Sie sahen sich Stufen gegenüber, zwanzig Schritte breit, die sich nur am äußersten rechten Rand als das zu erkennen gaben, was sie waren, dort, wo der Wind wie durch einen Trichter gleich neben dem geschwungenen Geländer aus rosa Marmor hinabgeweht war und sie von Schnee freigehalten hatte. Kahlan zögerte nur einen kurzen Augenblick, nachdem sie erkannt hatte, daß sie ihr Ziel erreicht hatten, dann stemmte sie ihre Schneeschuhe fest in die Schneewehe, die die Stufen unter sich begrub, und stieg hinauf zum Portal, dessen Gesims eine Reihe von Statuen schmückte, deren aus Stein gehauene Kleidung so echt wirkte, daß es schien, als würde sie sich in der sachten Brise bewegen. Zehn weiße Säulen auf jeder Seite stützten das massige Gebälk in schwindelerregender Höhe über dem Bogenportal. In verzweifeltem Kampf gefallene Leichen lagen übereinander geschichtet überall auf dem schneebedeckten Rasen oder lehnten wie in Ruhestellung an den Mauern der mit einer Kuppel gekrönten äußeren Eingangshalle.
Die reich verzierten Türen, auf denen kunstvoll geschnitzte königliche Wappenschilde des Hauses derer von Amnell, hochgehalten von zwei Berglöwen, zu sehen waren, lagen zerschlagen auf dem Boden der Vorhalle. Neben dem verschnörkelten Steinbogen am anderen Ende standen lebensgroße Statuen von Königin Bernadine und König Wyborn, jeweils mit Speer und Schild in einer Hand, die Königin eine Garbe Weizen in der anderen haltend, der König ein Lamm. Die Brüste der Königin waren abgebrochen worden; Steinsplitter und Staub bedeckten die rostfarbenen Marmorfliesen. Beiden Statuen fehlte der Kopf.
Mit tauben Fingern löste Kahlan die Bindungen ihrer Schneeschuhe und lehnte sie an die Statue der Königin. Chandalen folgte ihrem Beispiel, bevor er ihr in die mit zerbrochenen Spiegeln und zerrissenen Wandbehängen gesäumte Eingangshalle folgte. Kahlan zog ihren Umhang fest um sich. Ihr Atem stieg als träge Wolke in der fast völlig stillen Luft auf, und aus irgendwelchen Gründen war es hier viel kälter als draußen.
»Wozu dient dieser Ort?« fragte Chandalen im Flüsterton, als hätte er Angst, die Seelen der Toten zu wecken.
Sie mußte sich zusammennehmen, um nicht ebenfalls zu flüstern. »Dies ist das Zuhause der Königin dieses Landes. Cyrilla heißt sie.«
Seine vom Zweifel angefüllte Stimme hallte durch die steinerne Halle. »Ein einziger Mensch lebt in einem Haus wie diesem?«
»Hier leben viele Menschen. Es gibt Berater, ganz ähnlich den Ältesten aus deinem Volk, und andere, deren Aufgabe es ist, sich um die Bedürfnisse des Landes zu kümmern, und wieder andere, die sich um deren Bedürfnisse kümmern, damit sie ihre Arbeit tun können. Viele Menschen bezeichnen dies als ihr Zuhause, doch die Königin ist der Haushaltsvorstand, so wie sie auch ihrem ganzen Land vorsteht. Sie steht über allen anderen.«
Chandalen folgte ihr schweigend, während sie sich daranmachte, den Palast zu durchsuchen. Sein Blick wanderte von einem wundersamen Gegenstand zum nächsten, von kunstvoll geschnitzten Möbeln, die nun überall in Trümmern herumlagen, zu den schweren roten, blauen, goldenen oder grünen Wandbehängen vor den zehn Fuß hohen rechteckigen Fenstern, die jetzt allesamt zerbrochen waren.
Sie stieg eine Treppenflucht hinab zu den unteren Gemächern. Die Eichenbohlen knarrten bei jedem Schritt in dieser Kälte. Er bestand darauf, jeden Raum als erster zu betreten, stieß die Tür mit dem Fuß auf und schlüpfte mit aufgelegtem Zehnschrittpfeil hinein, bevor er ihr gestattete, das Innere zu durchsuchen.
Sie fanden nichts als Tote. In einigen Räume lag ein Teil des Personals. Man hatte sie an der Wand aufgereiht und wie ein Nadelkissen mit Pfeilen durchbohrt. In der Küche sah es so aus, als hätten die Eindringlinge erst die Köche, die Kochgehilfen, die Weinkellner, Gehilfen, Tellerwäscher, die Schankkellner und die Küchenjungen hingerichtet und sich dann zu einem Saufgelage niedergelassen. Die Bier- und Weinfässer waren leer. Wie es schien, hatten sie mehr Speisen an die Wand geworfen als verzehrt.
Während Chandalen die geplünderte Speisekammer untersuchte, fiel Kahlans Blick auf die Leichen zweier junger Frauen, Küchenhilfen, die auf dem Boden hinter einem langen Schlachtklotz lagen. Eine war vollständig nackt, die andere trug nur noch einen braunen Wollstrumpf, den man ihr auf ihre schmalen Fesseln geschoben hatte. Ihre erste Annahme war falsch gewesen. Nicht das ganze Personal war vor dem Saufgelage ermordet worden.
Mit einem Gesicht, so unbeweglich wie das der toten Frauen, drehte sie sich um, verließ die Küche und stieg über die Dienstbotentreppe hinauf, um sich in den oberen Stockwerken umzusehen. Chandalen stapfte ihr hinterher. Er nahm drei Stufen auf einmal, um sie einzuholen.
