Kahlan rang nach Atem, doch das Gewicht der Männer preßte ihr die Luft aus den Lungen. Tränen brannten ihr in den Augen. Mehr und mehr Männer warfen sich auf sie. Ein harter Ellenbogen bohrte sich in ihren Leib und schien sie in zwei Teile zu zerquetschen. Betrunkener Atem stieg ihr in die Nase.
Ihr Blickfeld schrumpfte zu einem winzigen Punkt. Um das Zentrum herum wurde alles schwarz, und das Zentrum wurde immer kleiner. Sie schluckte Blut. Ihr eigenes.
Sie hörte etwas, das wie fernes Donnergrollen klang. Anfangs spürte sie nur die Vibrationen unter ihrem Rücken im Boden, doch dann schwoll das Geräusch an, wurde lauter, deutlicher. Die Schreie der Männer erreichten ihre Ohren.
Ein paar der Männer über ihr hoben den Kopf. Das Gewicht auf ihrer Brust ließ ein wenig nach, und sie sog Luft in ihre Lungen. Es war die süßeste Luft, die sie je geatmet hatte.
Als der Riese von einem Kerl direkt über ihr, der, der sie ins Gesicht geschlagen hatte, sich nach dem donnernden Geräusch umdrehte und den wilden Blick von ihr abwandte, erkannte sie, daß sein eines Auge von einer Narbe überdeckt war, die bis über seine Wange reichte. Die leere Augenhöhle war vernäht. Irgendwie gelang es ihr, die linke Hand freizuwinden. Sie packte ihn an der Kehle.
Und hörte ein metallisches Klirren. Der Donner, wurde ihr plötzlich bewußt, das waren Pferdehufe. Brin und Peter brachen auf Daisy und Pip in vollem Galopp aus dem Nebel hervor und rasten durch die Reihen der D’Haraner, mähten sie mit der Kette nieder. Wie ein Bäume umlegender Erdrutsch kamen sie auf sie zugerast. Die Männer konnten den Blick nicht abwenden, waren vor Schreck wie erstarrt. Kahlans Finger schlossen sich um die Kehle des Einäugigen.
Und dann entlud sie ihre Kraft in ihn.
Die Magie fuhr mit voller Wucht in seinen Körper.
Donner ohne Hall brachte seinen Kettenpanzer zum Klirren.
Der überwältigende Schock ließ die Männer zurückschrecken. Sie schrien gequält auf, weil sie so nah waren, als die Magie freigesetzt wurde. Eine ringförmige Schneewehe wurde aufgeworfen und breitete sich kreisförmig aus.
Nick stand über ihr, und auch er zuckte vor Schmerz zusammen. Sein Hinterbein senkte sich trampelnd auf den Kopf eines Mannes dicht neben ihrem rechten Ohr. Der Knochen barst knirschend unter dem Gewicht.
Der Mann über ihr glotzte sie aus seinem einen Auge an. »Herrin!« flüsterte er. »Bitte, befehlt mir.«
»Beschütze mich!« kreischte sie.
Er setzte sich unvermittelt auf, spannte die mächtigen Muskeln. In jeder Hand hielt er einen Mann bei den Haaren. Er schleuderte sie nach hinten, als wären es kleine Kinder.
Ihr Schwertarm war frei. Sie schlug nach einem Kerl auf der anderen Seite. Die Klinge zerschmetterte ihm das Gesicht. Grölend schleuderte der Einäugige Männer auf die Seite. Die Zugpferde kamen in vollem Galopp angerast.
Sie hatte sich aus den Händen befreit. Sie sprang auf die Füße. Die Kette würde sie bald erreicht haben.
»Hilf mir auf mein Pferd!«
Der Einäugige packte ihren Knöchel mit seiner großen Faust und schob sie mit einem Arm hinauf in den Sattel. Aus irgendeinem Grund hielt sie das Schwert noch immer in der Hand. Sie beugte sich nach vorn und schlug damit auf den Soldaten ein, der die Trense und damit seine Beute hielt. Die Schwertspitze schlitzte ihm das Gesicht und den Arm zur Hälfte auf. Er taumelte mit einem schrillen Schrei zurück. Sie schnappte sich die Zügel. Brüllend hackte der Einäugige mit seiner riesigen Streitaxt Köpfe ab und Brustkörbe auf.
»Geht, Herrin! Flieht! Orsk wird Euch beschützen!«
»Bin schon unterwegs! Lauf, Orsk! Laß dich nicht erwischen!«
Die D’Haraner ließen von ihr und ihrem Pferd ab und wandten sich den neuen Bedrohungen zu — Orsk und der Kette. Sie trat Nick die Hacken in die Flanken und trieb ihn zu einem Galopp, gerade als Brin und Peter sie einholten. Sie schob ihre nackten Füße in die Steigbügel, und die drei rasten davon.
Sie fand die Spur, die Hunderte von Füßen im Schnee hinterlassen hatten, folgte ihr durchs Tal in den Nebel hinein. Doch die Armee der Imperialen Ordnung kam bald wieder zur Besinnung. Es dauerte nur Sekunden. Dann stürzten sie ihr hinterher. Mehr als genug hatten überlebt. Tausende.
Peter hakte die Kette aus, die Hunderten die Knochen und das Genick gebrochen haben mußte. Das Ende der Kette tanzte hinter ihnen her. Brin zog es ein und wand es um das Kummet.
