3

Im Näherkommen ließ Zedd den Blick über die Toten und die Sterbenden schweifen. Überall war Blut, es war unmöglich, nicht hineinzutreten. Es tat ihm im Herzen weh, als er die Verletzten sah. Ein einziger Screeling? Was, wenn noch mehr kamen?

»Kommandant! Laßt ein paar Heilerinnen holen. Hier gibt es mehr Verletzte, als ich versorgen kann!«

»Schon geschehen, Zauberer Zorander.«

Zedd nickte und machte sich daran, die Verwundeten zu untersuchen. Soldaten der Ersten Rotte schafften die Toten, von denen viele zu ihren eigenen Leuten gehörten, aus dem Weg und spendeten den Verletzten Trost. Zedd legte ihnen die Hand an die Schläfe, um die Verletzungen zu erspüren und zu erfühlen, was ein Heiler erledigen konnte und was mehr Zuwendung erforderte.

Er berührte einen jungen Soldaten, dessen Atem rasselnd ging, während er Blut spuckte. Zedd stöhnte auf, als er seine Verletzung erfühlte. Ein kurzer Blick nach unten zeigte ihm die Rippenknochen, die durch ein faustgroßes Loch im Brustpanzer nach außen gerissen worden waren. Zedd drehte sich der Magen um. Trimack kniete auf der anderen Seite des Jungen. Der Zauberer blickte kurz hoch zum Kommandanten, der nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Der junge Mann hatte nur noch wenige Dutzend Atemzüge zu machen.

»Fahrt fort«, meinte der Kommandant mit leiser Stimme, »ich werde bei dem Jungen bleiben.«

Zedd zog weiter, indes Trimack die Hand des jungen Mannes ergriff und versuchte, ihm ein wenig Trost zu spenden. Drei Frauen mit langen, braunen Röcken, auf die Reihen von Taschen aufgenäht waren, kamen herbeigeeilt. Ihre wissenden Blicke erfaßten die Lage, ohne mit der Wimper zu zucken.

Die drei Frauen zogen Bandagen und Verbände aus den großen Taschen und machten sich augenblicklich daran, Wunden zu vernähen und Arzneien zu verabreichen. Bei den meisten Verwundungen reichte das Geschick der Frauen, und wo nicht, wußte auch der Zauberer nicht mehr zu helfen. Zedd bat eine der drei Frauen, jene, die am wenigsten danach aussah, als würde sie sich Protest gefallen lassen, nach Chase zu sehen. Zedd sah ihn mit auf die Brust gesacktem Kinn hinten in der Halle auf der Bank hocken, auf dem Boden neben ihm Rachel, die die Arme um sein Bein geschlungen hatte.

Zedd und die beiden anderen Heilerinnen gingen zwischen den auf dem Boden hegenden Menschen umher, halfen, wo sie konnten, machten sich weiter auf, wo es für sie nichts mehr zu tun gab. Eine der Heilerinnen rief nach ihm. Sie stand über eine Frau in mittleren Jahren gebeugt, die versuchte, sie fortzuwinken.

»Bitte«, meinte sie mit schwacher Stimme, »helft den anderen. Mir geht es gut. Ich brauche nur ein wenig Ruhe. Bitte. Helft den anderen.«

Zedd spürte sein feuchtes, blutgetränktes Gewand an den Knien, als er neben ihr in die Hocke ging. Sie stieß seine Hände fort. Mit der anderen Hand hielt sie sich den Bauch, um zu verhindern, daß ihre Eingeweide aus einer Rißwunde in ihrem Unterleib heraustraten.

»Bitte. Es gibt noch andere, die Hilfe brauchen.«

Zedd hob eine Braue und blickte in ihr aschfahles Gesicht. An einer feinen Goldkette in ihrem Haar hing ein blauer Stein, der auf ihrer Stirn lag. Der blaue Stein paßte so genau zu ihren Augen, daß man meinen mochte, sie hätte deren drei. Der Zauberer glaubte, den Stein wiederzuerkennen, und fragte sich, ob das möglich war oder ob es nur ein aus einer Laune heraus gekauftes Geschmeide war. Sehr lange hatte er niemanden mehr gesehen, der einen solchen Stein als Zeichen seiner Berufung trug. Gewiß hatte diese junge Frau keine Ahnung, was er bedeutete.

»Ich bin Zauberer Zeddicus Zu’l Zorander. Und wer bist du, mein Kind, daß du mir Befehle gibst?«

Ihr Gesicht wurde noch blasser. »Vergebt mir, Zauberer…«

Sie beruhigte sich, als Zedd ihr die Fingerspitzen auf die Stirn legte. Der Schmerz raubte ihm mit einer Plötzlichkeit den Atem, daß er seine Finger zurückriß. Nur mit Mühe konnte er die Tränen unterdrücken.

Augenblicklich stand für ihn zweifelsfrei fest: sie trug den Stein tatsächlich als Zeichen ihrer Berufung. Der Stein, der zur Augenfarbe passen mußte und wie ein drittes Auge auf der Stirn getragen wurde, galt als Talisman, der ihre innere Vision kundtat.

Eine Hand packte ihn hinten am Gewand und zerrte daran.