Bestimmt gefiel ihm nicht, daß sie ohne ihn gegangen war, er sprach es jedoch nicht aus. »Es gibt Pökelfleisch. Vielleicht könnten wir etwas davon mitnehmen? Ich glaube nicht, daß die Menschen hier etwas dagegen hätten. Sie würden uns bestimmt etwas zu essen geben.«
Kahlan legte ihre Hand auf das Geländer und stieg in stetem Rhythmus hinauf. Doch dann steckte sie ihre Hand wieder unter ihren Umhang, denn das polierte Ahornholz fühlte sich so kalt an, daß ihr die Finger brannten. »Wenn du von dem Fleisch ißt, wirst du sterben. Sie haben es bestimmt vergiftet, damit alle ihre Landsleute, die an diesen Ort zurückkehren und von den Speisen essen, ebenfalls sterben.«
Wie sich herausstellte, war das Hauptstockwerk frei von Leichen. Es schien als Hauptquartier der Armee gedient zu haben. Leere Rum- und Weinfässer lagen überall auf dem Boden des Ballsaales herum. Speisereste, Becher und Tassen, zerbrochene Teller, Tabakasche, blutige Verbände, ölverschmierte Lumpen, abgebrochene oder verbogene Schwerter, Speere und Keulen, dunkle Späne eines Tischbeines aus Walnußholz, an dem jemand herumgeschnitzt hatte, bis nur noch ein Stumpf übriggeblieben war, Becken mit gefrorenem Wasser, schmutzige Bettwäsche, in Streifen gerissene Laken und verdreckte Steppdecken in jeder Farbe lagen über den Fußboden verstreut. Überall waren schmutzige Stiefelabdrücke, selbst auf den Tischen. Nach den Kratzern zu urteilen, hatten die Männer auf den Tischen getanzt.
Chandalen stapfte durch das Durcheinander, untersuchte verschiedene Dinge. »Sie waren zwei, vielleicht drei Tage hier.«
Sie nickte zum Zeichen, daß sie der gleichen Ansicht war, und sah sich dabei um. »Sieht ganz so aus.«
Er rollte ein Weinfaß mit einem Fuß hin und her, um festzustellen, ob es leer war. Es war leer. »Ich frage mich, warum sie so lange geblieben sind? Nur um zu trinken und zu tanzen?«
Kahlan seufzte. »Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie sich ausgeruht und ihre Verwundeten versorgt. Vielleicht haben sie nur ein Saufgelage gemacht, um ihren Sieg zu feiern.«
Er hob den Kopf und blickte sie scharf an. »Töten ist nichts, was man feiert.«
»Doch, für diese Menschen schon.«
Widerwillig stieg Kahlan endlich die Stufen hinauf ins oberste Stockwerk. Am liebsten hätte sie dort oben nicht nachgesehen. Denn dort befanden sich die Schlafzimmer.
Zuerst sahen sie sich im Westflügel um, in den Gemächern der Männer. Offenbar hatten die Truppen sie als Quartiere benutzt. In einer so zahlreichen Armee wie der, die das hier angerichtet hatte, gab es mit Sicherheit viele ranghohe Offiziere. Vermutlich waren diese hier abgestiegen, in den geheizten Zimmern. Die Soldaten unter ihrem Kommando hatten vermutlich die Gasthäuser und die Heime der gewöhnlichen Bürger benutzt.
Tief durchatmend, um ihre Entschlossenheit zu bekräftigen, schob sie ihr Kinn nach vorn, durchquerte die Mittelhalle mit der Empore, von der aus man auf die große Treppe blickte, und betrat die Räume im Ostflügel. Chandalen, der ihr dicht auf den Fersen folgte, wollte die Türen für sie öffnen und sich zuerst umsehen, doch das ließ sie nicht zu. Ihre Hand zögerte kurz auf dem Türknauf, schließlich öffnete sie die erste Tür. Eine ganze Weile blieb sie stehen und starrte auf das Bild, das sich ihr drinnen bot. Dann ging sie zur nächsten Tür und stieß sie auf, dann zur nächsten.
In jedem Schlafgemach lag eine Frau, keine von ihnen angekleidet. Zimmer auf Zimmer auf Zimmer immer das gleiche Bild. Nach den verdreckten Teppichen zu urteilen, schien ein unablässiger Strom von Männern hier hindurchgegangen zu sein. Holzspäne lagen in kleinen Haufen auf dem Boden, wo sich jemand die Zeit damit vertrieben hatte, an irgend etwas herumzuschnitzen, während er darauf wartete, daß er an die Reihe kam.
»Jetzt wissen wir, warum sie mehrere Tage hier verbracht haben«, sagte Kahlan, ohne Chandalen in die Augen zu sehen. Er schwieg. Sie brachte nicht mehr als ein Flüstern hervor. »Damit sie das hier tun konnten.«
Diese wenigen Tage waren zweifellos die längsten im Leben dieser Frauen gewesen. Kahlan betete, daß ihre Seelen jetzt Frieden gefunden haben mochten.
Sie erreichten die Tür am anderen Ende, die Tür zu dem Gemach, das sich die jüngeren Frauen teilten. Langsam öffnete sie die Tür, stand da und sah hinein, während Chandalen, dicht dahinter, ihr über die Schulter blickte.
Mit einem unterdrückten Schrei fuhr sie herum und schlug die Hand vor die Brust. »Bitte, Chandalen, warte hier.«
Er nickte und sah auf seine Stiefel.
Kahlan schloß die Tür hinter sich und blieb eine Weile mit dem Rücken daran gelehnt stehen. Die eine Hand an ihrer Seite, die andere vor dem Mund, ging sie um einen umgestürzten, zertrümmerten Kleiderschrank herum und durchmaß den kalten Raum der Länge nach, zwischen den Bettreihen hindurch, blickte mal zur einen, mal zur anderen Seite. Die kostbaren Handspiegel, Bürsten, Kämme und Haarnadeln, die früher liebevoll angeordnet auf den Nachttischen zwischen den Betten gelegen hatten, waren jetzt über den Fußboden verstreut. Die blauen Moirévorhänge blähten sich sacht in der eisigen Brise, die durch die zerbrochenen Fenster hereinwehte.
