Adie holte tief Luft. »Ich wurde in der Stadt Choora geboren, im Land Nicobarese. Meine Mutter besaß die Gabe der Magie nicht. Sie war eine Aussetzerin, wie man das nennt. Vor mir hatte sie als letzte meine Großmutter Lindel besessen. Meine Mutter war den guten Seelen dankbar, daß sie eine Aussetzerin war, jedoch verbittert darüber, daß ich die Gabe hatte. In Nicobarese verabscheute man jene, die die Gabe besaßen, und mißtraute ihnen. Man glaubte, die Gabe stünde nicht nur mit dem Fluß der Kraft des Schöpfers in Verbindung, sondern auch dem des Hüters. Selbst wer seine Gabe für einen guten Zweck einsetzte, erregte den Verdacht, ein Verderbter zu sein. Du hast von diesen Verderbten gehört, oder?«
Zedd brach ein Stück Brot ab. »Ja. Das sind die, die sich dem Hüter zugewandt haben. Sich ihm verschworen haben. Sie verstecken sich im Licht wie auch im Schatten, sind ihm zu Diensten und arbeiten für seine Ziele. Es kann jeder sein. Einige arbeiten jahrelang im Guten, verstecken sich und warten darauf, berufen zu werden. Aber wenn sie berufen werden, dann tun sie, was der Hüter von ihnen verlangt.
Man kennt sie auch unter anderen Namen, doch sie alle sind Agenten des Hüters. In einigen Büchern werden sie dementsprechend als Agenten bezeichnet. Einige von ihnen sind wichtige Leute, wie Darken Rahl, die für wichtige Aufgaben eingesetzt werden. Andere sind ganz gewöhnliche Menschen, dir für kleine Bösartigkeiten benutzt werden. Die, die wie Rahl die Gabe besitzen, sind für den Hüter am schwersten umzudrehen. Bei denen ohne die Gabe ist es einfacher, aber auch die sind selten.«
Adie riß die Augen auf. »Darken Rahl ist ein Verderbter?«
Zedd zog eine Braue hoch und nickte. »Hat er mir gegenüber selbst zugegeben. Er sagte, er sei ein Agent. Aber das ist dasselbe, welches Wort man auch benutzt, und ich habe eine Menge davon gehört. Sie alle dienen dem Hüter.«
»Das sind schlimme Neuigkeiten.«
Zedd wischte ein wenig Suppe mit dem Kanten auf. »Ich bringe nur sehr wenig gute. Du wolltest gerade von deiner Großmutter Lindel erzählen?«
»In Großmutter Lindels Jugend wurden Magierinnen für alles hingerichtet, was das Schicksal mit sich brachte: Krankheit, Unfälle, Totgeburten. Ungerechterweise hingerichtet, weil man sie für Verderbte hielt. Einige der Begabten wehrten sich gegen diese ungerechten Maßnahmen. Und zwar mit Erfolg. Das vertiefte den Haß noch und führte dazu, daß sich viele aus dem Volk von Nicobarese in ihrer Angst noch bestätigt fühlten.
Schließlich gab es einen Waffenstillstand. Die Führer der Nicobareser erklärten sich einverstanden, die Frauen mit der Gabe in Ruhe zu lassen, wenn sie einen Eid auf ihre Seele schwörten und dadurch bewiesen, daß sie keine Verderbten waren — einen Schwur, der ihnen verbot, von ihrer Kraft Gebrauch zu machen, es sei denn, sie bekamen von einem Vertreter der Regierung die ausdrückliche Erlaubnis. Dieser Schwur vor dem sogenannten Kreis des Königs war ein Schwur an das Volk. Ein Schwur, die Gabe nicht einzusetzen, die Kunde des Hüters nicht zu verbreiten.«
Zedd hatte den Mund voll Suppe und schluckte. »Wieso sollte jemand auf den Gedanken kommen, daß Magierinnen Verderbte sind?«
»Weil es einfacher ist, eine Frau für seinen Kummer verantwortlich zu machen, als die Wahrheit zuzugeben, und weil es befriedigender ist, jemandem aus Fleisch und Blut die Schuld zuzuschieben, als das Unbekannte zu verfluchen. Wer die Gabe hat, benutzt eine Kraft, die den Menschen helfen, sich aber gegen sie richten kann. Und weil das so ist, glaubt man, die Kraft müsse ihnen, wenigstens zum Teil, vom Hüter verliehen worden sein.«
»Abergläubischer Unsinn«, knurrte er.
»Wie du sehr gut weißt, wächst der Aberglaube, hat er erst Wurzeln geschlagen, zu einem kräftigen, wenn auch verkrüppelten Baum heran.«
Er gab ihr widerstrebend recht. »Also hat keine Magierin ihre Kraft benutzt?«
Adie schüttelte den Kopf. »Nein. Es sei denn, zum Wohl der Allgemeinheit, und dann sind sie erst vor den Vertreter des Königs ihrer Stadt getreten und haben um Erlaubnis gebeten. Jede Magierin mußte vor dem Kreis ihrer Stadt oder ihres Bezirks erscheinen und einen Eid auf das Volk schwören und auf ihre Seele, daß sie sich den Wünschen des Volkes beugen wird. Einen feierlichen Eid, ihre Kraft nicht gegen oder für einen anderen einzusetzen, es sei denn, man hätte sie kraft einer Vereinbarung des Kreises darum gebeten.«
Zedd legte seinen Löffel angewidert ab. »Aber sie hatten die Gabe. Wie sollten sie keinen Gebrauch davon machen?«
»Sie haben Gebrauch davon gemacht, aber nur heimlich. Niemals, wenn jemand sie dabei beobachtete, und niemals bei einem anderen.«
Zedd lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schüttelte in stummem Staunen den Kopf über das Erste Gesetz der Magie und darüber, wie dumm die Menschen sein konnten, als Adie fortfuhr.
»Großmutter Lindel war eine strenge alte Frau, die ganz auf sich allein gestellt lebte. Sie wollte nie etwas davon wissen, mich im Gebrauch der Gabe zu unterrichten. Sie sagte mir nur, ich solle die Finger davon lassen. Und meine Mutter konnte mir natürlich nichts beibringen. Also lernte ich für mich selbst, während ich größer wurde und die Gabe mit mir wuchs — dabei war ich mir aber sehr wohl über die Verruchtheit des Gebrauchs der Gabe bewußt. Jeden Tag bekam ich darüber etwas zu hören. Die Gabe auf unerlaubte Weise zu benutzen, erweckte den Anschein, als besudele man sich mit dem Makel des Hüters selbst, und ich glaubte das auch. Ich hatte große Angst, mich dem zu widersetzen, was man mich lehrte. Ich war eine Frucht vom Baume dieses Aberglaubens.
Eines Tages, ich war vielleicht acht oder neun, war ich mit meiner Mutter und meinem Vater am Markttag auf dem Stadtplatz, als auf der anderen Seite des Platzes in einem Haus ein Feuer ausbrach. Ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter, saß, von den Flammen eingeschlossen, im zweiten Stock fest. Sie schrie um Hilfe. Niemand konnte sie erreichen, weil sich das Feuer bereits durch den gesamten ersten Stock gefressen hatte. Ihre entsetzlichen Schreie waren mir unerträglich. Ich fing an zu weinen. Ich wollte helfen. Ich konnte die Schreie nicht ertragen.« Adie faltete die Hände in ihrem Schoß und starrte auf den Tisch. »Ich habe das Feuer ausgehen lassen. Das Mädchen wurde gerettet.«
Zedd betrachtete den ruhigen Ausdruck auf ihrem Gesicht, während sie auf den Tisch starrte. »Ich nehme an, bis auf das Mädchen und seine Eltern war niemand darüber glücklich?«
Adie schüttelte den Kopf. »Jeder wußte, daß ich die Gabe besaß. Sie wußten, daß ich das getan hatte. Meine Mutter stand da und weinte. Mein Vater stand einfach da und schaute zur Seite. Er wollte mich nicht ansehen, einen Agenten der Bosheit des Hüters. Irgend jemand ging und holte Großmutter Lindel. Die Art, wie sie zu ihrem Eid stand, hatte ihr Respekt eingebracht. Als Großmutter Lindel kam, brachte sie mich und das Mädchen vor den Kreis des Königs. Großmutter Lindel peitschte das Mädchen aus, das ich gerettet hatte. Sie weinte lange.«
Zedd war fassungslos. »Sie hat das Mädchen geschlagen! Warum?«
»Weil sie zugelassen hatte, daß der Hüter sie dazu benutzte, die Anwendung der Gabe auszulösen.« Adie seufzte. »Das Mädchen und ich, wir kannten uns. Wir waren so etwas wie Freundinnen. Sie hat nie wieder mit mir gesprochen.«
Adie schlang die Arme um ihren Körper. »Und dann zog Großmutter Lindel mich vor diesen Männern nackt aus und peitschte mich aus, bis ich mit Blut und Striemen überzogen war. Ich schrie lauter als das Mädchen während des Feuers. Dann scheuchte sie mich nackt und blutverschmiert durch den Ort, zu ihrem Haus. Die Erniedrigung war schlimmer als die Schläge.