Während sie in die Nacht hineingaloppierten, glaubte sie zu hören, wie das Lachen hinter ihr leiser wurde. Die Erinnerung an den Kuß von Darken Rahl ließ sie frösteln. Plötzlich fühlte sie sich wieder sehr nackt.
Sie schwitzte, obwohl der Nebel eiskalt war und ihren Körper mit einem brennenden Kribbeln überzog. Blut rann aus ihrer geschwollenen Lippe.
»Ich hätte nie gedacht, euch zwei wiederzusehen«, schrie sie über das Donnern der Hufe hinweg.
Brin und Peter grinsten in ihren zu großen Jacken in die Dunkelheit. »Wir haben Euch doch gesagt, daß wir es schaffen können«, meinte Brin.
Zum ersten Mal in jener Nacht lächelte sie. »Ihr zwei seid mir ein Rätsel.«
Sie konnte so gerade die Hinterteile der anderen Zugpferde erkennen, die im Nebel verschwanden. Sie zeigte nach vorn. »Dort sind eure Leute. Viel Glück.« Ein Wink, und sie schwenkten von ihr fort.
Sie galoppierte allein weiter und holte ein kurzes Stück später die Fußsoldaten ein. Zuerst sah sie nur einen. Er hatte eine gräßlich, klaffende Wunde an seinem Bein und war weit zurückgefallen. Ihr war klar, sie mußte ihn zurücklassen. Die D’Haraner waren ihr dicht auf den Fersen.
Als sie auf ihn zuritt, drehte er den Kopf nach oben, während er sich weiter durch den Schnee schleppte. Er wußte selbst, daß sie ihn zurücklassen mußte. So lautete der Befehl. Ihr Befehl. Man blieb auf den Beinen, oder man wurde zurückgelassen. Ohne Ausnahme.
Im Vorbeireiten beugte sie sich vor und streckte einen Arm aus. Sie faßten sich an den Handgelenken, und sie zog ihn hinter sich hinauf.
»Halt dich fest, Soldat.«
Er breitete die Arme aus, versucht das Gleichgewicht zu halten, während das Pferd rannte, hatte Angst, sie zu berühren. »Aber wo?«
»An meiner Hüfte! Leg deine Arme um meine Hüfte!«
Er hatte die Arme noch immer ausgebreitet und hüpfte auf und ab. »Aber…«
»Hast du noch nie die Arme um eine Frau gelegt?«
»Doch … aber sie war angezogen«, greinte er.
»Mach schon, oder du fällst runter, und noch einmal lese ich dich nicht auf.«
Widerstrebend, vorsichtig, legte er ihr die Arme um die Schultern und versuchte steif, die delikatesten Stellen ihres Körpers nicht zu berühren. Kahlan tätschelte ihm beruhigend den Handrücken. »Wenn du später einmal damit angibst, mach nicht mehr daraus, als es war.« Er ächzte leise und bekümmert, und sie mußte unvermittelt grinsen.
Während sie weiterritten, spürte sie, wie sein warmes Blut hinten an ihrem Bein herunterlief und von ihren Zehen in den Steigbügel tropfte. Hinter sich hörte sie die Schreie der Verfolger.
Er verlor eine Menge Blut. Aus Erschöpfung legte er ihr den Kopf von hinten an die Schulter. Wenn man die Wunde nicht bald verband, würde er sterben. Sie war nackt und hatte nichts, was sie dazu hätte benutzen können, selbst wenn genügend Zeit gewesen wäre.
»Halte die Wunde mit einer Hand zu«, meinte sie. »Klammere sie zusammen, so fest es geht. Und halte dich mit deinem anderen Arm an mir fest. Ich will nicht, daß du runterfällst.«
Er nahm einen Arm von ihrer Hüfte und hielt die klaffende Wunde zu, während sie hinter den Männern am Ende des Zuges herritt. Sie froren und waren erschöpft. Die Soldaten der Imperialen Ordnung waren nicht mehr weit entfernt. Als Kahlan sich umdrehte, kamen sie in Sicht. Ihre riesige Anzahl war schockierend. Sie grölten und brüllten.
»Lauft! Lauft, oder wir werden eingeholt!«
Eine Felswand, aus deren Ritzen und Spalten buschige Bäume wuchsen, ragte vor ihnen auf. Die Männer rannten den schmalen Paß hinauf, als hinge ihr Leben daran. Und genauso war es.
Während sie den Anstieg durch die schmale Klamm begannen, schlug Kahlan mit der flachen Seite ihres Schwertes dreimal auf den Fels und gab damit das Zeichen.
Ein Mann vor ihr drehte sich im Laufen um. »Wir sind noch gar nicht da! Das war zu früh! Es wird uns zusammen mit dem Feind erwischen!«
»Dann solltet ihr schneller rennen! Wenn wir zu lange warten, kommen sie womöglich auch noch durch!«
Sie klopfte drei weitere Male auf den Fels. Das Klirren wurde durch die dunkle, feuchte Luft davongetragen. Hoffentlich funktionierte es. Sie hatten natürlich keine Möglichkeit gehabt, es auszuprobieren. Die Soldaten vor ihr stolperten den Pfad hinauf. Nicks Hufe glitten mehrmals auf den schneebedeckten Steinen aus.
Anfangs spürte sie es bloß, ein Grollen tief in ihrer Brust, zu tief, um es zu hören. Sie blickte am feuchten, glatten Fels empor, der oben in Dunkelheit und Nebel verschwand. Noch konnte sie nichts erkennen, doch zu spüren war es schon.