Hier hatten die zukünftigen Hofdamen der Königin gewohnt. Junge Frauen von vierzehn, fünfzehn und sechzehn Jahren, ein paar, die etwas älter waren. Dies waren nicht einfach namenlose Tote. Kahlan kannte viele dieser jungen Frauen.
Die Königin hatte sie mitgenommen, als sie nach Aydindril gekommen war, um dort vor dem Rat zu sprechen. Kahlan hätte sie gar nicht übersehen können, ihre Lebendigkeit, ihr aufgeregtes Staunen darüber, in Aydindril zu sein. Wie gern hätte Kahlan sie persönlich herumgeführt, doch die Gegenwart der Mutter Konfessor hätte ihnen nur angst gemacht, daher hatte sie es unterlassen. Statt dessen hatte sie sie aus der Ferne bewundert und um ihr junges Leben, dem noch alle Möglichkeiten offenstanden, beneidet.
Kahlan blieb an verschiedenen Betten stehen. Entschlossen und doch widerstrebend richtete sie den Blick auf die Gesichter, die sie kannte. Juliana, eine der jüngsten, war immer selbstbewußt und lebensfroh gewesen. Sie kannte ihre Ziele und hatte keine Angst, sie zu verfolgen. Immer war sie von jungen Männern in Uniform hingerissen gewesen: von Soldaten. Das hatte ihr einmal Ärger mit ihrer Anstandsdame eingebracht: Nelda. Kahlan hatte sich immer heimlich für sie eingesetzt, hatte Nelda erklärt, trotz Julianas Tändeleien seien die Soldaten der Palastwache Aydindrils ausnahmslos Ehrenmänner, die niemals eine der Hofdamen der Königin auch nur berühren würden. Jetzt hatte man sie mit den Handgelenken an die Bettpfosten gefesselt, und nach all dem Blut zu urteilen, schien sie während ihres gesamten Martyriums dort angebunden gewesen zu sein. Im stillen verfluchte Kahlan die Seelen wegen ihres grausamen Humors, dem jungen Mädchen seinen Wunsch zu erfüllen.
Im nächsten blutdurchtränkten Bett lag die kleine Elswyth. Man hatte ihr unzählige mal in die Brust gestochen und wie bei vielen der anderen Mädchen die Kehle aufgeschlitzt — wie Schweinen auf der Schlachtbank. Am Ende des Saales blieb Kahlan am Fuß des letzten Bettes stehen. Ashley, eine der älteren, war mit den Knöcheln an den Bettpfosten gefesselt. Man hatte sie mit einer Gardinenschnur erdrosselt. Ihr Vater war einer der Berater des galeanischen Botschafters in Aydindril. Ihre Mutter hatte vor Glück geweint, als Königin Cyrilla sich bereit erklärt hatte, Ashley als eine ihrer zukünftigen Hofdamen bei sich aufzunehmen. Wie sollte sie jemals die Worte finden, um Ashleys Eltern zu erklären, was ihr im Dienste ihrer Königin zugestoßen war?
Auf dem Weg zurück durch den Saal, während sie noch einmal einen letzten Blick auf jede Tote, auf jedes entsetzt oder in gefügiger Unterwerfung erstarrte Gesicht warf, fragte sie sich, wieso ihr nicht die Tränen kamen. Müßte sie nicht weinen? Müßte sie nicht auf die Knie fallen, gequält schreien, mit den Fäusten auf den Boden trommeln und weinen, bis sie in ihren Tränen ertrank? Doch sie tat es nicht. Sie kam sich vor, als hätte sie keine Tränen mehr zu vergießen.
Vielleicht waren es zu viele. Vielleicht hatte sie an diesem Tag so viele gesehen, daß sie stumpf geworden war. Als säße man in einem heißen Bad, das einen erst zu verbrühen schien und einem wenige Minuten später bloß noch lauwarm vorkam.
Sacht zog sie die Tür hinter sich ins Schloß. Chandalen stand noch genau dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Die Knöchel der Hand an seinem Bogen waren weiß. Kahlan ging an ihm vorbei und dachte, daß er folgen würde. Er tat es nicht.
»Die meisten Frauen würden weinen«, sagte er und starrte auf die Tür.
Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. »Ich bin nicht wie die meisten Frauen.«
Schließlich löste er seinen Blick von der Tür und betrachtete seinen Bogen. Die Spannung wich aus seinen Schultern, als er tief Luft holte. Es schien sein erster Atemzug seit einer ganzen Weile zu sein. »Ich möchte dir eine Geschichte erzählen.«
Kahlan wartete ein paar Schritte entfernt. »Ich möchte im Augenblick keine Geschichte hören, Chandalen. Vielleicht später.«
Er sah sie aus seinen wilden, braunen Augen an. »Ich möchte dir eine Geschichte erzählen«, wiederholte er, ein wenig lauter diesmal.
Sie seufzte. »Wenn es dir wichtig ist, dann erzähl sie mir.«
Er ging zu ihr, ohne ihrem Blick auszuweichen. Er war knapp zwei Zentimeter kleiner als sie, doch in diesem Augenblick kam er ihr größer vor. »Als mein Großvater noch jung und stark war« — er schlug sich auf die gewölbte Brust –, »so wie ich jetzt, hatte er bereits eine Frau und zwei Söhne. Viele Stämme kamen zum Handeln in unser Dorf. Wir ließen sie alle kommen. Wir haben niemanden abgewiesen. Jeder war willkommen. Die Jocopo waren einer dieser Stämme, die zum Handeln kamen.«
»Wer sind die Jocopo?« Kahlan kannte alle Völker und Stämme in den Midlands, aber von ihnen hatte sie noch nie gehört.
