51

Selbst nachts schienen die Menschen auf den Straßen Tanimuras nicht weniger zu werden. Die kleinen Feuer, über denen Fleisch an Spießen gebraten wurde, brannten noch, und auch die Händler hatten noch reichlich Kunden zu bedienen. Männer riefen ihm zu, er solle mit ihnen Würfel spielen. Hatten sie erst seinen Ring gesehen, versuchten die Leute ihn zu verleiten, alles mögliche zu kaufen, vom Essen bis hin zu Muschelketten für seine Liebste. Er erklärte ihnen, er habe keine Münzen. Daraufhin lachten sie nur und meinten, der Palast werde für alles zahlen, was er wolle. Richard zog den Kopf ein und ging weiter.

Frauen in gewagten Kleidern, schmiegten sich an ihn, kicherten und feixten, während sie ihn betatschten und versuchten, ihm die Finger in die Taschen zu stecken. Sie machten ihm Offerten, die er kaum glauben konnte. Mit abwehrenden Gesten waren sie nicht zu vertreiben. Aber mit seinem zornerfüllten Blick.

Richard war erleichtert, als er die Stadt hinter sich gelassen hatte, die Lichter und Fackeln, die Lampen, Kerzen und Feuer, all den Gestank und all den Lärm. Das Atmen fiel ihm leichter, während er in der mondbeschienen Landschaft stand. Als er die Hügel hinaufstieg, warf er einen Blick über die Schulter zurück auf die blinkenden Lichter.

Er war sich ständig des Rings um seinen Hals bewußt und fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn er sich zu weit entfernte. Nach dem, was Pasha ihm erzählt hatte, war das jedoch viele Meilen weiter, als er zu gehen beabsichtigte. Trotzdem hatte er Angst, sie könnte sich geirrt haben und seine lange Leine sich mit einem Ruck strammspannen.

Endlich hatte er eine Stelle erreicht, die ihm gefiel. Sorgfältig prüfte er die grasbewachsene Anhöhe, von der aus man die Stadt in der Ferne überblicken konnte. Ein kleines Stück seitlich entfernt, in der Senke, konnte er die dunklen Umrisse alter Bäume erkennen, die im Mondschein aufragten. Schatten, so schwarz wie der Tod, lauerten in der Dunkelheit.

Richard starrte eine Weile in die bedrohliche Finsternis, wie gelähmt von einem schwachen, anhaltenden Verlangen, in den lauernden Schoß ihrer Nacht einzudringen. Irgend etwas in ihm hungerte danach, dorthin zu gehen und die Magie auf den Plan zu rufen. Irgend etwas in ihm gelüstete danach, dem Zorn zum Ausbruch zu verhelfen, seiner Wut Luft zu machen, ja, ihr Luft zu machen.

Ihm war, als müßte seine Niedergeschlagenheit darüber, gegen seinen Willen festgehalten zu werden, seine Wut darüber, ein hilfloser Gefangener zu sein, seine Angst, nicht zu wissen, was aus ihm wurde und sein Gram wegen Kahlan, als müßte all dies herausgelassen werden, so wie man mit der Faust gegen die Wand schlug. Irgendwie schien ihm dieser Wald diese Erleichterung zu verheißen.

Schließlich kehrte Richard dem Hagenwald den Rücken zu und ging daran, Feuerholz zu sammeln. Mit seinem Messer schnitzte er einen Haufen Holzspäne auf eine kahle Stelle, die er mit seinem Stiefel freigetreten hatte. Stahl und Feuerstein aneinanderschlagend, gelang es ihm, die Späne zum Schwelen zu bringen, und als sie Feuer gefangen hatten, legte er etwas Holz darüber. Als das Feuer richtig in Gang war, stellte er einen Topf nach draußen, goß Wasser hinein und setzte Reis mit Bohnen auf. Derweil er darauf wartete, daß es kochte, verspeiste er ein kleines Stück Bannock, das er noch übrig hatte.

Er saß da, die Arme um die Knie geschlungen, und betrachtete den dunklen Wald, den Hagenwald. Er betrachtete die Stadt, die in der Ferne glitzerte. Der Himmel war ein funkelnder Baldachin aus Sternen. Während er den Himmel beobachtete, wartete er darauf, daß sich ein vertrauter Schatten vor den Sternen abzeichnete.

