Als die beiden am nächsten Tag allein hinaus auf die Ebene wanderten, hatte der Himmel eine kalte, graue Farbe angenommen, und der Wind war eisig. Richard wollte fort von den Menschen, fort von den Häusern. Er wolle den Himmel und die Erde sehen, hatte er gesagt. Die steifen Böen neigten das Gras, zerrten an ihren Gewändern und ließen sie flattern, während sie schweigend weitergingen. Richard wollte mit seinem Bogen schießen, damit seine Kopfschmerzen eine Weile aufhörten. Kahlan wollte einfach nur bei ihm sein.
Es kam ihr vor, als wollte ihnen die Ewigkeit, die ihnen noch vor ein paar Tagen zu gehören schien, zwischen den Fingern zerrinnen. Sie wollte sich dagegen wehren, wußte aber nicht, wie. Alles, was richtig schien, lief plötzlich verkehrt.
Sie glaubte nicht, daß Richard den Rada’Han, den Halsring, anlegen würde, was immer die Schwestern auch sagen mochten. Vielleicht wäre er bereit zu lernen, wie man die Gabe nutzte, aber daß er einen Ring anlegen würde, glaubte sie nicht. Und wenn nicht, dann würde er sterben. Nach dem, was er ihr erzählt hatte — und schlimmer, nach dem, was er ihr, wie sie wußte, verschwiegen hatte –, wie konnte sie da erwarten, daß er ihn trug? Oder ihn gar darum bitten?
Doch es tat gut, aus dem Dorf herauszukommen, fort von den Menschen, und nicht Chandalens Blicken ausgesetzt zu sein, die ihnen überallhin folgten. Wie konnte sie ihm einen Vorwurf machen? Es sah tatsächlich ganz so aus, als würden die beiden stets nur Ärger bringen. Was sie jedoch aufregte, war, daß Chandalen so tat, als machten sie es absichtlich. Sie war die Streitereien leid. Sie schienen kein Ende zu nehmen. Nun, beschloß sie, wenigstens heute wollten sie den Ärger hinter sich lassen und einfach ihre Zweisamkeit genießen.
Kahlan hatte ihm erzählt, daß sie früher auch mit dem Bogen geschossen hatte. Seinen konnte sie nicht spannen, weil er zu kräftig war, daher hatte Richard sie ermutigt, sich einen auszuleihen und mitzunehmen, damit er ihr zeigen konnte, wie man seine Treffsicherheit verbesserte. Sie fanden die Zielscheiben aus gebündeltem Gras, die die Männer aufgestellt hatten. Hoch aufragend wie eine Gruppe Vogelscheuchen, schienen sie über die weite flache Steppe zu wachen. Ein paar von ihnen hatten sogar Grasbüschel als Köpfe. Jede hatte als Zielpunkt ein Kreuz aus Gras, auch die, die einen Kopf besaßen. Richard war der Ansicht, die Kreuze seien zu dick, also entfernte er sie und ersetzte sie durch einfache Grashalme.
Sie standen ein gutes Stück entfernt — tatsächlich so weit entfernt, daß sie die Grasbüschel kaum erkennen konnten, ganz zu schweigen von den Kreuzen. Richard schnallte einen einfachen Armschutz um, den Savidlin ihm zusammen mit dem Bogen angefertigt hatte, und schoß Pfeile, bis seine Kopfschmerzen verschwunden waren.
Richard bot ein Bild der Ruhe, der Geschmeidigkeit. Er war eins mit dem Bogen. Lächelnd registrierte sie, wie gut er aussah und daß er ihr gehörte. Ihr tat das Herz vor Freude weh, als sie seine grauen Augen, vom Kopfschmerz befreit, funkeln sah. Sie gingen ein Stück näher ran, damit sie schießen konnte.
»Willst du nicht nachsehen, wo deine Pfeile getroffen haben?«
Er mußte grinsen. »Ich weiß, wo sie getroffen haben. Schieß du jetzt.«
Sie schoß ein paar Pfeile, um das Gefühl für den Bogen wiederzuerlangen. Er stellte das eine Ende seines Bogens auf die Erde, stützte sich mit beiden Händen auf das andere Ende und beobachtete sie. Sie war noch ein Mädchen gewesen, als sie das letzte Mal einen Bogen benutzt hatte. Richard sah ihr noch ein paarmal zu, dann ging er zu ihr und stellte sich hinter sie. Seine Arme umfaßten ihren Körper, er rückte ihre Hand am Bogen zurecht und legte seine Finger auf die Sehne.
»Hier. Mach es so. Wenn du den Pfeil so zwischen Daumen und dem Knöchel deines Zeigefingers hältst, kannst du unmöglich die nötige Kraft und Ruhe entwickeln. Halte die Sehne mit deinen drei ersten Fingern fest, so, den Pfeil zwischen Zeige- und Mittelfinger. Und zieh auch mit der Schulter. Am Pfeil selbst brauchst du nicht zu ziehen, konzentriere dich einfach auf das Spannen der Sehne. Dann macht der Pfeil alles wie von selbst. Siehst du? Das ist doch schon besser.«
Sie mußte grinsen. »Ja, weil du die Arme um mich geschlungen hast.«
»Konzentriere dich auf das, was du tust«, schalt er sie.