»Ein Stamm, der im Westen lebte, näher an der früheren Grenze.«
Kahlan runzelte die Stirn, während sie in Gedanken eine Karte absuchte. »Niemand lebt westlich der Schlammenschen. Das Land dort ist von Menschen verlassen.«
Chandalen sah sie unter seinen Brauen hervor an. »Die Jocopo waren ein großes Volk.« Er deutete ihre Größe an, indem er die Hand einen Kopf weit über sich hielt und sie dann wieder herunternahm. »Aber sie waren immer friedlich gewesen. Wie die Bantak. Wie wir. Dann haben sie Krieg gegen uns geführt. Den Grund wissen wir nicht. Aber unser Volk hatte große Angst. Die Menschen zitterten nachts aus Angst, die Jocopo könnten am nächsten Tag wiederkommen. Sie kamen in unser Dorf, schnitten den Männern die Kehlen durch, nahmen die Frauen und taten ihnen etwas an.« Er machte eine verlegene Handbewegung Richtung Tür.
»Sie haben sie vergewaltigt«, erklärte Kahlan ruhig. »Man nennt das Vergewaltigung.«
Er nickte. »Das haben die Jocopo mit unseren Frauen gemacht. Sie haben viele Frauen geraubt und ihnen … diese Vergewaltigung angetan.« Er warf erneut einen verstohlenen Blick zur Tür. »Genau wie diesen Frauen. Begreifst du?«
»Sie wurden von vielen Männern vergewaltigt, gefoltert und ermordet.«
Er nickte, froh darüber, es nicht näher erklären zu müssen. »Die Schlammenschen hatten keine Krieger wie heute — wie mich.« Seine Brust schwoll wieder an, und er reckte das Kinn nach oben. »Wir mußten nie gegen irgend jemanden kämpfen. Niemand aus unserem Volk wollte gegen jemanden kämpfen. Wir hielten das für falsch. Doch die Jocopo haben in uns den Wunsch geweckt zu kämpfen. Sie haben meine Großmutter geraubt. Die Frau meines Großvaters. Die Mutter meines Vaters. Mein Großvater schwor einen Eid, die Jocopo in die Welt der Seelen zu befördern. Er scharte seine Männer um sich, Männer, denen man die Frauen, Schwestern oder Mütter geraubt hatte, und…« Er wischte sich mit dem Arm über die Stirn, als schwitze er, doch das tat er in dieser Kälte nicht.
Kahlan legte ihm die Hand auf den Arm. Diesmal zuckte er nicht zurück. »Ich verstehe, Chandalen.«
»Mein Großvater berief eine Versammlung ein und wurde von den Seelen unserer Vorfahren besucht. Vor diesen Seelen weinte er um seine Frau und fragte die Seelen der Vorfahren, ob sie ihm zeigen würden, wie man die Jocopo aufhalten kann. Sie antworteten ihm, zuerst müsse er aufhören zu weinen, bis die Kämpfe vorüber seien.«
Kahlan zog ihre Hand zurück und strich sich gedankenverloren über das Fell an ihrem Hals. »Mein Vater hat mir etwas ganz Ähnliches beigebracht. Er sagte: ›Vergieße keine Träne über die, die schon in der Erde liegen, bis du es denen vergolten hast, die sie dorthingebracht haben. Danach wirst du genug Zeit haben.‹«
Chandalen sah sie anerkennend an. »Dann war dein Vater ein weiser Mann.«
Kahlan wartete schweigend, bis Chandalen seinen Faden wieder aufnahm und fortfuhr.
»Die Seelen der Vorfahren haben meinen Großvater jede Nacht bei einer Versammlung aufgesucht. Sie haben ihm gezeigt, was er tun, wie er töten mußte. Dann brachte er diesen Männern bei, was er gelernt hatte. Er zeigte ihnen, wie man sich mit Schlamm einschmiert, sich Gras umbindet, damit man nicht gesehen wird. Unsere Männer wurden zu Schatten. Die Jocopo konnten sie nicht sehen, selbst wenn sie so nahe standen wie wir beide jetzt.
Mein Großvater und seine Männer führten gegen die Jocopo Krieg. Nicht so, wie die Jocopo Krieg führten, sondern so, wie es die Seelen ihm beigebracht hatten. Die Jocopo führten Krieg am Tag, weil sie viele waren und keine Angst vor uns hatten. Die Seelen hatten Großvater beigebracht, er dürfe die Jocopo nicht so bekämpfen, wie sie es wollten, sondern müsse sie dazu bringen, daß sie die Nacht fürchteten, das menschenleere Grasland und jeden Schrei eines Vogels, eines Frosches, eines Käfers.
Auf jeden Schlammenschen kamen fünf Jocopo. Anfangs hatten sie wegen ihrer großen Zahl keine Angst vor uns. Wir töteten Jocopo, wenn sie auf der Jagd waren, wenn sie ihre Felder bestellten, wenn sie ihre Tiere versorgten, wenn sie Wasser holen gingen, wenn sie schliefen. Ohne Unterschied. Jeden von ihnen. Wir haben nicht mit ihnen gekämpft, sie bloß getötet. Bis es keine Jocopo mehr gab in dieser Welt — nur in der Welt der Seelen.«
Sie fragte sich kurz, ob das hieß, daß sie auch die Kinder getötet hatten, doch die Antwort kannte sie: es gab keine Jocopo mehr. Ihr fiel noch etwas anderes ein, was ihr Vater ihr beigebracht hatte: Wenn man dir einen Krieg aufzwingt, dann ist es deine Pflicht, keine Gnade zu zeigen. Gewiß wird man dir gegenüber keine Gnade walten lassen, und du machst dich zum Verräter deines Volkes und gemein mit deinem Feind, wenn du Nachsicht übst, denn dein Volk wird jeden deiner Fehler mit dem Leben bezahlen.