»Zauberer!« kam eine quengelnde Stimme von hinten. »Du wirst dich zuerst um mich kümmern!« Zedd drehte sich um und sah sich einem Gesicht gegenüber, das zu der Stimme paßte, sie vielleicht sogar noch ein wenig übertraf. »Ich bin Lady Ordith Condatith de Dackidvich aus dem Hause von Burgalass. Dieses Frauenzimmer ist nur meine Leibdienerin. Wäre sie so schnell gewesen, wie sie hätte sein sollen, würde ich nicht so leiden! Ich hätte getötet werden können, so sehr hat sie getrödelt! Du wirst erst mich versorgen! Ich kann jeden Augenblick mein Leben aushauchen!«

Zedd brauchte sie nicht einmal zu berühren, um zu wissen, wie geringfügig ihre Verletzungen waren. »Vergebt mir, Mylady.« Er tat, als legte er ihr die Finger an die Stirn. Wie er sich gedacht hatte: eine schwere Prellung der Rippen, ein paar kleinere an den Beinen, eine kleine Schnittwunde am Arm, die schlimmstenfalls mit ein, zwei Stichen vernäht werden mußte.

»Nun?« Sie griff nach der silbernen Krause um ihren Hals. »Zauberer«, murmelte sie. »Nutzloses Pack, wenn du die Wahrheit wissen willst. Und diese Wachen! Haben doch wieder auf ihrem Posten geschlafen! Das wird Lord Rahl erfahren! Nun? Was ist mit meinen Verletzungen?«

»Mylady, ich bin nicht sicher, ob ich noch etwas für Euch tun kann.«

»Was!« Sie packte ihn am Kragen seines Gewandes und zerrte heftig daran. »Du solltest dein Bestes geben, sonst gebe ich mein Bestes, damit Lord Rahl deinen Kopf auf eine Lanze spießt! Dann wollen wir doch mal sehen, was dir deine Zauberei nützt!«

»Gewiß, Mylady Ich werde bestrebt sein, mein Bestes zu geben.«

Er riß den kastanienbraunen Samtstoff des Ärmels an dem kleinen Einschnitt auseinander, verwandelte ihn in einen riesigen, herunterhängenden Lappen, dann legte er seine Hand wieder der Frau mit dem blauen Stein auf die Schulter. Die Verwundete stöhnte auf, als er einen Teil ihrer Schmerzen blockierte und ihre Kräfte stärkte. Ihr stockender Atem wurde gleichmäßiger. Er ließ seine Hand auf ihrer Schulter liegen und verströmte zur Beruhigung und zum Trost ein wenig Magie in ihrem Körper.

Lady Ordith stieß einen schrillen Schrei aus. »Mein Kleid! Du hast mein Kleid ruiniert!«

»Tut mir leid, Mylady, aber wir dürfen nicht riskieren, daß die Wunde brandig wird. An Eurer Stelle würde ich eher auf das Kleid verzichten als auf einen Arm, was denkt Ihr?«

»Nun ja, ich denke…«

»Zehn bis fünfzehn Stiche sollten genügen«, sagte er zu der stämmig gebauten Heilerin, die vornübergebeugt zwischen den beiden auf dem Boden liegenden Frauen stand. Der Blick aus deren harten, graublauen Augen wanderte kurz zu der winzigen Wunde, dann zurück zum Zauberer.

»Sicherlich wißt Ihr das am besten, Zauberer Zorander«, sagte sie mit ruhiger Stimme, und nur ihr Blick verriet, daß sie seine wahre Absicht verstanden hatte.

»Was! Du läßt diese Kuh von einer Hebamme deine Arbeit tun?«

»Mylady, ich bin ein alter Mann. Nähen hat noch nie zu meinen Stärken gehört, und meine Hände zittern fürchterlich. Ich fürchte, ich würde mehr Schaden anrichten, als ich gutmachen kann, aber wenn Ihr darauf besteht, werde ich natürlich versuchen, mein Bestes zu geben…«

»Nein«, meinte sie verschnupft. »Soll die Kuh es eben tun.«

»Sehr wohl.« Er blickte zu der Heilerin hinauf. Ihr Gesicht verriet keinerlei Regung, nur ihre Wangen hatten sich ein wenig rot gefärbt. »Ich fürchte, gegen ihre anderen Verletzungen gibt es nur ein erfolgversprechendes Mittel, bedenkt man die Qualen, die sie erleiden muß. Hast du ein wenig Flechtwurz in deinen großen Taschen?«

Sie runzelte leicht verwirrt die Stirn. »Ja, aber…«

»Gut«, unterbrach er sie. »Ich denke, zwei Würfel dürften genügen.«

Sie zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Zwei?«

»Wagt ja nicht, mir knauserig zu kommen!« kreischte Lady Ordith. »Wenn es nicht für alle reicht, wird jemand von geringerer Bedeutung eben verzichten müssen! Ich verlange jedenfalls die volle Dosis!«

»Sehr wohl.« Zedd schaute kurz zur Heilerin hinauf. »Verabreiche ihr die volle Dosis. Drei Würfel, zerkleinert, nicht am Stück.«

Die Heilerin riß die Augen noch ein Stück weiter auf und fragte tonlos flüsternd: »Zerkleinert?« Zedd zwinkerte und nickte beharrlich. Seine Mundwinkel kräuselten sich zu einem Schmunzeln nach oben, das er nicht mehr bändigen konnte.