Kahlan zielte und schoß. Er meinte, das sei schon besser und sie solle es noch mal versuchen. Sie schoß noch ein paar Pfeile ab und glaubte, vielleicht sogar einmal das Grasbündel getroffen zu haben. Sie spannte die Sehne erneut und versuchte, den Bogen ruhig zu halten. Plötzlich kitzelte er sie am Bauch. Sie knickte quiekend ein und mußte lachen. »Laß das! Richard! Ich kann nicht schießen, wenn du das tust!«
Er stemmte die Fäuste in die Hüften. »Das mußt du aber können.«
Sie sah ihn fragend an und rang nach Luft. »Wie meinst du das?«
»Du mußt nicht nur dein Ziel treffen können, sondern du mußt auch schießen können, egal, was geschieht. Wenn du nicht schießen kannst, während du lachst, wie willst du dann schießen, wenn du Angst hast? Nur du und das Ziel, etwas anderes gibt es nicht. Nichts anderes zählt. Du mußt alles andere ausblenden können. Wenn dich ein Wildschwein angreift, kannst du auch nicht über deine Angst nachdenken oder darüber, was geschieht, wenn du danebentriffst. Du mußt schießen, auch unter Druck. Oder du brauchst einen Baum in der Nähe, auf den du klettern kannst.«
»Richard, du kannst das, weil du die Gabe besitzt. Ich kann das nicht.«
»Unsinn. Die Gabe hat damit nichts zu tun. Es ist einfach nur Konzentration. Hier, ich sage dir, was du tun mußt. Leg einen Pfeil auf.«
Er hatte sich wieder hinter sie gestellt, strich ihr das Haar aus dem Nakken, beugte sich dicht an sie heran, sah ihr über die Schulter und flüsterte etwas in ihr Ohr, als sie die Sehne spannte. Er sagte ihr, was sie empfinden sollte, wie sie atmen und wohin sie blicken und was sie dabei sehen sollte. Er sprach auf eine Weise, daß die Worte zu nichts dahinschmolzen und statt dessen Bilder in ihrem Kopf erzeugten. Nur drei Dinge existierten noch: der Bogen, das Ziel und seine Worte. Sie befand sich in einer Welt der Stille.
Als alles um sie herum verschwand, schien die Zielscheibe in ihrem Blickfeld größer zu werden und den Pfeil anzuziehen. Es waren seine Worte, die ihr dieses Gefühl gaben und sie Dinge tun ließen, die sie nicht verstand. Sie entspannte sich und atmete aus, hielt still, ohne noch einmal Luft zu schöpfen. Sie spürte es, spürte das Ziel. Sie wußte, wann der Zeitpunkt gekommen, wann es soweit war.
Leicht wie ein Atemhauch flog der Pfeil davon — wie von selbst, als hätte er von sich aus beschlossen loszufliegen. In der Stille sah sie, wie die Federn den Bogen streiften, die Sehne auf den Armschutz prallte, sie sah, wie das Ziel den Pfeil anzog, und hörte, wie er im Kreuz einschlug. Dann spürte sie, wie der Atem ihre Lungen wieder füllte.
Es war fast wie das Freisetzen ihrer Konfessorkraft. Es war Magie, Richards Magie. Seine Worte waren magisch. Es war, als hätte man eine neue Einsicht gewonnen.
Sie schien aus einem Traum zurückzukommen. Die Welt kam zurück. Fast wäre Kahlan gegen ihn getaumelt.
Sie drehte sich um und schlang ihm die Arme um den Hals, den Bogen immer noch in einer Hand. »Richard, das war wunderbar. Die Zielscheibe ist auf mich zugekommen!«
»Siehst du? Ich hab’ dir doch gesagt, du kannst es!«
Sie gab ihm einen Kuß auf die Nase. »Das war nicht ich, das warst du. Ich habe nur an deiner Stelle den Bogen gehalten.«
Er lächelte. »Nein. Das warst du. Ich habe deinem Geist nur gezeigt, wie man es macht. Das ist es, was das Lehren ausmacht. Ich habe es dir einfach beigebracht. Mach es noch mal.«
Kahlan hatte ihr ganzes Leben in der Nähe von Zauberern verbracht. Sie wußte, wie Zauberer Dinge taten. Und genau so hatte Richard es auch gemacht. Er redete mit ihr, wie Zauberer mit ihr redeten. Es war die Gabe, die aus ihm sprach, das wußte sie, auch wenn er es nicht zugeben wollte.
Je mehr Pfeile sie schoß, desto weniger sagte er. Ohne seine Anleitung war es schwieriger, das Gespür zu bekommen, doch gelegentlich gelang es ihr. Sie wußte, wann sie es allein schaffte, ohne ihn. Es schien so zu sein, wie er sagte: eine gewaltige Konzentration.
Als sie nach und nach lernte, wie man die Welt beim Zielen ausblendete, ging er dazu über, sie abzulenken. Anfangs strich er ihr über den Bauch. Das brachte sie zum Lächeln, bis er ihr sagte, sie solle aufhören, über das nachzudenken, was er tat, und nur noch an das denken, was sie tun mußte. Ein paar Stunden später konnte sie bereits schießen, während er sie kitzelte. Manchmal jedenfalls. Es war ein aufregendes Gefühl zu spüren, wo der Pfeil hingehörte. Sehr oft schaffte sie es nicht, aber wenn es gelang, war es wunderbar. Es machte süchtig.
»Es ist Magie«, meinte sie zu ihm. »Was du tust, ist Magie.«
»Nein, ist es nicht. Jeder kann das. Chandalens Männer machen es beim Schießen genauso. Jeder, der gut wird, tut es. Es ist dein Verstand, der es tut. Ich habe dir nur geholfen, indem ich es dir gezeigt habe. Hättest du lange genug geübt, du hättest es längst von allein gelernt. Nur weil man nicht weiß, wie etwas funktioniert, heißt das noch lange nicht, daß es sich um Magie handelt.«
Sie sah ihn von der Seite an. »Da bin ich nicht so sicher. Schieß du. Ich werde dich dabei kitzeln.«
»Erst nachdem wir etwas gegessen haben. Und du noch etwas geübt hast.«
Sie trampelten eine kreisförmige Fläche Gras flach, wie ein Nest, legten sich auf den Rücken und beobachteten, wie die Vögel am Himmel ihre Runden zogen. Dabei aßen sie Tavabrot, in das Gemüse gewickelt war, Kuru und tranken Wasser aus einem Schlauch. Das Gras ringsum bot ein wenig Schutz, so daß der Wind nicht ganz so eisig wehte. Kahlan legte den Kopf auf seine Schulter, während sie schweigend den Himmel betrachteten. Sie wußte, daß sie beide darüber nachdachten, was sie tun sollten.