Als wir bei ihrem Haus ankamen, fragte ich sie, wie sie so grausam sein könne. Sie rümpfte die Nase und sah mich mit ihrem typischen verkniffenen, zornigen Gesicht an und meinte: ›Grausam, Kind? Grausam? Du hast nicht einen Hieb mehr erhalten, als du verdienst. Und nicht einen weniger, als nötig war, um zu verhindern, daß diese Männer dich hinrichten.‹ Dann zwang sie mich, meinen Eid zu leisten. ›Bei meiner Hoffnung auf Errettung schwöre ich, niemals, aus welchem Grund auch immer, von meiner Gabe bei einem anderen Gebrauch zu machen, es sei denn mit Erlaubnis des Königs oder eines seiner Kreise, und sollte ich sie jemals dazu verwenden, einem anderen Schaden zuzufügen, dann verliere ich meine Seele an den Hüter.‹ Und dann scherte sie mir den Kopf kahl. Man ließ mich mit kahlem Kopf herumlaufen, bis ich eine erwachsene Frau war.«
»Kahl? Warum?«
»Weil in den Midlands, wie du weißt, die Länge des Haares einer Frau Auskunft über ihre gesellschaftliche Stellung gibt. Damit wollte man mir und allen anderen zeigen, daß es niemanden gab, der tiefer stand als ich. Ich hatte von meiner Gabe Gebrauch gemacht, in aller Öffentlichkeit, ohne Erlaubnis. Es war eine ständige Erinnerung an das Unrecht, das ich begangen hatte. Von da an lebte ich bei Großmutter Lindel. Meinen Vater und meine Mutter sah ich nur selten. Anfangs vermißte ich sie sehr. Großmutter Lindel brachte mir bei, wie man die Gabe benutzt, damit ich sie genau kennenlernte und genau wußte, was ich nicht tun durfte.
Ich mochte Großmutter Lindel nicht besonders. Sie war eine kalte Frau. Aber ich respektierte sie. In gewisser Weise war sie gerecht. Wenn sie mich bestrafte, und das tat sie oft, dann nur, weil ich gegen ihre Regeln verstoßen hatte. Sie peitschte mich aus, fest, aber nur wegen eines Vergehens, vor dem sie mich gewarnt hatte. Sie unterrichtete mich, wies mich im Gebrauch der Gabe an, aber freundlich war sie nie zu mir. Es war ein hartes Leben, doch lernte ich Disziplin. Am besten lernte ich den Gebrauch der Gabe. Dafür werde ich ihr immer dankbar sein, denn das war mein Leben. Die Gabe berührte etwas Höheres, etwas Edleres, als ich es darstellte.«
»Tut mir leid, Adie.« Er begann, seinen kalten Eintopf zu löffeln, weil er nicht wußte, was er sonst hätte tun sollen. Der Appetit war ihm vergangen.
Adie erhob sich von ihrem Stuhl, ging zur Feuerstelle und starrte eine Weile in die Flammen. Zedd wartete schweigend, bis sie die richtigen Worte fand.
»Nachdem ich das Alter einer erwachsenen Frau erreicht hatte, erlaubte man mir, die Haare wachsen zu lassen.« Sie lächelte zaghaft. »In diesem Alter, als mein Körper aufblühte, hielt man mich für eine attraktive Frau.«
Zedd schob seine Suppenschale fort, ging zu ihr und legte ihr seine Hand auf die Schulter. »Jetzt bist du nicht weniger attraktiv, meine Liebe.«
Sie legte ihre Hand auf seine, ohne den Blick von den Flammen abzuwenden. »Nach einer Weile verliebte ich mich in einen jungen Mann. Sein Name war Pell. Er war ein wenig unsicher, aber ein guter, anständiger Mann und mir gegenüber die Freundlichkeit selbst. Er hätte mir das Meer herbeigeschleppt, Löffel für Löffel, hätte er geglaubt, mir damit eine Freude zu machen. Ich dachte, die Sonne ging nur auf, um mir sein Gesicht zu zeigen, und der Mond schien, damit ich seine Lippen kosten konnte. Jeder Schlag meines Herzens galt ihm. Wir wollten heiraten. Der Kreis des Königs von Choora unter dem Vorsitz eines Mannes namens Mathrin Galliene hatte andere Pläne.«
Sie nahm ihre Hand fort und umfaßte den Knoten ihres Gewandes an ihrem Bauch. »Sie hatten beschlossen, daß ich einen Mann aus dem Nachbarort heiraten sollte, den Sohn des dortigen Bürgermeisters. Für die Menschen aus Choora war ich eine Art Prämie. Eine Magierin, die durch einen Eid mit ihrem Volk verbunden war, galt als Zeichen für die Tugend dieses Volkes. Mich einem wichtigen Mann aus einem größeren Ort zur Frau zu geben war Anlaß zu einiger Aufregung, Freude und Erwartung. Ich würde unsere Städte auf mannigfaltige Weise aneinanderbinden, nicht zuletzt durch umfangreichen Handel.
Ich geriet in Panik. Ich ging zu Großmutter Lindel und bat, ein Wort für mich einzulegen. Ich erzählte ihr von meiner Liebe zu Pell und daß ich nicht zu einer Gegenleistung für Tauschgeschäfte werden wollte. Ich erklärte, die Gabe gehöre mir und dürfe nicht dazu benutzt werden, mich zu versklaven. Eine Magierin dürfe keine Sklavin sein. Großmutter Lindel war Magierin. Ihre Gabe wurde verachtet, aber die Menschen respektierten sie, weil sie sich ihrem Schwur unterwarf — und sie hatten mehr als einen gesunden Respekt vor ihr –, sie hatten Angst. Ich flehte sie um Hilfe an.«
»Sie scheint nicht die Art Mensch zu sein, die dir helfen würde.«
»Ich hätte mich an sonst niemanden wenden können. Sie zwang mich, sie einen Tag lang allein zu lassen, damit sie darüber nachdenken konnte. Es wurde der längste Tag in meinem Leben. Als ich am Abend zu ihr kam, mußte ich vor ihr knien und den Eid sprechen. Sie meinte, ich täte gut daran, ihn ernster zu nehmen als je zuvor, und sie hatte mich ihn oft sprechen lassen. Ich kniete, sprach den Eid und meinte jedes Wort so, wie ich es sagte.
Als ich fertig war, hielt ich den Atem an und wartete. Ich war immer noch auf den Knien. Sie rümpfte die Nase über mich, hatte immer noch ihren typisch säuerlichen Ausdruck im Gesicht. Und dann sagte sie: ›Du hast zwar eine wilde Seele, Kind, aber du hast gearbeitet, um sie zu zügeln. Die Menschen haben deinen Eid verlangt, und du hast ihn geleistet. Ich möchte nicht erleben, daß du ihn brichst. Darüber hinaus bist du niemandem etwas schuldig. Ich werde mich um den Kreis kümmern und um Mathrin Galliene. Und du wirst Pell heiraten.‹ Ich habe in den Saum ihres Kleides geweint.«
Adie verstummte und starrte, verloren in Erinnerungen, ins Feuer. Zedd legte die Stirn in Falten. »Und, hast du deinen Geliebten geheiratet?«
»Ja«, sagte sie mit ihrer schnarrenden Stimme. Zedd sah zu, wie sie die Kelle von ihrem Haken nahm und im Eintopf rührte. Endlich hängte sie sie zurück an ihren Platz. »Drei Monate lang glaubte ich, das Leben sei die allerhöchste Wonne.«
Die Stimme versagte ihr, während sie ins Nichts starrte. Zedd legte ihr den Arm um die Schulter und führte sie behutsam zurück zum Tisch. »Setz dich, Adie. Ich werde dir eine Tasse Tee holen.«
Sie saß immer noch mit auf dem Tisch gefalteten Händen da und starrte ins Nichts, als er mit den dampfenden Tassen zurückkam. Eine stellte er zwischen ihre schmalen Hände, als er sich ihr gegenüber niederließ. Er drängte sie nicht weiterzusprechen, bevor sie soweit war.
Schließlich tat sie es. »Eines Tages machten Pell und ich einen langen Spaziergang übers Land. Ich war schwanger.« Sie nahm die Tasse mit beiden Händen auf und nippte daran. »Wir hatten den Tag damit verbracht, übers Land zu wandern, uns Namen für unser Kind auszudenken, Händchen zu halten … nun, du kennst die kleinen Torheiten, die man in diesem Alter aus Liebe begeht. Auf dem Rückweg mußten wir an der Mühle von Choora vorbei, etwas außerhalb der Stadt. Ich fand es seltsam, daß niemand dort war. Sonst ist immer jemand bei der Mühle.« Adie schloß einen Moment lang die Augen und nippte noch einmal an ihrem Tee. »Wie sich herausstellte, waren doch Leute dort. Der Lebensborn aus dem Schoß der Kirche. Sie warteten bereits auf uns.«
Zedd hatte von ihnen gehört. In den größeren Städten von Nicobarese war der Lebensborn aus dem Schoß der Kirche ein organisierter Männerbund, der Jagd auf Verderbte machte — das Übel ausrottete, wie sie es nannten. In anderen Ländern gab es ähnliche Zusammenschlüsse unter anderen Namen, aber sie unterschieden sich durch nichts. Keiner von ihnen war besonders wählerisch, wenn es um Beweise ging. Eine Leiche genügte ihnen als Beweis, daß sie ihre Arbeit gut verrichtet hatten. Wenn sie behaupteten, die Leiche sei die eines Verderbten, dann war es eben so. In den kleineren Orten bestand der Lebensborn gewöhnlich aus selbsternannten brutalen Schlägern und Verbrechern. Der Lebensborn aus dem Schoß der Kirche war überall gefürchtet. Aus gutem Grund.
