21

»Wie lange?« fragte Chase.

Die sieben grimmig dreinblickenden Männer, die im Halbkreis vor ihr und Chase hockten, starrten ihn bloß an und machten ein verständnisloses Gesicht. Keiner der sieben trug außer einem Messer im Gürtel irgendwelche Waffen, und einer hatte nicht einmal das. Doch hinter ihnen stand eine Menge weiterer Männer, und sie alle waren mit Speeren oder Bogen bewaffnet — oder beidem.

Rachel zog den dicken braunen Wollumhang fester um sich, verlagerte im Hocken ihr Gewicht und bewegte ihre Zehen. Wenn nur ihre Zehen nicht so frieren würden. Sie fingen bereits an zu kribbeln. Mit den Fingern strich sie über den großen, bernsteinfarbenen Stein, der an der Kette um ihren Hals hing. Seine glatte Tropfenform hinterließ ein Gefühl der Wärme an ihren Fingern.

Chase brummte etwas, das Rachel nicht verstand, während er seinen schweren, schwarzen Umhang wieder auf seine Schultern schob und dann mit einem Stock auf die beiden Menschen zeigte, die in die Erde gezeichnet waren. Sämtliche ledernen Waffengürtel knarzten, als er sich in Stiefeln, die groß genug waren, daß jeder der anderen Männer mit beiden Füßen in nur einen davon gepaßt hätte, nach vorn beugte. Er tippte mit dem Stock wieder auf den Boden, dann drehte er sich um und streckte seine Hand Richtung Grasland aus.

»Wie lange?« Er deutete auf die Zeichnung und streckte seine Hand noch ein paarmal aus. »Wie lange ist es her, seit sie aufgebrochen sind?«

Die Männer stimmten ein sowohl für Chase als auch für Rachel unverständliches Geschnatter an, dann zeichnete der Mann, dem das lange Silberhaar um das sonnengebräunte Gesicht fiel, der, der kein Kojotenfell um die Schultern trug, sondern nur schlichte Wildlederkleidung, ein weiteres Bild in den Staub. Diesmal konnte sie erkennen, was es war. Es war die Sonne. Darunter machte er Zeichen. Chase sah zu, wie der Mann drei Reihen mit Zeichen unter das Bild der Sonne malte. Dann hörte er auf.

Chase starrte auf das Bild. »Drei Wochen.« Er hob den Kopf und sah den Mann mit den langen Haaren an. »Drei Wochen?« Er zeigte auf die Sonne am Boden und hielt sieben seiner Finger dreimal hintereinander in die Höhe. »Sie sind seit drei Wochen fort?«

Der Mann nickte und gab wieder diese seltsamen Worte von sich.

Siddin reichte Rachel noch ein Stück Fladenbrot mit Honig. Es schmeckte wunderbar. Sie versuchte, es langsam zu essen, und doch war es verschwunden, bevor sie es richtig bemerkt hatte. Sie hatte erst ein einziges Mal zuvor Honig probiert, damals im Schloß, wo sie als Spielgefährtin der Prinzessin gelebt hatte. Die Prinzessin hatte ihr nie erlaubt, Honig zu essen, und hatte gemeint, für ihresgleichen sei das nichts, aber einer der Köche hatte ihr einmal etwas gegeben.

Sie bekam ein Kribbeln im Magen, wenn sie daran dachte, wie gemein die Prinzessin zu ihr gewesen war. Sie wollte nie wieder in einem Schloß leben. Jetzt, wo sie Chase’ Tochter war, brauchte sie das auch nicht mehr. Jeden Abend lag sie vor dem Einschlafen in ihre Decken gehüllt und überlegte, wie der Rest ihrer neuen Familie wohl wäre.

Chase hatte gesagt, sie bekäme Geschwister. Und eine richtige Mutter. Er meinte, sie müsse auf ihre neue Mutter hören. Das ließe sich machen. Es war leicht, auf jemanden zu hören, der einen liebte.

Chase liebte sie. Er sprach es nie aus, aber man konnte es ganz leicht merken. Er legte seinen riesigen Arm um sie und strich ihr übers Haar, wenn sie vor den Geräuschen der Dunkelheit Angst bekam.

Siddin lächelte sie an, während er sich den Honig von den Fingern leckte. Es war schön, ihn wiederzusehen. Bei ihrer Ankunft hatte sie anfangs geglaubt, es würde Ärger geben. Furchteinflößende Männer, alle mit Schlamm beschmiert und überall mit Gras beklebt, waren ihnen bereits draußen in der Steppe entgegengekommen. Sie hatte nicht einmal gesehen, woher sie kamen. Sie waren ganz plötzlich einfach dagewesen.

Zuerst war Rachel voller Furcht gewesen, weil die Männer Pfeile auf sie gerichtet hatten, weil ihre Stimmen so schaurig klangen und weil sie nicht verstand, was sie sagten. Chase jedoch war einfach abgestiegen und hatte sie im Arm gehalten, während er sie beobachtete. Er hatte nicht einmal sein Schwert gezogen. Sie glaubte nicht, daß sie ihm Angst einjagten. Er war der mutigste Mann, den sie je gesehen hatte. Die Männer hatten sie angeschaut, während sie sie anstarrte, und Chase hatte ihr übers Haar gestrichen und ihr gesagt, sie brauche keine Angst zu haben. Daraufhin hatten die Männer ihre Pfeile gesenkt und sie ins Dorf geführt.

Als sie dort eintrafen, entdeckte sie Siddin. Siddin kannte sie und Chase von früher, als Kahlan ihn im Schloß vor der Königin Milena gerettet hatte. Zedd, Kahlan, Chase, Siddin und sie waren alle zusammen gewesen, als sie mit dem Kästchen geflohen waren. Sie sprach Siddins Sprache nicht, aber er kannte sie und hatte seinem Vater erklärt, wer sie waren. Seitdem waren alle richtig nett zu ihnen.

Chase zeigte mit dem Finger auf eine der Zeichnungen, die eine Person darstellte, zeigte mit dem Finger seiner anderen Hand auf das andere Bild, dann hielt er die beiden Finger aneinander und zeigte fort. Dabei machte er mit den Händen eine Bewegung, als wollte er die Hügel überqueren. »Richard und Kahlan sind vor drei Wochen aufgebrochen, und sie sind nach Norden gegangen? Nach Aydindril?«

Die Männer schüttelten die Köpfe und fielen wieder in ihr Geschnatter ein. Siddins Vater hob die Hand und bat um Ruhe. Er zeigte auf sich selbst und auf die anderen Männer und hielt drei Finger in die Höhe, dann zeigte er auf das Bild am Boden, das ein Kleid trug, sagte Kahlans Namen und zeigte nach Norden.