»Vielleicht«, meinte Richard schließlich, »kann ich meinen Verstand noch einmal abteilen, um die Kopfschmerzen unter Kontrolle zu halten. Darken Rahl meinte, genau das hätte ich getan.«
»Du hast mit ihm gesprochen? Du hast mit Darken Rahl gesprochen?«
»Ja. Genaugenommen war es hauptsächlich er, der geredet hat. Ich habe größtenteils zugehört. Er hat mir allerhand erzählt. Ich kann unmöglich alles glauben. Er meinte, George Cypher sei nicht mein richtiger Vater. Er meinte, ich hätte meinen Verstand abgeteilt und besäße die Gabe. Er erklärte mir, man hätte mich betrogen. Shota hatte gesagt, du und Zedd, ihr würdet eure Magie gegen mich benutzen — deswegen dachte ich, einer von euch hätte uns verraten. An meinen Bruder habe ich nie gedacht. Angenommen, ich finde heraus, wie ich meinen Verstand noch einmal abteilen kann, vielleicht lassen sich die Kopfschmerzen dann soweit kontrollieren, daß sie mich nicht umbringen. Vielleicht ist es das, was die Schwestern mich lehren wollen. Ich habe es schon einmal gekonnt, wenn ich es also noch einmal schaffen würde, könnte ich mich vielleicht retten, ohne…«
Er legte den Arm über die Augen, wollte den Gedanken nicht laut zu Ende führen. »Kahlan, vielleicht besitze ich die Gabe gar nicht. Es könnte sich doch einfach um das Erste Gesetz der Magie handeln.«
»Wie meinst du das?«
»Zedd hat mir erzählt, daß vieles, was die Menschen glauben, falsch ist. Das Erste Gesetz kann dich dazu bringen, etwas für wahr zu halten, entweder, weil du willst, es sei wahr, oder weil du Angst hast, es könnte wahr sein. Ich habe Angst, die Gabe zu besitzen, und aufgrund dieser Angst akzeptiere ich die Möglichkeit, daß das, was die Schwestern sagen, wahr ist. Könnte doch sein, daß es noch andere Gründe gibt, weshalb die Schwestern mich in dem Glauben lassen möchten, ich besäße die Gabe, obwohl es gar nicht stimmt. Vielleicht besitze ich sie gar nicht.«
»Richard, glaubst du wirklich, du kannst all die anderen Dinge abtun, die geschehen sind? Zedd hat gesagt, du hättest die Gabe, Darken Rahl hat es gesagt, die Schwestern auch. Selbst Scarlet hat es gesagt.«
»Scarlet weiß nicht, wovon sie spricht, den Schwestern traue ich nicht. Und meinst du etwa, ich glaube alles, was Darken Rahl mir sagt?«
»Und was ist mit Zedd? Glaubst du, daß Zedd lügt? Oder nicht weiß, was er sagt? Mir hast du erzählt, er sei der klügste Mann, den du kennst. Außerdem ist er Zauberer der Ersten Ordnung. Glaubst du wirklich, ein Zauberer der Ersten Ordnung erkennt die Gabe nicht, wenn er sie sieht?«
»Vielleicht hat Zedd sich geirrt. Nur weil er klug ist, heißt das nicht, daß er alles weiß.«
Kahlan dachte eine Weile über seinen Unwillen, die Gabe zu akzeptieren, nach. Um seinetwillen hätte sie sich gewünscht, es könnte so sein, wie er es wollte, aber leider kannte sie die Wahrheit.
»Richard, als ich dich im Palast des Volkes mit meiner Kraft berührte und wir alle dachten, sie hätte dich überwältigt — schließlich wußten wir nicht, daß du einen Weg gefunden hattest, dich nicht von der Magie aufzehren zu lassen –, da hast du für Darken Rahl das Buch der Gezählten Schatten zitiert, nicht wahr?« Er nickte. »Ich konnte nicht glauben, daß du das tust. Woher kanntest du es? Wo hast du das Buch auswendig gelernt?«
Richard seufzte. »Als ich klein war, brachte mich mein Vater an den Ort, wo er es versteckt hielt. Er erklärte mir, gierige Hände hätten ein Untier dort hinbeordert, um über das Buch zu wachen, bis der Betreffende es holen könne. Also hätte er es gerettet. Jetzt weiß ich, daß es die Hände Darken Rahls waren, doch damals wußten wir das nicht. Mein Vater meinte, er müsse es mitnehmen, weil es sonst in diese Hände fiele.
Er hatte Angst, diese Person könnte es schließlich doch finden, daher mußte ich es auswendig lernen. Das gesamte Buch. Er meinte, ich müsse jedes Wort kennen, damit ich eines Tages dem Bewahrer des Buches das Wissen zurückgeben könne. Er wußte nicht, daß Zedd der Bewahrer des Buches war. Ich brauchte Jahre, um mir jedes Wort des Buches einzuprägen. Er hat nie einen Blick hineingeworfen und meinte, das stünde nur mir zu. Nachdem ich alles perfekt gelernt hatte, haben wir das Buch verbrannt. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Beim Verbrennen entstanden seltsames Licht und Geräusche und fremdartige Gestalten.«
»Magie«, sagte sie leise.