»Sie überwältigten uns…« Ihre Stimme brach, aber nur dieses eine Mal. »… und brachten uns in getrennte Räume im Keller der Mühle. Es war dunkel und roch nach feuchten Steinwänden und Getreidestaub. Was man Pell antat, wußte ich nicht. Ich war fast zu verängstigt, um zu atmen.
Mathrin Galliene behauptete, Pell und ich seien Verderbte. Ich könne nicht wie geplant heiraten, weil ich den Wunsch hätte, die Aufmerksamkeit des Hüters auf Choora zu lenken. In jenem Sommer ging eine Krankheit, ein Fieber, durch das Land und trug den Tod in so manches Haus. Mathrin Galliene behauptete, Pell und ich hätten die Krankheit eingeschleppt. Ich bestritt das und sprach als Beweis den Eid.« Adie drehte ihre Tasse zwischen den Fingern und starrte hinein.
Zedd berührte ihre Hand. »Trink, Adie. Das wird dir helfen.« Er hatte eine Prise Wolkenblatt in ihren Tee gegeben, damit es ihr ein wenig leichter fiel, sich zu entspannen.
Sie nahm einen kräftigen Schluck. »Mathrin Galliene behauptete, Pell und ich seien Verderbte und der Friedhof sei voller Beweise dafür. Er meinte, er wolle weiter nichts, als daß Pell und ich die Wahrheit sagten, ein Geständnis ablegten. Die anderen Männer des Lebensborns standen um uns herum wie Hunde um ein Kaninchen und knurrten, bereit, uns zu zerfleischen. Ich hatte fürchterliche Angst um Pell. Als sie mich schlugen, wußte ich, daß sie ihm noch Schlimmeres antaten, damit er mich als Verderbte verleumdete. Für den Lebensborn gab es nichts Schöneres als jemanden, der einen geliebten Menschen als Verderbten verleumdete. Sie hörten einfach nicht hin, als ich es bestritt.« Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Sie wollten einfach nicht hören.«
»Was immer du gesagt hättest«, erklärte Zedd ruhig, »es hätte keinen Unterschied gemacht, Adie. Es war egal. Wenn man im Fangeisen sitzt, hat es wenig Sinn, mit dem Stahl zu diskutieren.«
Sie nickte. »Ich weiß.« Ihr Gesicht war eine Maske der Ruhe, unter der sich etwas zusammenbraute. »Wenn ich von meiner Gabe Gebrauch gemacht hätte, ich hätte es aufhalten können. Aber das hätte allem widersprochen, was man mir beigebracht hatte — was ich glaubte. Ich hätte selbst den Beweis geliefert, daß ihre Beschuldigungen richtig waren. Mir wäre es wie Ketzerei an unserem Schöpfer vorgekommen. Als sie mich schlugen, war ich ebenso hilflos, als hätte ich die Gabe nicht besessen.«
Sie leerte ihre Tasse. »Selbst wenn ich schrie, konnte ich Pells Schreie aus einem Nebenraum hören.«
Zedd ging zum Feuer, holte den Teekessel und füllte erneut ihre Tasse. »Mach dir keine Vorwürfe, Adie.«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, als er sich noch eine Tasse Tee einschenkte. »Ich sollte Pell als Verderbten verleumden. Ich sagte ihnen, das würde ich niemals tun, sie könnten mich töten, aber nie dazu bringen.
Mathrin beugte sich über mich, brachte sein Gesicht ganz nah an meins. Ich sehe sein Lächeln noch immer vor meinem inneren Auge. Er sagte: ›Ich glaube dir, Mädchen. Aber das spielt keine Rolle, denn du bist es gar nicht, die den Verderbten benennen soll. Pell ist es, der den Namen des Verderbten nennen soll. Wir wollen, daß Pell dich als Verderbte bezeichnet. Du bist die Verderbte.‹ Dann hielten mich die Männer fest. Mathrin versuchte, mir etwas in die Kehle zu schütten. Es verbrannte mir den Mund. Er hielt mir die Nase zu. Es hieß, entweder trinken oder ertrinken. Ich wäre gern ertrunken, trotzdem schluckte ich es, ohne es zu wollen. Es brannte in der Kehle, als hätte ich Feuer geschluckt. Ich konnte nicht sprechen. Ich brachte kein Geräusch hervor. Ich konnte nicht einmal schreien. Da war nur ein brennender Schmerz. Der Schmerz war größer als alles, was ich bis dahin erlebt hatte.« Sie trank einen Schluck Tee, als wollte sie den Schmerz in ihrer Kehle lindern.
»Dann schleppten mich die Männer in den Raum mit Pell und fesselten mich vor ihm auf einen Stuhl. Mathrin packte mich an den Haaren, so daß ich mich nicht bewegen konnte. Es brach mir das Herz, zu sehen, was sie mit meinem Pell gemacht hatten. Sein Gesicht war weiß wie Schnee. Sie hatten ihm die meisten seiner Finger abgehackt, immer ein Glied nach dem anderen.« Ihre Finger klammerten sich fester um ihre Tasse, als sie sich starren Blicks erinnerte.
»Mathrin erklärte Pell, ich hätte gestanden, daß er ein Verderbter sei. Pell sah mich mit großen Augen an. Ich versuchte zu schreien, daß das nicht wahr sei, doch es kam kein Laut. Ich versuchte meinen Kopf zu schütteln, doch Mathrin hielt mich so, daß das unmöglich war. Pell erklärte, daß er ihnen nicht glaube. Sie schnitten ihm einen weiteren Finger ab. Sie erklärten, das täten sie nur deshalb, weil ich ihn beschuldigt hätte. Sie täten es nur auf mein Geheiß. Pell hielt den Blick auf mich gerichtet, während er ihnen immer wieder kopfschüttelnd erklärte, er glaube ihnen nicht. Sie erklärten Pell, ich hätte behauptet, ich wolle getötet werden, weil er ein Verderbter sei. Pell erklärte noch immer, er glaube ihnen nicht. Er sagte, daß er mich liebe.
Dann erklärte Mathrin, ich hätte Pell als Verderbten bezeichnet, und wenn das nicht stimme, dann brauchte ich es nur zu bestreiten, und sie würden uns beide freilassen. Er erklärte Pell, ich hätte geschworen, es nicht zu bestreiten, denn er sei ein Verderbter, und ich wolle, daß er dafür stirbt. Pell schrie, ich solle es ihnen erklären. Schrie, ich solle es leugnen. Er schrie meinen Namen, bat mich schreiend, irgend etwas zu sagen.
Ich versuchte es, bekam aber nichts heraus. Meine Kehle brannte wie Feuer. Meine Stimme versagte. Mathrin hielt mich an den Haaren gepackt, so daß ich mich nicht bewegen konnte. Pell starrte mich aus großen Augen an. Während ich stumm dasaß. Dann sprach Pell zu mir. ›Wie kannst du mir das antun, Adie? Wie konntest du mich als Verderbten bezeichnen?‹ Dann fing er an zu weinen.
Mathrin bat ihn, mich als Verderbte zu bezeichnen. Er sagte, wenn er es täte, würden sie ihm eher glauben als mir, denn ich besäße die Gabe. Anschließend wollten sie ihn freilassen. Pell sagte leise: ›Ich werde das nicht von ihr behaupten. Nicht einmal, um mein Leben zu retten. Obwohl sie mich verraten hat.‹ Diese Worte brachen mir das Herz.«
Während sie ins Leere starrte, bemerkte Zedd, wie eine Kerze auf der Arbeitsfläche hinter ihr zu einer Pfütze zusammenschmolz. Er spürte die Kraftwellen, die sie ausstrahlte. Er merkte, wie er den Atem angehalten hatte, entspannte sich und atmete aus.
»Mathrin hat Pell die Kehle durchgeschnitten«, sagte sie schlicht. »Er hat Pells Kopf abgetrennt und ihn mir hingehalten. Ich sollte sehen, zu was es führte, wenn man dem Hüter folgte. Dann meinte er, dies sei das letzte, was ich jemals sehen sollte. Die Männer hielten meinen Kopf nach hinten und rissen mir die Augen auf. Mathrin goß eine brennende Flüssigkeit hinein. Ich war geblendet. In diesem Augenblick geschah etwas in meinem Innern. Mein Pell war tot, er war in dem Glauben gestorben, daß ich ihn verraten hätte, mein Leben stand kurz vor dem Ende. Plötzlich erkannte ich, daß dies alles mein eigener Fehler war, weil ich mich an meinen Eid gehalten hatte. Das Leben meines Geliebten im Tausch gegen einen Eid, einen dummen Aberglauben. Alles war plötzlich egal, alles war für mich verloren.