Nach einer Weile vernahm er hinter sich einen dumpfen Aufschlag. Er lachte, als die pelzigen Arme nach ihm griffen und ihn zu Boden warfen. Gratch lachte gurgelnd und versuchte mit Armen, Beinen und Flügeln, seinen Gegner zu umwickeln. Richard kitzelte ihn an den Rippen, und Gratch stieß sein tiefes, knurrendes Lachen aus. Die Balgerei endete damit, daß Gratch schließlich oben hockte und Richard mit Armen und Flügeln umschlang. Richard drückte den kleinen Gar fest an sich.

»Grrrratch haaaag Raaach aaargh liiiig.«

Richard drückte ihn noch fester. »Ich habe dich auch lieb, Gratch.«

Gratch drückte seine runzlige Nase an Richards. Seine grünen, leuchtenden Augen sahen nach unten, und er stieß ein kehliges Kichern aus.

Richard rümpfte die Nase. »Gratch! Du hast Mundgeruch!« Er setzte sich auf und hielt den Gar auf seinem Schoß. »Hast du dir selbst was zu fressen gefangen?« Gratch nickte begeistert. Richard drückte ihn erneut.

»Ich bin so stolz auf dich! Du hast es sogar ohne die Blutmücken geschafft. Was hast du erwischt?« Gratch legte den Kopf auf die Seite. Seine pelzigen Ohren stellten sich nach vorn.

»Hast du eine Schildkröte gefangen?« erkundigte sich Richard. Gratch kicherte und schüttelte den Kopf. »Hast du einen Hirsch erwischt?« Gratch wackelte mit dem Kopf und knurrte enttäuscht. »Ein Kaninchen?« Gratch hüpfte kopfschüttelnd auf und ab und genoß das Spiel.

»Ich geb’s auf. Was war’s?«

Gratch bedeckte die Augen mit seinen Krallen und linste zwischen ihnen hindurch.

»Ein Waschbär! Du hast einen Waschbär erwischt!«

Gratch nickte breit grinsend, dann warf er seinen Kopf nach hinten und trommelte sich röhrend auf die Brust.

Richard tätschelte dem Tier den Rücken. »Gut gemacht! Sehr gut!«

Gratch kicherte gurgelnd, dann versuchte er, Richard für den nächsten Ringkampf nach hinten zu drücken. Richard war froh, weil der Gar sich sein Fressen endlich selbst fangen konnte. Er brachte Gratch dazu, stillzusitzen und sich zu beruhigen, während er nach dem Reis und den Bohnen sah.

Gratch beugte sich vor und schnupperte vorsichtig an dem Topf. Daß er heiß war, wußte er. Er hatte sich bereits einmal verbrannt und war vorsichtig, wenn Richard irgend etwas kochte. Er rümpfte die Nase über den Reis mit Bohnen. Er gab ein Krächzen von sich und rollte die Schultern. Richard wußte, das hieß, er war nicht begeistert, aber wenn nichts Besseres in Aussicht war, würde er sich damit zufriedengeben.

Richard schüttete ihm etwas in seine eigene Schale. »Du mußt erst pusten. Es ist heiß.«

Gratch hielt sich den Blechnapf vors Gesicht und schürzte die ledrigen Lippen. Beim Versuch, seinen Imbiß abzukühlen, blies und prustete er zwischen seinen Reißern hindurch. Richard aß mit einem Löffel und beobachtete, wie der Gar versuchte, den Reis und die Bohnen aus dem Napf zu schlecken. Schließlich wälzte sich Gratch auf den Rücken, packte den Napf mit Klauen und Füßen und schüttete sich den Inhalt in den Schlund. Mit drei Schlucken war alles verschwunden.

Dann setzte sich Gratch auf und schlug mit den Flügeln. Er rutschte näher. Mit einem jammervollen Laut hielt er Richard seinen Napf hin. Richard zeigte ihm den leeren Topf.

»Alles weg.« Gratch zog die Ohren ein. Er hakte eine Kralle in Richards Napf und zog leicht daran. Richard zog seinen Napf fort und drehte ihm den Rücken zu. »Das gehört mir. Das ist mein Abendessen.«

Gratch gab sich damit zufrieden, geduldig abzuwarten, bis Richard aufgegessen hatte. Als Richard die Knie hochzog, die Arme um sie schlang und dabei die Stadt betrachtete, ging Gratch in die Hocke und versuchte, seine Haltung nachzuahmen.

Richard nahm die Haarlocke aus der Tasche. Er zwirbelte sie im Mondlicht und beobachtete starren Blicks, wie sie sich drehte. Gratch reckte eine Klaue vor. Richard stieß sie mit dem Ellenbogen fort.