Er nickte und legte den Arm wieder über seine Augen. »Mein Vater starb bei dem Versuch, das Buch vor Darken Rahl zu retten. Er war ein Held. Durch seine Taten hat er uns alle gerettet.«
Kahlan überlegte, wie sie ihre Gedanken, ihr Wissen in Worte kleiden sollte. »Zedd meinte, das Buch der Gezählten Schatten werde in seiner Burg aufbewahrt. Wie hat dein Vater es bekommen?«
»Das hat er mir nie erzählt.«
»Richard, ich bin in Aydindril geboren und aufgewachsen. Ich habe einen großen Teil meines Lebens in der Burg der Zauberer verbracht. Es ist eine gewaltige Festung. In längst vergangenen Zeiten haben dort Hunderte von Zauberern gelebt. Als ich aufwuchs, waren es nur noch die besagten sechs, und keiner von ihnen war ein Zauberer der Ersten Ordnung. Die Burg der Zauberer ist kein Ort, den man einfach so betreten kann. Ich konnte es, weil ich Konfessor bin und aus den dort aufbewahrten Büchern lernen mußte. Alle Konfessoren hatten Zutritt zur Burg. Man hat die Festung jedoch mit Hilfe von Magie davor geschützt, daß andere sie betreten konnten.«
»Ich weiß nicht, wie mein Vater es gemacht hat. Er war ein kluger Mann. Offenbar hat er eine Möglichkeit gefunden.«
»Wenn sich das Buch in der Burg selbst befand, vielleicht. Ständig gingen Zauberer und Konfessoren dort ein und aus, und gelegentlich wurde auch anderen Zutritt gewährt. Kann sein, daß jemand einen Weg fand, sich hineinzuschleichen. Drinnen jedoch gibt es Bereiche, die durch Magie besser geschützt sind. Bereiche, die nicht einmal ich betreten konnte.
Zedd meinte jedoch, das Buch der Gezählten Schatten sei ein wichtiges Buch der Magie, ein sehr wichtiges. Er meinte, er habe es in seiner Obhut aufbewahrt, der Obhut des Zauberers der Ersten Ordnung. Das ist etwas völlig anderes. Dieser Ort ist von den übrigen getrennt, gehört zwar auch zur Burg, ist aber völlig abgeschlossen. Ich bin über die langen Schutzwälle zur Obhut des Zauberers der Ersten Ordnung gegangen. Schon auf dem Weg dorthin konnte ich die ungeheure Macht der Zauberei verspüren, die diesen Ort bewacht. Ich bekam dort eine Gänsehaut. Ging man nahe genug heran, hob einem die Kraft der Schutzzauber die Haare von den Schultern, die sich daraufhin in alle Richtungen aufstellten und knisternd und knakkend kleine Funken sprühten. Ging man noch näher ran, erfüllten einen die Zauber mit einem so übermächtigen Gefühl der Ehrfurcht, daß man seine Füße zu keinem weiteren Schritt, seine Lungen zu keinem weiteren Atemzug bewegen konnte.
Seit Zedd die Midlands verlassen hat, vor unserer Geburt, hat niemand mehr die Obhut des Zauberers der Ersten Ordnung betreten. Die anderen Zauberer haben es versucht. Es gibt dort eine Platte, die man berühren muß, um hineinzugelangen. Es heißt, das Berühren dieser Platte sei, als berühre man das gefrorene Herz des Hüters selbst. Erkennt dich die Magie nicht als zugangsberechtigt, so ist es unmöglich, dort hineinzukommen. Das Berühren dieser Platte ohne wenigstens den Schutz der eigenen Magie kann den Tod bedeuten.
Seit meiner Jugend, als ich zum erstenmal die Burg besuchte, um dort aus den Büchern zu lernen, haben die Zauberer versucht, dort hineinzugelangen. Sie wollten wissen, was sich dort drinnen befindet. Der Erste Zauberer war verschwunden, und sie waren der Ansicht, sie sollten eine Bestandsaufnahme machen, um wenigstens zu wissen, was sich dort befand. Es ist ihnen nie gelungen. Nicht einer von ihnen konnte auch nur seine Hand auf die Platte legen. Richard, wenn fünf Zauberer der Dritten Ordnung und einer der Zweiten nicht hineingekommen sind, wie hat es dann dein Vater geschafft?«
Er seufzte. »Ich wünschte, ich könnte dir das beantworten, Kahlan, aber ich kann es nicht.«
Sie wollte ihm nicht die Hoffnung nehmen, seinen Ängsten nicht unwiderlegbar Nahrung geben, aber es ging nicht anders. Die Wahrheit war die Wahrheit. Er mußte die Wahrheit über sich erfahren.
»Richard, das Buch der Gezählten Schatten war ein Buch mit Anleitungen für die Zauberei. Es war magisch.«
»Das bezweifele ich ja gar nicht. Ich weiß, was ich gesehen habe, als wir es verbrannt haben.«
Sie strich ihm über den Hinterkopf. »In der Burg befanden sich noch andere Bücher mit Anleitungen zur Zauberei, die weniger wichtig waren. Die Zauberer haben mich einen Blick hineinwerfen lassen. Wenn ich darin las, stieß ich unweigerlich auf eine Stelle, an der etwas Seltsames geschah — manchmal schon nach wenigen Worten, manchmal nach einigen Seiten: ich vergaß, was ich gerade gelesen hatte. Ich konnte mich an kein einziges Wort mehr erinnern. Nicht ein einziges. Dann ging ich zurück und las es noch einmal, und wieder geschah dasselbe.
Die Zauberer lächelten mich an, beobachteten mich, dann lachten sie. Nachdem ich eine Weile versucht hatte, die Bücher zu lesen, ohne zu wissen, was ich gerade gelesen hatte, gab ich es auf und fragte, was es zu bedeuten habe. Sie erklärten mir, die Bücher mit den Anleitungen zur Zauberei seien durch starke Zauber geschützt, die durch bestimmte Wörter im Text ausgelöst würden. Sie meinten, nur wer die Gabe besitzt, könne ein Buch mit Anleitungen zur Zauberei lesen und die Wörter im Kopf behalten. Diese sechs Zauberer waren Zauberer aus Berufung, nicht, weil sie die Gabe besaßen. Selbst sie konnten nicht alle Bücher lesen und verstehen, sondern nur die weniger wichtigen. Und das auch nur, weil sie darin ausgebildet waren.