Ich benutzte die Gabe, ließ meinem Zorn freien Lauf. Ich brach meinen Schwur, die Gabe nicht zu benutzen, um jemandem Schaden zuzufügen. Sehen konnte ich nichts, aber ich konnte hören. Ich hörte, wie ihr Blut an die Steinwände klatschte. Ich schlug wild um mich. Ich zerfetzte alles Lebendige in jenem Raum, ob Mann oder Maus. Ich konnte nichts sehen, also schlug ich auf alles ein, was lebte. Ich wußte nicht, ob jemand entkommen war. In gewisser Weise war ich froh, blind zu sein — vielleicht hätte ich aufgehört, wenn ich hätte sehen können, was ich tat.
Als alles totenstill war, tastete ich mich durch den Raum und zählte die Leichen. Eine fehlte. Ich kroch zum Haus meiner Großmutter Lindel. Ich habe keine Ahnung, wie ich das geschafft habe, vielleicht hat die Gabe mich geführt. Sie war außer sich, als sie mich sah. Sie riß mich hoch und wollte wissen, ob ich meinen Eid gebrochen hatte.«
Zedd beugte sich vor. »Aber du konntest nicht sprechen. Wie hast du ihr geantwortet?«
Adie lächelte kalt. »Ich packte sie mit der Kraft der Gabe bei der Kehle, hob sie hoch und rammte sie krachend gegen die Wand. Dann ging ich zu ihr und nickte. Ich drückte ihr vor Wut die Kehle zu. Sie wehrte sich. Sie wehrte sich mit all ihrer Kraft. Aber ich war stärker, viel stärker. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht gewußt, daß die Gabe sich bei jedem anders äußert. Sie war so hilflos wie eine Handpuppe.
Aber ich konnte ihr nicht weh tun, weil sie diese Frage vor allen anderen gestellt hatte — jedenfalls nicht so weh, wie ich ihr gern getan hätte. Ich ließ sie los und sank zu Boden. Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie kam zu mir und begann, meine Wunden zu versorgen. Sie meinte, durch den Bruch meines Eides hätte ich Unrecht getan, doch was man mir angetan hatte, sei ein noch größeres Unrecht.
Ich hatte nie wieder Angst vor Großmutter Lindel. Nicht, weil sie mir half, sondern weil ich mich durch den Bruch meines Eids über das hinweggesetzt hatte, was man mir beigebracht hatte, und weil ich wußte, daß ich stärker war als sie. Von diesem Tag an hatte sie Angst vor mir. Ich glaube, sie hat mir geholfen, weil sie wollte, daß ich gesund werde, damit ich fortgehen konnte.
Ein paar Tage später kam Großmutter Lindel nach Hause und eröffnete mir, sie sei vor den Kreis des Königs gerufen und befragt worden. Sie sagte, alle Männer bei der Mühle, alle Männer des Lebensborns, seien tot, bis auf Mathrin. Er war entkommen. Sie erklärte vor dem Kreis, sie hätte mich nicht gesehen. Man glaubte ihr oder behauptete dies zumindest, weil man keine Auseinandersetzung mit ihr und vor allem nicht mit einer Magierin wollte, die so viele Männer auf derart schreckliche Weise getötet hatte. Daher durfte sie wieder ihren Geschäften nachgehen.«
Ein Teil der Anspannung schien aus ihren Schultern zu weichen. Sie betrachtete einen Augenblick lang die Teetasse, dann nahm sie noch einen Schluck. Sie hielt Zedd die Tasse zum Auffüllen hin. Er schenkte etwas nach. Nebenbei wünschte er sich, ein wenig mehr Wolkenblatt in seinen eigenen Tee gegeben zu haben. Er glaubte nicht, daß die Geschichte hiermit zu Ende war.
»Mein Kind habe ich verloren«, sagte Adie leise schnarrend.
Zedd hob den Kopf. »Das tut mir leid, Adie.«
Sie sah auf und blickte ihm in die Augen. »Ich weiß.« Nachdem er den Kessel abgesetzt hatte, ergriff sie seine Hand mit beiden Händen. »Ich weiß.« Sie zog ihre Hände zurück. »Meine Kehle ist verheilt.« Sie berührte sich ganz sacht am Hals, dann flocht sie die Finger ineinander. »Aber meine Stimme klingt jetzt, als ob man mit Eisen über Felsen kratzt.«
Er sah sie schmunzelnd an. »Ich mag das Eisen in deiner Stimme. Es paßt zu dir.«
Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. »Meine Augen haben sich allerdings nicht mehr erholt. Ich bin blind. Großmutter Lindel ist vielleicht nicht so stark wie ich, aber sie ist alt und kennt so manchen Trick. Sie hat mir beigebracht, ohne meine Augen zu sehen. Sie hat mir gezeigt, wie man mit der Gabe sieht. Es ist nicht dasselbe wie mit den Augen, doch in mancherlei Hinsicht ist es besser. Auf gewisse Weise sehe ich mehr.
Als ich wieder gesund war, wollte Großmutter Lindel, daß ich fortgehe. Sie wollte niemanden bei sich haben, der den Eid gebrochen hatte, auch wenn wir blutsverwandt waren. Sie hatte Angst, ich könnte ihr Schwierigkeiten machen. Ob durch den Hüter, weil ich meinen Eid gebrochen hatte, oder durch den Lebensborn, das wußte sie nicht, aber sie befürchtete, es würde meinetwegen Ärger geben.«
Zedd lehnte sich zurück und reckte ein wenig seine angespannten Muskeln. »Und — gab es Ärger?«
»O ja«, zischte Adie und hob die Brauen, während sie sich vorbeugte. »Und zwar wie. Mathrin Galliene brachte ihn mit: zwanzig Männer des Lebensborns. Im Dienste der Krone. Kampferprobte Männer, große Kerle mit grimmiger Miene, wilde Typen, schön anzusehen auf ihren Pferden, in Reih und Glied mit ihren Schwertern, Schilden und Bannern, die Lanzen alle im gleichen Winkel ausgerichtet. So hübsch anzusehen in ihren Kettenhemden, ihren blankgeputzten Harnischen, in die man den funkelnden Kranz der Krone getrieben hatte — und alle trugen sie Helme mit roten Federbüschen, die beim Reiten auf und ab wogten. Jedes einzelne Pferd ein Schimmel.
Ich stand auf der Veranda und verfolgte mit den Augen der Gabe, wie sie vor mir Aufstellung nahmen, ganz so, als träten sie vor dem König höchstpersönlich an. Jedes Pferd stellte den Fuß auf die gleiche Weise ab, alle blieben sie auf einen Fingerzeig des Kommandanten in Reih und Glied stehen. Da standen sie vor mir, darauf erpicht, ihre grausige Pflicht zu tun. Mathrin wartete auf seinem Pferd hinter ihnen und sah zu. Der Kommandant rief mir zu: ›Du bist verhaftet als Verderbte, und als solche wirst du hingerichtet werden.‹«
Adie erwachte aus ihrer Erinnerung und hob den Kopf. Ihr Blick traf den von Zedd. »Ich dachte an Pell. Meinen Pell.«
Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich zu einer eisernen Maske. »Sie waren alle tot, bevor ein einziges Schwert die Scheide verließ, bevor eine Lanze angehoben wurde, bevor ein einziger Fuß den Boden berührte. Mit allem, was ich hatte, fegte ich über ihre Reihe hinweg, von links nach rechts, Mann für Mann, einen nach dem anderen, gedankenschnell. Sie stürzten mit dumpfem Schlag vom Pferd. Jeder einzelne von ihnen, bis auf den Kommandanten. Er hockte noch immer mit versteinerter Miene auf seinem Schimmel, während seine Männer in ihren Rüstungen krachend auf beiden Seiten zu Boden gingen.
Als es vorbei und das Scheppern des letzten Schildes verhallt war, sah ich ihm in die Augen. ›Eine Rüstung‹, erklärte ich ihm, ›ist zwecklos gegen eine wahre Verderbte. Oder eine Magierin. Sie taugt nur gegen Unschuldige.‹ Dann trug ich ihm auf, dem König eine Nachricht von mir zu überbringen. Ich sagte: ›Berichte ihm, daß, wenn er mir noch einen einzigen Mann des Lebensborns nachsendet, um mich gefangenzunehmen, dann dies der letzte Befehl sein wird, den er je erteilt hat.‹ Er sah mich einen Augenblick lang ohne die geringste Regung in seinen kalten Augen an, dann ließ er sein Pferd kehrtmachen und lenkte es fort, ohne sich noch einmal umzudrehen.«
Ihr Blick senkte sich auf den Tisch. »Meine Großmutter wandte sich von mir ab. Sie erklärte, ich müsse aus ihrem Haus verschwinden und dürfe nie wieder zurückkommen.«
Bei der Vorstellung einer Magierin mit genügend Kraft, Männer auf diese Weise umzubringen, zuckten Zedds Mundwinkel, ohne daß er es verhindern konnte. Für eine Magierin war es äußerst selten, über eine derart starke Gabe zu verfügen. »Und was wurde aus Mathrin? Hast du ihn nicht getötet?«
Sie schüttelte den Kopf. Ein freudloses Grinsen spielte über ihre Lippen.