»Nein«, sagte er mit leiser Stimme. »Du kannst sie anfassen, aber nur, wenn du vorsichtig bist.«

Gratch streckte zögernd, langsam die Klaue aus und berührte die Locke vorsichtig mit seiner Kralle. Er sah mit seinen grün leuchtenden Augen auf und betrachtete sie sorgfältig. Dann strich er mit der Kralle über Richards Haar.

Gratch berührte Richards Wange. Berührte die Träne, die herunterkullerte. Richard schluchzte und schniefte. Er steckte die Haarlocke zurück in die Tasche.

Gratch legte Richard tapsig den Arm um die Schultern und lehnte seinen Kopf an ihn. Richard legte einen Arm um Gratch, und dann sahen sie eine Weile hinaus in die Nacht.

Schließlich entschied Richard, es wäre besser, wenn er etwas schliefe, suchte sich eine Stelle mit dichtem Gras, auf der er eine Decke ausbreitete. Er legte sich hin, wobei Gratch sich eng an ihn schmiegte, und die beiden schliefen zusammen ein.

Richard wachte auf, als der Mond fast untergegangen war. Er setzte sich auf und reckte sich. Gratch ballte die Fäuste und äffte Richard nach und nahm auch noch die Flügel zur Hilfe, während er sich gähnend reckte. Richard rieb sich die Augen. In ein oder zwei Stunden würde es dämmern. Es war an der Zeit.

Er stand auf. Gratch neben ihm rappelte sich ebenfalls auf. »Ich will, daß du mir genau zuhörst, Gratch. Ich habe dir einige wichtige Dinge zu erzählen. Hörst du mir zu?«

Gratch nickte, das runzelige Gesicht zu einer ernsten Miene verzogen. Richard zeigte auf die Stadt.

»Siehst du den Palast dort, mit all den Feuern, all den Lichtern? Ich werde eine Weile dort wohnen.« Richard tippte sich an die Brust und zeigte dann auf die Stadt. »Ich werde dort unten sein. Aber ich will nicht, daß du mich dort besuchst. Du darfst nicht dorthin. Der Ort ist gefährlich für dich. Komm nicht dorthin.« Gratch beobachtete Richards Gesicht. »Ich komme hier hinauf, um dich zu besuchen. Einverstanden?« Gratch überlegte einen Augenblick, dann nickte er.

»Du hältst dich von der Stadt fern. Und siehst du den Fluß dort unten? Du weißt, was ein Fluß ist, ich habe dir Wasser gezeigt. Du bleibst auf dieser Seite des Wassers. Auf dieser Seite. Verstanden?«

Richard wollte nicht, daß der Gar Jagd auf das Vieh der Bauernhöfe jenseits des Flusses machte. Das brächte ihn mit Sicherheit in Schwierigkeiten. Gratchs Blick wanderte von Richards Gesicht zur Stadt, dann wieder zurück. Er machte tief in seiner Kehle ein Geräusch, um zu zeigen, er habe verstanden.

»Und noch etwas, Gratch, wenn du Menschen siehst«, Richard tippte sich auf die Brust und zeigte auf die Stadt, »Menschen wie mich, friß sie nicht.« Er hielt den Finger drohend vor Gratchs Gesicht. »Menschen sind nichts zum Fressen! Friß keinen Menschen. Verstanden?«

Gratch knurrte enttäuscht, dann nickte er. Richard legte dem Gar einen Arm um die Schultern und drehte ihn zum Hagenwald um.

»Jetzt hör zu. Das ist wichtig. Siehst du diesen Ort dort unten? Diesen Wald?«

Ein tiefes, bedrohliches Knurren drang aus der Kehle des Gar. Er bleckte seine Reißer. Das Glühen in seinen grünen Augen wurde intensiver.

»Du hältst dich von dort fern. Ich will nicht, daß du an diesen Ort gehst. Ich meine es ernst, Gratch. Halte dich von dort fern.« Gratch betrachtete den Wald, noch immer knurrend. Richard packte eine Handvoll Fell und rüttelte ihn. »Bleib weg von dort. Verstanden?«

Gratch sah kurz hinüber, schließlich nickte er.

»Ich muß dort hinein, aber du kannst mir nicht folgen. Dort drinnen ist es gefährlich für dich. Bleib dort weg.«

Mit einem jämmerlichen Wimmern legte Gratch einen Arm um Richard und zog ihn einen Schritt zurück.