Chase deutete auf das Bild der Sonne, dann auf Kahlans Bild, dann auf die Männer, wobei er drei Finger in die Höhe hielt. Dann zeigte er nach Norden. »Vor drei Wochen sind drei deiner Männer nach Norden aufgebrochen, nach Aydindril?«

Die Männer nickten allesamt und sagten »Kahlan« und »Aydindril«.

Chase stellte ein Knie auf den Boden, beugte sich vor und tippte auf das Bild der anderen Person. »Aber Richard ist ebenfalls aufgebrochen.« Er zeigte wieder nach Norden. »Richard ist auch nach Aydindril gegangen. Mit Kahlan.«

Sämtliche Männer drehten sich zu dem Mann mit den langen Silberhaaren um. Er sah Chase an und schüttelte den Kopf. Das mit Schnitzereien verzierte Stück Knochen, das an einem Lederband um seinen Hals hing, baumelte hin und her. Er zeigte auf das Bild des Mannes mit Schwert, dann deutete er in eine andere Richtung.

Chase starrte den Mann an, dann legte er die Stirn in Falten, als hätte er nicht verstanden. Der Mann beugte sich mit seinem Stock nach vorn und zeichnete drei weitere Personen, jede davon mit einem Kleid. Er blickte unter seinen Brauen hervor, als wollte er sich vergewissern, daß Chase zuschaute, dann zeichnete er ein Kreuz über zwei der Figuren. Sein Blick wanderte zu Chase zurück, während er die Arme um die Knie schlang und wartete.

»Was bedeutet das? Tot? Meinst du das — sie sind tot?« Die Männern starrten ihn regungslos an. Chase fuhr sich mit einem Finger wie mit einem Messer über die Kehle. »Tot?«

Der Mann mit dem Silberhaar nickte einmal und sagte »tot«, doch es klang ein wenig komisch, denn er dehnte das Wort länger, als es war. Mit seinem Stock zeigte er auf das Bild der Sonne, dann auf Kahlans Bild, dann über seine Schulter in die Richtung, in die sie aufgebrochen waren. Er zeigte noch einmal auf die Sonne, auf Richards Bild, dann auf das Bild der Frau ohne das Kreuz, schließlich zeigte er in eine andere Richtung.

Chase stand auf. Seine Brust hob und senkte sich, als er einmal tief durchatmete. Er war erschreckend groß. Er starrte in die Richtung, in die Richard nach Angabe des Mannes mit dem Silberhaar aufgebrochen war. »Nach Osten. Also immer tiefer in die Wildnis«, sagte er leise zu sich selbst. »Wieso ist er nicht bei Kahlan?« Er rieb sich das Kinn. Rachel fand, er sah besorgt aus. Ängstlich konnte er unmöglich sein. Chase hatte vor nichts Angst. »Bei den Seelen, warum sollte Richard tiefer in die Wildnis eindringen? Und wieso hatte Kahlan den Jungen in die Wildnis ziehen lassen? Und wen begleitete er?« Die Männer sahen sich untereinander an, als fragten sie sich, aus welchem Grund Chase sich mit der Luft unterhielt.

Chase ging wieder in die Hocke, wobei all sein Leder knarzte, zeigte auf die dritte Frau, legte die Stirn in Falten und sah die Männer achselzuckend an. Er zeigte auf Richards Bild und auf das der Frau und deutete wieder nach Osten. Dann breitete er achselzuckend die Hände in Schulterhöhe aus und verzog das Gesicht, um ihnen zu zeigen, daß er nicht begriff.

Der Mann mit dem langen Silberhaar warf Chase einen traurigen Blick zu und stieß einen tiefen Seufzer aus. Er zeigte auf die dritte Frau, die nicht durchgekreuzt war, dann drehte er sich um und besorgte sich einen Strick von einem der Männer hinter ihm. Er schlang sich den Strick um seinen Hals, sah Chase’ besorgtes Gesicht und zeigte auf Richards Bild. Als Chase den Kopf hob und ihre Blicke sich trafen, spannte der Mann den Strick mit einem Ruck. Er zeigte nach Osten. Mit dem Stock berührte er Kahlans Bild, dann strich er sich mit zwei Fingern, Tränen andeutend, von den Augenwinkeln über die Wange und zeigte nach Norden.

Chase kam hoch. Fast sprang er auf. Sein Gesicht war blaß. »Sie hat ihn gefangengenommen«, sagte er tonlos. »Diese Frau hat Richard gefangengenommen und ihn in die Wildnis verschleppt.«

Rachel stand neben ihm. »Was bedeutet das, Chase? Warum ist Kahlan nicht mit ihm gegangen?«

Er schaute zu ihr hinab. Sein Gesicht war seltsam starr geworden, daß es ihr den Magen zusammenschnürte. »Sie ist Hilfe holen gegangen. Nach Aydindril. Um Zedd zu holen.«

Alle waren ganz still. Er richtete seinen starren Blick noch einmal nach Osten und hakte seinen Daumen hinter seine mächtige Silberschnalle.

»Bei den Seelen«, sprach er leise zu sich selbst, »wenn Richard tatsächlich in die Wildnis gegangen ist, dann führt ihn nach Norden. Laßt ihn nicht nach Süden gehen, sonst wird nicht einmal Zedd ihm helfen können.«

Rachel drückte ihre Puppe fest an sich. »Was ist das, die Wildnis?«

»Ein sehr schlimmer Ort, meine Kleine.« Wie benommen richtete er seinen starren Blick in den dunkler werdenden Himmel. »Ein sehr schlimmer Ort.«

So wie er das sagte, ganz ruhig und still, bekam sie eine Gänsehaut davon.


Zedd spürte das Spiel der Muskeln, als er unter einem Ast wegtauchte und dabei das Tier langsamer gehen ließ. Zedd ritt am liebsten ganz ohne Sattel. Wenn er auf ein Pferd angewiesen war, ließ er dem Tier gern die größtmögliche Freiheit. Er fand das nur fair. Die meisten Pferde schienen seine Rücksichtnahme zu würdigen, und dieses ganz besonders. Es unterstützte ihn mehr als je unter einem Sattel, und er hatte alles angenommen, was es zu geben hatte.