»Nein. Ich habe ihn mitgenommen.«
»Du hast ihn mitgenommen?«
»Ich habe ihn an mich gebunden. Sein Leben an meins gebunden. Und zwar so, daß er immer wußte, wo ich war, und jeden Neumond zu mir kommen mußte, egal, wo ich war, egal, was er selber wollte. Er mußte mir folgen oder zumindest so dicht in der Nähe bleiben, daß er mich an jedem Neumond erreichen konnte.«
Zedd legte die Stirn in Falten und studierte den Bodensatz in seiner Teetasse. »In Winston, der Hauptstadt und dem Sitz der Krone Keltons, habe ich einmal einen Mann namens Mathrin gesehen. Er war ein Bettler, und ihm fehlten an einer Hand die Finger, wenn ich mich recht erinnere. Er war blind. Man hatte ihm die Augen…« Plötzlich heftete er den Blick auf ihr Gesicht. »Man hatte ihm die Augen ausgestochen.«
Adie nickte. »Das stimmt, allerdings.« Ihre Miene wurde wieder eisenhart. »Jeden Neumond kam er zu mir, und ich schnitt ihm etwas ab, um mit seinen Schreien die Leere in meinem Innern zu füllen.«
Zedd ließ sich nach hinten sinken, die Hände auf die Tischplatte gepreßt. Eisenhart, allerdings. »Du hast in Kelton also ein neues Zuhause gefunden?«
»Nein. Ich habe kein Zuhause gefunden. Ich bin gereist, habe Frauen mit der Gabe aufgespürt, Frauen, die mir bei meinen Studien helfen konnten. Keine wußte genau, wonach ich suchte, aber jede einzelne wußte zumindest einen kleinen Teil, den die anderen nicht kannten. Mathrin folgte mir und suchte mich jeden Neumond auf, und ich schnitt ihm jedesmal etwas anderes ab. Ich wollte, daß er ewig lebt, ewig leidet. Er war es, der mich so mit seinen Fäusten mißhandelt hatte, damit ich Pells Kind verlor. Er war es, der Pell getötet hatte. Er hatte mich geblendet.«
Ihre weißen Augen färbten sich im Schein der Lampe rot, als sie den Blick wieder in die Ferne richtete. »Er war es, der Pell dazu gebracht hatte, zu glauben, ich hätte ihn verraten. Ich wollte, daß Mathrin Galliene ewig leidet.«
Zedd machte eine vage Handbewegung. »Wie lange hat er … durchgehalten?«
Adie seufzte. »Nicht lange genug und doch zu lang.« Zedd machte ein fragendes Gesicht. »Eines Tages kam mir ein Gedanke: ich hatte meine Gabe nie dazu benutzt, Mathrin daran zu hindern, sich umzubringen. Warum sollte er weiter zu mir kommen? Und sich von mir quälen lassen? Warum sollte er dem nicht einfach ein Ende machen? Als er dann das nächste Mal kam und ich ihm wieder etwas abschnitt, löste ich auch unseren Bund. Ich löschte sein Verlangen, mich beim nächsten Mal wieder aufzusuchen. Doch ich tat es so, daß er es nicht bemerkte und er mich einfach vergessen konnte, wenn er das wollte.«
»Und das war das letzte Mal, daß du ihn gesehen hast?«
Sie sah ihn mit bitterem Kopfschütteln an. »Nein. Ich dachte, es sei das letzte Mal, doch beim nächsten Neumond war er wieder da. Er war zurückgekehrt, obwohl er es nicht mußte. Mir gefror das Blut, als ich über den Grund nachdachte. Ich entschied, es sei an der Zeit, daß er mit seinem Leben für das bezahlte, was er mir und Pell und all den anderen angetan hatte. Doch bevor er mir sein Leben gab, sollte er mir eine Antwort geben.
Auf meinen Reisen hatte ich viel gelernt. Dinge, für die ich nie Verwendung zu haben glaubte. An jenem Abend fand ich eine Verwendung dafür. Ich wollte erfahren, welche Folter Mathrin vor allen anderen fürchtete. Es gibt einen Trick, mit dem man Ängste herausfinden kann, doch bei anderen Geheimnissen erweist er sich als nutzlos. Gegen seinen Willen sprudelten die Worte, die Ängste, aus ihm heraus.
Ich ließ ihn die ganze Nacht und den ganzen darauffolgenden Tag schwitzen, während ich mich auf die Suche nach den Dingen machte, die ich benötigte: die Dinge, die er mehr als alles fürchtete. Als ich schließlich mit ihnen zurückkehrte, war er fast wahnsinnig vor Angst. Seine Ängste waren wohlbegründet. Ich bat ihn, sein Geheimnis preiszugeben. Er lehnte ab.
Ich schüttelte den Sack aus, baute die kleinen Käfige und anderen Dinge vor ihm auf, während er nackt und hilflos auf dem Boden hockte. Ich nahm jedes einzelne in die Hand und beschrieb es, erklärte ihm, was sich in jedem Käfig, Korb oder Glas befand. Wieder bat ich ihn, es mir zu verraten. Er schwitzte, keuchte und zitterte, aber er lehnte ab. Mathrin glaubte, daß ich bluffe und daß ich nicht den Mut besäße. Er irrte sich.
Ich stählte mich und erweckte seine schlimmsten Ängste vor ihm zum Leben.«
Zedd legte die Stirn in Falten. Seine Neugier besiegte seine Angst. »Was hast du getan?«
Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Das ist die eine Sache, die ich dir nicht verraten werde. Es ist ohnehin nicht wichtig. Mathrin weigerte sich, zu sprechen, und litt so sehr, daß ich ein paarmal fast aufgehört hätte. Jedesmal, wenn ich aufhören wollte, dachte ich an das letzte, was meine Augen gesehen hatten, bevor er mich blendete: Pells Kopf, den Mathrin mir mit seiner Hand vors Gesicht hielt.« Adie schluckte, ihre Stimme wurde so leise, daß Zedd sie kaum noch hörte. »Und ich mußte an Pells letzte Worte denken: ›Ich werde das nicht von ihr behaupten, um mein Leben zu retten. Obwohl sie mich verraten hat.‹«
Sie schloß einen Augenblick lang die Augen. Dann öffneten sich die Lider wieder, und Adie erzählte weiter. »Mathrin stand auf der Schwelle des Todes. Ich dachte, er würde mir nicht verraten, warum er noch einmal zu mir gekommen war. Doch kurz bevor er starb, wurde er ganz ruhig, trotz allem, was ich ihm antat. Und dann sagte er, er wolle es mir verraten, weil er bald sterben werde und weil auch dies zu meinem Plan gehört hätte. Ich fragte ihn abermals, warum er zurückgekommen sei. Er beugte sich zu mir vor. ›Weißt du es nicht, Adie?‹ sagte er. ›Weißt du nicht, was ich bin? Ich bin ein Verderbter. Ich habe mich die ganze Zeit direkt unter deiner Nase versteckt. Du hast mich die ganze Zeit in deiner Nähe behalten, und der Hüter wußte ganz genau, wo du steckst. Der Hüter giert vor allem nach denen mit der Gabe.‹ Ich hatte mir so etwas schon gedacht, daß er ein Verderbter sei. Ich sagte ihm, er hätte versagt, es hätte ihm nichts genutzt, da er in Kürze für seine Verbrechen sterben werde. Er lächelte mich an.« Sie beugte sich vor. »Er lächelte! Und sagte: ›Du hast dich getäuscht, Adie. Ich habe nicht versagt. Ich habe getan, was der Hüter wollte. Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Perfekt. All dies ist genau nach Plan verlaufen. Ich habe dich dazu gebracht, genau das zu tun, was er sich wünscht. Ich werde belohnt werden. Ich war es, der das Feuer angezündet hat, als du klein warst. Ich war es, der Pell das alles angetan hat. Nicht, weil ich dachte, er oder du, ihr seid Verderbte. Der Verderbte bin ich, und ich habe das alles getan, damit du deinen Schwur brichst. Um dich dazu zu bringen, den Haß des Hüters in deinem Herzen aufzunehmen.
Dein Bruch des Schwures war nur der erste Schritt, und sieh dir an, was du seitdem getan hast. Sieh dir an, was du jetzt, in diesem Augenblick, gerade tust. Sieh dir an, wie weit du in seine Richtung gegangen bist. Jetzt bist du in seiner Reichweite. Vielleicht hast du ihm keinen Eid geschworen, aber du bist ihm zu Willen. Du bist geworden, was du haßt. Du bist wie ich geworden, eine Verderbte. Der Hüter lächelt über dich, Adie, und er bedankt sich dafür, daß du ihn in deinem Herzen aufgenommen hast.‹ Mathrin sank zusammen und kippte tot nach hinten.«
Adie war in Tränen aufgelöst, ließ den Kopf in ihre Hände sinken. Zedd kam um den Tisch geeilt, stellte sich neben sie und drückte sie an sich, zog ihren Kopf an seinen Bauch, strich ihr übers Haar, tröstete sie, während sie weinte.
