenn er siegen und Kahlan retten wollte, dann mußte er sich von seinem Instinkt leiten lassen. Er mußte darauf hoffen, daß die Gabe von sich aus reagierte, wie Nathan es ihm erklärt hatte, und das Erforderliche tat — vorausgesetzt, er besaß sie tatsächlich.
Du Chaillu schien den funkelnden, schwarzen Sand nicht zu bemerken, auf dem sie jetzt in der Mitte des Turmes standen. Offenbar war sie in einem eigenen Zauber verloren, in der Kraft, die von den Erbauern der Türme, den Räubern ihres Landes, auf sie übergegangen war. Bis hierher hatte sie ihren Teil erledigt, sie hatte ihn beschützt. Jetzt war Richard an der Reihe.
Einer Eingebung folgend umklammerte er fest ihre Hand und hob mit der anderen Hand das Schwert in die Höhe, die Spitze senkrecht nach oben gerichtet. Er verlor sich in der Raserei der Magie, ließ sich von ihr überwältigen. Er fühlte ihre Glut in seinem ruhigen Mittelpunkt, den er immer gesucht hatte. Er füllte die Leere mit seinem Zorn.
Ein Lichtblitz zuckte aus dem Schwert hervor, bildete einen Lichtbogen in der Dunkelheit über ihren Köpfen, sprang von einer Wand zur anderen und tauchte sie alle in flüssiges Licht. Der Lärm war ohrenbetäubend.
Feuer raste durch den schwarzen Stein, bis der ganze Turm erglühte, der Stein sich in der Hitze der strahlenden Entladung weiß verfärbte.
Richard hatte das Gefühl, als durchdringe der Blitz auch ihn. Das grelle Licht versengte ihn mit seiner Energie, brach aus und schoß hinauf durch sein Schwert. Nur sein Zorn ermöglichte es ihm, die Heftigkeit der unaufhaltsamen Kraft aus seinem Innern auszuhalten.
Zuckende Blitzgeflechte stürzten die Wände hinunter und über den schwarzen Sand hinweg, bis alles nur so von ihnen wimmelte. Der schwarze Sand verfärbte sich weiß wie vorher schon die Wände, und die Welt entzündete sich in einem Pulsieren aus Licht und Feuer.
Plötzlich war es vorbei. Das Blitzen hörte auf, das Feuer erlosch mit einem letzten Flackern, das donnernde Getöse ließ nach und hinterließ eine Stille, die ihm in den Ohren klang. Der polierte schwarze Stein des Turmes blieb als gleißend weiß zurück.
Du Chaillu schien noch immer keine Notiz von ihrer Umgebung zu nehmen, also zog Richard sie weiter, um das Werk zu vollenden, für das sie beide geboren worden waren.
Als er im weißen Turm das Schwert in die Höhe hielt, erwartete er wieder ein Aufblitzen von Hitze und Licht, doch nichts dergleichen geschah. Statt dessen kam es zu einer Explosion des Gegenteils, des Gegengewichtes.
Eine Erschütterung zerriß die Luft, drohte ihnen das Fleisch von den Knochen zu reißen, als ein schwarzer Blitz in die Höhe schoß — eine Leere inmitten des Lichts. Wie zuvor den Blitz, spürte Richard, wie die Wucht der Energie tief in seinem Innern explodierte, als entstamme sie seiner Seele selbst. Die peitschende Leere fetzte durch die Wände und jagte unter donnerndem Getöse einen Keil aus Nichts in das Dunkel über ihren Köpfen.
Als der schwarze Blitz schlangelnd in der Finsternis verschwand, sickerten Schatten die weißen Wände herab, und es schien, als verschmolzen sie mit den Tiefen ewiger Nacht. Die Finsternis erreichte den Erdboden, kam auf sie zugekrochen, versickerte im weißen Sand und färbte ihn schwarz.
Richard dachte keinen Augenblick daran, vor der um sich greifenden Nacht zu fliehen. Als sie die beiden erreichte, war es, als werde er in Eiswasser getaucht. Du Chaillu, die Augen geschlossen, erzitterte unter der Berührung. Richard sah es, doch wegen des Zorns der Magie des Schwertes blieb es ein ferner Eindruck, der seiner Wut nur neue Nahrung gab.
Es schien, als wäre eine ganze Welt für immer in pechschwarzer Vergessenheit versunken. Helligkeit, die Fähigkeit, etwas zu sehen, waren nicht einmal mehr Erinnerung.
Richard spürte, wie das wellenförmig sich bewegende, sich windende Band des schwarzen Blitzes, das Vakuum in der Welt des Lebens, abgeschnitten wurde. Eine plötzliche Stille trat an die Stelle des chaotischen Lärms. Er konnte seinen eigenen schweren Atem hören. Er hörte, wie auch Du Chaillu schwer atmete. Licht und Leben und Wärme stiegen aus dem kalten Nichts empor.