Seinen Sattel und den Rest des Zaumzeugs hatte er einem Mann namens Haff angeboten. Haff besaß die größten Ohren, die Zedd je gesehen hatte. Wie ein Mann mit solchen Ohren je eine Frau hatte finden können, war ein Wunder. Doch er hatte tatsächlich eine Frau und vier Kinder obendrein, und er sah aus, als hätte er das Zaumzeug nötiger als Zedd. Nicht zum Reiten natürlich, sondern um es zu verkaufen. Soldaten der Armee D’Haras hatten seine Ernte und seine Vorräte geplündert.

Es war das mindeste, was Zedd hatte tun können. Schließlich war Rachel bis auf die Knochen durchnäßt gewesen, Haff hatte ihnen einen trockenen Platz zum Schlafen angeboten — auch wenn es in einer halb verfallenen Scheune war –, und seine Frau hatte ihnen Kohlsuppe gereicht, so dünn diese auch sein mochte, und hatte nichts dafür verlangt. Außerdem war es einen Sattel wert, Chase’ Gesichtsausdruck zu sehen, als Zedd erklärte, er habe keinen Hunger.

Der große Mann allerdings aß genug für drei, und Zedd hätte gewarnt sein müssen. Diesen Winter würde es viel Hunger geben. Das Zaumzeug würde seinen Wert nicht einbringen, nicht, wenn der Hunger sich ausbreitete wie der unheilverkündende Wind vor einer Gewitterwolke, aber etwas würde es einbringen, vielleicht genug, um die allergrößten Härten zu überstehen.

Zedd sah, wie Chase, als er sich unbeobachtet glaubte, jedem der vier Kinder eine Münze zusteckte und sie dabei in einem Ton anknurrte, der einen ausgewachsenen Mann hätte erbleichen lassen — Kindern jedoch aus irgendeinem seltsamen Grund bloß ein Lächeln entlockte –, und meinte, sie dürften erst in ihre Taschen gucken, wenn er fort wäre. Hoffentlich war es kein Gold. Der Grenzposten roch es förmlich, wenn ein Dieb im Nachbarort ein Fenster öffnete, und konnte einem wahrscheinlich sogar dessen Namen verraten, aber was Kinder betraf, war er einfach närrisch.

Haff erkundigte sich voller Argwohn, was man als Gegenleistung für das Zaumzeug von ihm erwartete. Zedd meinte, er solle der Mutter Konfessor und dem neuen Lord Rahl seine ewige Ergebenheit schwören, da diese beiden solchen Plünderungen, wie Haff sie erfahren hätte, Einhalt geboten hätten. Der Mann hatte ihn angestarrt, seine großen Ohren hatten unter der lächerlichen Strickmütze hervorgelugt, mit den Troddeln auf beiden Seiten, die nichts weiter bewirkten, als unnötig die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, und hatte gesagt: »Gemacht.« Dazu hatte er entschlossen genickt.

Ein bescheidener Anfang: ein erster ergebener Untertan für den Preis eines Sattels. Wäre doch alles nur so einfach. Doch das lag Wochen zurück. Jetzt war er auf sich gestellt.

Der süßliche Duft eines Birkenfeuers wehte ihm durch den dichten Wald entgegen. Das Pferd hob die Nüstern und lief mit Bedacht den schmalen Pfad entlang. Die zunehmende Dunkelheit legte in der stehenden Luft immer tiefere Schatten über seinen Weg. Er hörte den Lärm, noch bevor das kleine Haus ins Blickfeld kam: das Geräusch von Möbeln, die umgestoßen wurden, das Scheppern von Töpfen und Pfannen, von Dämonen, die verflucht wurden. Das Pferd reckte die Ohren dem Tumult entgegen, während sie den verschlungenen Pfad hinabritten. Zedd gab ihm einen beruhigenden Klaps auf den Hals.

Das kleine Haus, dessen Holzwände mit dem Alter dunkel geworden waren und dessen Dach von einer dicken Lage Farne und trockenen Fichtennadeln bedeckt war, schmiegte sich zwischen rauhe Stämme. Zedd stieg neben den welken abgestorbenen Farnen ab, die sich wie ein Garten vor dem Haus breitmachten. Das Pferd rollte ihm die Augen entgegen, als er um es herumging, um es unter dem Kinn zu kraulen.

»Sei ein gutes Mädchen und such dir was zu fressen.« Er legte den Finger unter das Kinn der Stute und zwang sie, den Kopf zu heben. »Aber bleib in der Nähe.« Das Pferd wieherte. Mit einem Lächeln rieb Zedd ihm die graue Nase. »Gutes Mädchen.«

Aus dem Innern des Hauses drang ein leises Knurren heraus, durchsetzt mit wütenden Klicklauten. Irgend etwas Schweres schlug dumpf zu Boden, begleitet von einem deftigen Fluch in einer fremden Sprache.

»Komm da raus, du widerliches Biest!«

Zedd schmunzelte, als er die vertraute, schnarrende Stimme hörte. Er beobachtete, wie das Pferd ein Stück weit davon schlenderte, büschelweise trockenes Gras aus dem Boden zupfte und kauend den Kopf hob, um sich bei jedem lauten Schlag zum Haus hin umzudrehen.

Zedd schlenderte über den gewundenen Pfad zum Haus. Er hielt inne und machte zwei volle Umdrehungen, um die Schönheit der umliegenden Wälder zu würdigen. Sie waren wahrlich ein Wunder — ruhig und friedlich, und das an einem Ort, der einst der Paß durch eine der gefährlichsten Gegenden der Welt gewesen war: die Grenze. Doch die Grenze war mittlerweile verschwunden. Die Wälder jedoch waren ein Ort der Heiterkeit, erfüllt von einer fast greifbaren Ruhe, die, wie Zedd wußte, nicht natürlich war. Diese Eigenschaften waren ihnen durch die geschickten Hände einer Frau zuteil geworden, die in diesem Augenblick mit Flüchen um sich warf, die derb genug waren, einen kampferprobten Sandarischen Krieger erröten zu lassen.