Zedd verriet uns, daß die Bücher der Gezählten Schatten zu den allerwichtigsten in der Burg gehörten — sie seien so wichtig, daß sie in der Enklave des Ersten Zauberers aufbewahrt würden. Richard, ohne die Gabe hättest du es dir niemals einprägen können. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Irgendwoher muß dein Vater dies gewußt haben, deswegen hat er auch dich dazu bestimmt, es auswendig zu lernen.«
Ihr Kopf ruhte noch immer an seiner Schulter, und sie spürte, wie sein Atem einen Augenblick lang stockte, als er die Bedeutung dessen begriff, was sie ihm gerade verraten hatte. »Richard, erinnerst du dich noch an das Buch?«
Seine Stimme klang leise und wie aus weiter Ferne. »An jedes Wort.«
»Ich habe zwar gehört, wie du es vorgetragen hast, und ich weiß, daß du es vollständig aufgesagt hast, aber ich kann mich an kein einziges deiner Worte erinnern. Die Magie bestimmter Wörter hat es vollkommen aus meiner Erinnerung gelöscht. Ich weiß nicht, wie du es benutzt hast, Darken Rahl zu besiegen.«
»Im ersten Buch stand: teilt man die Worte demjenigen mit, der die Kästchen der Ordnung kontrolliert, ohne daß dieser sie selbst liest, dann kann er ihre Wahrheit nur mit Hilfe eines Konfessors überprüfen. Rahl war überzeugt, du hättest mich mit deiner Kraft vernichtet, daher war er der Ansicht, ich würde mit jedem Wort die Wahrheit sprechen. Das habe ich auch, doch am Ende habe ich einen wichtigen Teil ausgelassen, damit er das falsche Kästchen wählt, das ihn dann getötet hat.«
»Siehst du? Du kannst dich noch immer an die Worte erinnern. Das könntest du nicht, wenn du die Gabe nicht hättest. Die Magie würde es verhindern. Richard, wenn wir aus dieser Sache rauswollen, müssen wir der Wahrheit ins Gesicht sehen und dann überlegen, was zu tun ist. Du besitzt die Gabe, mein Liebster. Du hast magische Kräfte. Tut mir leid, aber das ist nun mal die Wahrheit.«
Er stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Vermutlich habe ich mich so heftig dagegen gewehrt, daß ich es mir selber ausgeredet habe. Aber so einfach liegen die Dinge leider nicht. Ich hoffe nur, du hältst mich nicht für einen Narren. Danke, daß du mich so sehr liebst, daß ich die Wahrheit erkennen konnte.«
»Du bist kein Narr. Du bist mein Liebster. Uns wird schon etwas einfallen.« Sie gab ihm einen Kuß auf den Handrücken, dann betrachteten sie schweigend den Himmel. Er hatte eine dunkle, kaltgraue Farbe — ein Spiegel ihrer Stimmung.
»Ich hätte meinen Vater gern kennengelernt. Er war ein besonderer Mensch. Wahrscheinlich weiß ich nicht mal selbst, wie einzigartig er war. Ich vermisse ihn.« Er lauschte in sich hinein. »Und dein Vater?«
Kahlan wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger. »Mein Vater war der Gatte meiner Mutter, der Gatte eines Konfessors. Er war kein Vater, so wie jemand der Vater seiner Kinder ist. Er war von ihrer Kraft überwältigt worden und bestand ausschließlich aus seiner Hingabe zu ihr. Mich beachtete er nur, um meiner Mutter zu gefallen, nur weil ich ihre Tochter war. Er hat mich niemals als das gesehen, was ich war, sondern immer nur als Teil jenes Konfessors, an den er gebunden war.«
Richard riß einen langen Grashalm aus und zog das Ende nachdenklich zwischen seinen Schneidezähnen hindurch. Schließlich fragte er: »Wer war er, bevor sie ihn mit ihrer Magie überwältigt hat?«
»Sein Name war Wyborn Amnell. König von Galea.«
Richard stützte sich auf einen Ellenbogen und sah sie überrascht an. »Ein König! Dein Vater war ein König?«
Ohne zu merken, was sie tat, nahm sie jenen Gesichtsausdruck äußerlicher Ruhe an, der nichts verriet: das Gesicht eines Konfessors.
»Mein Vater war Gatte eines Konfessors. Das war alles, was in ihm steckte. Während der fürchterlichen, auszehrenden Krankheit meiner Mutter, an der sie schließlich starb, befand er sich in einem ständigen Zustand der Panik. Eines Tages kamen der Zauberer und die Heilerin, die sich um sie kümmerten, zu uns und meinten, sie könnten nichts mehr für sie tun. Die Seelen würden sie bald zu sich rufen und sie werde aus dem Leben scheiden. Mit einem angsterfüllten Klagelaut, wie ich ihn noch nie gehört hatte, schlug sich mein Vater die Arme vor die Brust und fiel tot zu Boden.«
Richard sah ihr in die Augen. »Das tut mir leid, Kahlan.« Er beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Stirn. »Tut mir leid«, sagte er leise noch einmal.
Er lehnte sich wieder zurück und zog den Grashalm durch die Zähne.