»Mir wird dort nichts geschehen, ich habe das Schwert. Erinnerst du dich noch an das Schwert? Ich habe dir mein Schwert doch gezeigt. Es wird mich beschützen. Aber du kannst nicht mitkommen.«

Richard hoffte, daß er in bezug auf das Schwert recht hatte. Schwester Verna hatte ihm erzählt, daß der Hagenwald ein Ort dunkler Magie sei. Doch er hatte keine Wahl. Es war der einzige Ort, der ihm einfiel.

Richard nahm den Gar noch einmal fest in die Arme. »Sei ein guter Junge. Geh und jag dir noch etwas zu fressen. Ich werde hier hinaufkommen und dich besuchen, und dann machen wir einen Ringkampf. Einverstanden?«

Gratch mußte grinsen, als das Wort Ringkampf fiel. Er zerrte voller Hoffnung an Richards Arm. »Nicht jetzt, Gratch. Ich muß etwas erledigen. Aber an einem anderen Abend komme ich zurück und ringe mit dir.«

Gratch ließ erneut die Ohren hängen. Zum Abschied nahm er Richard in die langen Arme und drückte ihn. Richard suchte seine Sachen zusammen und stieg nach einem letzten Winken den Hang hinunter in die Senke. Gratch verfolgte, wie der dunkle Wald ihn verschluckte.

Richard lief ungefähr eine Stunde lang. Er mußte tief genug im Hagenwald sein, damit sein Plan auch ganz sicher funktionierte. Mit Moos und Kletterpflanzen verhangene Äste sahen aus wie Arme, die sich reckten, um nach ihm zu greifen. Geräusche wehten durch die Bäume — ein kehliges Schnalzen und lange, tiefe Pfeiftöne. Fernab, in stehenden Gewässern, klatschte dauernd irgend etwas ins Wasser, sobald er sich näherte.

Erhitzt und von der Anstrengung des Fußmarsches keuchend, erreichte er eine kleine Lichtung, hoch genug, um trocken zu sein, und offen genug, um ihm die Sicht auf ein kleines Stück Sternenhimmel zu bieten. Auf der Lichtung gab es weder Stein noch Baumstamm, also trat er ein dickes Grasbüschel platt, ließ sich neben seinem Rucksack nieder und verschränkte die Beine. Er schloß die Augen und atmete tief durch.

Richard dachte an zu Hause und an den Kernlandwald. Er sehnte sich nach seinem Wald zurück. Er dachte an die Freunde, die ihm so sehr fehlten, an Chase und Zedd. All die Zeit, die er bei dem alten Mann aufgewachsen war, hatte Richard nicht gewußt, daß Zedd sein Großvater war. Aber er hatte gewußt, daß er sein Freund war und daß sie sich sehr mochten. Das war es wohl, was wirklich zählte. Welchen Unterschied hätte es gemacht? Richard hätte ihn unmöglich mehr lieben, und Zedd hätte ihm kein besserer Freund sein können.

Es war so viel Zeit vergangen, seit er Zedd das letzte Mal gesehen hatte. Er hatte ihn zwar im Palast des Volkes in D’Hara getroffen, doch da hatte er eigentlich kaum Zeit gehabt, mit ihm zu sprechen. Er hätte nicht so bald aufbrechen sollen. Wie gern würde er jetzt mit Zedd reden, ihn um seine Hilfe und sein Verständnis bitten.

Richard hatte keine Ahnung, ob Kahlan zu Zedd gehen würde. Warum sollte sie? Sie war Richard los, und das war es schließlich, was sie gewollt hatte.

Er wünschte sich von ganzem Herzen, daß es nicht so wäre.

Er vermißte ihr Lächeln, ihre grünen Augen, den sanften Klang ihrer Stimme, ihre Klugheit und ihren Witz, ihre Berührung. Durch sie wurde die Welt lebendig. Er hätte in diesem Augenblick sein Leben dafür gegeben, sie bloß für fünf Minuten in den Armen halten zu können.

Aber sie wußte, was er war, und hatte ihn fortgeschickt.

Und er hatte sie freigegeben.

So war es am besten. Er war nicht gut genug für sie.

Bevor er merkte, was er tat, begann er, den Frieden in seinem Innern zu suchen, sein Han, wie Schwester Verna es ihm beigebracht hatte. Er hatte fast jeden Tag geübt, während er mit ihr zusammengewesen war, und obgleich er nie sein Han gespürt hatte, was immer das auch war, die Suche danach war stets angenehm gewesen. Sie war entspannend und erfüllte ihn mit Frieden. Es war ein gutes Gefühl, eben dies jetzt zu tun. Er ließ seine Gedanken jenen Ort des Friedens finden, ließ seine Sorgen davontreiben.