»Ich verstehe, Chandalen. Dein Volk hat das einzig Mögliche getan. Dein Großvater hat getan, was nötig war, um sein Volk zu schützen. Mein Vater hat mir auch beigebracht: ›Wenn man dir einen Krieg aufzwingt, dann mache ihn zu einem Krieg, wie ihn sich dem Feind nicht in seinen schlimmsten Alpträumen vorstellen kann. Alles andere hieße, den Sieg deinem Feind zu überlassen.‹«
»Dein Vater kennt ebenfalls die Seelen seiner Vorfahren. Er hat gut daran getan, dir ihre Lektionen beizubringen.« Er senkte mitfühlend die Stimme. »Aber ich weiß, es ist hart, nach diesen Regeln zu leben, und man erscheint in den Augen der anderen leicht unversöhnlich.«
»Ich weiß, wie wahr das ist. Dein Großvater hat den Schlammenschen ihre Ehre wiedergegeben, Chandalen. Ich bin sicher, als das erledigt war, hat er viele Tränen über die Getöteten aus seinem Volk vergossen.«
Chandalen löste das Band um seinen Hals und ließ seinen Umhang von den Schultern gleiten und zu Boden fallen. Er trug ein Hemd und eine Hose aus schwerem Wildleder. Auf jeder Schulter, gehalten von einem Band aus gewebter Wildbaumwolle um seinen Oberarm, hatte er ein Knochenmesser. Das untere Ende war zugespitzt, und das Knöchelbein am anderen Ende war ebenfalls mit Baumwolle umwickelt, damit man es besser halten konnte. Am oberen Ende waren schwarze Federn befestigt.
Er tippte auf einen der Knochen. »Dieser stammt von meinem Großvater.« Er berührte den anderen. »Dieser stammt von meinem Vater. Wenn ich eines Tages einen kräftigen Sohn habe, wird er einen von mir tragen und einen von meinem Vater, und der meines Großvaters wird dann in der Erde zur Ruhe gelegt.«
Als Kahlan die Knochenmesser zum erstenmal gesehen hatte, beim Verlassen des Dorfes der Schlammenschen, hatte sie sie für rituelle Gegenstände gehalten. Doch jetzt wurde ihr klar, daß dem nicht so war. Es waren richtige Waffen: Waffen der Seelen.
»Was sind das für Federn?«
Er strich über die glänzendschwarze Feder des einen auf seiner rechten Schulter. »Unser damaliger Vogelmann hat sie angebracht, als es geschnitzt wurde.« Er berührte die Feder auf seiner linken Schulter. »Diese hier hat unser jetziger Vogelmann angebracht. Es sind Rabenfedern.«
Der Rabe galt bei den Schlammenschen als mächtige Seele. Sein Bild beschwor den Tod herauf. Die Vorstellung, ein Messer zu tragen, das aus dem Armknochen des eigenen Vaters oder Großvaters hergestellt war, hatte etwas Schauriges, doch sie wußte, daß es für Chandalen eine Ehre war, deshalb sagte sie nichts, um ihn nicht zu kränken. »Es ist ehrenvoll für mich, Chandalen, daß du die Seelen deiner Vorfahren zu meinem Schutz aufbietest.«
Er sah nicht glücklich aus. »Der Vogelmann sagt, ihr gehört auch zu den Schlammenschen und müßt daher beschützt werden, also habe ich sie angelegt. Es ist meine Pflicht.«
Er strich noch einmal mit der Hand über den Knochen seines Großvaters. »Mein Großvater hat meinem Vater beigebracht, daß sie die Beschützer unseres Volkes sind — und meinem Onkel Toffalar, dem Mann, den ihr getötet habt.« Er berührte den Knochen seines Vaters. »Mein Vater hat es mir beigebracht. Ich werde es meinem Sohn beibringen, wenn er kommt, und eines Tages wird er meine Seele bei sich tragen, wenn er unser Volk beschützt. Seit damals, als wir die Jocopo getötet haben, haben wir nicht mehr viele auf unser Land gelassen. Die Seelen unserer Vorfahren haben uns gelehrt, andere nach deren Belieben zu uns einzuladen, heißt, den Tod einzuladen. Die Seelen sprechen die Wahrheit. Du hast Richard mit dem Zorn zu uns gebracht, und wegen ihm ist Darken Rahl gekommen und hat viele aus unserem Volk getötet.«
Darauf lief es also hinaus. Chandalen sollte sein Volk beschützen, trotzdem waren Menschen getötet worden, und er hatte nichts dagegen tun können. »Die Seelen der Vorfahren haben uns geholfen, die Schlammenschen zu retten, Chandalen, und zahllose andere auch. Sie haben erkannt, daß Richard aufrichtigen Herzens war und daß er genau wie du sein Leben riskierte, um andere zu retten, die keinen Krieg wollten.«
»Er ist im Seelenhaus geblieben, während Darken Rahl unsere Leute umgebracht hat. Er hat nicht einmal versucht, ihn aufzuhalten. Er hat nicht gekämpft. Er hat unsere Leute sterben lassen.«
»Weißt du auch, warum?« Sie wartete, während er mit versteinerter Miene dastand. Als er nicht antwortete, fuhr sie fort. »Die Seelen haben ihm gesagt, wenn er auszieht, um Darken Rahl zu töten, dann würde er kämpfen, wie Darken Rahl kämpfte, und Richard wäre gestorben und hätte niemandem helfen können. Sie haben ihm erklärt, wenn er Darken Rahl wirklich besiegen und den Rest der Schlammenschen retten wolle, dann dürfe er nicht kämpfen wie Darken Rahl, sondern müsse warten und auf seine eigene Art kämpfen, später — genau wie es die Seelen deinem Großvater beigebracht haben.«
Er sah sie skeptisch an. »Das behauptet er.«