»Das war vor langer Zeit.«
»Und zu was macht dich das? Bist du jetzt eine Prinzessin, eine Königin, oder was?«
Sie mußte lachen, als sie die Frage hörte, als sie merkte, wie seltsam ihm das alles vorkommen mußte. Noch immer wußte er nur wenig über ihr Leben, über ihre Welt. »Nein. Ich bin die Mutter Konfessor. Die Tochter eines Konfessors ist ein Konfessor, nicht die Tochter ihres Vaters.« Es war ihr unangenehm, ihren Vater scheinbar herabzuwürdigen. Es war nicht sein Fehler, daß ihre Mutter ihn erwählt und überwältigt hatte. »Möchtest du mehr über ihn wissen?«
Er zuckte mit den Achseln. »Sicher. Du bist auch ein Teil von ihm. Ich möchte gern alles über dich wissen.«
Kurz überlegte sie, wie er wohl reagieren würde. »Nun, er war der Mann von Königin Bernadine, als meine Mutter ihn zum Gatten wählte.«
»Deine Mutter hat einen Mann erwählt, der bereits verheiratet war?«
Sie spürte Richards Blick auf ihrem Körper. »Es ist nicht so, wie es dir scheinen muß. Die Ehe zwischen ihm und der Königin war abgesprochen. Er war Krieger, ein großer Befehlshaber. Mit der Hochzeit wurde sein Reich mit den von Königin Bernadine regierten Ländern vereint, wodurch das Land Galea entstand. Er hat es für sein Volk getan und ein vereintes Land unter einer Krone geschaffen, das den feindseligen Nachbarn die Stirn bieten konnte. Die Königin war eine weise und verantwortungsbewußte Führerin. Sie hat meinen Vater nur für das Wohl Galeas geheiratet. Sie und mein Vater haben sich nie geliebt. Er schenkte ihr und dem Volk von Galea eine hübsche, kräftige Tochter, Cyrilla, und dann einen Sohn, Harold.«
»Dann hast du also einen Halbbruder und eine Halbschwester.«
Sie zuckte mit den Achseln. »In gewisser Weise. Aber nicht so, wie du es dir vorstellst. Ich bin ein Konfessor, ich gehöre nicht zur Erbfolge. Doch habe ich sowohl Cyrilla als auch Harold kennengelernt. Sie sind sehr nett. Cyrilla ist mittlerweile Königin von Galea. Ihre Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben. Prinz Harold ist der Oberbefehlshaber der Armee, genau wie sein Vater. Sie sehen mich nicht als Verwandte, und ich sie auch nicht. Ich bin Konfessor und gehöre zum Reich der Magie.«
»Und deine Mutter? Wann ist sie zu alldem gekommen?«
»Sie war damals gerade Mutter Konfessor geworden. Sie wollte einen starken Gatten, einen, der ihr eine kräftige Tochter schenken konnte. Sie hatte gehört, daß die Königin in ihrer Ehe nicht glücklich war, und ging zu ihr, um mit ihr zu sprechen. Königin Bernadine erklärte meiner Mutter, daß sie ihren Mann nicht liebe, daß er ein Hahnrei sei. Obwohl sie einen anderen liebte, respektierte sie Wyborn als Mann, als Führer und als geschickten Krieger und hätte es meiner Mutter nicht verziehen, wenn sie ihn mit ihrer Kraft überwältigt hätte.
Während meine Mutter noch überlegte, was sie tun sollte, überraschte Wyborn die Königin im Bett eben jenes Liebhabers. Er hätte sie fast umgebracht. Als meine Mutter davon hörte, kehrte sie nach Galea zurück und löste sämtliche Probleme, bevor er seine Gattin und ihren Liebhaber ermordete. Ein Konfessor muß vieles fürchten, doch die Schläge ihres Mannes gehören nicht dazu.«
»Es muß hart sein, einen Gatten wählen zu müssen, den man nicht liebt.«
Sie lächelte und drückte ihren Kopf gegen seinen Körper. »Ich war mein Leben lang überzeugt, niemanden zu finden, den ich liebe. Ich wünschte, meine Mutter hätte die Freude der Liebe auch erleben dürfen.«
»Wie war es, ihn als Vater zu haben?«
Sie faltete die Hände über dem Bauch. »Für mich war er ein Fremder. Er hatte keinerlei Empfindungen außer für meine Mutter, kannte keine echten Gefühle außer der Hingabe an meine Mutter. Sie wollte immer, daß er Zeit mit mir verbrachte, mir beibrachte, was er wußte. Er war überglücklich, ihr den Gefallen zu tun, aber wegen ihr, nicht wegen mir.
Er opferte seine Zeit und brachte mir bei, was er wußte: Er brachte mir die Taktik seiner Feinde bei, wie man einer viel größeren Truppe den Sieg raubt und, was am wichtigsten war, wie man überlebt und triumphiert, indem man seinen Kopf gebraucht, anstatt sich an die Regeln zu halten. Manchmal saß meine Mutter dabei und sah zu, wie er mich unterrichtete. Er hob dann immer den Kopf und fragte, ob er auch alles richtig mache. Sie sagte, das tue er; er unterrichtete mich so, daß ich die Regeln des Kriegshandwerkes lernte, die er kannte, in der Hoffnung, sie nie anwenden zu müssen — und wenn doch, dann nur zum Überleben.