Flechtwurz betäubte bei kleineren Verletzungen den Schmerz, doch sie konnte im Stück geschluckt werden. Ein kleiner Würfel war mehr als genug. Zerkleinert und in dieser Menge würde sie Lady Ordiths Innerstes nach außen kehren. Die gute Frau würde den größten Teil der nächsten Woche auf ihrem Abtritt verbringen.

»Wie heißt du, Liebes?« fragte er die Heilerin.

»Kelly Hallick.«

Zedd entfuhr ein müder Seufzer. »Kelly, gibt es noch andere, die deine beträchtlichen Fähigkeiten überfordern?«

»Nein, Sir. Middea und Annalee sind gerade dabei, die letzten zu verarzten.«

»Dann bring Lady Ordith bitte an einen Ort, wo sie nicht … wo es bequemer für sie ist, während du dich um sie kümmerst.«

Kelly betrachtete die Frau, der Zedd zum Trost die Hand aufgelegt hatte, und den Riß in ihrem Unterleib, dann sah sie ihm wieder in die Augen. »Natürlich, Zauberer Zorander. Ihr seht sehr müde aus. Wenn Ihr später zu mir kommen wollt, bereite ich Euch einen Stenadine-Tee.« Wieder umspielte das dünne Lächeln ihre Mundwinkel.

Auch Zedd konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Neben seiner anregenden Wirkung wurde Stenadine auch benutzt, um Liebhabern neue Kraft und Ausdauer zu verleihen. Aus dem Funkeln in ihren Augen schloß er, daß sie sehr guten Stenadine-Tee bereitete.

Er zwinkerte Kelly zu. »Vielleicht werde ich tatsächlich kommen.« Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er es ernsthaft in Erwägung gezogen — Kelly war eine hübsche Frau –, doch im Augenblick war es das letzte, an das er jetzt denken konnte.

»Lady Ordith, wie lautet der Name Eurer Leibdienerin?«

»Jebra Bevinvier. Ein vollkommen nutzloses Mädchen. Faul und unverschämt.«

»Nun, Ihr werdet Euch nicht mehr mit ihrer Unzulänglichkeit belasten müssen. Sie wird lange brauchen, bis sie sich wieder erholt hat, und Ihr werdet schon in Kürze den Palast verlassen.«

»Verlassen? Wovon redest du?« Sie reckte ihre Nase in die Luft. »Ich habe nicht die Absicht, von hier fortzugehen.«

»Der Palast ist für eine Lady von Eurer Wichtigkeit nicht mehr sicher. Ihr werdet zu Eurem eigenen Schutz abreisen müssen. Wie Ihr selbst gesagt habt, schlafen die Wachen die Hälfte der Zeit. Ihr müßt fort von hier.«

»Nun, ich habe ganz einfach nicht die Absicht…«

»Kelly« — er warf ihr einen strengen Blick zu — »bitte begleite Lady Ordith an einen Ort, wo du dich um sie kümmern kannst.«

Kelly schleppte Lady Ordith wie eine Ladung Wäsche von dannen, bevor diese Gelegenheit hatte, weiteren Ärger zu machen. Zedd wandte sich freundlich lächelnd an Jebra und strich ihr einige Strähnen ihres kurzen, sandfarbenen Haares aus dem Gesicht. Sie hielt einen Arm über ihre schwere Wunde. Es war Zedd gelungen, die Blutung größtenteils zum Stillstand zu bringen, doch das allein würde sie noch nicht retten. Was draußen lag, mußte wieder zurück an seinen Platz.

»Danke, Sir. Ich fühle mich schon viel besser. Wenn Ihr mir aufhelfen könntet, werde ich Euch nicht länger behelligen.«

»Lieg still, mein Kind«, sagte er leise. »Wir müssen uns unterhalten.«

Mit einem strengen Blick scheuchte er die Schaulustigen zurück. Den Soldaten der Ersten Rotte genügte dieser eine kurze Blick, und sofort drängten sie die Menschen auseinander.

Ihre Lippen bebten, als ihre Brust sich schneller hob und senkte. Sie nickte ihm kurz zu. Ihre Lider flatterten. »Ich werde sterben, nicht wahr?«

»Ich will dich nicht anlügen, Kind. Bereits im ausgeruhten Zustand würde die Behandlung der Wunde die Grenze meiner Fähigkeiten erreichen. Aber dir bleibt nicht mehr genug Zeit, daß ich mich ausruhen könnte. Wenn ich nichts unternehme, wirst du sterben. Und wenn ich es versuche, könnte dies dein Ende gar beschleunigen.«

»Wie lange noch?«

»Wenn ich nichts unternehme, vielleicht noch Stunden. Möglicherweise noch die Nacht. Ich könnte deine Schmerzen lindern, damit das Ende wenigstens erträglich wird.«

Sie schloß die Augen, als ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Ich hätte nie gedacht, daß ich so am Leben hänge.«

»Wegen des Steins der Seher, den du trägst?«

Sie riß die Augen auf. »Ihr wißt Bescheid? Ihr habt den Stein erkannt? Ihr wißt, was ich bin?«