»Das stimmt nicht, meine Liebe, das stimmt ganz und gar nicht.«
Sie weinte in sein Gewand hinein, schüttelte den Kopf. »Hältst du dich für so gescheit, Zauberer? Du bist nicht so gescheit, wie du denkst. In diesem Punkt irrst du.«
Zedd kniete neben ihrem Stuhl nieder, hielt ihre Hände und blickte hoch in ihr gezeichnetes Gesicht. »Ich bin gescheit genug, um zu wissen, daß der Hüter oder einer seiner Günstlinge dir nicht die Genugtuung geben würde, dich glauben zu lassen, du hättest eine Schlacht gegen ihn gewonnen.«
»Aber ich…«
»Du hast dich gewehrt. Du hast zurückgeschlagen, weil du verletzt warst, nicht aber, weil dir die Dinge, die du getan hast, Spaß gemacht hätten. Nicht aus dem Verlangen heraus, dem Hüter zu helfen.«
Sie legte die Stirn in Falten, so sehr bemühte sie sich, ihre Tränen zu unterdrücken. »Bist du so sicher? So sicher, daß du jemandem wie mir trauen kannst?«
Zedd lächelte. »Ganz sicher. Vielleicht weiß ich nicht alles, aber ich weiß, daß du keine Verderbte bist. Du bist das Opfer, nicht die Täterin.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin da nicht so sicher wie du.«
»Hast du nach Mathrins Tod weiter getötet? Hast du dich an Unschuldigen rächen wollen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Wärst du ein Agent gewesen, hättest du dich dem Hüter hingegeben, seinen Wünschen unterworfen und weiter all denen Schaden zugefügt, die ihn bekämpfen. Du bist keine Verderbte, meine Liebe. Es tut mir im Herzen weh, was dir der Hüter alles genommen hat, aber deine Seele hat er nicht bekommen, die gehört noch immer dir. Davor brauchst du keine Furcht zu haben.«
Er drückte ihr sacht die Hände. Sie versuchte nicht, sie zurückzuziehen, sondern ließ sie zitternd in seinen liegen, so als sollten sie dort seinen Trost aufsaugen.
Adie wischte sich die Tränen von der Wange. »Schenkst du mir noch etwas Tee nach? Aber bitte kein Wolkenblattpulver mehr, sonst schlafe ich ein, bevor ich die Geschichte zu Ende erzählen kann.«
Zedd zog eine Braue hoch. Sie war ihm auf die Schliche gekommen. Er tätschelte ihre Schulter und erhob sich. Er schenkte ihr den Tee ein, zog seinen Stuhl vor und setzte sich wieder, während sie daran nippte.
Nachdem sie ihre Tasse halb getrunken hatte, schien sie die Beherrschung wiedergefunden zu haben. »Der Krieg mit D’Hara war in vollem Gange, stand jedoch kurz vor seinem Ende. Ich spürte, wie die Grenze entstand. Spürte, wie sie in diese Welt kam.«
»Du bist also gleich nach Entstehung der Grenze hierhergekommen?«
»Nein. Erst studierte ich noch zusammen mit ein paar Frauen. Einige brachten mir ein paar Dinge über Knochen bei.« Sie zog eine Halskette unter ihrem Gewand hervor. Sie betastete den kleinen, runden Knochen mit den roten und gelben Perlen zu beiden Seiten. Die Kette sah genauso aus wie die, die sie ihm für das Durchqueren des Passes gegeben hatte. Er trug sie noch immer um den Hals. »Dies ist ein Knochen von der Unterseite eines Schädels wie dem auf dem Regal dort drüben, dem, der runtergefallen ist. Das Tier wird Skrin genannt. Skrin sind die Wachtiere der Unterwelt — ein wenig wie die Herzhunde, nur daß sie in beide Richtungen wachen. Am besten könnte man sie als Teil des Schleiers deuten, auch wenn das nicht ganz korrekt wäre. In dieser Welt sind sie gegenständlich, haben eine Gestalt, in der anderen jedoch sind sie nur eine Kraft.«
Zedd runzelte die Stirn. »Eine Kraft?«
Adie hielt ihren Löffel hoch und ließ ihn auf den Tisch fallen. »Eine Kraft. Wir können sie nicht sehen, doch die Kraft ist da. Sie läßt den Löffel fallen und hindert ihn daran, in die Lüfte aufzusteigen. Man kann sie nicht sehen, und doch ist sie da. So ähnlich verhält es sich mit den Skrin. Zu seltenen Anlässen treibt sie die Pflicht, alles von der Scheidelinie fernzuhalten, an der sich die Welt der Toten und die der Lebenden berühren, in diese Welt hinein. Nur wenige Menschen wissen von ihnen, weil das so selten geschieht.« Zedd runzelte die Stirn. »Das ist sehr schwierig. Ich werde es ein anderes Mal erklären. Wichtig ist, daß dieser Knochen eines Skrin dich vor ihnen verbirgt.«
Adie nahm einen Schluck Tee, während Zedd die Halskette aus seinem Gewand zog, um sie in einem neuen Licht zu betrachten. »Und sie versteckt einen auch vor anderen Bestien, damit man durch den Paß gelangt?« Sie nickte. »Woher wußtest du von dem Paß? Ich habe die Grenze errichtet und wußte doch selbst nichts von der Existenz des Passes.«
Sie drehte die Teetasse immer wieder zwischen ihren Fingern. »Nachdem ich meine Großmutter verlassen hatte, spürte ich Frauen mit der Gabe auf, Frauen, die mich Dinge über die Welt der Toten lehren konnten. Nach Mathrins Tod studierte ich mit noch größerem Eifer. Jede der Frauen konnte mir nur den kleinen Teil verraten, den sie selbst kannte, doch gewöhnlich kannten sie wieder eine andere, die mehr wußte. Ich bereiste die Midlands, durchwanderte sie, sammelte Wissen. Ich sammelte all diese kleinen Teile des Wissens und fügte sie zu einem Ganzen zusammen. Auf diese Weise erfuhr ich ein wenig über die Wechselwirkung der beiden Welten.
Die Errichtung der Grenze in diesem Teil der Welt ähnelt ein wenig dem Verschließen eines Wasserkessels, bevor man ihn aufs Feuer setzt. Ohne Ventil wird er explodieren. Ich wußte, wenn es eine Magie gibt, die klug genug ist, um zu wissen, wie man die Unterwelt hierbei ins Spiel bringt, dann muß sie über eine Möglichkeit verfügen, die beiden Seiten der Grenze auszugleichen. Irgendeine Art Ventil. Einen Paß.«
Zedd runzelte die Stirn und starrte gedankenverloren in die Ferne, während er sich mit dem Daumen übers Kinn strich. »Natürlich. Das ergibt einen Sinn. Ausgewogenheit. Alle Kräfte, alle Magie brauchen Ausgewogenheit.« Er richtete den Blick auf sie. »Ich habe beim Errichten der Grenze eine Art Magie benutzt, die ich nicht völlig verstand. Sie stand in einem alten Buch von Zauberern aus alten Zeiten, die mehr Kraft besaßen, als ich mir vorstellen kann. Die Grenze unter Verwendung ihrer Anweisungen zu errichten war ein Akt der Verzweiflung.«
»Ich kann mir dich nur schwer verzweifelt vorstellen.«
»Manchmal ist das Leben nichts anderes: ein verzweifelter Akt nach dem anderen.«
Adie nickte. »Vielleicht hast du recht. Ich habe verzweifelt versucht, mich vor dem Hüter zu verstecken. Mir fiel ein, was Mathrin gesagt hatte: er hatte sich genau unter meiner Nase versteckt. Ich schloß daraus, der sicherste Ort, mich vor ihm zu verstecken, wäre der, wo er nicht suchen würde: direkt unter seiner Nase, am Rand dieser Welt. So kam ich zum Paß. Der Paß war nicht mehr diese Welt, doch er gehörte auch noch nicht zur Unterwelt. Er war eine Mischung von beidem. Ein Ort, wo beide Welten ein wenig miteinander verschmolzen. Mit den Knochen war ich in der Lage, mich vor dem Hüter zu verstecken. Weder er noch die Bestien aus seiner Welt konnten mich sehen.«
»Verstecken?« Diese Frau hatte mehr Eisen in sich, als der Kessel, der über dem Feuer hing. Wie er Adie kannte, steckte noch mehr dahinter. Zedd warf ihr einen strengen Blick zu. »Du bist hierhergekommen, bloß um dich zu verstecken?«
Sie wich seinem Blick aus, während sie den kleinen, runden Knochen an ihrer Halskette befingerte. Schließlich steckte sie ihn zurück in ihr Gewand. »Es gibt noch einen anderen Grund. Ich habe einen Eid geschworen. Mir selbst. Ich habe mir geschworen, einen Weg zu finden, wie ich Verbindung mit meinem Pell aufnehmen kann, um ihm zu sagen, daß ich ihn nicht verraten habe.« Sie trank einen kräftigen Schluck Tee. »Ich habe den größten Teil meines Lebens hier, im Paß, damit verbracht, einen Weg in das Reich der Toten zu entdecken, um Pell dies mitzuteilen. Der Paß ist ein Teil jener Welt.«