Durch die Bögen im Stein, die jetzt glänzend schwarz und nicht mehr weiß wie früher waren, sah Richard, wie Licht durch den dünner werdenden Nebel sickerte. Der Boden, eben noch verbrannt und öde, war jetzt üppig und grün. Immer noch Hände haltend, standen er und Du Chaillu im Torbogen und verfolgten, wie sich Rauch und Dunst über einer Welt lichteten, die seit Tausenden von Jahren niemand mehr gesehen hatte.
Hand in Hand traten sie hinaus in die kühle Luft, durch das hohe Gras und durch die Balken der Sonnenstrahlen. Das Unwetter der Banne war verschwunden, die dunklen Wolken, die es hervorgebracht hatte, waren aufgestiegen und hatten sich dabei aufgelöst. Die Luft roch frisch und sauber. Ringsum vibrierte das Leben.
Das Tal bis hin zu der blaßblauen Gebirgskette in der Ferne war üppig und grün. Kleine Wäldchen säumten mäandernde Flüsse. Sanfte Hügel überlagerten einander in verschiedenen Tönen von Grün.
Richard verstand, warum die Baka Ban Mana ihr Land hatten zurückhaben wollen. Es war ein Ort, der einfach nach Heimat aussah. Es war ein Ort voller Licht und Hoffnung, und es konnte nicht verwundern, daß er durch all die finsteren Jahrhunderte hindurch in den Herzen des Volkes bewahrt geblieben war. Der Ort gehörte nicht den Baka Ban Mana — sie waren es, die hierhergehörten.
»Du hast es geschafft, Caharin«, sagte Du Chaillu. »Du hast unser Land hinter dem Nebel hervorgeholt.«
In der Ferne sah Richard ein paar vereinzelte Gestalten. Es waren die, die ungezählte Jahre in einem Bann gefangen gewesen waren. Ziellos und verwirrt wanderten sie umher. Er mußte zwei von ihnen suchen, zwei, die er kannte.
Schwester Verna und Warren kamen auf sie zugaloppiert und brachten ihm sein Pferd. Sie hatten noch nicht angehalten, als Richard bereits auf Bonnie saß. Du Chaillu streckte ihm die Hand entgegen. Sie wollte ihn begleiten. Widerstrebend zog er sie hinter sich aufs Pferd.
»Richard«, sagte Warren, »das war unglaublich! Wie hast du das gemacht?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, Warren. Ich hatte gehofft, du könntest mir das erklären.«
Richard ließ Bonnie in die Richtung galoppieren, wo er Chase und Rachel bei seiner ersten Durchquerung des Tales gesehen zu haben glaubte. Warren und Schwester Verna folgten ihm. Es dauerte nicht lange, und er fand sie am Ufer eines Baches sitzend. Chase wirkte verwirrt. Er hatte den Arm um Rachel gelegt und schien überhaupt nicht so ungeduldig und gereizt zu sein wie gewöhnlich.
Richard schwang sein Bein über Bonnies Hals und sprang ab. »Chase! Alles in Ordnung?«
»Richard? Was ist passiert? Wo sind wir? Wir waren auf dem Weg, dich abzuholen. Du darfst nicht…« Er sah sich um. »Du darfst nicht in das Tal. Zedd braucht dich. Der Schleier ist eingerissen.«
»Ich weiß.« Richard gab Schwester Verna die Zügel und stellte alle rasch einander vor. »Meine Freunde werden dir alles erklären.« Er ging vor Rachel auf ein Knie. Der dunkle, bernsteinfarbene Stein der Tränen hing an einer Kette um ihren Hals, genau wie in seiner Erinnerung. »Rachel, alles in Ordnung? Wie fühlst du dich?«
Sie blinzelte zu ihm hinauf. »Ich war an einem wunderschönen Ort, Richard.«
»Hier ist es auch wunderschön. Du wirst dich bestimmt wohl fühlen. Rachel, hat Zedd dir diesen Stein gegeben?«
Sie nickte. »Er meinte, daß du ihn vielleicht haben willst. Ich sollte ihn für dich aufbewahren, bis du ihn holen kommst.«
»Deswegen bin ich hier, Rachel. Darf ich ihn jetzt haben?«
Lächelnd streifte sie ihn über ihren Kopf. Richard hakte die Kette auseinander und nahm den Stein ab. Als er ihn in der Hand hielt, spürte er Wärme und Zedds Gegenwart.
Die Kette war für ihn zu kurz. Er gab sie Rachel zurück und sagte, sie stünde ihr besser als ihm. Dann band er den Stein an einen Lederriemen, den er bereitgehalten hatte.