»Ja, das tue ich. Die Zeiten sind längst vorbei, als die Menschen einen Seher noch am Stein erkannten, aber ich bin alt. Ich habe so etwas früher schon gesehen. Sollte ich dir deshalb nicht helfen? Hattest du Angst davor, was die Berührung mit mir machen könnte?«

Sie nickte schwach. »Aber plötzlich spüre ich, daß ich weiterleben möchte.«

Zedd tätschelte ihr die Schulter. »Genau das wollte ich hören, Kind. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin ein Zauberer Erster Ordnung, nicht irgendein Grünschnabel.«

»Erster Ordnung?« flüsterte sie mit großen Augen. »Ich wußte nicht, daß es noch einen davon gibt. Bitte, Sir, riskiert Euer Leben nicht für jemanden wie mich.«

Zedd lächelte. »Es ist kein großes Risiko, nur ein wenig schmerzhaft. Ich heiße übrigens Zedd.«

Sie dachte einen Augenblick lang nach, dann legte sie ihm die freie Hand auf den Arm. »Zedd … wenn ich die Wahl hätte … ich möchte weiterleben.«

Zedd lächelte ein wenig und strich ihr über die kalte, schweißbedeckte Stirn. »Dann verspreche ich dir, mir allergrößte Mühe zu geben.« Sie nickte. »Kannst du irgend etwas tun, Jebra, um die Schmerzen deiner Visionen zurückzuhalten?«

Sie biß sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf, während sie erneut in Tränen ausbrach. »Tut mir leid«, sagte sie leise, kaum hörbar. »Vielleicht solltet Ihr nicht…«

»Still, Kind«, tröstete er sie.

Zedd schöpfte tief Luft und legte eine Hand auf den Arm, der ihre Gedärme zurückhielt. Die andere legte er mit der Handfläche nach unten sachte über ihre Augen. Diese Wunde war keine, die er von außen hätte richten können. Es mußte von innen geheilt werden, mit Hilfe ihres eigenen Willens. Es konnte sie töten. Und ihn genauso.

Er wappnete sich und löste die Sperre in seinem Kopf. Der Aufprall der Schmerzen sog ihm die Luft aus den Lungen. Er wagte nicht, Kraft für einen Atemzug zu vergeuden. Er biß die Zähne zusammen und kämpfte mit vor Anstrengung zu Stein verhärteten Muskeln dagegen an. Dabei hatte er den Schmerz der Wunde noch nicht einmal angetastet. Er mußte sich um die Schmerzen ihrer Visionen kümmern und sie passieren, bevor er sich diesem Problem widmen konnte.

Unerträgliche Schmerzen sogen seinen Verstand in einen schwarzen Strom. Gespinste aus ihren Visionen wirbelten vorbei. Ihre Bedeutung konnte er nur erraten, doch die Schmerzen ihrer Existenz waren nur zu lebendig. Tränen schossen aus seinen fest geschlossenen Augen; er zitterte am ganzen Körper, während er sich unter größter Mühe durch den reißenden Strom der Ängste kämpfte. Auf keinen Fall durfte er sich von ihm fortschwemmen lassen, das wäre sein Ende und würde ihn verschlingen.

Die Gefühle ihrer Visionen schüttelten ihn durch, während er immer tiefer in ihren Verstand gesogen wurde. Düstere Gedanken dicht unter der Oberfläche der Wahrnehmung griffen nach seinem Willen und versuchten, ihn in die Tiefen der Hoffnungslosigkeit zu zerren. Seine eigenen schmerzhaften Erinnerungen drängten sich an die Oberfläche seines Bewußtseins und gesellten sich als entsetzliche Qualen und Wahnvorstellungen zu Jebras lebenslangem Kummer. Nur seiner Erfahrung und seiner Entschlossenheit war es zu verdanken, daß er weder Verstand noch seinen Willen verlor und nicht in die bodenlosen Wasser der Verbitterung und des Leids gesogen wurde.

Schließlich erreichte er das ruhige, weiße Licht im Zentrum ihres Seins. Zedd genoß die vergleichsweise milden Qualen ihrer lebensbedrohlichen Wunde in vollen Zügen. Die Wirklichkeit entsprach nur selten der Phantasie, und in der Phantasie war der Schmerz Wirklichkeit.

Voller Gier sog die kalte Finsternis ewiger Nacht rings um das ruhige Zentrum die schwindende Wärme und das Licht ihres Lebens in sich auf, um Jebras Geist für immer zu umnachten. Zedd riß diesen Schleier zurück, damit das Licht seiner Gabe ihren Geist mit Leben und Vitalität erfüllen konnte. Die Schatten wichen vor der Kraft seiner Additiven Magie zurück.

Die Kraft dieser Magie, ihr Verlangen nach Leben und nach Wohlergehen, sog die freigelegten Organe an die Stelle zurück, die der Schöpfer für sie vorgesehen hatte. Zedd wagte es noch immer nicht, Kraft darauf zu verschwenden, ihr Leiden abzublocken. Jebra krümmte sich und winselte vor Schmerzen. Auch er spürte ihre Pein. Sein Unterleib war von der gleichen Qual entflammt, die auch sie verspürte. Er erbebte unter ihrer brennenden Schärfe.