Dabei hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie einer der Sandarischen Soldaten seine Königin mit einem Fluch in Ohnmacht hatte fallen lassen. Dafür hatte der Mann natürlich mit dem Strick gebüßt. Der Gute hatte auch dem Henker noch das eine oder andere mitzuteilen, und das wiederum hatte ihm keinen sauberen Fall eingebracht, sondern die Gelegenheit, im Hängen noch einen letzten wortreichen, wenn auch vulgären Eid loszuwerden. Die anderen Lanzenträger schienen den Handel seines Preises wert zu finden.

Die Königin ihrerseits fand offenbar niemals ganz zu ihrer zarten Empfindsamkeit zurück, weshalb sie in der Folge ständig beim bloßen Anblick eines Lanzenträgers in einem ungeheuerlichen Rot erblühte, woraufhin sie von ihren Bediensteten heftig befächelt werden mußte, um bei Bewußtsein zu bleiben. Wahrscheinlich hätte sie sie alle hängen lassen, hätten sie ihr nicht bei mehr als einer Gelegenheit den Thron gerettet — von ihrem zierlichen Hals ganz zu schweigen. Doch das war lange her, hatte sich in einem anderen Krieg abgespielt.

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, atmete Zedd tief durch und genoß die saubere, kühle Luft in vollen Zügen. Er bückte sich und pflückte eine trockene, verwelkte Rose und erweckte sie mit einem Hauch Magie zu neuer Blüte. Die gelben Blütenblätter breiteten sich aus und schwollen an vor neuer Lebenskraft. Die Augen schließend, sog er den Duft der Blume tief ein, dann steckte er sie sich in aller Ruhe an sein Gewand, gleich über seiner Brust. Er hatte keine Eile.

Es war nicht klug, eine Magierin bei einem Wutanfall zu stören.

Durch die geöffnete Tür drang ein ernsthafterer Fluch, als das Ziel des Zornesausbruchs der Magierin schließlich zur Rechenschaft gezogen wurde. Mit einem Hieb des stumpfen Endes einer Axt wurde das Ding durch die Tür geschleudert. Die kleine, gepanzerte Bestie landete zu Zedds Füßen auf dem Rücken. Zappelnd klickte und knurrte sie, während sie mit ihren Klauen herumstrampelte und versuchte, sich aufzurichten. Die Axt schien ihr nichts auszumachen, genausowenig wie der kurze Flug und die harte Landung.

Widerlicher Greifer. Es war ein Greifer gewesen, der sich damals in Adies Knöchel verbissen hatte. Wenn ein Greifer einen erst mal hatte, wurde man ihn praktisch nicht mehr los. Er hielt sich mit diesen Klauen fest, bohrte einem seine Zähne bis auf die Knochen ins Fleisch und saugte einem das Blut mit seinem runzeligen Maul voller Zähne aus. Sie ließen niemals los, solange es noch Blut zu holen gab, und der Panzer hielt jeden Gegenangriff ab.

Adie hatte sich den Fuß mit einer Axt abgehackt, dort, wo der Greifer sich verbissen hatte, hatte ihren eigenen Fuß abgehackt, um ihr Leben zu retten. Er brauchte bloß daran zu denken, und ihm drehte sich der Magen um. Er betrachtete die Bestie zu seinen Füßen einen Augenblick lang, dann verpaßte er ihr einen beiläufigen Tritt, der sie ein gutes Stück weiter fortschleuderte. Sie landete auf der richtigen Seite und verschwand watschelnd auf der Suche nach einer weniger widerspenstigen Beute im Wald.

Zedd hob den Kopf und betrachtete die im Türrahmen stehende Gestalt, die ihn aus ihren völlig weißen Augen finster anblickte und deren Brust sich noch immer heftig hob und senkte. Sie trug ein Gewand in der gleichen hellen Leinenfarbe wie das seine, doch anders als seins war ihres am Kragen mit gelben und roten Perlen in Form der uralten Symbole ihrer Zunft verziert. Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. Der finstere Blick ließ ihr Gesicht nicht los, ohne daß dies ihr im geringsten etwas von ihrer Schönheit nahm.

Allerdings hielt sie noch immer die Axt in der einen Hand, ein beunruhigendes Zeichen. Es war vermutlich am besten, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen.

Zedd grinste. »Du solltest lieber nicht ständig mit Greifern herumspielen, Adie. Beim letzten Mal hat dich das einen Fuß gekostet, schon vergessen?« Er pflückte die gelbe Rose von ihrem Platz an seiner Brust. Das Lächeln auf seinen dünnen Lippen wurde breiter und schob die runzeligen Wangen noch weiter zurück. »Hast du etwas zu essen? Ich bin völlig ausgehungert.«

Sie betrachtete ihn einen Augenblick lang reglos und schweigend, dann ließ sie den Kopf der Axt zu Boden gleiten und lehnte sie mit dem Griff gleich neben der Tür an die Wand. »Was machst du hier, Zauberer?«

Zedd trat auf die winzige Veranda und verbeugte sich übertrieben. Als er sich aufrichtete, bot er ihr die Blume dar, als sei sie ein kostbares Juwel. »Ich habe mich nach deiner zärtlichen Umarmung gesehnt, meine Liebe.« Er ließ sein unwiderstehlichstes Lächeln aufblitzen.

Adie musterte ihn einen Augenblick lang streng. »Das ist eine Lüge.«

Zedd räusperte sich und hielt ihr die Blume näher hin. Vielleicht sollte er das Lächeln noch ein wenig üben. »Ist das vielleicht Eintopf, den ich da rieche?«

Ohne ihn aus den weißen Augen zu lassen, nahm sie die Blume entgegen und steckte sie in ihr glattes, kinnlanges, schwarz-graues Haar. »Ja, es ist Eintopf.«

Mit ihren weichen, schmalen Händen ergriff sie seine. Ein dünnes Lächeln stahl sich auf ihr fein gerunzeltes Gesicht, und sie nickte ihm kaum merklich zu. »Schön, dich wiederzusehen, Zedd. Eine Weile hatte ich Angst, es würde nie mehr dazu kommen. Ich bin so manche Nacht schweißgebadet aus dem Schlaf hochgeschreckt, weil ich wußte, was im Falle deines Scheiterns geschehen würde. Als der Winter kam und die Magie der Ordnung nicht über das Land hinweggefegt war, wußte ich, du hattest Erfolg gehabt.«

Zedd fand es ermutigend, daß sein allerbestes Lächeln doch Wirkung gezeigt hatte, trotzdem war er vorsichtig mit seiner Antwort. »Darken Rahl wurde besiegt.«