Hoffentlich irrte sich der Mann, und es war nicht zu früh. Als sie die Schlachtrufe der von hinten kommenden Männer vernahm, wußte sie, daß sie keine andere Wahl hatten.
Und dann hörte sie es: ein donnerndes Grollen, als bewegte sich die Erde selbst. Sie hörte, wie Baumstämme brachen. Das Donnergrollen hallte von den umliegenden Berghängen wider. Der Boden zitterte.
»Lauft! Könnt ihr nicht schneller rennen? Wollt ihr bei lebendigem Leib begraben werden? Lauft!«
Sie wußte, sie liefen so schnell wie sie konnten, doch sie waren zu Fuß, und von ihrem Pferd aus wirkte es quälend langsam. Tödlich langsam.
Das Donnergrollen wurde immer lauter, als unzählige Tonnen Schnee krachend auf sie herabgestürzt kamen. Erleichtert stellte sie fest, daß es den Männern oben gelungen war, die Lawine auf Kommando auszulösen. Gleichzeitig hatte sie Angst, sie könnte das Kommando vielleicht zu früh gegeben haben.
Ein Klumpen nassen Schnees klatschte ihr ins Gesicht, ein weiterer traf ihre Schulter. Eine Wolke Schneeflocken bedeckte sie. Das Donnern war ohrenbetäubend.
Eine Flut aus donnerndem Weiß schwappte über die Klippe über ihnen. Sie kämpften sich durch den entgegenkommenden Strom, es war, als liefe man durch einen Wasserfall. Hinter ihr schlug ein Baumstamm auf den Pfad und wurde kreisend in den jähen Abgrund geschleudert. Sie waren der Hauptmasse der Lawine um Haaresbreite entgangen.
Die Männer der Imperialen Ordnung hinter ihnen hatten nicht so viel Glück. Der herabstürzende Schnee, durchsetzt mit Baumstämmen und Felsbrocken, stürzte mit stetig zunehmender Wucht kaskadenartig in die Tiefe. Die D’Haraner wurden vom völligen Chaos des weißen Todes fortgerissen. Der tosende Lärm dämpfte die Schreie der Männer, die fortgetragen und von dem alles zermalmenden Schneerutsch mitgerissen wurden, der sie bei lebendigem Leib begrub.
Kahlan sank erleichtert in sich zusammen. Jetzt war jede Verfolgung unmöglich. Der Paß war verschüttet.
Die nach Atem ringenden Männer wurden langsamer, doch allzu langsam durften sie nicht werden, sonst würden sie erfrieren. Die Bewegung hielt sie warm. Ihre Füße, das wußte sie, waren trotz der weißen Lappen, in die man sie gehüllt hatte, um ihnen ein wenig Schutz zu geben, alles andere als warm. Die Männer hatten ihr Bestes für sie gegeben. Sie hatten ihr Bestes für die Midlands gegeben. Viele hatten dabei ihr Leben gelassen.
Wegen des fehlenden Schlafs, der Müdigkeit nach der Schlacht, der emotionalen Auszehrung nach all der Angst sowie der Anstrengung, die der Einsatz ihrer Konfessorenkraft bedeutete, war Kahlan so erschöpft, daß sie sich kaum noch aufrecht halten konnte. Bald, redete sie sich ein, konnte sie sich ausruhen. Bald.
Sie tätschelte die Hand auf ihrem Bauch. »Wir haben es geschafft, Soldat. Wir sind in Sicherheit.«
»Ja, Mutter Konfessor«, flüsterte der völlig erschöpft. »Mutter Konfessor, es tut mir leid.«
»Weshalb?«
»Ich habe nur siebzehn getötet. Es tut mir leid. Ich hatte mir vorgenommen, zwanzig zu erledigen. Ich habe nur siebzehn geschafft«, murmelte er.
»Ich kenne Helden der Schlacht, hochdekorierte Männer, die nicht die Hälfte dieser Zahl im Kampf bezwungen haben. Ich bin stolz auf dich. Die Midlands sind stolz auf dich. Und du solltest genauso stolz auf dich sein, Soldat.«
Er murmelte etwas, das sie nicht verstand.
Sie tätschelte noch einmal seine Hand. »Man wird dir gleich helfen. Halte dich fest. Du wirst wieder gesund werden.«
Er antwortete nicht. Sie blickte zurück, den Pfad hinab, und sah nichts als Weiß und hörte nichts als Stille. In der fernen Dunkelheit der Berge heulte ein Wolf.
Kurz darauf erreichten sie das Lager, das auf einem Hochplateau lag. Den Männern vor ihnen hatte man bereits Decken umgelegt, und sie saßen bibbernd ums Feuer herum und wärmten sich die Füße. Einige streiften unter den Decken ihre Kleider über. Andere Männer warfen Decken über die Soldaten, die vor ihr eintrafen, und versorgten die Verwundeten. Manche der Verwundeten stöhnten vor Schmerzen, die sie erst jetzt wahrnahmen, da der Rausch der Schlacht verflogen war. Sie selbst spürte ein heftiges Pochen in ihrer Lippe.
Im flackernden Schein der kleinen Feuer konnte sie ein Stück entfernt Prindin und Tossidin erkennen, die herumliefen und unter den Ankömmlingen nach ihr suchten. Als sie sie auf dem Pferd erblickten, seufzten beide erleichtert auf und sahen sie grinsend an.