Als das Schlimmste, das, was jede Vorstellungskraft überstieg, vollbracht war, erübrigte er endlich einen Teil seiner Magie, um ihre Qualen abzublocken. Jebra sackte mit erleichtertem Stöhnen zusammen. Er spürte die Erleichterung am eigenen Leib.

Zedd benutzte seine Energie, um ihre Wunde zusammenzuziehen, damit sich Gewebe mit Gewebe, Fleisch mit Fleisch Schicht um Schicht wieder miteinander verbanden, bis hin zur Hautoberfläche, die sich zusammenfügte, als wäre sie nie aufgerissen gewesen.

Als er endlich fertig war, brauchte Zedd nur Jebras Gedanken zu entkommen. Das war ebenso gefährlich wie der Einstieg, und Zedds Kraft war beinahe verzehrt — er hatte sie ihr überlassen. Um nicht noch mehr Zeit mit unnützen Überlegungen zu verschwenden, überließ er sich dem Fluß der Schmerzen.

Fast eine Stunde nach Beginn fand er sich vornübergebeugt auf den Knien und unbeherrscht weinend wieder. Jebra saß aufrecht vor ihm, hatte die Arme um ihn geschlungen und drückte seinen Kopf an ihre Schulter. Als er merkte, daß er wieder zurück war, riß er sich sofort zusammen und richtete sich auf. Er sah sich in der Halle um. Die Leute waren ein gutes Stück zurückgedrängt worden, außer Hörweite. Niemand war erpicht darauf, sich in der Nähe eines Zauberers aufzuhalten, der eine Magie ausübte, bei der die Menschen derart schrien, wie Jebra das gerade getan hatte.

»Na also«, sagte er schließlich, nachdem er ein gewisses Maß an Haltung wiedergewonnen hatte, »das war doch gar nicht so schlimm. Ich glaube, jetzt ist alles wieder in Ordnung.«

Jebra lachte leise und benommen und drückte ihn fest an sich. »Ich wurde gelehrt, ein Zauberer könnte keinen Seher heilen.«

Es gelang Zedd, einen seiner dürren Finger zu erheben. »Ein gewöhnlicher Zauberer kann das auch nicht, meine Liebe. Aber ich bin Zeddicus Z’ul Zorander, ein Zauberer der Ersten Ordnung.«

Jebra wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich besitze nichts von Wert, mit dem ich Euch bezahlen könnte, nur das hier.« Sie löste das goldene Kettchen aus ihrem Haar und legte es ihm in die Hand. »Bitte, nehmt meine bescheidene Gabe an.«

Zedd betrachtete die Kette mit dem blauen Stein. »Das ist sehr freundlich von dir, Jebra Bevinvier. Ich bin gerührt.« Zedd verspürte ein leichtes Gefühl der Schuld, schließlich hatte er ihr den Impuls eingegeben. »Es ist eine hübsche Kette, und ich werde sie in Demut und Dankbarkeit entgegennehmen.« Mit einem fadendünnen Kraftstrom löste er den Stein aus seiner Fassung. Er gab den Stein zurück, er brauchte bloß die Kette. »Doch die Kette genügt als Bezahlung. Behalte deinen Stein, er gehört rechtmäßig dir.«

Mit einem Nicken schloß sie die Finger um den Stein und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Er ließ es lächelnd geschehen.

»Und nun, meine Liebe, mußt du dich dringend ausruhen. Ich habe eine ganze Menge deiner Kraft verbraucht, um die Dinge zu richten. Ein paar Tage Bettruhe vielleicht, und du fühlst dich praktisch wie neugeboren.«

»Ich fürchte, Ihr habt mich nicht nur gesund gemacht, sondern auch um meine Arbeit gebracht. Ich muß eine Arbeit finden, sonst habe ich nichts zu essen.« Sie ließ den Blick an dem blutverschmierten, zerfetzten Riß in ihrem Kleid entlanggleiten. »Und um mir etwas zum Anziehen zu kaufen.«

»Wieso hast du den Stein getragen, wenn du Dienerin bei Lady Ordith warst?«

»Nicht viele kennen die Bedeutung des Steins. Lady Ordith kannte sie nicht. Ihr Mann, der Graf, kannte sie. Er wollte meine Dienste, doch seine Frau hätte es niemals zugelassen, daß eine Frau in seinen Diensten steht, also stellte er mich als ihre Dienerin ein.

Ich weiß, es ist nicht gerade ehrenvoll für einen Seher, sich heimlich eine Stelle zu verschaffen, doch in Burgalass herrscht der Hunger. Meine Familie wußte von meinen Fähigkeiten und verschloß die Tür vor mir. Sie hatten Angst vor den Visionen, die ich von ihnen haben konnte. Bevor meine Großmutter starb, legte sie mir ihren Stein in die Hand und meinte, es sei eine Ehre für sie, wenn ich ihn tragen würde.«

Jebra preßte die Faust, in der sie den Stein hielt, an ihre Wange. »Danke«, sagte sie leise, »daß Ihr ihn nicht angenommen habt. Und danke für Euer Verständnis.«

Wieder meldete sich Zedds Gewissen. »Also hat dieser Graf dich einstellen lassen und dich dann für seine eigenen Zwecke mißbraucht?«

»Ja. Das ist ungefähr ein Dutzend Jahre her. Als Lady Ordiths Leibdienerin war ich fast bei jedem Treffen und bei jeder Amtshandlung anwesend. Anschließend kam dann der Graf zu mir, und ich erzählte ihm, was ich von seinen Widersachern aufgeschnappt hatte. Dank meiner Mithilfe gelang es ihm, seine Macht und seinen Reichtum zu vergrößern.