»Was ist mit Richard und Kahlan? Sind sie in Sicherheit?«

Zedd schwoll an vor Stolz. »Ja. Es war sogar Richard, der Darken Rahl besiegt hat.«

Sie nickte noch einmal. »Ich glaube, hinter der Geschichte steckt noch mehr.«

Er zuckte mit den Achseln und versuchte den Anschein zu erwecken, es sei weniger wichtig, als es war. »Das kann man wohl sagen.«

Obwohl die Andeutung des Lächelns noch immer unbeschwert auf ihrem Gesicht ruhte, schien sie ihm mit ihren weißen Augen auf den Grund seines Herzens zu schauen. »Es gibt einen Grund für deinen Besuch. Ich fürchte, einen Grund, den ich lieber nicht kennenlernen möchte.«

Er entzog seine Hände ihrem Griff und strich sich eine widerspenstige, weißgelockte Strähne aus der besorgten Stirn. »Verdammt, Frau, bekomme ich jetzt etwas von deinem Eintopf oder nicht?«

Schließlich nahm Adie die weißen Augen von ihm und ging in ihr Haus zurück. »Ich denke, es ist genug da, selbst für dich. Komm rein und schließ die Tür. Ich möchte heute abend nicht noch einen Greifer zu Gesicht bekommen.«

Eine Einladung ins Haus. Nun, die Dinge entwickelten sich prächtig. Er fragte sich, wieviel er ihr würde erzählen müssen. Hoffentlich nicht alles. Die Arbeit der Zauberer: sich Menschen zunutze zu machen. Am schlimmsten war es bei Menschen, die er mochte. Besonders bei Menschen, die er von ganzem Herzen mochte.

Während er ihr half, Tisch und Stühle zurechtzurücken und die auf dem Boden verstreuten Töpfe und Blechteller aufzuheben, begann Zedd, ihr das zu erzählen, was sich seit ihrem letzten Zusammensein zugetragen hatte. Er begann mit der qualvollen Durchquerung des Passes, während der er ein wenig durch den Knochen beschützt worden war, den sie ihm geschenkt hatte, damit er sich vor den Bestien verstecken konnte. Der Knochen hing noch immer an einem Lederband um seinen Hals, denn er hatte keinen Grund, ihn nach seiner sicheren Durchquerung wegzuwerfen.

Sie hörte kommentarlos zu, wie er das Garn seiner Geschichte spann, und als er von Richards Gefangennahme durch die Mord-Sith berichtete, da drehte sie sich nicht, um ihr Gesicht zu zeigen, und trotzdem sah er, wie die Muskeln ihrer Schultern sich einen winzigen Augenblick lang zusammenzogen. Nicht ohne in aller Deutlichkeit seinen Standpunkt klarzumachen, erzählte er, wie Darken Rahl Richard den Stein der Nacht abgenommen hatte, jenen Stein der Nacht, den sie ihm geschenkt hatte und der ihn sicher durch den Paß hatte bringen sollen.

Er zog ein finsteres Gesicht hinter ihrem Rücken, als sie einen Teller vom Boden aufhob. »Der Stein hätte mich fast umgebracht. Darken Rahl hat ihn dazu benutzt, mich in der Unterwelt festzuhalten. Ich konnte nur ganz knapp entkommen. Daß du Richard den Stein geschenkt hast, hätte mich fast umgebracht.«

»Sei nicht so starrköpfig«, spottete sie. »Du bist klug genug, dich selbst zu retten. Hätte ich Richard den Stein der Nacht nicht geschenkt, dann hätte Darken Rahl gesiegt und würde dich jetzt in diesem Augenblick ganz zweifellos foltern. Du wärst bald tot. Ich habe dir das Leben gerettet, und zwar dadurch, daß ich Richard den Stein geschenkt habe.«

Er fuchtelte mit irgendeiner Art Beinknochen herum, als sie ihm einen Blick über die Schulter zuwarf. »Das Ding ist gefährlich. Du solltest nicht mit diesen gefährlichen Dingen um dich schmeißen, als wären es Zukkerstangen. Jedenfalls nicht, ohne die Menschen zu warnen.« Es war sein gutes Recht, empört zu sein. Er war es gewesen, der von diesem vermaledeiten Stein in die Unterwelt gezogen worden war. Die Frau könnte wenigstens ein wenig Zerknirschung heucheln.

Zedd fuhr mit der Geschichte fort, wie Richard geflohen war, obwohl er ein Netz um sich trug, das seine Identität verbarg, und wie die Quadrone Chase, Kahlan und ihn selbst angegriffen hatten. Er hatte Mühe, seine Stimme zu beherrschen, als er erzählte, was Kahlan um ein Haar widerfahren wäre und wie sie den Con Dar ausgelöst und ihre Angreifer getötet hatte. Er schloß damit, wie Richard Darken Rahl durch einen Trick dazu gebracht hatte, das falsche Kästchen zu öffnen. Er erzählte ihr, wie die Magie der Ordnung wegen dieses Fehlers von Darken Rahl Besitz ergriffen hatte. Zedd mußte innerlich lächeln, als er am Ende seiner Geschichte angelangt war und ihr erzählte, daß es Richard irgendwie gelungen war, Kahlans Kraft zu umgehen, und sie frei waren, sich zu lieben — wie, hatte er nicht vor, ihr zu erzählen, das ging niemanden etwas an –, und daß sie jetzt miteinander glücklich waren.

Er war froh, die Geschichte erzählen zu können, ohne die schmerzlicheren Augenblicke allzusehr vertiefen zu müssen. Es gab darunter Augenblicke, die er nicht noch einmal durchleben wollte. Sie stellte keine Fragen, sondern kam herüber, legte ihm eine Hand auf die Schulter und meinte, sie sei erleichtert, daß sie alle überlebt und den Sieg davongetragen hätten.

Zedd verstummte, nachdem er seine Geschichte beendet hatte — soweit er sie erzählen wollte. Er machte sich daran, einen Stapel loser Knochen in einer Ecke aufzuschichten, wo sie nach Adies Meinung hingehörten. Wenn man danach urteilte, wie verstreut sie überall herumlagen, hatte der Greifer zwischen ihnen Schutz gesucht. Ein verhängnisvoller Fehler.