»Ich war dabei, Chandalen. Ich habe gehört, wie sie es gesagt haben. Richard wollte kämpfen. Er hat vor Enttäuschung geweint, als die Seelen ihm erklärten, er dürfe nicht. In diesem Augenblick gab es nichts, was man hätte tun können, um Darken Rahl aufzuhalten. Es war weder Richards Fehler noch deiner. Du hättest nichts tun Können, um ihn aufzuhalten, genausowenig, wie Richard etwas hätte tun können. Hätte er es versucht, wäre er jetzt tot, und Darken Rahl hätte gesiegt.«
Er beugte sich ein wenig zu ihr vor. »Hättest du ihn nicht mitgebracht, wäre es nicht passiert. Darken Rahl wäre nicht gekommen, um nach ihm zu suchen.«
Kahlan richtete sich entschlossen auf. »Chandalen, weißt du eigentlich, was ich tue. Worauf ich mich spezialisiert habe?«
»Ja. Wie alle Konfessoren machst du den Menschen angst, damit du ihnen sagen kannst, was sie tun sollen, und weil sie Angst haben, tun sie, was du sagst.«
»So ungefähr. Ich sitze dem Rat der Midlands vor. Ich vertrete alle Völker und wahre ihre Rechte. Ich ermögliche es Völkern wie den Schlammmenschen, so zu leben, wie sie wollen.«
»Wir beschützen uns selbst.«
Sie nickte ihm nüchtern zu. »Glaubst du wirklich? Auf jeden Schlammmenschen kamen fünf Jocopo. Dein Großvater war mutig und hat einen Feind besiegt, der ihm zahlenmäßig überlegen war. Doch auf jeden Mann, auf jede Frau und jedes Kind der Schlammenschen kommen in dieser Stadt über einhundert tote Soldaten, und dies ist nur eine Stadt dieses Landes. Sie alle wurden besiegt, als wären sie nichts. Einhundert Krieger auf jeden Schlammenschen, und sie haben tapfer gekämpft, wie du selbst gesagt hast. Welche Chance, glaubst du, hättet ihr gegen eine Armee, die so viele Krieger besiegen kann? Gegen eine Armee, die nur halb so groß wäre?«
Chandalen verlagerte sein Gewicht, sagte aber nichts.
»Es gibt Länder, Chandalen, die nichts zu sagen haben, wie die Schlammenschen und die Bantak. Sie sind im Rat nicht vertreten. Die größeren Länder, wie dieses und jenes, das es besiegt hat, sind sehr mächtig. Und doch hat Darken Rahl sie erobert. Ich spreche für die Länder, die keine Stimme im Rat haben. Ich trete für euren Wunsch ein, ungestört zu bleiben, und verbiete anderen, in euer Land einzudringen.
Wenn ich ihnen nicht angst machen und ihnen nicht sagen könnte, was sie tun sollen, würden sie euer Land für sich beanspruchen. Du hast das Land gesehen, durch das wir gekommen sind. Der größte Teil davon ist schwer zu bepflanzen. Die Menschen würden euer Land nehmen, um Felder anzulegen und Tiere zu züchten. Euer geheiligtes Grasland würde niedergebrannt und bestellt und mit Getreide bepflanzt werden, das man gegen Gold eintauscht.
So tapfer und stark du auch bist, du wärst nicht in der Lage, dein Volk zu schützen. Dein Land würde vor lauter Fremden nur so wimmeln. Nur weil du tapfer und stark bist, mußt du nicht siegen. Die Soldaten hier waren tapfer und stark und hundertmal so viele wie ihr, und sieh dir an, was mit ihnen geschehen ist. Und dies ist nur eine Stadt. Es gibt viele, die größer sind. Tapfer sein bedeutet nicht, daß man sich dumm verhalten muß, Chandalen. Du hast gesehen, was hier angerichtet wurde. Wie lange, glaubst du, könntest du gegen eine Armee wie diese kämpfen, die so etwas angerichtet hat? Selbst wenn jeder deiner Männer fünfzig Gegner tötet, es würde kaum auffallen. Ihr wärt wie die Jocopo — verschwunden. Bis zum allerletzten Mann.«
Kahlan tippte sich mit dem Finger auf die Brust. »Ich bin es, die ihnen sagt, daß sie das nicht dürfen. Vor dir haben sie keine Angst, aber mich fürchten sie — zusammen mit dem Bund, den ich vertrete. Es gibt gute Völker in den Midlands, Völker, die bereit sind, zu kämpfen, um andere zu beschützen, die weniger mächtig sind. Die Toten hier gehören einem solchen Volk an. Sie haben mich stets unterstützt, wenn ich gesagt habe, kein Land dürfte ein anderes überfallen, um Gebiete hinzuzugewinnen. Ich stehe dem Rat der Midlands vor und halte die Länder zusammen, die Frieden wollen. Unter meiner Führung würden sie jeden bekämpfen, der einen Krieg gegen andere beginnt. Ja, ich mache den Menschen angst, damit sie tun, was ich sage. Aber nicht, weil es mir um die Herrlichkeit der Macht geht. Ich verfüge über diese Macht nur, um die Völker der Midlands — die Schlammenschen eingeschlossen — vor Unterdrückung zu bewahren. Diese Menschen hier haben gekämpft, damit alle Völker der Midlands in Freiheit leben können. Sie haben für dich gekämpft, für deine Rechte, obwohl du von dem Blut nichts wußtest, das sie deinetwegen vergossen haben.«
Sie raffte ihren Umhang fester um sich. »Du hast noch nie für sie kämpfen müssen — bis Darken Rahl euch alle bedrohte. Ich bin mit Richard zu den Schlammenschen gekommen, weil ich Hilfe gesucht habe. Die Seelen deiner Vorfahren haben die Wahrheit unseres Kampfes erkannt und uns geholfen, damit die Schlammenschen und alle anderen in Freiheit leben können. Zum erstenmal mußten die Schlammenschen Blut für die Midlands vergießen. Die Seelen deiner Vorfahren haben die Wahrheit dessen erkannt und uns geholfen. Die Völker der Midlands schulden den Schlammenschen etwas für dieses Opfer, aber ebenso seid ihr ihnen etwas schuldig.