Er brachte mir bei, daß die wichtigste Eigenschaft eines Kriegers die Skrupellosigkeit sei. Er sagte, er hätte oftmals nur dank seiner Skrupellosigkeit gesiegt. Er meinte, das Entsetzen könne die Vernunft besiegen, und es sei die Aufgabe eines Führers, diese Art des Grauens unter den Feinden zu verbreiten. Die Dinge, die er mir beibrachte, halfen mir zu überleben, als andere Konfessoren starben. Deswegen war es mir möglich, zu töten, wenn es nötig war. Er lehrte mich, keine Angst zu haben und das zum Überleben Nötige zu tun. Ich habe ihn geliebt und gehaßt für die Dinge, die er mir beigebracht hat.«
»Also, ich liebe ihn dafür, daß er dir das Überleben beigebracht hat und du jetzt bei mir sein kannst.«
Kahlan schüttelte sacht den Kopf, während sie beobachtete, wie ein kleiner Vogel einen Raben verscheuchte. »Das Fürchterliche waren nicht die Dinge, die er wußte, sondern die Menschen, die einen dazu zwangen, diese Dinge anzuwenden, wenn man überleben wollte. Er hat niemals andere zu Unrecht angegriffen. Ich sollte ihm nicht vorwerfen, daß er wußte, wie man triumphiert, wenn man ihn zum Krieg gezwungen hat. Richard, vielleicht sollten wir uns jetzt auch überlegen, wie wir überleben können.«
»Du hast recht«, meinte er und legte den Arm um sie. »Weißt du, ich habe nachgedacht. Wir sitzen hier genau wie diese Zielscheiben. Wir sitzen hier und warten darauf, daß irgendein Pfeil kommt und uns trifft, warten darauf, was mit uns geschehen wird.«
»Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Aber wenn wir hier sitzen bleiben, werden wir früher oder später getroffen werden. Früher oder später werden die Schwestern zurückkommen. Wieso sollten wir einfach darauf warten, daß sie zu uns kommen? Ich weiß keine Antwort, aber ich sehe auch nicht, wie uns das Herumsitzen helfen kann.«
Sie verschränkte die Arme unter ihren Brüsten und vergrub die Hände, um sie zu wärmen. »Zedd?«
Richard nickte. »Zedd wird wissen, was zu tun ist. Ich glaube, wir müssen uns mit ihm treffen.«
»Und deine Kopfschmerzen? Was, wenn du sie unterwegs bekommst? Was, wenn sie schlimmer werden und Nissel nicht bei dir ist, um dir zu helfen?«
»Keine Ahnung.« Er seufzte. »Aber ich denke, wir müssen es versuchen. Sonst habe ich keine Chance.«
»Dann sollten wir sofort aufbrechen, bevor sie schlimmer werden. Laß uns nicht warten, bis noch etwas geschieht.«
Er drückte ihre Schultern. »Bald. Aber zuerst müssen wir noch etwas anderes tun. Etwas Wichtiges.«
Kahlan drehte ihren Kopf herum und sah ihn an. »Und das wäre?«
Er lächelte sie an. »Wir müssen heiraten«, sagte er leise. »Ich werde erst abreisen, wenn ich das Kleid gesehen habe, von dem ständig die Rede ist.«
Sie drehte sich um und schloß ihn in die Arme. »Es wird wundervoll werden, Richard. Weselan kommt aus dem Lächeln gar nicht mehr heraus, seit sie daran näht. Ich kann es kaum erwarten, bis du mich darin siehst. Es wird dir bestimmt gefallen.«
»Daran, meine Zukünftige, habe ich nicht den geringsten Zweifel.«
»Alle freuen sich schon darauf. Ein Hochzeitsfest bei den Schlammenschen ist ein großes Ereignis. Tanz, Musik, Schausteller. Das ganze Dorf macht mit. Weselan meinte, es wird ungefähr eine Woche dauern, bis alles vorbereitet ist, wenn wir das Startwort geben.«
Er zog sie näher zu sich heran. »Das Wort sei hiermit gegeben.«
Sie schloß die Augen, als sie ihn küßte, trotzdem fühlte sie, daß seine Kopfschmerzen zurückgekehrt waren.
»Komm«, sagte sie, nach Atem ringend, »laß uns ein paar Pfeile schießen, damit deine Kopfschmerzen nachlassen.«
Eine Weile wechselten sie sich ab. Kahlan quiekte vor Vergnügen, als sie ihre Pfeile holen gingen und feststellten, daß sie einen seiner Pfeile gespalten hatte.
»Warte, bis das den Gardetruppen zu Ohren kommt! Sie werden grün vor Neid, wenn sie der Mutter Konfessor ein Ordensband für einen Schaftschuß überreichen müssen. Vielleicht werden sie auch schon grün vor Neid, wenn sie mich mit meinem neuen Bogen sehen!«
Richard zog lachend die Pfeile aus der Zielscheibe. »Auf jeden Fall solltest du weiter üben. Vielleicht glauben sie dir nicht, und du mußt es ihnen beweisen. Außerdem habe ich nicht die Absicht, diesen Pfeil Savidlin gegenüber zu verantworten.« Plötzlich drehte er sich zu ihr um. »Was hast du gesagt? Was hast du vorhin, nein, gestern abend über das Quadron gesagt? Rahl hat sie mit einem Zauber losgeschickt, damit Zedd sie nicht stoppen konnte?«
Der plötzliche Themenwechsel überraschte Kahlan ein wenig. »Ja, seine Magie war gegen sie wirkungslos.«
»Das lag daran, daß Zedd nur über Additive Magie verfügt. Es ist die einzige Magie, über die ein Zauberer mit der Gabe verfügt: nur die Additive. Darken Rahl besaß die Gabe für Additive Magie, hatte aber irgendwo gelernt, die Subtraktive anzuwenden. Gegen die Subtraktive Magie hatte Zedd kein Mittel. Und du genausowenig. Es waren Zauberer, die die Magie des Konfessors geschaffen haben, und Zauberer besitzen nur Additive Magie.« Sie runzelte die Stirn und nickte zum Zeichen, daß er fortfahren sollte. »Und wie hast du sie dann getötet?«
»Ich habe mich in den Con Dar versetzt.« Sie zuckte mit den Achseln. »Er gehört zu der Magie eines Konfessors, aber ich wußte früher nicht, wie man ihn einsetzt. Es ist eine Art Rauschzustand. Der Name bedeutet ›Blutrausch‹.«
»Weißt du, was du da sagst, Kahlan? Du mußt Subtraktive Magie eingesetzt haben, wie hättest du sie sonst besiegen können? Zedds Magie war wirkungslos und deine eigentliche Magie ebenfalls, denn diese Männer waren vor Additiver Magie geschützt. Folglich besitzt du Subtraktive Magie. Wenn es aber Zauberer waren, die vor langer Zeit deine Konfessorenmagie geschaffen haben, wie kann sie dann Subtraktive Elemente enthalten?«
Sie starrte ihn an. »Ich weiß es nicht. Ich habe nie darüber nachgedacht, aber es muß so sein, wie du sagst. Vielleicht kann Zedd es erklären, wenn wir nach Aydindril kommen.«
Nachdenklich zog er einen weiteren Pfeil aus dem gebündelten Gras. »Möglich. Aber wozu sollte ein Konfessor Subtraktive Magie besitzen?« Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. »Ich frage mich, ob es das war, womit du den Blitz erzeugt hast.«
Richard besaß die Gabe und sie Subtraktive Magie. Zwei beängstigende Vorstellungen. Sie fröstelte, aber nicht vor Kälte.