Hauptmann Ryan kam herbeigeeilt; er trug eine D’Haranische Uniform und einer Bandage um seine linke Hand. Andere Männer griffen nach den Zügeln, wieder andere streckten die Hände aus, um den Mann hinter ihr aufzufangen, während sie seinen erschlafften Körper an einem Ellbogen hielt und ihn vorsichtig hinunterließ.
Prindin lief herbei, um sie zu begrüßen, ihren Umhang in der Hand, den er für sie aufhielt. Er wartete darauf, daß sie abstieg, um ihn ihr um die Schulter zu legen. Dabei sah er sie grinsend an.
Sie streckte langsam die Hand aus, ohne sich aus dem Sattel zu bewegen. »Ich habe mich genug anstarren lassen. Das reicht mir bis an mein Lebensende. Wirf ihn hinauf!«
Prindin zuckte verlegen mit den Achseln und warf ihr den Umhang zu. Tossidin versetzte seinem Bruder einen Schlag auf den Hinterkopf. Die versammelten Männer verstummten. Alle blickten peinlich berührt zur Seite, während sie sich den Umhang um die Schultern legte und zusammenband.
Sie glitt vom Pferd und mußte feststellen, daß ihre Beine sie kaum mehr trugen. Sie benutzte das Schwert, das sie noch immer in der Hand hielt, als Stock. Einen Augenblick lang hielt sie inne, bis das Schwindelgefühl nachließ. Dann fiel ihr Blick auf den Mann, der im Schnee zu ihren Füßen lag.
»Wieso hilft keiner diesem Mann? Steht nicht rum, helft ihm!« Niemand rührte sich. »Ich sagte, helft ihm!«
Hauptmann Ryan trat zu ihr. Er hielt den Blick zu Boden gesenkt. »Tut mir leid, Mutter Konfessor. Er ist tot.«
Sie ballte ihre Hand zur Faust. »Er ist nicht tot! Ich habe gerade noch mit ihm gesprochen!« Niemand rührte sich. Sie trommelte mit ihre freien Faust auf seine Brust. »Er ist nicht tot! Das ist nicht wahr!«
Alles sah beiseite. Niemand sagte etwas. Endlich warf sie einen raschen Blick auf die Männer, die um die kleinen Feuer herumstanden und die Köpfe hängen ließen. Sie ließ ihre Hand an die Seite fallen.
»Er hat siebzehn von ihnen getötet«, meinte sie zu Hauptmann Ryan. »Er hat siebzehn von ihnen getötet«, sagte sie lauter, an die übrigen gewandt.
Hauptmann Ryan nickte. »Er hat sich tapfer geschlagen. Wir sind alle stolz auf ihn.«
Sie betrachtete die Gesichter, die sich ihr nacheinander wieder zuwandten. »Vergebt mir. Ihr alle, bitte vergebt mir. Ihr habt eure Arbeit gut gemacht.« Ihr Zorn war verraucht. »Ich bin stolz auf euch alle. Für mich und für die ganzen Midlands seid ihr Helden.«
Die Gesichter der Männer hellten sich ein wenig auf. Einige machten sich wieder ans Essen, während andere Blechnäpfe herumreichten und Bohnen aus den auf den Feuern stehenden Kesseln schöpften.
»Wo ist Chandalen?« erkundigte sich Kahlan, als sie ihre Füße in die Stiefel schob, die Tossidin ihr reichte.
»Er hat sich den Bogenschützen angeschlossen. Vermutlich nimmt er gerade D’Haraner mit Pfeilen unter Beschuß.« Hauptmann Ryan beugte sich zu ihr vor, als sich die Brüder entfernten, und senkte die Stimme. »Ich bin froh, daß diese drei auf unserer Seite stehen. Ihr hättet sehen sollen, wie sie die Posten ausgeschaltet haben. Besonders Prindin mit seiner troga, er ist der reinste Tod in Menschengestalt. Es war gespenstisch, wie sie erst hier, dann plötzlich dort waren, und man nie gesehen hat, wie sie sich bewegen. Ich habe nicht das geringste gehört. Sie sind einfach in den Uniformen der Posten aufgetaucht.«
»Ihr hättet sehen sollen, wie sie das im offenen Grasland machen, bei hellichtem Tag.« Kahlan musterte ihn von Kopf bis Fuß. Sie brachte ein dünnes Lächeln zustande. »Ganz kleidsam. Die Uniform steht Euch gut.«
Er zog an seiner Schulter. »Ich weiß nicht, wie sie die ganze Zeit diese schweren Dinger tragen können.« Er betastete den klaffenden Schlitz im Leder. »Aber ich war froh, sie zu haben.«
»Wie ist es gelaufen? Wie viele Männer habt Ihr verloren?«
»Wir haben fast alle Ziele erreicht, die wir uns gesetzt hatten. In diesen Uniformen brauchten wir kaum zu kämpfen. Nur wenige haben uns bemerkt, abgesehen von denen, die wir getötet haben. Verloren haben wir nur ein paar Mann.« Er warf einen Blick über die Schulter. »Sieht aus, als hättet Ihr das meiste abgekriegt. Als Ihr kamt, habe ich eine grobe Zählung vorgenommen. Wir haben nahezu vierhundert der eintausend Schwertkämpfer verloren, die angegriffen haben.«
Sie starrte an ihm vorbei auf die Männer an den Feuern. »Wir hätten sie um ein Haar alle verloren.« Sie richtete ihr Augenmerk wieder auf den Hauptmann. »Aber sie haben sich selbst alle Ehre gemacht. Auch die Kettengespanne.«
Er umfaßte seine bandagierte Hand. »Von jenen, mit denen ich gesprochen habe, hat kaum jemand weniger als zehn Mann erledigt, und viele erheblich mehr. Wir haben der Imperialen Ordnung ein ziemliches Loch ins Fell gerissen.«
Kahlan schluckte. »Sie aber auch uns.«
»Haben die Männer meine Anordnungen befolgt?« fragte er. »Haben sie Euch alle Schwierigkeiten vom Leib gehalten?«
»Sie haben die Feinde so gründlich von mir ferngehalten, daß ich Euch nicht mal sagen könnte, wie die D’Haraner ausgesehen haben. Ich fürchte, ich habe Eurem Schwert nicht allzuviel Ehre hinzufügen können, wenn es auch ein Trost war, es bei sich zu haben. Hoffentlich ist es Euch wenigstens eine Ehre, daß ich es in der Schlacht getragen habe.«
Er runzelte die Stirn und lehnte sich zur Seite, um ihr Gesicht im Feuerschein besser betrachten zu können. »Eure Lippe scheint aufgeplatzt zu sein.« Er warf einen kurzen Blick auf ihr Schlachtroß, dem die Männer gerade das Zaumzeug abnahmen. »Das Pferd ist über und über mit Blut verschmiert. Ihr seid auch vollkommen mit Blut verschmiert, oder täusche ich mich?« Es war ein Vorwurf, keine Frage.