Tatsächlich kennt so gut wie niemand mehr den Stein der Seher. Der Graf verabscheute Menschen, die das alte Wissen leugnen. Er machte sich über die Unwissenheit seiner Gegner lustig, indem er mich den Stein in aller Öffentlichkeit tragen ließ.

Außerdem mußte ich ein Auge auf Lady Ordith halten. Was sie daran hinderte, sich erfolgreich selbst zur Witwe zu machen. Mittlerweile gibt sie sich damit zufrieden, das Haus des Grafen zu meiden, wann immer sie nur kann. Sie wird nicht trauern, weil sie mich los ist. Der Graf hat seine Macht benutzt, um mich zu halten, auch wenn Lady Ordith es lieber anders gesehen hätte.«

»Wieso sollte sie mit deinen Diensten unzufrieden sein?« Er grinste. »Bist du wirklich faul und unverschämt, wie sie behauptet?«

Jebra lächelte zurück, wobei die Fältchen in den Augenwinkeln immer tiefer wurden. »Nein. Es liegt an den Visionen. Manchmal, wenn ich sie habe, nun ja, Ihr habt bei meiner Heilung einen gewissen Schmerz verspürt, wenn es für mich wohl auch nicht ganz so schlimm ist. Manchmal haben mich die Schmerzen eine Zeitlang daran gehindert, ihr zu dienen.«

Zedd rieb sich das Kinn. »Nun, da du außer Diensten stehst, wirst du im Palast des Volkes Gast sein, bis du dich erholt hast. Ich habe ein wenig Einfluß hier.« Plötzlich wurde ihm auf wunderbare Weise bewußt, wie sehr das stimmte, und er zog einen Geldbeutel aus der Tasche seines Gewandes. Er schüttelte ihn leicht. »Für deine Auslagen und als Lohn, vorausgesetzt, ich kann dich überreden, einen neuen Arbeitgeber anzunehmen.«

Sie wog den Beutel in der Hand und prüfte sein Gewicht. »Wenn es Kupfer ist, reicht es nur für jemanden wie dich.« Sie lächelte und beugte sich ein wenig weiter vor. Ihre Augen blitzten vergnügt auf und tadelten ihn gleichzeitig. »Und wenn es Silber ist, dann ist es zuviel.«

Zedd sah sie ernst an. »Es ist Gold.« Sie erschrak und war fassungslos. »Allerdings wirst du nicht hauptsächlich für mich arbeiten.«

Sie starrte auf den Beutel voller Gold in ihrer Hand, dann sah sie Zedd wieder an. »Für wen dann?«

»Für Richard. Den neuen Lord Rahl.«

Jebra wurde blaß, schüttelte heftig den Kopf und zog die Schultern hoch. Sie legte den Geldbeutel zurück in Zedds Hand. »Nein.« Noch eine Spur blasser, schüttelte sie erneut den Kopf. »Nein. Tut mir leid. Ich möchte nicht für ihn arbeiten. Nein.«

Zedd runzelte die Stirn. »Er ist kein böser Mensch. Er ist sogar recht freundlich.«

»Das weiß ich.«

»Du weißt, wer er ist?«

Sie sah auf ihre Hände und nickte. »Ich weiß es. Ich habe ihn gestern gesehen. Am ersten Tag des Winters.«

»Und du hattest eine Vision, als du ihn gesehen hast?«

Ihre Stimme klang schwach und voller Angst. »Ja.«

»Jebra, erzähl mir, was du gesehen hast. Jede Einzelheit. Bitte. Es ist wichtig.«

Sie sah ihn lange unter gesenkten Lidern hervor an, dann blickte sie wieder auf ihre Hände und biß sich auf die Unterlippe.

»Es war während der Andacht gestern. Als die Glocke ertönte, bin ich zu einem Gebetsplatz gegangen, und dort stand er und blickte ins Becken. Er ist mir aufgefallen, weil er das Schwert des Suchers trug. Und weil er groß war und gut aussah. Außerdem kniete er nicht wie die anderen. Er stand aufrecht da und sah zu, wie die Menschen sich versammelten, und als ich näher kam, trafen sich kurz unsere Blicke. Nur für einen Moment. Die Kraft, die von ihm ausging, raubte mir den Atem.

Ein Seher kann bestimmte Arten von Kraft spüren, die ein Mensch verströmt — die Gabe zum Beispiel.« Sie hob den Kopf und blickte Zedd an. »Ich hatte schon früher Menschen gesehen, die über die Gabe verfügten. Ich habe ihre Aura gesehen. Es war stets wie bei Euch eine gewisse Wärme, eine Sanftheit. Eure Aura ist wunderschön. Seine war anders. Ich meine, sie ähnelte der Euren, aber da war noch etwas.«

»Die Fähigkeit zur Gewalt«, meinte Zedd mit sanfter Stimme. »Er ist der Sucher.«

Sie nickte. »Kann sein. Ich weiß es nicht. Ich habe nie etwas Derartiges gesehen. Aber ich kann Euch sagen, wie es sich angefühlt hat. Es war, als würde mein Gesicht in ein Becken mit Eiswasser gestoßen, bevor ich auch nur Gelegenheit hatte, Luft zu schöpfen.