Daß Adie überall die Knochenfrau genannt wurde, konnte kaum verwundern: im Haus gab es fast nichts anderes. Sie schien ihr Leben den Knochen gewidmet zu haben. Eine Magierin, die sich den Knochen verschrieben hatte, war eine besorgniserregende Vorstellung. Er konnte nur wenige der sonst üblichen Tränke, Pülverchen oder Amulette entdecken, keines der Dinge, die man seines Wissens bei einer Frau mit ihren Fähigkeiten erwarten konnte. Er wußte, in welche Materie sie eindringen wollte, nur eben nicht, warum.

Gewöhnlich vertrauten Magierinnen ihre Sorgen etwas Lebendigem an. Sie war auf der Suche nach düsteren, gefährlichen Dingen. Toten Dingen. Unglücklicherweise war er das auch. Wenn man etwas über Feuer wissen wollte, blieb einem wohl nichts anderes übrig, als es zu studieren. Natürlich konnte man sich auch sehr leicht daran verbrennen. Der Vergleich gefiel ihm nicht, das wußte er im selben Augenblick, wie er ihm in den Sinn kam.

Als er den letzten Knochen an seinen Platz gelegt hatte, sah er auf. »Wenn du keine Greifer im Haus willst, Adie, dann solltest du deine Tür verschließen.«

Sein spöttisches Stirnrunzeln ließ sie kalt, denn sie drehte sich nicht um bei ihrer Arbeit, sondern stapelte weiter Feuerholz in den Korb neben dem Kamin. »Die Tür war verschlossen. Und verriegelt«, meinte sie in ihrem trockenen Schnarren, einem Ton, der es scheinbar darauf anlegte, daß ihm sein unbemerkter, finsterer Gesichtsausdruck verging. »Das war schon das dritte Mal.«

Sie hob einen Knochen auf, der sich hinter einem Ast des Feuerholzes versteckt hatte, richtete sich auf und brachte ihn zu Zedd. »Früher haben sich die Greifer nicht einmal in die Nähe meines Hauses gewagt.« Sie senkte die Stimme, wie als Warnung an unsichtbare Ohren. »Dafür habe ich gesorgt.« Sie reichte Zedd den kräftigen weißen Rippenknochen und musterte den Zauberer, wie er dort auf dem Boden neben dem Knochenhaufen hockte. »Erst seit dem Winter kommen sie hierher. Die Knochen scheinen sie nicht mehr abzuhalten. Der Grund dafür ist mir ein Rätsel.«

Adie lebte schon lange im Paß. Niemand kannte seine Gefahren so gut wie sie, seine Eigenarten, seine Launen. Niemand wußte besser als sie, wie man hier in Sicherheit lebte, hier am Scheitelpunkt zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, am Rande der Unterwelt. Natürlich, die Grenze war jetzt verschwunden. Eigentlich sollte es hier sicher sein.

Er fragte sich, was sich sonst noch abspielte, was sie ihm verheimlichte. Magierinnen verrieten einem nie alles, was sie wußten. Warum lebte sie noch immer hier, zwischen diesen seltsamen und gefährlichen Dingen? Dickköpfig, diese Magierinnen, allesamt.

Adie humpelte leicht, als sie den nur vom Feuer beleuchteten Raum durchquerte. »Soll ich die Lampe anzünden?«

Zedd, der ihr hinterherlief, deutete auf den Tisch. Die Lampe entzündete sich von selbst. Ihr sanfter Schein gesellte sich zu dem des Feuers im großen, aus glatten Flußsteinen gebauten Kamin und erhellte die dunklen Wände des Raumes. An jeder Wand waren weiße Knochen untergebracht. Eine Wand war von Regalen gesäumt, die bis zum Überquellen mit den Schädeln gefährlicher Bestien vollgestopft waren. Viele der Knochen waren zu rituellen Gegenständen umgearbeitet worden, einige zu Halsketten, die mit Federn und Perlen verziert waren, manche waren mit alten Symbolen beschriftet. Um manche war an der Wand ein Zauberspruch gemalt. Es war die eigentümlichste Sammlung, die Zedd je zu Gesicht bekommen hatte.

Er zeigte mit seinem knochigen Finger auf ihren Fuß. »Wieso humpelst du?«

Adie blieb stehen und warf ihm einen Seitenblick zu, während sie einen Schöpflöffel von einem neben der Feuerstelle in die Wand eingelassenen Haken nahm. »Der neue Fuß, den du mir hast wachsen lassen, ist zu kurz.«

Zedd stemmte eine Hand in seine knochige Hüfte, stützte sein glattrasiertes Kinn in seine astdürren Finger und besah sich ihren Fuß. Ihm war nicht aufgefallen, daß er zu kurz war, als er ihn wieder hatte wachsen lassen — er hatte gleich danach aufbrechen müssen. »Vielleicht könnte ich den Knöchel etwas nachwachsen lassen«, überlegte er laut. Er nahm die Hand vom Kinn und fuchtelte damit in der Luft herum. »Die beiden Beine angleichen.«

Adie funkelte ihn über die Schulter an, während sie in ihrem Eintopf rührte. »Nein, vielen Dank.«

Zedd war erstaunt. »Wäre es dir nicht lieber, wenn beide Beine gleich lang wären?«

»Ich weiß zu schätzen, daß du meinen Fuß hast nachwachsen lassen. Mit zweien ist das Leben leichter. Ich wußte nicht, wie sehr ich die Krücke gehaßt habe. Aber der Fuß ist gut, so wie er ist.« Sie setzte die langstielige Kelle an die Lippen und pustete in die heiße Suppe.

»Es wäre noch leichter, wenn beide Füße gleich wären.«

»Ich habe nein gesagt.« Sie probierte die Suppe.

»Verdammt, meine Liebe, warum nicht?«

Adie schlug die Kelle am Rand des Eisenkessels aus und hängte sie zurück an ihren Haken, dann nahm sie eine verbeulte Büchse vom Kaminsims und schraubte den Deckel auf. Ihre Stimme klang ruhig, schnarrte nicht mehr so wie zuvor. »Ich möchte diese Schmerzen nicht noch einmal durchmachen. Hätte ich gewußt, wie das ist, ich hätte mich entschieden, den Rest meines Lebens ohne den Fuß zu ertragen.« Sie steckte ihre Hand in die Büchse, entnahm ihr eine Prise Fünfkraut und warf sie in den Eintopf.