Kahlan starrte ins Feuer. »Irgendein Betrunkener hat mit etwas nach mir geworfen. Das hat mir die Lippe aufgeschlagen. Dieser verwundete Soldat, den ich hergetragen habe, ist auf meinem Pferd verblutet.« Ihr Blick wanderte zwischen den jungen Gesichtern an den Feuern hin und her. »Ich wünschte, ich hätte mich nur halb so gut geschlagen wie sie. Sie waren großartig.«
Er brummte mißtrauisch. »Ich bin nur sehr erleichtert, Euch unversehrt wiederzusehen.«
»Ist alles andere in Ordnung? Die Bogenschützen, die Kavallerie? Wir müssen die Gelegenheit ausnutzen, solange sie betrunken sind und ihnen vom Gift übel ist. Wir müssen auch die Wetterlage ausnutzen, so gut es geht. Wir dürfen keinen Augenblick nachlassen. Ein blitzartiger Überfall nach dem anderen. Kein Kampf. Überfallartige Angriffe, immer von einer anderen Stelle aus.«
»Jeder weiß, was er zu tun hat und brennt darauf, an die Reihe zu kommen. Die Bogenschützen müßten bald fertig sein, dann die Kavallerie, anschließend die Männer mit den Hellebarden. Unsere Leute werden abwechselnd schlafen, die Imperiale Ordnung dagegen wird von jetzt an überhaupt nicht mehr zum Schlafen kommen.«
»Gut. Diese Soldaten müssen sich erholen. Am Morgen sind sie wieder an der Reihe.« Sie hob einen Finger. »Und Vergeßt nicht das Wichtigste.« Sie zitierte ihren Vater: »›Terror und Entsetzen sind die Waffen, die am schnellsten die Vernunft besiegen.‹ Vergeßt das nicht. Es waren auch ihre einzigsten Waffen, und die müssen wir jetzt gegen sie richten.«
Prindin kam zurück und trat in den Schein des Feuers. »Mutter Konfessor. Mein Bruder und ich haben dir einen Verschlag gebaut, damit du dich waschen kannst, wenn du willst.«
Sie versuchte nicht zu zeigen, wie sehr sie sich danach sehnte, den Geruch des Krieges abzuwaschen. »Danke, Prindin.«
Er streckte den Arm aus und wies ihr den Weg zu einer kleinen Lichtung. Die Brüder hatten ihr einen geräumigen Unterschlupf aus mit Schnee bedeckten Balsamtannenzweigen errichtet. Sie krabbelte durch die niedrige Öffnung und fand drinnen Kerzen vor. Der Schneeboden war ebenfalls mit einer Schicht aus Zweigen belegt, wodurch es in der kleinen Hütte angenehm roch. Ein dampfender Eimer mit Wasser mußte unlängst neben heißen, in der Mitte plazierten Steinen abgestellt worden sein. Sie wärmte sich die Finger über den Steinen.
Die Brüder hatten ihr ein warmes und gemütliches Heim für die Nacht errichtet. Sie hätte weinen können über so viel Aufmerksamkeit.
Ihr Bündel war da, und ihre Kleider lagen säuberlich gefaltet auf einem Stapel. Kahlan nahm ihre Halskette ab, die, die Adie ihr geschenkt hatte, mit dem runden Knochen. Das war alles, was sie während der Schlacht getragen hatte. Sie drückte sie einen Augenblick lang an ihre Wange, bevor sie sie abwusch. Die Kette erinnerte sie an jene, die sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte.
Dann tauchte sie den Kopf ins Wasser ein, wusch sich die Haare und anschließend methodisch den übrigen Körper. Es war ein wundervolles Gefühl, das Blut herunterzuwaschen, wenngleich sie sich zwingen mußte, an etwas anderes zu denken, um sich nicht zu übergeben. Sie dachte an Richard, an sein jungenhaftes Lächeln, das sie stets zum Lächeln brachte, dachte an seine grauen Augen, die so tief in ihre Seele blicken konnten. Als sie mit Waschen fertig war, legte sie sich hin und ließ ihr Haar auf den Steinen trocknen.