Zedd stieß seine Tasse mit dem Finger fort. »Die Grenze, den Paß, gibt es nicht mehr, Adie. Ich brauche deine Hilfe in dieser Welt.«
Sie legte ihre Arme auf den Tisch. »Als du meinen Fuß für mich hast nachwachsen lassen, kamen damit alle Erinnerungen zurück. Sie waren so frisch, als müßte ich alles noch einmal durchleben. Ich habe mich dadurch an manches erinnert, das ich längst vergessen hatte. Ich habe mich an die Schmerzen erinnert, die noch immer da waren, auch wenn die Zeit sie gelindert hat.«
»Entschuldige, Adie«, sagte er leise. »Ich hätte deine Vergangenheit bedenken sollen, aber ich konnte ja nicht ahnen, daß du soviel durchgemacht hast. Vergib mir.«
»Da gibt es nichts zu vergeben. Der Fuß war ein Geschenk. Du kanntest die Dinge nicht, die ich getan hatte. Es ist auch nicht dein Fehler, daß ich sie getan habe. Du wußtest nicht, daß ich eine Verderbte bin.«
Er sah sie scharf an. »Du glaubst, weil du dich gegen das Böse zur Wehr gesetzt hast, bist du selbst böse geworden?«
»Ich habe Schlimmeres getan, als jemand wie du verstehen kann.«
Zedd nickte leicht. »Tatsächlich? Laß mich dir eine kleine Geschichte erzählen. Ich hatte einmal eine Liebe wie du deinen Pell. Ihr Name war Erilyn. Meine Zeit mit ihr war wie deine Zeit mit Pell.« Langsam machte sich ein Lächeln auf seinen Lippen breit, als er in den Nebel dieser angenehmen Erinnerung eintauchte. »Bis Panis Rahl ihr ein Quadron hinterherschickte.«
Adie legte ihre Hand auf seine. »Zedd, du brauchst nicht…«
Zedd schlug mit der anderen Faust auf den Tisch, daß die Tassen hüpften. »Du kannst dir nicht vorstellen, was diese vier ihr angetan haben.« Er beugte sich vor. Sein Gesicht hob sich rot von seinen weißen Haaren ab. Er biß die Zähne aufeinander. »Ich habe sie gehetzt und aufgespürt. Was ich mit jedem einzelnen von ihnen getan habe, läßt das, was du Mathrin angetan hast, als Jux erscheinen. Ich habe Panis Rahl verfolgt, konnte ihn aber nicht erwischen, also machte ich mich über seine Armeen her. Für jeden Mann, den du getötet hast, Adie, habe ich tausend umgebracht. Ich war selbst bei meinen eigenen Leuten gefürchtet. Ich war der Wind des Todes. Ich tat, was nötig war, um Panis Rahl aufzuhalten. Und vielleicht sogar noch mehr.«
Er ließ sich mit seinem ganzen Gewicht in den Stuhl zurücksinken. »Wenn es so etwas wie einen Mann der Tugend gibt, dann sitzt du ihm im Augenblick bestimmt nicht gegenüber.«
»Du hast nur getan, was du tun mußtest. Das schmälert deine Tugend nicht.«
Er rümpfte die Nase. »Kluge Worte, gesprochen von einer klugen Frau. Vielleicht solltest du sie dir selbst zu Herzen nehmen.« Sie schwieg. Er stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch, nahm ruhig die Tasse vom Tisch und rollte sie zwischen seinen Händen, während er fortfuhr. »Auf gewisse Weise hatte ich mehr Glück als du. Ich hatte mehr Zeit mit meiner Erilyn. Und ich habe meine Tochter nicht verloren.«
»Panis Rahl hat nicht auch versucht, deine Tochter umzubringen?«
»Doch. Ich dachte in der Tat, er hätte es versucht. Ich … ich habe einen Todeszauber ausgesprochen. Sie sollten glauben, sie hätten gesehen, wie sie stirbt. Es war die einzige Möglichkeit, sie zu beschützen und zu verhindern, daß sie es weiter versuchten.«
»Einen Todeszauber…« Adie sprach leise einen Segen in ihrer Muttersprache. »Das ist ein gefährliches Netz. Ich möchte dich deswegen nicht verdammen, du hattest einen Grund, doch solche Dinge bleiben den Seelen nicht verborgen. Du kannst von Glück reden, daß sie dadurch gerettet wurde. Du kannst dich sehr glücklich schätzen, daß dir die guten Seelen an jenem Tag beigestanden haben.«
»Vermutlich ist es manchmal schwer zu entscheiden, ob eine Fügung glücklich ist oder nicht. Ich habe sie ohne Mutter großgezogen. Sie war bereits zu einer prächtigen jungen Frau herangewachsen, als es passierte. Darken Rahl stand neben seinem Vater, als ich das Zaubererfeuer durch die Grenze schickte. Er stand neben seinem Vater, als mein Feuer ihn fand. Ein Teil des Feuers verbrannte Darken Rahl. Er verbrachte seine Jugendjahre mit Lernen, damit er beenden konnte, was sein Vater begonnen hatte, und er sich auf diese Weise rächen konnte. Er lernte, die Grenze zu durchqueren, und kam in die Midlands zurück, ohne daß ich etwas davon wußte.
Er vergewaltigte meine Tochter. Er wußte nicht, wer sie war — jeder dachte, meine Tochter sei tot –, sonst hätte er sie sicherlich getötet. Aber er hat ihr weh getan.« Er preßte die Hände zusammen. Die Tasse zersplitterte. Er drehte seine Hände um und sah nach, ob er sich geschnitten hatte, und war ein wenig überrascht, daß es nicht der Fall war. Adie sagte nichts.
»Anschließend nahm ich sie mit nach Westland, um sie zu verstecken, zu schützen. Ich habe nie herausgefunden, ob es eine weitere unglückliche Fügung war oder ob irgendeine Krankheit sie befallen hatte, jedenfalls starb sie. Sie verbrannte in ihrem eigenen Haus. Ich hatte zwar immer den Verdacht, daß diese Ironie des Schicksals mehr als Zufall war, doch fand ich nichts, was das irgendwie bewiesen hätte. Vielleicht waren die guten Seelen an jenem Tag, als ich den Todeszauber aussprach, doch nicht auf meiner Seite.«
»Wie schrecklich, Zedd«, sagte Adie in ihrem leisen Schnarrton.
Er tat ihr Mitleid mit einer Handbewegung ab. »Ich hatte noch immer ihren kleinen Jungen.« Er schob die Splitter der Tasse mit dem Finger in der Mitte des Tisches zu einem kleinen Haufen zusammen. »Darken Rahls Sohn. Der Abkömmling eines Agenten des Hüters. Aber auch der Sohn meiner Tochter, und mein Enkel. Er wußte nichts von dem Verbrechen, das mit seiner Zeugung verbunden war. Ein toller Junge.«
Er sah sie unter seinen buschigen Brauen hervor an. »Ich glaube, du kennst ihn. Sein Name lautet Richard.«
Adie schnellte auf ihrem Stuhl nach vorn. »Richard! Richard ist dein…« Kopfschüttelnd lehnte sie sich wieder zurück. »Zauberer und ihre Geheimnisse.« Ihre Miene verfinsterte sich ein wenig, heiterte sich dann aber wieder auf. »Vielleicht hattest du einen Grund, das für dich zu behalten. Besitzt Richard die Gabe?«
Zedd zog die Brauen hoch und nickte. »Die besitzt er allerdings. Das war ein Grund, weshalb ich ihn in Westland versteckt hielt. Obwohl ich nicht sicher war, befürchtete ich, er könnte die Gabe besitzen, und wollte ihn vor Gefahren schützen. Wie du gesagt hast, der Hüter giert nach denen, die die Gabe besitzen, mehr als nach irgendwelchen anderen Menschen. Ich wußte, wenn ich beginne, ihn zu unterrichten, und dabei selbst sehr viel Magie einsetze, würde ich ihn der Gefahr aussetzen. Ich wollte, daß er aufwächst und einen starken Charakter bekommt, bevor ich ihn prüfe — und unterrichte, falls er die Gabe hätte. Ich hatte schon immer vermutet, daß er sie besäße. Manchmal hoffte ich, er hätte sie nicht. Aber jetzt weiß ich, daß er sie besitzt. Er hat sie benutzt, um Darken Rahl aufzuhalten. Er hat Magie benutzt.«
Er beugte sich vor. »Vermutlich hat er die Gabe sowohl von seinem Großvater als auch von seinem Vater. Von zwei unterschiedlichen Geschlechtern von Zauberern.«
»Verstehe«, war alles, was sie sagte.
»Doch im Augenblick müssen wir uns um wichtigere Dinge kümmern. Darken Rahl hat die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht. Er hat eins aufgemacht — das falsche, wenigstens für ihn. Aber vielleicht auch für uns. In der Burg existieren Bücher, in denen von großen Gefahren die Rede ist. Wenn die Kästchen eingesetzt werden, wenn die Magie der Ordnung eingesetzt wird, selbst wenn die Person, die sie ins Spiel bringt, einen tödlichen Fehler begeht — so lautet die Warnung dort –, kann dadurch der Schleier trotzdem einen Riß bekommen.