Zedd zupfte sich am Ohr. Vielleicht hatte sie recht. Ihr den Fuß nachwachsen zu lassen, hatte sie fast umgebracht. Er hatte nicht mit diesen Folgen gerechnet, mit dieser Reaktion auf die große Menge Magie, die er bei ihr eingesetzt hatte. Trotzdem hatte er Erfolg gehabt, hatte ihr die schmerzhaften Erinnerungen nehmen können, wenn er auch noch immer nicht wußte, worum es dabei ging.

Er hätte das Zweite Gesetz der Magie bedenken sollen, aber er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihr etwas Gutes zu tun. So ging das mit dem Zweiten Gesetz: normalerweise ließ sich schwer sagen, ob man gerade dagegen verstieß.

»Du kennst den Preis der Magie, Adie, fast ebenso gut wie ein Zauberer. Außerdem habe ich es wieder wettgemacht. Die Schmerzen, meine ich.« Er wußte, daß für das Verlängern des Knöchels nicht soviel Magie erforderlich war wie für das Nachwachsen des Fußes, aber nach allem, was sie durchgemacht hatte, hatte er Verständnis für ihr Sträuben. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht habe ich genug getan.«

Sie richtete ihre weißen Augen wieder auf ihn. »Warum bist du hier, Zauberer?«

Er grinste sie schelmisch an. »Weil ich dich sehen wollte. Eine Frau wie dich kann man nur schwer vergessen. Außerdem wollte ich dir berichten, wie Darken Rahl besiegt wurde — von Richard. Daß wir gewonnen haben.« Ihr starrer Blick mißfiel ihm. »Wieso, glaubst du, kommen die Greifer hierher?«

Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Du redest, wie ein Betrunkener geht — in alle möglichen Richtungen, nur nicht geradewegs aufs Ziel zu.« Mit einem Wink Richtung Tisch gab sie ihm zu verstehen, daß er die Schalen holen sollte. »Ich wußte bereits, daß wir gewonnen hatten. Der erste Tag des Winters kam und ging. Hätte Rahl gewonnen, wären die Dinge nicht so friedlich, wie sie sind. Trotzdem bin ich froh, deine alten Knochen wiederzusehen.«

Er trat entschlossen an den Tisch, froh, ihrem prüfenden Blick einen Moment lang zu entkommen. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Warum, glaubst du, kommen die Greifer hierher?«

Sie senkte die Stimme, ihr Schnarren wurde tiefer, härter und bekam einen fast zornigen Unterton. »Ich denke, die Greifer kommen aus dem gleichen Grund hierher wie du: sie wollen einer alten Frau Ärger machen.«

Zedd grinste, als er mit den Schalen zurückkam. »Ich sehe keine alte Frau. Ich sehe eine schöne Frau.«

Sie erwiderte sein Grinsen mit einem hilflosen Kopfschütteln. »Ich fürchte, deine Zunge ist noch gefährlicher als ein Greifer.«

Er reichte ihr eine Schale. »Sind die Greifer früher auch hierhergekommen?«

»Nein.« Sie drehte sich um und begann, die Suppe in die Schale zu löffeln. »Als die Grenze noch da war, sind die Greifer mit den anderen Bestien im Paß geblieben. Nachdem die Grenze gefallen ist, habe ich sie eine Zeitlang nicht gesehen, aber mit dem Wintereinbruch kamen auch die Greifer zurück. Das sollte nicht sein. Ich glaube, irgend etwas stimmt hier nicht.«

Er tauschte seine leere Schale gegen die volle ein, hielt sie sich unter seine Nase und sog den Duft ein. »Vielleicht hält sie seit dem endgültigen Fall der Grenze nichts mehr, und deshalb kommen sie einfach aus dem Paß hervor.«

»Kann sein. Doch mit dem Fall der Grenze sind auch die meisten Bestien verschwunden und in die Unterwelt zurückgekehrt. Einige wurden von ihren Fesseln befreit und sind ins Umland entkommen. Vor Anbruch des Winters, noch vor einem Monat, habe ich hier nie irgendwelche Greifer gesehen. Ich fürchte, ihre Anwesenheit hat noch einen anderen Grund.«

Zedd wußte sehr gut, was geschehen war, sagte aber nichts. Statt dessen fragte er: »Adie, warum ziehst du nicht fort? Komm mit mir. Nach Aydindril. Das wäre…«

»Nein!« fuhr sie ihn barsch an, selbst überrascht von ihrer Schärfe. Sie strich ihr Gewand mit einer Hand glatt, bis der Zorn aus ihrem Gesicht gewichen war, nahm den Löffel aus der Hand, die auch die Schale hielt, und teilte weiter Suppe aus. »Nein. Das hier ist mein Zuhause.«

Zedd sah ihr schweigend zu. Als sie fertig war, trug sie ihre Schale zum Tisch, setzte sie ab und nahm einen Laib Brot vom Bord mit dem blauweißen Vorhang über der Arbeitsfläche. Mit dem Brot zeigte sie auf einen anderen freien Stuhl. Zedd stellte seine Schale auf den Tisch, setzte sich und zog sein Gewand hoch, während er die Beine unter sich verschränkte. Adie ließ sich auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder, schnitt eine Scheibe Brot ab und schob sie mit der Messerspitze über den Tisch, bevor sie den Kopf hob und ihm in die Augen sah.

»Bitte, Zedd, verlang nicht von mir, daß ich mein Zuhause verlassen soll.«

»Ich bin nur um dich besorgt, Adie.«

Adie stippte einen Kanten Brot in ihren Eintopf. »Das ist eine Lüge.«

Er sah sie unter seinen Brauen hervor an und griff nach seinem Brot. »Das ist keine Lüge.«

Sie aß weiter, ohne aufzusehen. »Das ›nur‹ ist eine Lüge.«

Zedd widmete sich wieder seiner Suppe. »Schmeckt ausgezeichnet,« murmelte er mit einem Brocken Fleisch im Mund. Sie bedankte sich mit einem Nicken. Er aß, bis seine Schale leer war, dann nahm er sie mit zur Feuerstelle und füllte sie aufs neue.