Sie brauchte dringend Schlaf. Sie hatte ihre Konfessorenkraft noch immer nicht zurückgewonnen, seit sie sie bei dem Einäugigen — Orsk — eingesetzt hatte. Sie konnte die Leere in ihrer Magengrube spüren, den Hohlraum, wo ihre Kraft saß. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie wiederhergestellt wäre. Erst nach etwas Schlaf würde sie die übelkeiterregende, schwindlig machende Erschöpfung überwunden haben.
Ihr war danach, sich in ihre Decke zu wickeln und einzuschlafen. Sie war so müde. Doch schlafen war ausgeschlossen. Vorerst.
Sie streifte die Halskette wieder über den Kopf und zog mühsam ihre Kleider an. Aus ihrem Bündel zog sie eine Salbe, die sie auf ihre aufgeplatzte Lippe strich. Während sie sie zurücklegte, fiel ihr das Knochenmesser in die Hände, das Chandalen ihr geschenkt hatte, und sie band es sich wieder um den Arm.
Sie war so erschöpft, daß sie sich kaum zwingen konnte aufzustehen, aber sie hatte noch etwas zu erledigen, bevor sie sich Ruhe gönnen dürfte. Sie mußte sich bei ihren Soldaten zeigen. Die sollten nicht denken, daß ihr deren Wohlergehen nicht mehr am Herzen lag als alles andere. Die jungen Männer hatten ihr Leben riskiert, und das mindeste, was sie tun konnte, war, ihnen im Namen der Midlands ihre Anerkennung auszusprechen.
Sauber, das lange Haar wieder voll und glänzend und endlich mit mehreren Schichten warmer Kleidung und ihrem Umhang bekleidet, bahnte sie sich ihren Weg zwischen den Lagerfeuern hindurch. Ernst und aufmerksam lauschte sie den geschwätzigen Geschichten der einen und den ruhigen, knappen Worten von anderen. Sie antwortete auf Fragen, lächelte beruhigend und zeigte allen, wie stolz sie auf ihre Leistung war. Sie kniete neben den Verwundeten, überprüfte, ob ihnen warm genug war, legte ihnen die Hand tröstend auf die Wange und wünschte ihnen gute Gesundheit und baldige Genesung.
An einem Feuer, um das zehn schweigende Soldaten hockten, saß ein junger Kerl und zitterte — vermutlich nicht der Kälte wegen.
»Wie geht es dir? Alles in Ordnung? Ist dir auch warm?«
Ihr Erscheinen überraschte ihn und munterte ihn auf. »Ja, Mutter Konfessor.« Ein Schüttelfrostanfall ließ ihm die Zähne klappern. »So hatte ich mir das nicht vorgestellt.« Er faßte sich und zeigte auf die anderen. »Das sind meine Freunde. Sechs sind nicht zurückgekommen.«
Sie hielt ihren Umhang mit einer Hand zu und strich ihm mit der anderen das Haar aus der Stirn. »Das tut mir leid. Auch ich trauere um sie. Ich möchte nur, daß ihr Männer wißt, wie stolz ich auf euch bin. Ihr seid die tapfersten Soldaten, die ich je gesehen habe.«
Er lachte nervös auf. »Ohne Euch wären wir alle tot. Wir wurden zurückgetrieben, in Stücke gehackt, und dann seid Ihr mitten unter die Feinde geritten, ganz allein. Sie haben sich alle auf Euch konzentriert, und dann, als sie verwirrt waren, haben wir einen Gegenangriff gestartet. Ihr habt uns gerettet.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte heute nacht ebenso viele getötet wie ich Euch habe töten sehen.«
Die anderen nickten ernst, zum Zeichen, daß sie derselben Ansicht waren. Er strich sich mit zitternden Fingern übers Gesicht. »Ich danke Euch, Mutter Konfessor. Ohne Euer Zutun wären wir jetzt alle tot.« Er sah sie nervös lächelnd an. »Wenn ich die Wahl hätte, ich würde lieber mit Euch als mit Prinz Harold in den Kampf ziehen.«
»Sie kann ziemlich gut mit einem Schwert umgehen, was meint ihr?«
Sie blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Der Soldat drehte sich um und sah Hauptmann Ryan hinter sich stehen.
»Ich denke, sie könnte uns Schwertkämpfern noch das eine oder andere beibringen. Ihr würdet nicht glauben, was sie…«
Kahlan legte ihm die Hand auf die Schulter. »Hast du schon gegessen?«
Er zeigte auf den Topf Bohnen über dem Feuer. »Würdet Ihr ein wenig mit uns teilen, Mutter Konfessor?«
Fast hätte sie die Kontrolle über ihren empfindlichen Magen verloren. »Eßt ihr nur. Ihr braucht die Kraft. Danke für das Angebot, aber ich muß mich zuerst um die anderen kümmern.« Als sie ging, folgte Hauptmann Ryan ihr. »Ich hatte gedacht, daß Ihr vielleicht ein paar Schwierigkeiten im Umgang mit dem Schwert hättet. Die Männer, die Euer Pferd abgesattelt haben, haben mir erzählt, sie hätten abgetrennte Hände und Finger gefunden, die sich am Bauchgurt und an ein paar anderen Stellen verfangen hatten.«
Kahlan lächelte den Männern im Vorübergehen zu. Sie winkten kurz oder verneigten zum Gruß den Kopf. »Habt Ihr vergessen, wer mein Vater war? Er hat mir den Umgang mit dem Schwert beigebracht.«
»Mutter Konfessor, das bedeutet doch nicht…«
»Leutnant Sloan ist tot.«
Er wurde einen Augenblick lang still. »Ich weiß. Man hat es mir gesagt.« Er stützte sie mit einer Hand unter ihrem Arm, als sie ins Straucheln kam. »Ihr macht keinen sehr guten Eindruck. Selbst einige der Männer, die vergiftet wurden, sahen besser aus als Ihr jetzt.«
»Das liegt nur daran, daß ich so lange nicht geschlafen habe.« Sie verschwieg ihm, daß sie außerdem wieder von ihrer Kraft Gebrauch gemacht hatte. »Ich bin todmüde.«
Draußen vor der winzigen Hütte aus Tannenzweigen bot Tossidin ihr einen Napf Bohnen an. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, wich zurück und schloß die Augen. Beim Anblick und Geruch des Essens war ihr, als würde sie das Bewußtsein verlieren. Tossidin schien zu begreifen und nahm den Eintopf fort.