Adie, ich weiß nicht so viel über die Unterwelt wie du. Du hast sie den größten Teil deines Lebens studiert. Ich brauche deine Hilfe. Du mußt mich nach Aydindril begleiten, um die Bücher zu studieren und zu sehen, was wir tun können. Ich habe viele von ihnen gelesen und nicht sehr viel verstanden. Vielleicht gelingt es dir. Selbst wenn dir nur eine Kleinigkeit auffällt, die ich übersehen habe, könnte das von Bedeutung sein.«
Sie starrte mit bitterer Miene auf den Tisch. »Ich bin eine alte Frau. Ich bin eine alte Frau, die den Hüter in ihr Herz gelassen hat.«
Zedd sah sie an, doch sie wich seinem Blick aus. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Eine alte Frau? Nein. Eine törichte Frau, vielleicht.« Sie antwortete nicht. Ihr Blick blieb geradewegs auf den Tisch gerichtet.
Zedd schlenderte im Raum umher und begutachtete die an der Wand hängenden Gebeine. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und studierte die Talismane der Toten.
»Dann bin ich womöglich auch nur ein alter Mann? Ein törichter alter Mann. Vielleicht sollte ich dies einem jungen Mann überlassen?« Er warf einen Blick über die Schulter. Sie beobachtete ihn. »Wenn aber ein junger Mann gut ist, vielleicht wäre dann ein jüngerer noch besser? Ja, warum sollte man es nicht gar einem Kind überlassen? Das wäre noch viel besser. Vielleicht gibt es irgendwo einen Zehnjährigen, der bereit wäre, irgend etwas zu unternehmen, um zu verhindern, daß die Toten die Lebenden verschlingen?«
Er warf die Arme in die Luft. »Wenn es nach dir geht, ist Wissen scheinbar unnütz, und nur die Jugend zählt.«
»Jetzt führst du dich wirklich töricht auf, alter Mann. Du weißt genau, was ich meine.«
Zedd trat an den Tisch zurück und zuckte mit den knochigen Schultern. »Wenn du einfach hier in diesem Haus rumsitzt, anstatt mit deinem Wissen zu helfen, dann bist du vielleicht tatsächlich das, was du am meisten fürchtest: ein Agent des Hüters.«
Er stemmte seine Fäuste auf den Tisch, beugte sich über sie und funkelte sie an. »Wenn du ihn nicht bekämpfst, dann hilfst du ihm. Das war doch die ganze Zeit sein Plan. Er wollte nicht, daß du dich ihm zuwendest, sondern daß du Angst bekommst, ihn aufzuhalten.«
Sie sah ihm in die Augen. Beklommenheit stahl sich in ihren Blick. »Was soll das heißen?«
»Er hat bereits alles getan, was er tun mußte, Adie. Er hat dafür gesorgt, daß du dich vor dir selbst fürchtest. Der Hüter hat unendliche Geduld. Du mußt nicht für ihn arbeiten. Es kostet Mühe, jemanden umzudrehen, der die Gabe hat. Die Mühe warst du ihm nicht wert. Ihm war nur wichtig, daß du nicht gegen ihn arbeitest. Er hat nur das Nötige getan. Mehr Mühe hat er nicht vergeudet. In mancherlei Hinsicht ist er für diese Welt so blind wie wir für seine. Er hat hier nur bedingt Einfluß und muß sich sorgfältig überlegen, was er tut. Die Macht, die er hier hat, vergeudet er nicht leichtfertig.«
Erkenntnis trat an die Stelle der Beklommenheit. »Vielleicht bist du doch nicht so ein alter Narr.«
Lächelnd zog Zedd seinen Stuhl heran und setzte sich. »Der Meinung war ich eigentlich schon immer.«
Adie nestelte mit ihren Händen im Schoß und betrachtete die Tischplatte, als hoffte sie, dort Hilfe zu finden. Im Haus war es bis auf das leise Knistern des Feuers im Kamin still. »All die Jahre hat sich die Wahrheit gleich unter meiner Nase versteckt.« Sie hob den Kopf und sah ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Verstörtheit an. »Und wieso bist du so weise?«
Zedd zuckte mit den Achseln. »Das ist nur einer der Vorzüge eines langen Lebens. Du siehst dich selbst als alte Frau. Ich sehe eine wunderbare, liebenswerte Frau, die in ihrer Zeit in dieser Welt eine Menge gelernt hat und die aus dem Geschehen ihre Klugheit gewonnen hat.«
Er zog ihr die gelbe Rose aus dem Haar und hielt sie ihr vors Gesicht. »Dein Liebreiz ist keine Maske, keine dünne Schicht über einem faulen Kern. Er entspringt aus innerer Schönheit.«
Sie nahm ihm die Blume aus der Hand und legte sie auf den Tisch. »Auch deine geschickte Zunge kann die Tatsache nicht verbergen, daß ich mein Leben vergeudet habe…«
Zedd schüttelte den Kopf, schnitt ihr das Wort ab. »Nein. Du hast nichts vergeudet. Du hast einfach nur die andere Seite der Dinge noch nicht gesehen. In der Magie, ja in allen Dingen, gibt es eine Ausgewogenheit, wir müssen sie nur suchen. Der Hüter hat getan, was er getan hat. Er hat dir einen Verderbten geschickt, damit du ihm nicht ins Werk pfuschst und um dir einen Samen des Zweifels einzupflanzen, ob du dich nicht vielleicht eines Tages doch ihm zuwenden wirst.
Doch selbst darin gibt es etwas, das sein Tun ausgleichen kann. Du bist hierhergekommen, um etwas über die Welt der Toten zu erfahren, damit du Verbindung mit deinem Pell aufnehmen kannst. Begreifst du nicht, Adie? Man hat dich beeinflußt, damit du dich nicht in die Pläne des Hüters einmischst. Die Ausgewogenheit besteht nun darin, daß du dadurch Dinge erfahren hast, die dir dabei helfen könnten, den Hüter aufzuhalten. Du darfst dich nicht dem preisgeben, was er dir angetan hat, sondern du mußt dich mit dem wehren, was er dir versehentlich überlassen hat.«
In ihren Augen glitzerte es, als sie den Blick durch ihr Haus schweifen ließ, den Knochenstapel betrachtete, die Wände, die mit den Talismanen der Toten bedeckt waren, die sie in all den Jahren gesammelt hatte, und die Regale, die noch weit mehr enthielten. »Aber mein Eid … mein Pell. Ich muß ihn erreichen, es ihm erklären. Er ist in dem Glauben gestorben, ich hätte ihn verraten. Wenn ich in seinen Augen keine Erlösung finden kann, bin ich verloren, dann ist mein Herz verloren. Und wenn ich verloren bin, wird mich der Hüter finden.«
»Pell ist tot, Adie. Es gibt ihn nicht mehr. Auch die Grenze und den Paß gibt es nicht mehr. Du weißt sicher besser als ich, ob sie dir bei deinem Anliegen jemals haben helfen können, aber in all den Jahren hast du den Weg nicht gefunden. Wenn du weiter danach trachtest, deinen Eid zu erfüllen, wirst du hier keine Hilfe finden. Aber vielleicht in Aydindril. Zu helfen, den Hüter aufzuhalten, bedeutet nicht, daß du deinen Schwur brechen mußt. Wenn ich dir mit meinem Wissen und meinem Beistand bei deiner Suche irgendwie helfen kann, werde ich das gern tun. So, wie du Dinge weißt, die mir unbekannt sind, weiß ich auch manches, von dem du nichts ahnst. Ich bin schließlich der Oberste Zauberer. Vielleicht hilft dir mein Wissen. Pell würde nicht wollen, daß du ihm erklärst, du hättest ihn nicht verraten, wenn du dafür alle anderen verraten mußt.«
Adie nahm die gelbe Blume in die Hand, drehte sie zwischen den Fingern, dann legte sie sie wieder hin. Sie packte die Tischkante und stemmte sich auf die Beine. Einen Augenblick lang stand sie da, schließlich hob sie den Kopf und ließ ihre weißen Augen noch einmal durch die Hütte wandern.
Sie strich ihr Gewand an den Hüften glatt, als wollte sie ordentlich aussehen, dann humpelte sie um den Tisch herum und stellte sich hinter seinen Stuhl. Zedd spürte, wie ihre Hände auf seinen Schultern ruhten. Unerwartet beugte sie sich vor, küßte ihn auf den Kopf und strich seine widerspenstigen Haare mit sanfter Hand glatt. Zedd war erleichtert, hatte er doch befürchtet, sie könnten sich um seine Kehle schließen. Was nach seinen Bemerkungen durchaus möglich gewesen wäre.
»Danke, mein Freund, daß du dir meine Geschichte angehört und mir geholfen hast, ihren Sinn zu finden. Mein Pell hätte dich gemocht. Ihr seid beide ehrenhafte Männer. Ich nehme dein Versprechen an, mir behilflich zu sein, Pell zu erreichen.«
Zedd drehte sich auf seinem Stuhl herum, hob den Kopf und blickte in ihr sanftes Lächeln und ihre gütigen Augen. »Ich werde alles tun, um dir zu helfen, deinen Eid zu halten. Darauf hast du mein Wort.«
Ihr Lächeln wurde breiter. Sie strich eine verirrte Strähne seiner weißen Locken glatt. »Und jetzt erzähl mir von dem Stein der Tränen. Wir müssen entscheiden, was damit geschehen soll.«