Von manchen Menschen bekomme ich nie eine Vision. Von anderen dagegen schon. Ich weiß niemals vorher, wann sie kommt. Manche Menschen verstrahlen stärkere Auras und Visionen, wenn sie sich in einer Notlage befinden. Er verströmte sie wie Blitze während eines Gewitters. Er litt unter ungeheuren Gefühlsqualen. Wie ein Tier in einer Falle, das versucht, sich das eigene Bein abzubeißen. Er empfand das grausame Gefühl, seine Freunde verraten zu müssen, um sie retten zu können. Ich habe das nicht verstanden. Es ergab keinen Sinn.

Da war das Bild einer Frau, einer wunderschönen Frau mit langem Haar. Ein Konfessor vielleicht, obwohl ich nicht weiß, wie das sein könnte. Seine Aura loderte der quälenden Sorge um sie wegen so heftig, daß ich mein Gesicht abtastete, aus Angst, die Haut sei versengt. Hätte ich nicht schon der Andacht wegen gekniet, hätten mich die Schmerzen dieser Aura zum Kniefall gebracht.

Fast wäre ich zu ihm hingeeilt, um ihn zu trösten, als zwei Mord-Sith hinzukamen und sahen, daß er stand und nicht kniete. Er hatte keine Angst, trotzdem sank er auf die Knie aus Resignation über den fürchterlichen Verrat, zu dem man ihn gezwungen hatte. Ich war erleichtert, als er sich hinkniete, und dachte, damit wäre die Geschichte beendet. Ich war froh, nur die Aura und keine echten Visionen gesehen zu haben. Von diesem Mann wollte ich keine Visionen sehen.« Sie blickte ins Leere, scheinbar versunken in ihre Erinnerung.

»Aber damit war die Geschichte noch nicht zu Ende?«

Ihr Blick kehrte in das Hier und Jetzt zurück. »Nein. Erst dachte ich, das Schlimmste sei vorbei, doch was ich gesehen hatte, rührte nicht an das heran, was noch kommen sollte.«

Jebra rieb sich einen Augenblick lang die Hände. »Wir sprachen gerade das Gebet an Vater Rahl, da sprang er plötzlich auf. Auf seinem Gesicht stand ein Lächeln. Er hatte das Rätsel gelöst, das ihn gefangenhielt. Das letzte Mosaiksteinchen hatte seinen Platz gefunden. Das Gesicht der Frau und seine Liebe für sie füllten die Aura.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bedauere denjenigen, der je versuchen sollte, auch nur einen Finger zwischen die beiden zu halten. Er würde den Finger verlieren, vielleicht die Hand und vielleicht sogar den ganzen Arm, bevor er noch überlegen könnte, ob er ihn zurückziehen will.«

»Sie heißt Kahlan«, erklärte Zedd und lächelte leicht. »Und was geschah dann?«

Jebra schlang sich die Arme um den Leib. »Dann begannen die Visionen. Ich sah, wie er einen Mann tötete, konnte aber nicht erkennen, wie. Es floß kein Blut, und doch tötete er ihn. Und dann sah ich den Mann, den er töten würde: Darken Rahl. Und schließlich erkannte ich, daß dies sein Vater war, er es aber nicht wußte. In diesem Augenblick begriff ich, wer er war: der Sohn von Darken Rahl, der baldige neue Meister Rahl. Die Aura flackerte angesichts dieser entsetzlichen Konflikte.«

Zedd legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. »Darken Rahl wollte die Welt mit schrecklicher Magie beherrschen. Richard hat viele Unschuldige vor Folter und Tod bewahrt, indem er ihn tötete. Auch wenn das Töten etwas Fürchterliches ist, er hat dadurch vielen anderen das Leben gerettet. Nur deswegen hast du doch sicher keine Angst vor Richard?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Der Grund war das, was danach passierte. Die beiden Mord-Sith erhoben sich, weil er im Begriff stand, eine Andacht zu verlassen. Eine hob den Strafer und bedrohte ihn damit. Zu meiner Überraschung sah ich, daß er selbst einen um seinen Hals trug, einen roten — genau wie sie. Er hielt ihn mit der Faust gepackt. Er meinte zu ihnen, wenn sie ihn nicht vorbeiließen, würde er sie töten. Die Aura der Gewalt, die ihn umgab, raubte mir den Atem. Er wollte geradezu, daß sie ihn herausfordern würden. Sie spürten es und ließen ihn gehen.