Richard mit dem Zorn hat sein Leben für dein Volk riskiert. Er hat, genau wie du, in diesem Kampf liebe Freunde verloren. Er hat Dinge erlitten, die du niemals wirst begreifen können. Du kannst dir nicht vorstellen, was Darken Rahl ihm angetan hat, bevor Richard ihn getötet hat.«
Kahlan war außer sich. Ihr heißer Atem stieg in Wolken in die kalte Luft.
»Ich mache den Menschen angst, damit ihr weiter blind und halsstarrig bleiben könnt. Richard und ich haben gekämpft, um zu verhindern, daß die Völker der Midlands, die Schlammenschen eingeschlossen, niedergemetzelt werden, so wie die Jocopo Schlammenschen ermordet haben. Und das, obwohl ihr uns eure Hilfe verweigert, ja sogar schlichte Dankbarkeit.«
Die Stille dröhnte ihnen in den Ohren.
Chandalen trat langsam ans Geländer und fuhr bedächtig mit einem Finger über dessen polierte Oberfläche. Sie sah zu, wie ein Wölkchen seines Atems sich langsam verflüchtigte, um gleich vom nächsten gefolgt zu werden. Leise sagte er: »Du hältst mich für halsstarrig. Ich halte dich für halsstarrig. Vielleicht hätten uns unsere Väter auch beibringen sollen, zu erkennen, daß Menschen tun, was sie tun, nicht deshalb, weil sie halsstarrig sind, sondern weil sie Angst um die haben, die sie beschützen wollen. Vielleicht sollten wir beide erkennen, daß wir nicht bloß hart sind, sondern nach bestem Wissen handeln, damit unser Volk in Sicherheit leben kann.«
Überraschenderweise huschte ein schmales Lächeln über Kahlans Gesicht. »Vielleicht ist Chandalen nicht so blind, wie ich dachte. Ich werde selbst auch versuchen, besser hinzuschauen und dich als den Ehrenmann zu sehen, der du bist.«
Er nickte und mußte ebenfalls kurz lächeln. »Richard mit dem Zorn ist kein dummer Mann.« Er legte seine Hände auf das Geländer und ließ den Blick über den ersten Stock schweifen. »Er hat gesagt, wenn er einen Mann aussuchen müßte, der neben ihm kämpfen soll, dann würde er Chandalen auswählen.«
»Da sprichst du die Wahrheit«, meinte sie leise. »Er ist nicht dumm.«
»Richard hat sich auch als dein Gatte geopfert. Er hat unsere Männer davor gerettet, erwählt zu werden, da du sicher einen von uns erwählt hättest, weil wir so stark sind.« Er hob vor Stolz die Stimme. »Wahrscheinlich hättest du mich auserwählt, damit du den stärksten Gatten bekommst. Richard hat mich also gerettet.«
Kahlan mußte gegen ihren Willen lächeln, als er über das Geländer starrte. »Es tut mir leid zu hören, daß du es als eine Last empfindest, mein Gatte zu sein.«
Chandalen kam zu ihr zurück. Er blieb einen Augenblick lang stehen, dann begann er, das Band an seinem rechten Arm zu lösen. Er nahm das Band und das Knochenmesser ab und hielt es ihr hin.
»Großvater wäre stolz, dich zu beschützen, eine der Seinen, eine aus dem Volk der Schlammenschen.« Er schlug den Umhang über ihre linke Schulter zurück.
»Chandalen, das kann ich nicht annehmen. Es enthält die Seele deines Großvaters.«
Er achtete nicht auf ihre Worte und schnürte das Band um ihren linken Arm. »Ich trage die Seele meines Vaters bei mir, und ich bin stark. Du kämpfst, um unser Volk zu beschützen. Großvater würde in deinem Kampf bei dir sein wollen. Du erweist ihm eine Ehre.«
Sie hob das Kinn, als er das Knochenmesser unter das Band steckte. »Also gut. Ich fühle mich geehrt, die Seele deines Großvaters bei mir zu wissen.«
»Sehr gut. Jetzt ist es deine Pflicht, zu kämpfen, wie mein Großvater gekämpft hat, um dein Volk zu schützen. Dein ganzes Volk.« Er hob ihre rechte Hand und legte sie auf das Knochenmesser. »Schwöre, diese Pflicht in deinem Herzen zu tragen.«
»Ich habe bereits geschworen, die Schlammenschen und andere Völker der Midlands zu beschützen. Ich habe schon dafür gekämpft und werde weiter kämpfen — für euch alle.«
Er drückte ihre Hand fester auf den Knochen. »Schwöre es Chandalen.«
Sie betrachtete lange sein entschlossenes Gesicht. »Du hast meinen Eid, Chandalen. Ich schwöre es dir.«
Lächelnd zog er den Umhang wieder über ihre Schulter und damit über das Knochenmesser. »Wenn ich ihn wiedersehe, wird Chandalen Richard mit dem Zorn dafür danken, daß er mich davor bewahrt hat, Gatte der Mutter Konfessor zu werden. Ich werde ihm nur Gutes wünschen. Auch er kämpft für die Schlammenschen, wie der Vogelmann uns gesagt hat.«
Kahlan bückte sich, um seinen Umhang aufzuheben. »Hier. Zieh das wieder an. Ich will nicht, daß du erfrierst. Du mußt mich noch nach Aydindril zurückbringen.«
Er nickte, das schmallippige, angespannte Lächeln noch immer im Gesicht, während er sich den Umhang über die Schultern warf. Sein Lächeln erlosch, als er zu den Türen hinübersah. »Jemand war hier, seit das getan wurde.«
Kahlan runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf?«
»Warum hast du die Türen zugemacht, nachdem du nachgesehen hattest?«
»Aus Respekt vor den Toten.«