Prindin legte ihr die Hand unter den anderen Arm. »Mutter Konfessor, du mußt essen, aber noch mehr mußt du dich ausruhen.« Sie nickte. »Ich habe dir etwas Tee gebraut, ich dachte, er würde dich beruhigen.« Er deutete mit dem Kinn auf den Unterschlupf. »Er steht drinnen.«
»Ja, vielleicht hilft Tee, meinen Magen zu beruhigen.« Sie drückte kurz den Arm des Hauptmanns. »Weckt mich am Morgen, wenn es Zeit für den nächsten Angriff ist. Ich werde mit den Männern gehen.«
»Wenn Ihr ausgeruht genug seid. Nur wenn…« Sie schnitt ihm mit einem Blick das Wort ab. »Gut, Mutter Konfessor. Ich werde Euch persönlich wecken.«
Im Innern des behaglichen Unterschlupfes nippte sie an dem Tee und schüttelte sich. Ihr drehte sich der Kopf. Sie konnte nur noch ein paar Schlucke nehmen, bevor sie auf ihr Lager fiel. Es würde ihr besser gehen, redete sie sich ein, sobald sie sich ausgeruht hätte. Endlich spürte sie, wie ihre Kraft zum Leben erwachte und mit altvertrauter Energie in ihrer Brust anschwoll.
Sie rollte sich unter ihrem Fellumhang zusammen und dachte an die tausend Dinge, die erledigt sein wollten. Sie sorgte sich um die Männer, die in diesem Augenblick angriffen, und um die, die als nächste losziehen würden. Sie sorgte sich um alle. Sie waren noch so jung.
Sie sorgte sich um das, was sie in Gang gesetzt hatte. Den Krieg.
Aber angefangen hatte sie ihn nicht. Sie hatte sich lediglich geweigert, unschuldige Menschen dem Tod zu überlassen. Sie hatte keine Wahl gehabt. Als Mutter Konfessor trug sie die Verantwortung für die Menschen in den Midlands. Wenn die Imperiale Ordnung nicht aufgehalten wurde, würden ungezählte Tausende durch ihre Hand sterben, und wer überlebte, würde dies als Sklave dieser Ordnung tun.
Sie dachte an die jungen Frauen im Palast in Ebinissia. Ihre Gesichter zogen an ihrem inneren Auge vorüber. Sie war zu matt, als daß sie hätte um sie weinen können. Wenn sie gerächt wären, war zum Weinen noch genug Zeit.
Sie schäumte vor Rachegelüsten. Sie beschloß, die Armee der Imperialen Ordnung bis ins Grab zu jagen. Am Morgen wollte sie noch einmal ihre Soldaten gegen den Feind führen. Sie würde es zu Ende bringen. Sie würde dafür sorgen, daß diese Mädchen und all die anderen gerächt wurden.
Wenn man der Imperialen Ordnung nicht Einhalt gebot, würden nicht nur unschuldige Menschen dahingemetzelt werden, sondern alle Magie würde zugrunde gehen, die gute wie die schlechte, sowie sämtliche Geschöpfe der Magie.
Richard besaß Magie.
Ihre Gedanken schweiften zu Richard. Und dann weinte sie. Sie weinte und hoffte, daß er sie nicht haßte für das, was sie getan hatte. Sie betete, daß er verstand und ihr vergeben konnte. Sie hatte ihr Bestes für ihn gegeben um ihn zu retten, um die Lebenden zu retten. Ihr Tränenfluß verebbte und endete schließlich mit einem Schluchzer.
Der Gedanke an Richard fegte die verworrenen Bilder aus ihrem Kopf. Zum ersten Mal seit Tagen, so schien es, beschäftigten sich ihre Gedanken mit etwas anderem als Kampf und Tod.
Beschäftigten sich damit, wer sie, wer Richard war. Beschäftigten sich mit wichtigen Dingen, die im Nebel ihres Unterbewußtseins vorübertrieben.
Der Gedanke an Richard brachte ihr andere Dinge, die wichtig waren, wieder zu Bewußtsein. Es gab noch andere Probleme als die Imperiale Ordnung, die der Aufmerksamkeit bedurften. Es schien, als hätte dieser Krieg sie von höheren Notwendigkeiten abgelenkt.
Sie dachte an Darken Rahl. Darken Rahl hatte Richard gezeichnet. Die Schwestern des Lichts hatten ihn gefangengenommen. Sie war auf dem Weg nach Aydindril, um Richard zu helfen, um Zedd zu bewegen, Richard zu helfen…
Richard mußte den Hüter aufhalten.