Auf dem Weg zurück zum Tisch erfaßte er den Raum mit einer ausladenden Handbewegung. »Du hast ein wunderbares Heim, Adie. Wirklich hübsch.« Er setzte sich hin und nahm das Brot, das sie ihm reichte. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und brach das Brot entzwei, wobei ihm die Ärmel über die Unterarme rutschten. »Aber ich denke nicht, daß du hier leben solltest — ganz allein. Nicht, solange es die Greifer und was sonst noch alles gibt.« Er gestikulierte mit dem Brot in Richtung Norden. »Wieso kommst du nicht mit mir nach Aydindril? Es würde dir dort gefallen. Dort ist reichlich Platz. Kahlan könnte dafür sorgen, daß du wohnen kannst, wo du willst. Ja, vielleicht sogar in der Burg, wenn dir das lieber ist.«

Ihre weißen Augen blieben auf das Essen gerichtet. »Nein.«

»Wieso nicht? Wir würden uns dort bestimmt wohl fühlen. Eine Magierin hätte in der Burg ein tolles Leben. Es gibt dort Bücher und…«

»Ich habe nein gesagt.«

Er beobachtete, wie sie sich anschickte weiterzuessen. Er krempelte seine Ärmel noch weiter auf und tat es ihr nach. Lange konnte er nicht essen. Er legte den Löffel in die Schale und blickte sie an.

»Adie, an der Geschichte ist noch mehr — etwas, das ich dir noch nicht erzählt habe.«

Sie zog eine Braue hoch. »Hoffentlich erwartest du nicht, daß ich ein erstauntes Gesicht mache. Ich kann nicht gut heucheln.« Sie beugte sich wieder über ihre Schale.

»Adie, der Schleier hat einen Riß.«

Die Hand mit dem Löffel verharrte auf halbem Wege zum Mund. Sie sah nicht auf. »Unsinn. Was weißt du vom Schleier. Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst.« Die Hand führte den Löffel schließlich zu seinem Ziel.

»Ich weiß, daß er einen Riß hat.«

Sie löffelte das letzte Kartoffelstück aus ihrer Schale. »Du redest von Dingen, die nicht sein können, Zauberer. Der Schleier hat keinen Riß.« Sie stand auf und nahm ihre leere Schale in die Hand. »Sei beruhigt, alter Mann, wenn der Schleier einen Riß hätte, müßten wir uns um erheblich mehr als um die Greifer sorgen. Aber dem ist nicht so.«

Zedd drehte sich um, legte eine Hand über die Stuhllehne und sah zu, wie sie zum Kessel humpelte, der an einem eisernen Arm über der Feuerstelle hing. »Der Stein der Tränen ist in der Welt«, sagte er ruhig.

Adie stockte. Ihre Schale fiel zu Boden — schepperte laut in der bedrükkenden Stille — und rollte fort. Sie hielt die Hände so, als befände sich die Schale noch immer darin. Ihr Rücken war steif. »Sag so etwas nicht laut«, meinte sie leise, »es sei denn, du bist über jeden Zweifel erhaben. Es sei denn, du bist dir bei deiner Ehre als Oberster Zauberer sicher. Es sei denn, du bist bereit, dem Hüter deine Seele anzubieten, für den Fall, daß du lügst.«

Zedd beobachtete ihren Rücken mit seinen grimmigen, haselnußbraunen Augen. »Ich verpfände meine Seele an den Hüter, wenn ich lüge. Soll er sie sich in diesem Augenblick holen. Der Stein der Tränen ist in der Welt. Ich habe ihn gesehen.«

»Gute Seelen, beschützt uns«, flüsterte sie kraftlos. Sie rührte sich noch immer nicht. »Erzähl mir, was für eine Dummheit du angestellt hast, Zauberer.«

»Adie, komm und setz dich. Zuerst will ich, daß du mir erzählst, wieso du hier im Paß lebst oder was sich früher hier im Paß befunden hat. Wieso hast du am Rand zur Unterwelt gelebt, und warum willst du nicht fort?«

Sie wirbelte herum und sah ihn an, packte sein Gewand mit einer Hand. »Das geht niemanden etwas an.«

Zedd stützte die Hand auf die Stuhllehne und stemmte sich hoch. »Adie, ich muß es wissen. Es ist wichtig. Ich muß wissen, was du hier getan hast, damit ich weiß, ob ich dir helfen kann. Ich kenne den Schmerz sehr gut, mit dem du lebst. Ich habe ihn selbst kennengelernt, erinnerst du dich noch? Ich weiß nicht, was ihn verursacht hat, aber ich weiß, wie tief er sitzt. Ich möchte dich bitten, dein Geheimnis mit mir zu teilen. Ich bitte dich als Freund, mir zu vertrauen. Bitte zwing mich nicht, dich als Oberster Zauberer zu fragen.«

Bei seinen letzten Worten hob sie den Kopf und sah ihm geradewegs in die Augen. Ihr Anflug von Zorn ließ nach, und sie nickte. »Also gut. Vielleicht habe ich es schon zu lange für mich behalten. Vielleicht wäre es eine Erleichterung, es jemandem zu erzählen … einem Freund. Vielleicht willst du meinen Beistand nicht mehr, nachdem du es gehört hast. Wenn doch, erwarte ich, daß du mir alles erzählst, was vorgefallen ist.« Sie zeigte nachdrücklich mit dem Finger auf ihn. »Alles.«

Zedd lächelte ihr aufmunternd zu. »Natürlich.«

Sie humpelte zu ihrem Stuhl. Gerade als sie sich setzte, fiel der größte Schädel aus dem Regal mit dumpfem Schlag zu Boden. Die beiden starrten ihn an. Zedd ging hinüber und hob ihn mit beiden Händen auf. Mit seinen dünnen Fingern strich er über die spitz zulaufenden, gebogenen Reißzähne, die so lang waren wie seine Hand. Der Schädel war an der Unterseite flach, er hätte nicht vom Regal rollen dürfen. Unter Adies Blicken legte er ihn sicher an seinen Platz zurück.

»Wie es aussieht«, meinte sie mit ihrer schnarrenden Stimme, »gefällt es den Knochen in letzter Zeit auf dem Fußboden. Ständig fallen sie runter.«

Zedd kehrte auf seinen Platz zurück, nachdem er dem Schädel noch einen letzten finsteren Blick zugeworfen hatte. »Erzähl mir von den Knochen, wozu du sie hast, was du mit ihnen tust, alles. Fang ganz von vorne an.«

»Alles.« Sie verschränkte die Arme im Schoß und sah für einen kurzen Augenblick so aus, als wollte sie zur Tür hinausrennen. »Das ist eine schmerzliche Geschichte.«

»Nie wird auch nur ein einziges Wort über meine Lippen kommen, Adie.«

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