»Als wir zu ihnen kamen, waren sie bereits geschlossen. Wer immer diese Vergewaltigungen begangen hat, hatte keinen Respekt. Niemals hätten sie alle Türen geschlossen. Sie wollten, daß jeder, der hierherkommt, sieht, was sie getan haben. Jemand war hier und hat die Türen zugemacht.«
Kahlan warf einen Blick auf die Türen und sah, was er meinte. »Ich glaube, du hast recht.« Sie schüttelte den Kopf. »Wer das getan hat, hätte die Türen nicht zugemacht.«
Chandalen lehnte sich wieder an das Geländer und blickte die breite Treppe hinab. »Warum sind wir hier?«
»Weil ich wissen mußte, was diesen Menschen zugestoßen ist.«
»Das hast du draußen schon gesehen. Warum also?«
Kahlan warf einen kurzen Blick auf die Treppe, die in das oberste Stockwerk führte. »Weil ich wissen muß, ob die Königin ebenfalls getötet wurde.«
Er sah sie über seine Schulter an. »Bedeutet sie dir etwas?«
Plötzlich merkte Kahlan, wie sehr ihr Herz klopfte. »Ja. Erinnerst du dich an die Statuen neben der Tür, durch die wir hereingekommen sind?«
»Eine Frau und ein Mann.«
Sie nickte. »Die Statue der Frau ist eine Statue ihrer Mutter. Meine Mutter war ein Konfessor. Die Statue des Mannes ist eine Statue ihres Vaters. König Wyborn. Er war auch mein Vater.«
Chandalen zog eine Braue hoch. »Du bist eine Schwester dieser Königin?«
»Eine Halbschwester.« Sie nahm ihren Mut zusammen und ging zur Treppe. »Sehen wir nach, ob sie hier ist. Danach können wir uns auf den Weg nach Aydindril machen.«
Kahlans Herz klopfte noch immer, als sie vor der Tür zu den Gemächern der Königin stand. Sie brachte es nicht fertig, sie zu öffnen.
»Möchtest du, daß ich für dich nachsehe?«
»Nein«, sagte sie. »Ich muß es mit eigenen Augen sehen.«
Sie drehte den Knauf. Die Tür war verschlossen, doch der Schlüssel steckte. Sie berührte die eiskalte Metallplatte. »Dies ist so ein Schloß, von dem ich dir erzählt habe«, klärte sie ihn auf, während sie den Schlüssel abzog und in die Höhe hielt. »Das ist ein Schlüssel.« Sie steckte den Schlüssel wieder hinein und drehte ihn mit zitternden Fingern. »Wenn man den richtigen Schlüssel hat, kann man das Schloß öffnen und schließlich die Tür.«
Offensichtlich hatte jemand die Tür aus Respekt vor der Königin abgeschlossen.
Die Fenster waren intakt, wie auch die Möbel. Im Zimmer war es eisig kalt wie im übrigen Palast, doch plötzlich nahm ihnen der Gestank den Atem, und sie mußten die Luft anhalten.
Das gesamte äußere Wohnzimmer war mit menschlichen Exkrementen bedeckt. Die beiden erstarrten schockiert. Dunkle Haufen sprenkelten den Teppich, lagen auf Schreibtisch und Tisch. Die blauen Samtvorhänge und Sofas waren von gefrorenem, gelbem Urin durchtränkt. Irgend jemand hatte sogar mitten im Kamin abgehockt.
Den Umhang vor die Nase haltend, staksten sie vorsichtig durch das Zimmer bis hin zur nächsten geschlossenen Tür. Das Schlafgemach der Königin war noch übler zugerichtet. Es gab kaum eine Stelle, wo man den Fuß hätte hinsetzen können, ohne hineinzutreten. Doch so bedeckt der Fußboden auch war, das Bett war schlimmer: es war mit Fäkalien überhäuft. Die fein gemalten Blumenmuster an den Wänden waren damit beschmiert. Wäre nicht alles hart gefroren gewesen, der Gestank hätte sie aus dem Raum getrieben. Es war bereits so kaum zu ertragen.
Zum Glück gab es hier keine Toten. Die Königin war nicht da.
Die Namen auf Kahlans schwarzer Liste der möglichen Täter fielen fort, und übrig blieb nur ein einziges Volk. Jenes, das auch vorher schon ganz oben gestanden hatte.
»Keltonier«, stieß sie hervor, mehr zu sich selbst.
Chandalen war verblüfft. »Warum tun diese Männer so etwas? Sind es Kinder, die es nicht besser wissen?«
Nachdem sie sich noch ein letztes Mal umgesehen hatte, ging Kahlan mit ihm zurück auf den Korridor, schloß die Tür wieder ab und holte tief Luft. »Es ist eine Botschaft. Es soll ihre Verachtung für die hier lebenden Menschen zeigen. Damit sagen sie, daß sie für diese Menschen und für alles, was ihnen gehört, nichts als Geringschätzung übrig haben. Sie haben die Ehre ihres Feindes auf jede mögliche Art, die ihnen in den Sinn gekommen ist, beschmutzt.«
»Wenigstens ist deine Halbschwester nicht hier.«
Kahlan zog die Bänder ihres Umhangs am Hals behaglich zusammen. »Wenigstens etwas.«
Als sie die Stufen hinunterstieg, blieb sie kurz stehen, um einen letzten Blick auf die verschlossenen Türen des ersten Stocks zu werfen. Chandalen beobachtete sie, nachdem auch er noch einen kurzen Blick auf die Türen geworfen hatte.
Um die Stille zu brechen, sagte sie: »Wir müssen nachsehen, wo Tossidin und Prindin sind.«
Der Zorn stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Macht dich das nicht wütend?«
Erst jetzt bemerkte sie, daß sie ihre Konfessormiene aufgesetzt hatte. »Es würde mir nichts nützen, wenn ich meinen Ärger jetzt zeige. Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du erfahren, wie wütend ich tatsächlich bin.«