In Gedanken stellte er sich, wie er es immer tat, das Schwert der Wahrheit vor, das vor seinem inneren Augen durch den Raum schwebte. Er konnte jede Einzelheit erkennen, jede Einzelheit spüren.

In seinem Zustand der Ruhe, in seiner Meditation, ohne die Augen zu öffnen, zog er sein Schwert. Er wußte nicht so recht, warum, doch es schien genau das Richtige zu sein. Das einzigartige Klirren des Stahls hing in der Nachtluft und verkündete die Ankunft der Klinge im Hagenwald.

Er legte das Schwert auf seine Knie. Anstelle des Friedens tanzte die Magie in seinem Innern. Was immer geschah, er war bereit.

Jetzt mußte er warten. Es würde eine ganze Weile dauern, dessen war er sicher, aber kommen würde sie.

Sie würde kommen, sobald sie wußte, wo er war.

Während er still und ruhig dasaß, kehrte die Nacht rings um ihn zu ihrer gewohnten Betriebsamkeit zurück. Während er sich auf das Bild des Schwertes konzentrierte, war sich Richard vage des Zirpens und Schnalzens der Käfer bewußt, des tiefen, gleichmäßigen Quakens der Frösche, des Rascheins der Mäuse und Maulwürfe im trockenen Bodensatz des Waldes. Gelegentlich brachte eine Fledermaus die Luft zum Sirren. Einmal hörte er ein Quieken, als eine Eule sich ihr Abendessen fing.

Und dann, während er im Zustand jener traumähnlichen Benommenheit dasaß und sich das Schwert vorstellte, wurde die Nacht still.

In Gedanken sah er hinter sich den dunklen Schatten.

Mit einer einzigen, fließenden Bewegung war Richard auf den Beinen und wirbelte herum. Die Schwertspitze zog pfeifend durch die Luft. Die schwebende Gestalt sprang zurück und griff erneut an, als das Schwert vorüber war. Richard spürte ein aufgeregtes Kribbeln, weil er sein Ziel verfehlt hatte, weil es nicht so schnell vorbei sein würde, weil er mit den Seelen tanzen und seinem Zorn freien Lauf lassen konnte.

Die Gestalt bewegte sich wie ein Cape im Wind, dunkel wie der Tod und ebenso schnell.

Kreuz und quer über die Lichtung schossen sie, während das Schwert im schwächer werdenden Schein des Mondes aufblitzte, die Klinge die Luft in Scheiben schnitt, die vogelähnlichen Krallen des dunklen Etwas ins Leere schlugen. Richard tauchte in die Magie des Schwertes ein, in dessen Zorn, in seinen eigenen. Er befreite seine Wut und Enttäuschung, so daß sie sich zu der Raserei des Schwertes gesellen konnten, und genoß den Tanz mit dem Tod.

Sie wirbelten wie Laub in einem Sturm über die Lichtung, der eine ging der Klinge aus dem Weg, der andere den Krallen. Vorspringend, wegtauchend, benutzten sie die Bäume als Deckung und zum Angriff. Richard ließ die Seelen des Schwertes mit ihm tanzen. Er versenkte sich in die Beherrschung der Magie, überließ sich ganz dem Rat der Seelen und beobachtete, fast in entrücktem Zustand, wie sie ihn mal hier, mal dorthin wirbelten, ihn über den Boden gleiten, nach rechts, dann links wegtauchen, vorspringen, zustoßen ließen.

Er gierte danach, den Tanz zu lernen.

Bringt es mir bei.

Eine Flut von Wissen überkam ihn wie eine Erinnerung, von seinem Willen zum verbindenden Glied geschmiedet.

Er war nicht mehr der Benutzer des Schwertes, der Magie, der Seelen, sondern wurde zu ihrem Meister. Die Klinge, die Magie, die Seelen und der Mann waren eins.

Der dunkle Schatten griff an.

Jetzt. Mit einem massiven Schlag halbierte die Klinge die Gestalt. Eine Gischt aus Blut traf auf die Bäume in der Nähe. Ein Todesheulen ließ die Luft erzittern, dann war alles still.

Richard stand keuchend da, fast traurig, weil es vorüber war. Fast.

Er hatte mit den Seelen der Toten getanzt, mit der Magie, und hatte auf diese Weise jene Erlösung gefunden, die er gesucht hatte. Erlösung nicht nur von seinen Gefühlen hilfloser Verzweiflung, sondern auch von einem düsteren Verlangen tief in seinem Innern, daß er nicht verstand.