Er hängte sich den Stein der Tränen um den Hals, zusammen mit dem Strafer und dem Drachenzahn. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie ein ferner Punkt am Himmel immer größer wurde.
»Richard«, sagte Warren, »nach allem, was ich gerade beobachtet habe, zweifele ich nicht mehr daran, daß du alles kannst, was du behauptest, tun zu können. Nur bleibt dir keine Zeit mehr, an dein Ziel zu kommen. Morgen wird diese Welt untergehen, wenn du es nicht erreichst. Was wirst du tun?«
»Wo gehen wir jetzt hin, mein Gatte?« fragte Du Chaillu.
»Wir werden nirgendwo hingehen, Du Chaillu. Du bleibst hier bei deinem Volk.«
»Gatte?« fragte Chase, auf dessen Gesicht sich nun ein finsterer Blick breitmachte.
»Ich bin nicht ihr Mann. Das ist nur so eine verrückte Idee, die sie sich in den Kopf gesetzt hat.« Richard beobachtete, wie die rote Gestalt hoch oben am Himmel immer größer wurde. »Hör zu, ich hab’ keine Zeit, dir das alles zu erklären. Schwester Verna und Warren werden es dir erzählen.«
Schwester Verna zog ein mißtrauisches Gesicht und trat einen Schritt auf ihn zu. »Was wirst du tun? Warren hatte recht, du hast keine Zeit mehr.«
In der Ferne breiteten sich die roten Flügel aus, als der Drache zum Sturzflug ansetzte. Richard band seinen Rucksack von Bonnie los und setzte ihn sich auf den Rücken. Zum Abschied drückte er Bonnies Hals. Er hakte den Köcher fest und schlang den Bogen über seine Schulter. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie der Drache senkrecht in die Tiefe stürzte.
»Ich habe noch Zeit. Ich muß nur jetzt aufbrechen, Schwester.«
»Was soll das heißen, du brichst auf? Wie denn?«
Der Drache löste sich im allerletzten Augenblick aus seinem Sturzflug. Er reckte seinen langen Hals nach vorn, breitete die Flügel aus, schoß mit unglaublicher Geschwindigkeit auf sie zu und berührte dabei fast den Boden.
»Ich habe nur eine Chance, mein Ziel rechtzeitig zu erreichen. Ich muß fliegen.«
»Fliegen!« riefen Warren und Schwester Verna gleichzeitig.
Scarlet kam mit Gebrüll herangebraust. Alle anderen sahen sie zum ersten Mal. Sie schlug mit ihren ungeheuren Flügeln, um ihr Tempo zu drosseln.
Kleider flatterten im plötzlich aufkommenden Wind. Das Gras ringsum wurde von den Böen niedergedrückt. Warren, Schwester Verna und Du Chaillu wichen überrascht zurück. Scarlet landete, nachdem sie ihren Vorwärtsschwung abgebremst hatte.
»Richard«, sagte Schwester Verna und schüttelte langsam den Kopf, »von allen Menschen, die ich kenne, hast du die seltsamsten Haustiere.«
»Rote Drachen lassen sich von niemandem als Haustiere halten, Schwester. Scarlet ist eine liebe Freundin.«
Richard trabte auf den riesigen Drachen zu, der im Schein der Sonne glänzte. Scarlet stieß eine kleine Wolke grauen Rauches aus.
»Richard! Wie schön, dich wiederzusehen. Du hast mich so dringlich mit meinem Zahn gerufen, also steckst du vermutlich wieder mal in Schwierigkeiten. Wie üblich.«
»Ganz recht, meine Freundin.« Richard tätschelte eine glänzende rote Schuppe. »Du hast mir gefehlt, Scarlet.«
»Nun, gegessen habe ich schon. Ich werde dir also wohl einen Ritt durch die Lüfte anbieten müssen, um wieder Appetit zu bekommen. Danach werde ich dich fressen.«
Richard mußte lachen. »Wo steckt dem Kleiner?«
Ihre Augen zuckten. »Er ist auf der Jagd. Gregory ist gar nicht mehr so klein. Er vermißt dich und würde dich gern wiedersehen.«
»Das geht mir genauso. Aber im Augenblick habe ich es schrecklich eilig. Die Zeit läuft mir davon.«
»Richard!« Du Chaillu kam auf ihn zugerannt. »Ich muß mit dir aufbrechen. Ich muß meinen Gatten überallhin begleiten!«
Richard beugte sich vor Scarlets Ohr, als sie den Kopf senkte und ihn aus einem ihrer gelben Augen tadelnd ansah. »Einen kleinen Feuerstoß, Scarlet«, flüsterte er ihr zu. »Nur wegen der Wirkung. Tu ihr nicht weh.«
Du Chaillu sprang mit einem Aufschrei zurück, als der Feuerstoß das Gras zu ihren Füßen versengte.