Sie schossen den Rest des Nachmittags Pfeile, bis das Tageslicht schwächer wurde. Ihre Schultern und Arme waren matt vom Spannen des Bogens. Sie erklärte, sie könne selbst dann keinen Pfeil mehr abschießen, wenn ihr Leben davon abhinge, meinte aber, er solle vor ihrer Rückkehr noch ein paar Pfeile schießen, damit seine Kopfschmerzen eine Weile fortblieben. Sie sah ihm zu, als ihr plötzlich einfiel, daß sie gar nicht versucht hatte, ihn beim Schießen abzulenken — dabei hatte er versprochen, daß sie es versuchen durfte.
Kahlan stellte sich dicht hinter ihn. »Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob du wirklich so gut bist, wie du glaubst.«
Sie krabbelte ihn an den Rippen, als er die Sehne spannte. Er zuckte nicht einmal und schoß genauso wie zuvor. Doch als der Pfeil abgeschossen war, wand er sich lachend. Sie versuchte es immer wieder, doch es gelang ihr nie, ihn abzulenken. Dann ging sie entschlossener vor. Wenn Kitzeln nichts brachte, mußte sie sich eben etwas anderes einfallen lassen.
Kahlan schmiegte sich von hinten an ihn, als er sich aufs Zielen konzentrierte, und öffnete elegant die obersten drei Knöpfe seines Hemdes. Dann glitt sie mit der Hand hinein und streichelte ihm die Brust. Seine Haut spannte über seinen festen Muskeln. Er fühlte sich gut an. Warm. Kräftig. Fest.
Sie löste weitere Knöpfe, um ihre Reichweite zu vergrößern. Mit den Fingern einer Hand fuhr sie ihm hinten durch die Haare, während ihre andere Hand über seinen Bauch wanderte. Richard schoß unbeirrt weiter.
Der Gedanke, ihn abzulenken, rückte in den Hintergrund. Sie küßte ihn hinten auf den Hals. Kichernd zog er die Schultern hoch, nachdem der Pfeil verschwunden war. Er legte den nächsten ein. Endlich hatte sie sämtliche Knöpfe gelöst und streichelte seinen gesamten Oberkörper bis hinunter zum Gürtel. Kahlan zog ihm die Hemdzipfel aus der Hose und strich ihm mit beiden Händen über den Körper, eine oben, eine unten. Es hielt ihn nicht davon ab, die Zielscheibe zu treffen. Sie konnte seine Konzentration nicht stören. Ihr Atem ging immer schneller.
Sie beschloß, das Spiel zu gewinnen. Lächelnd preßte sie sich fester an seinen Körper und vergrößerte ihre Reichweite.
»Kahlan!« Ihm stockte der Atem. »Kahlan … das ist nicht fair!« Er hielt den Bogen immer noch gespannt, doch seine Zielsicherheit ließ nach. Er gab sich alle Mühe, sie wiederzufinden.
Zärtlich sog sie ein Ohrläppchen zwischen ihre Lippen und küßte dann sein Ohr. »Du hast gesagt, man muß schießen können, ganz gleich, was passiert«, flüsterte sie, während sie ihre Hand noch tiefer schob.
»Kahlan…« Seine Stimme klang schrill und angestrengt. »Das ist nicht fair … das ist geschummelt!«
»Was auch passiert. Das waren genau deine Worte. Du mußt in der Lage sein, den Schuß auch unter Druck abzugeben.« Sie fuhr ihm mit der Zunge ins Ohr. »Ist der Druck auch groß genug, mein Liebster? Kannst du noch? Kannst du noch schießen?«
»Kahlan…«, keuchte er. »Du schummelst…«
Sie lachte kehlig und drückte zu. Er keuchte und ließ die Sehne los. Am Flug erkannte sie, daß sie den Pfeil nie wiedersehen würden.
»Ich glaube, du hast danebengeschossen«, hauchte sie ihm ins Ohr.
Er drehte sich in ihren Armen um und ließ den Bogen fallen. Mit hochrotem Kopf schloß er sie in seine Arme.
Er küßte sie aufs Ohr. »Nicht fair«, murmelte er mit heißem Atem. »Du schummelst.« Als er ihr Ohr mit den Lippen berührte, blieb ihr die Luft weg.
Sie hielt sich fest, als er ihren Kopf an den Haaren nach hinten zog und ihren Hals mit seinen heißen Lippen berührte. Sie schauderte. Sie versuchte noch, sich durch das Hochziehen ihrer Schulter zu retten, dann stieß sie eine Mischung aus Lachen und Stöhnen aus, als ihr die Welt entgegenfiel und sie sich plötzlich unter ihm auf dem Boden wiederfand. Sie brachte gerade noch das meiste von ›Ich liebe dich‹ hervor, dann küßte er sie, und sie schlang ihm die Arme um den Hals. Luft bekam sie keine. Sie hätte sie auch nicht gewollt.
Sie überlegte gerade, wann seine Hände sich für ihre Untaten rächen würden, da sprang Richard auf die Füße.
Im Nu hatte er sein Schwert gezogen.
Die Leidenschaft in seinen Augen war der Wut gewichen. Der Zorn des Schwertes der Wahrheit blitzte in seinem Gesicht auf. Das Klirren des Stahls wurde vom Wind davongetragen. Er stand da mit offenem Hemd, mit nackter und vor Zorn bebender Brust. Sie stützte sich auf den Ellenbogen.
»Was ist los, Richard?«
»Da kommt etwas in unsere Richtung. Hinter mich, rasch!«
Kahlan sprang auf die Beine, schnappte sich ihren Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne. »Etwas?«
Sie sah, wie sich ein Stück entfernt das Gras bewegte, und es war nicht der Wind, der es neigte.