Die Sonne stand fast zwei Stunden am Himmel, da hörte er sie kommen. Sie tappte durch das Unterholz, empörte sich schnaubend über die Zweige, an denen ihr Kleid hängenblieb. Er hörte Zweige knacken, als sie den Hang hinaufgestolpert kam. Ihren Rock mit einem Ruck von einem Dornenbusch befreiend, stolperte sie auf die Lichtung und stand vor ihm.

Richard saß mit verschränkten Beinen da. Dabei hielt er die Augen geschlossen, und das Schwert ruhte auf seinen Knien. Keuchend blieb sie vor ihm stehen.

»Richard!«

»Guten Morgen, Pasha.« Er öffnete die Augen. »Ein wundervoller Tag, nicht wahr?«

Sie hatte ihren langen, braunen Rock ein Stück hochgerafft. Ihre weiße Bluse war schweißdurchtränkt. Ihre Haare waren zerzaust.

Pasha blies eine Strähne aus ihrem Gesicht. »Du mußt sofort hier raus. Richard, dies ist der Hagenwald.«

»Ich weiß. Schwester Verna hat es mir gesagt. Ein interessanter Ort, eigentlich gefällt es mir hier.«

Sie sah ihn fassungslos an. »Richard, dieser Ort ist gefährlich! Was tust du hier?«

Richard lächelte sie an. »Ich warte auf dich.«

Sie sah sich nach den Bäumen und den dunklen Schatten um. »Irgendwas riecht fürchterlich hier«, murmelte sie.

Pasha ging vor ihm in die Hocke und lächelte ihn an, wie ein Erwachsener ein Kind anlächelte oder jemanden, den er für wahnsinnig hielt. »Richard, du hast deinen Spaß gehabt, deinen netten Spaziergang übers Land, jetzt gib mir deine Hand und laß uns von hier fortgehen.«

»Ich gehe erst, wenn Verna wieder als Schwester eingesetzt ist.«

Pasha sprang auf. »Was?«

Richard nahm sein Schwert zur Hand und erhob sich vor ihr. »Ich gehe nicht von hier fort, solange Verna nicht wieder in den Rang einer Schwester erhoben ist, so wie es vorher war. Der Palast soll entscheiden, was ihm wichtiger ist — mein Leben oder daß Schwester Verna Novizin bleibt.«

Pashas Mund klappte auf. »Aber die einzige, die Vernas Strafe aufheben kann, ist Schwester Maren!«

»Ich weiß.« Er berührte mit dem Finger ihre Nase. »Deswegen wirst du jetzt auch losmarschieren und Schwester Maren folgendes erklären: Sie soll herkommen, persönlich, und mir feierlich geloben, daß Verna wieder eine Schwester ist und sie meinen Bedingungen zustimmt.«

»Das kann unmöglich dein Ernst sein. Schwester Maren wird das nicht tun.«

»Ich weiche nicht von diesem Fleck, bis sie es tut!«

»Richard, wir gehen zurück und sehen, ob Schwester Maren bereit ist, darüber zu sprechen, aber hierbleiben kannst du nicht. Es lohnt nicht, dafür zu sterben!«

Er sah sie mit kühlem Ausdruck an. »Für mich schon.«

Sie befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge. »Richard, du weißt nicht, was du tust. Dieser Ort ist gefährlich. Ich bin für dich verantwortlich. Ich kann dich nicht hierlassen!

Wenn du nicht mit mir kommen willst, dann bin ich gezwungen, den Halsring zu gebrauchen und dich zu zwingen, mit mir zu kommen. Und das willst du doch nicht.«

Richard umfaßte das Heft des Schwertes noch fester. »Schwester Verna wird bestraft, weil man es mir heimzahlen will. Ich habe mir geschworen, Verna wieder zur Schwester zu machen. Ich kann diese Strafe nicht zulassen. Ich werde tun, was immer erforderlich ist, wenn nötig werde ich hier sterben.