»Du Chaillu, dein Volk hat sein Land zurückerhalten. Du mußt bei ihnen bleiben. Du bist ihre Seelenfrau, die Menschen brauchen dich. Sie brauchen deine Führung. Ich möchte dich um etwas anderes bitten: Beschütze die Türme, die auf eurem Land stehen. Ich weiß nicht, ob sie irgendwelchen Schaden anrichten können, doch als Caharin ordne ich an, daß niemand sie betreten soll. Bewacht sie und haltet alle anderen von ihnen fern.
Lebt in Frieden mit allen, die mit euch in Frieden leben wollen, aber übt euch weiter im Gebrauch der Klingen, damit ihr euch wehren könnt, falls das notwendig sein sollte.«
Du Chaillu richtete sich zu voller Größe auf. Die kleinen Stoffstreifen an ihrem Gebetskleid flatterten im Wind ebenso wie ihr dichtes, schwarzes Haar.
»Du bist ein weiser Mann, Caharin. Ich werde dafür sorgen, daß alles so geschieht wie du sagst, bis du zu deinem Weib und deinem Volk zurückkehrst.«
»Richard«, warf Schwester Verna ein. Ihr Gesicht war ernst. »Weißt du, wo Kahlan ist?«
»In Aydindril. Sie ist ganz bestimmt dort hingegangen. Die Prophezeiung soll sich vor den Augen ihres Volkes bewahrheiten. Sie ist bestimmt in Aydindril.«
»Du mußt selbst entscheiden, Richard. Wohin wirst du jetzt gehen?«
Er sah ihr lange in die unerschütterlichen Augen.
»Nach D’Hara.«
Nachdem sie ihn einen Augenblick lang stumm gemustert hatte, schloß sie ihn schließlich herzlich in die Arme. Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Und danach?«
Richard fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes Haar. »Ich werde das Unheil irgendwie verhindern, das in D’Hara bevorsteht, und dann muß ich nach Aydindril, bevor es zu spät ist. Paßt auf Euch auf, meine Freundin.«
Sie nickte. »Warren und ich werden uns hier um die Menschen kümmern, die aus den Bannen befreit wurden. Sie werden etwas Orientierung nötig haben. Ich bin seit fast zweihundert Jahren eine Schwester des Lichts. Ich habe nie etwas anderes gewollt, als denen zu helfen, die Hilfe brauchen. Du dagegen hattest jemanden, der dir hilft. Es gab keinen Grund, dich oder andere aufzugreifen. Ich will versuchen gutzumachen, was gutzumachen ist.«
Warren drückte Richard fest an sich. »Danke, Richard. Für alles. Ich freue mich darauf, dich wiederzusehen.«
Richard zwinkerte ihm zu. »Geh allen Abenteuern aus dem Weg.«
»Ich werde dich begleiten«, sagte Chase.
»Nein.« Richard fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Nein, Chase. Geh nach Hause. Bring Rachel zu ihrer neuen Mutter und zu ihren Brüdern und Schwestern. Emma ist bestimmt bereits krank vor Sorge. Sie hat dich seit Ewigkeiten nicht gesehen. Ich werde auch bald nach Hause zurückkehren müssen.«
Richard drehte sich zu Schwester Verna um. »Wir müssen etwas gegen diese sechs Schwestern unternehmen. Sie sind mit dem Schiff unterwegs nach Westland. Die Menschen dort können sich gegen Magie nicht wehren. In Westland werden diese Schwestern Füchse im Hühnerstall sein.«
»Ich denke, sie werden eine Weile für die Reise brauchen. Dir bleibt noch genug Zeit, um dich darum zu kümmern, Richard.«
»Gut. Kahlan wird bei den Schlammenschen heiraten wollen. Dann werde ich vermutlich kommen und mir einen Rat holen müssen, wie ich mit den sechs verfahren soll. Sprich mit Nathan und Ann. Danach können wir entscheiden, wie wir vorgehen sollen.«
»Sei vorsichtig«, sagte Warren. Er stand unerschütterlich da, die Hände in die Ärmel seiner Robe gesteckt. »Und damit meine ich nicht nur dich selbst. Vergiß nicht, daß du auch alle anderen mit dem Stein der Tränen in Gefahr bringen kannst. Ich glaube, der Augenblick der Entscheidung ist für dich noch nicht gekommen.«
»Ich werde mein Bestes tun.«
Scarlet machte sich klein, damit er auf ihre Schultern klettern konnte. Er umfaßte die Wirbeldorne mit den schwarzen Spitzen und zog sich hoch. Richard versetzte einer der roten Schuppen einen Klaps.
»Nach D’Hara, meine Freundin. Auf ein neues.«
Mit einem donnernden Flammenstoß stieg Scarlet in den Himmel.