In der Dunkelheit, unter ihrem Fellumhang, runzelte Kahlan die Stirn. Der Schleier zur Unterwelt war nach wie vor eingerissen. Hatte sie nichts Besseres zu tun, als in der Gegend herumzulaufen und mit dem Schwert in der Hand auf d’haranische Truppen loszugehen?
Sie mußte an Darken Rahls Gelächter denken.
Sie faßte sich an den Hals und befühlte die geschwollene, aufgeplatzte Haut. Das war keine Einbildung gewesen. Er hatte gelacht, weil sie so töricht war.
Kahlan setzte sich auf. Was tat sie hier? Sie mußte helfen, den Hüter aufzuhalten. Shota hatte, genau wie Darken Rahl und Denna, gesagt, der Schleier sei eingerissen. Kahlan hatte einen Screeling gesehen, ein Wesen aus der Unterwelt. Sie hatte mit Denna gesprochen. Denna hatte Richards Platz beim Hüter eingenommen, damit er lebte und den Riß im Schleier schließen konnte.
Kahlan sollte besser Zedd suchen. Sie sollte nicht herumlaufen und die Kriegerin spielen.
Doch wenn die Imperiale Ordnung nicht aufgehalten wurde…
Aber wenn der Schleier eingerissen war…
Sie mußte nach Aydindril. Sie mußte zu Zedd. Diese Männer konnten ohne sie Krieg führen. Das war schließlich ihre Aufgabe. Sie war die Mutter Konfessor. Sie sollte nicht herumlaufen und töricht ihr Leben aufs Spiel setzen, während die Midlands — die Welt der Lebenden — in Gefahr waren.
Das war es, worüber Darken Rahl sich amüsierte — ihre Torheit.
Sie nahm die Tasse mit dem Tee, den Prindin für sie gekocht hatte, in die Hände und wärmte ihre Finger. Sie war die Führerin der Midlands, und sie mußte auch als Führerin auftreten und sich vor allem um die allerwichtigsten Dinge kümmern, jene Dinge, die sie und nur sie allein erledigen konnte. Sie kippte den Rest des Tees hinunter und verzog das Gesicht, weil er so bitter schmeckte.
Kahlan legte sich wieder hin und hielt die Teetasse auf ihrem Bauch fest. Die Gesichter der toten Frauen zogen noch einmal an ihren Augen vorüber. Entsetzen und Gewalt, das waren die Waffen, die am ehesten die Vernunft besiegten: Genau das war es, was der Feind ihr angetan hatte — das Entsetzen darüber, was sie getan hatten, überwältigte ihre Vernunft.
Am heutigen Tag hätten sie und ihre Männer den Tod gefunden, wenn alle Späher getötet worden wären. Ohne diese Führer wären sie verloren, für den Feind besiegbar gewesen.
Genau das war auch sie: eine Führerin. Sie war die Führerin der Midlands. Sie gehörte nach Aydindril, wo sie den Rat führen und mit allen gegen die Bedrohung am selben Strang ziehen mußte. Ohne diese Führung wären sie unwissend und verlören sich im Nebel der Geschehnisse.
Sie war auch Richards Führerin, was die Hilfe, die er brauchte, anbelangte. Es war an ihr, für Zedds Hilfe zu sorgen. Ohne diese Führung wäre Richard und mit ihm alle Lebenden verloren.
Sie setzte sich auf und starrte in die Flamme der Kerze.
Kein Wunder, daß Darken Rahl sie ausgelacht hatte. Sie hatte zugelassen, daß der Feind ihre Vernunft besiegte. Fast hätte sie ihre Pflichten vernachlässigt und dem Hüter Zeit gelassen, seine Ziele durchzusetzen.
Jetzt wußte sie, was sie zu tun hatte. Sie hatte genug getan, um diese Männer auf den Weg zu bringen, hatte ihnen ihre Verantwortung deutlich gemacht und wie sie diese in die Tat umsetzen mußten. Jetzt besaß die Galeanische Armee das nötige Wissen, um den Feind zu besiegen. Was sie getan hatte, war richtig, denn jetzt wußten die Soldaten, was sie zu tun hatten — genau wie sie selbst.
Diese Armee wußte, was jetzt zu geschehen hatte. Sie dagegen mußte nach Aydindril.
Nachdem sie sich entschieden hatte, war es, als wäre ihr eine große Last von den Schultern genommen worden, gleichzeitig jedoch war sie ganz von ihrem Ziel erfüllt. Richard, auch wenn er nicht bei ihr war, hatte ihr geholfen, die Wahrheit inmitten all dieses Wirrwarrs zu finden, hatte ihr geholfen, ihre wahre Pflicht zu erkennen.
Sie sah in die Teetasse, doch hatte sie den Tee längst getrunken und die Tasse war leer. Sie fühlte sich benommen. Ihre Augen wollten nicht offenbleiben. Sie war so müde, daß sie nicht länger aufrecht sitzen konnte.
Indem sie sich wieder zurücksinken ließ, fragte sie sich, was Richard jetzt wohl tat, wo er sein mochte. Wahrscheinlich bei den Schwestern, wo er lernte, die Gabe zu beherrschen. Sie betete zu den guten Seelen, daß sie ihm halfen zu erkennen, wie sehr sie ihn liebte.
Ihr Arm war plötzlich zu schwer, um ihn hochzuhalten, und fiel zur Seite. Die Tasse rollte davon.
Ihr Schlaf war so traumlos wie der Tod.