Wenn du den Halsring dazu benutzt, mir weh zu tun oder mich fortzuzerren, werde ich mich mit allem, was ich habe, gegen dich zur Wehr setzen. Ich weiß nicht, wer gewinnen wird, aber wenn es dazu kommt, steht eines für mich fest: Einer von uns wird sterben. Wenn du es bist, dann hat damit der Krieg begonnen. Sterbe ich, dann ist deine Prüfung zur Schwester bereits am ersten Tag beendet. Schwester Verna wird immer noch Novizin sein, aber da steht sie jetzt ohnehin. Wenigstens habe ich dann mein Bestes getan.«

»Du wärst bereit zu sterben? Hierfür?«

»Ja. So wichtig ist es für mich. Ich werde nicht zulassen, daß Schwester Verna wegen etwas bestraft wird, das ich getan habe. Das ist ungerecht.«

Sie legte die Stirn in Falten. »Aber … Schwester Maren ist die Leiterin der Novizinnen. Ich bin Novizin. Ich kann nicht einfach zu ihr gehen und ihr sagen, sie soll einen Befehl zurücknehmen — sie würde mich bei lebendigem Leib häuten!«

»Der Grund für den Ärger bin ich. Du bist nur die Überbringerin. Ich werde nicht dulden, daß sie dich bestraft, genausowenig wie ich dulden werde, was man mit Schwester Verna macht. Wenn Schwester Maren den Krieg anfangen will, bitte. Wenn sie die Absicht hat, meine Waffenruhe einzuhalten, dann wird sie hierher zu mir kommen und meinen Bedingungen zustimmen müssen.«

Pasha starrte ihn an. »Richard, wenn du bei Sonnenuntergang noch hier bist, wirst du sterben.«

»Dann schlage ich vor, du solltest dich beeilen.«

Sie drehte sich um und streckte den Arm zur Stadt hin aus. »Aber … ich muß den ganzen Weg zurücklaufen. Es hat Stunden gedauert, hierherzukommen. Es wird Stunden dauern zurückzugehen. Und dann muß ich Schwester Maren finden und sie von deiner Ernsthaftigkeit überzeugen, und selbst wenn ich sie überreden könnte, mit mir zurückzukommen, müßten wir immer noch hierhin zurück.«

»Du hättest ein Pferd nehmen sollen.«

»Aber ich bin einfach losgelaufen, als mir klar wurde, wo du steckst! Ich habe weder an ein Pferd noch an sonst etwas gedacht! Mir war klar, es würde Ärger geben, und ich bin dir einfach nachgelaufen!«

Er sah sie gelassen an. »Dann hast du einen Fehler gemacht, Pasha. Du hättest erst überlegen und dann handeln sollen. Vielleicht denkst du beim nächsten Mal vorher nach?«

Pasha legte ihre Hand auf die Brust und japste nach Luft. »Richard, wir haben wohl kaum die Zeit…«

»Dann wäre es besser, du würdest dich beeilen, oder dein neuer Schützling sitzt hier immer noch im Hagenwald, wenn die Sonne untergeht.«

In ihren Augen standen Tränen der Verzweiflung. »Richard, bitte, du begreifst nicht. Dies ist kein Spiel. Der Ort hier ist gefährlich.«

Er drehte sich ein wenig und deutete mit dem Schwert auf etwas. »Ja, ich weiß.«

Pasha linste um ihn herum in die Schatten, dann stockte ihr der Atem. Zögernd näherte sie sich dem Wesen bei den Bäumen. Richard ging ihr nicht hinterher. Er wußte, was sich dort befand: zwei Hälften eines Geschöpfes aus einem Alptraum, dessen Eingeweide über den Boden verstreut lagen.

Sein gekrümmter Kopf, gleich dem eines Mannes, der zur Hälfte mit einer Schlange oder Echse verschmolzen war, bot ein Bild der Verruchtheit selbst: bedeckt von einer glänzenden, strammen, schwarzen Haut, die glatt war bis zum Ansatz des dicken Halses, wo sie in biegsame Schuppen überging. Der geschmeidige Körper war größtenteils wie der eines Mannes geformt. Das gesamte Geschöpf schien für fließend schnelle Bewegungen wie geschaffen — tödliche Anmut.

Es trug Häute, die mit schwarzen, kurzen Haaren besetzt waren, sowie ein körperlanges Cape mit Kapuze. Was Richard für Krallen gehalten hatte, waren keine Krallen, sondern drei mehrklingige Messer, eines für jede mit Schwimmhäuten versehene Hand, mit einem gekreuzten Griff, den man in der Faust hielt. Stahlschienen unterstützten bei einem Schlag zusätzlich die Handgelenke.

Pasha stand wie benommen da. Schließlich ging Richard zu ihr und betrachtete die beiden Hälften des Wesens. Was immer es war, es blutete genauso wie jedes andere Geschöpf. Und es stank — wie Fisch, der in der heißen Sonne faulte.

Pasha starrte bebend auf das Wesen. »Gütiger Schöpfer«, sagte sie tonlos. »Das ist ein Mriswith.« Sie machte einen Schritt nach hinten. »Was ist mit ihm passiert?«

»Was mit ihm passiert ist? Ich habe ihn getötet, das ist passiert. Was für ein Wesen ist ein Mriswith?«

Sie sah ihn mit ihren großen, braunen Augen an. »Was willst du damit sagen, du hast ihn getötet? Einen Mriswith kann man nicht töten. Niemand hat bisher einen Mriswith getötet.«

Ihr Gesicht war ein Bild der Bestürzung.

»Nun, jetzt hat jemand einen getötet.«

»Du hast ihn in der Nacht getötet, hab’ ich recht?«

»Ja.« Richard runzelte die Stirn. »Woher weißt du das?«

»Mriswiths werden außerhalb des Hagenwaldes nur selten beobachtet, aber in den letzten paar tausend Jahren gab es immer wieder Berichte über sie. Berichte von Leuten, die es irgendwie geschafft hatten, lange genug zu überleben, um zu erzählen, was sie gesehen hatten. Mriswiths nehmen immer die Farbe ihrer Umgebung an. In einem Bericht ist einer aus dem Watt gestiegen und hatte die Farbe von Schlick. Einmal, in den Sanddünen, war es die Farbe von Sand. In einem Bericht hieß es, der Mriswith sei im goldenen Licht des Sonnenuntergangs golden gewesen. Wenn sie des Nachts auf Mordzug gehen, sieht man sie nie, denn dann sind sie ebenso schwarz wie die Nacht. Wir glauben, daß sie, vielleicht durch Magie, die Fähigkeit besitzen, die Farbe ihrer Umgebung anzunehmen. Da dieser schwarz ist, mußt du ihn nachts getötet haben.«

Richard faßte sie am Arm und zog sie sachte fort. Das Geschöpf schien sie völlig in seinen Bann gezogen zu haben. Er fühlte, wie sie unter seiner Hand zitterte.

»Pasha, was sind das für Wesen?«

»Es sind Geschöpfe, die im Hagenwald leben. Was es für Wesen sind, weiß ich nicht. Ich habe gehört, es hieße, im Krieg, der die Neue von der Alten Welt trennte, hätten die Zauberer Armeen von Mriswiths aufgestellt. Manche Leute glauben, die Mriswiths würden vom Namenlosen geschickt.

Aber ihr Zuhause ist der Hagenwald. Hier sind auch noch andere Wesen beheimatet. Aus diesem Grund lebt niemand auf dieser Seite des Flusses. Manchmal kommen sie aus dem Wald heraus und machen Jagd auf Menschen. Sie verschlingen ihre Beute nie, offenbar töten sie nur um des Tötens willen. Mriswiths weiden ihre Opfer aus. Einige überleben lange genug und können noch erzählen, was sie erwischt hat. Von ihnen haben wir unsere Kenntnisse.«

»Wie lange gibt es den Hagenwald und diese Geschöpfe schon?«

»Soweit ich weiß, wenigstens so lange wie den Palast der Propheten, fast dreitausend Jahre.«

Sie packte ihn am Hemd und rüttelte ihn. »Während dieser ganzen Zeit hat niemand einen einzigen Mriswith getötet. Alle Opfer berichteten, sie hätten sie erst gesehen, nachdem sie von ihnen aufgeschlitzt worden waren. Einige der Opfer waren Schwestern und Zauberer, und nicht einmal ihr Han hat sie gewarnt. Sie sagten, sie wären für ihr Erscheinen blind gewesen, so als wären sie ohne die Gabe geboren worden. Wie ist es möglich, daß du einen Mriswith töten konntest?«

Richard erinnerte sich, wie er ihn in seinem Geist hatte kommen sehen. Er löste ihre Hand von seinem Hemd. »Vielleicht hatte ich bloß Glück. Irgend jemand mußte ja früher oder später mal einen erwischen. Vielleicht war dieser hier ein Trottel.«

»Richard, bitte, komm mit mir, fort von hier. Das ist keine Art, seinen Willen mit dem Palast zu messen. Du könntest dabei getötet werden.«

»Ich habe nicht die Absicht, jemandes Willen auf die Probe zu stellen, ich übernehme nur die Verantwortung für mein Tun. Es ist meine Schuld, daß Schwester Verna degradiert wurde, ich muß es wieder richten. Ich trete dafür ein, was richtig ist. Wenn ich das nicht tue, bin ich ein Nichts.«

»Richard, wenn die Sonne über dem Hagenwald untergeht –«

»Du verschwendest kostbare Zeit, Pasha.«

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