Als er sich noch einmal umdrehte … in diesem Augenblick hatte ich die anderen Visionen.« Sie legte eine Hand aufs Herz, und über ihre Wangen strömten Tränen. »Zedd … meine Visionen sind nicht immer klar. Manchmal weiß ich nicht, was sie bedeuten. Einmal hatte ich die Vision eines Farmers. Vögel zerhackten seinen Leib und die Leiber seiner Familie. Ich wußte nicht, was es zu bedeuten hatte. Wie sich herausstellte, kam ein Amselschwarm und fraß den Samen auf, den er gerade gesät hatte. Er konnte neuen aussäen und das Feld bewachen. Aber wenn nicht, hätten er und seine Familie verhungern müssen.«

Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. »Manchmal weiß ich, was die Visionen bedeuten oder ob sie sich bewahrheiten werden — das trifft nicht auf alle dieser Art zu.« Sie ordnete ihr Haar. »Manchmal erfüllen sie sich genau so, wie ich sie sehe. Ich kann sagen, ob sie der Wahrheit entsprechen und ohne Zweifel in Erfüllung gehen.«

Zedd tätschelte ihre Schulter. »Ich verstehe, Jebra. Visionen sind eine Art Prophezeiung, und ich weiß, wie verwirrend Prophezeiungen sein können. Welche Arten von Visionen hast du von Richard gesehen? Waren sie verwirrend oder klar?«

Die beiden blickten sich tief in die Augen. »Ich habe alle möglichen Arten gesehen. Alle Arten von Visionen, die ich je hatte, von den verwirrenden bis hin zu den klaren, von denen, die vielleicht, bis hin zu denen, die mit Sicherheit in Erfüllung gehen werden. Sie schlugen wie eine Woge über mir zusammen. Das war noch nie passiert. Meist habe ich nur eine einzige Vision, und entweder weiß ich, was sie bedeutet, und das Ereignis trifft auch ein, oder ich verstehe sie nicht und kann nicht sagen, ob sie in Erfüllung geht. Die Visionen dieses Mannes kamen wie ein Sturzbach. Sie trieben vorbei wie vom Wind gepeitschter Regen. Doch jede einzelne von ihnen bedeutete Qual und Schmerz und Gefahr.

Von denen, die sich am deutlichsten abzeichneten, wußte ich, sie würden sich bewahrheiten. Es waren die schlimmsten. Eine war, als trüge er etwas um seinen Hals, was, konnte ich nicht erkennen, doch handelte es sich um etwas, das ihm große Schmerzen bereiten und ihn dieser Frau entreißen würde … Kahlan war ihr Name, habt Ihr gesagt … ihn allen entreißen würde, die er liebt. Ihn einsperren würde.«

»Richard wurde von einer Mord-Sith gefangengenommen und von ihr gefoltert. Vielleicht war es das, was du gesehen hast«, bot Zedd als Erklärung an.

Jebra schüttelte heftig den Kopf. »Es war nichts Vergangenes, sondern etwas, das noch bevorstand. Und es waren auch nicht die Schmerzen einer Mord-Sith. Es war anders, ich bin ganz sicher.«

Zedd nickte nachdenklich. »Was noch?«

»Ich sah ihn in einem Stundenglas. Er kniete in der unteren Hälfte, weinte unter großen Seelenqualen, während der Sand rings um ihn niederging, ohne daß ein Körnchen ihn auch nur berührte. Die Grabsteine all derer, die er liebt, befanden sich in der oberen Hälfte, wo er sie wegen des herabfallenden Sandes nicht erreichen konnte.

Ich sah ein Messer in seinem Herzen, ein tödliches Messer, das er in seinen eigenen, zitternden Händen hielt. Bevor ich erkennen konnte, was geschah, erschien eine weitere Vision — sie kommen nicht immer in der Reihenfolge des Geschehens. Er trug seine feine, rote Jacke, die mit den Goldknöpfen und der Verzierung aus Brokat. Er lag mit dem Gesicht nach unten … und in seinem Rücken steckte ein Messer. Er war tot, doch gleichzeitig auch wieder nicht. Mit seinen eigenen Händen wälzte er seinen Körper herum, doch bevor ich sein Totengesicht sehen konnte, erschien eine weitere Vision. Diese war die schlimmste. Und die stärkste.« Wieder traten ihr die Tränen in die Augen, und sie fing leise an zu schluchzen. Zedd legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie zum Weitersprechen zu ermutigen.

»Ich sah, wie sein Fleisch brannte.« Sie wischte sich die Tränen fort und wiegte sich beim Weinen sachte hin und her. »Er schrie, ich konnte die brennende Haut sogar riechen. Schließlich zog sich zurück, was immer ihn versengte — ich konnte nicht erkennen, was es war –, und er war bewußtlos und trug ein Brandmal. Ein Zeichen, das man ihm eingebrannt hatte.«

Zedd fuhr sich mit der Zunge im Mund herum, versuchte ihn wieder zu befeuchten. »Konntest du erkennen, was das für ein Zeichen war?«

»Nein, ich weiß nicht, wie es aussah. Aber was es war, weiß ich so sicher, wie ich die Sonne erkenne, wenn ich sie sehe. Es war das Zeichen der Toten, das Zeichen des Hüters der Unterwelt. Der Hüter hatte ihn als seinen Besitz gebrandmarkt.«

Zedd stockte fast der Atem, seine Hände zitterten. »Hast du noch weitere Visionen gehabt?«

»Ja, aber sie waren nicht so stark, und ich habe sie nicht verstanden. Sie zogen so rasch vorüber, daß ich ihre Gestalt nicht erkennen konnte, nur ihre Schmerzen. Dann war Richard verschwunden. Während die Mord-Sith ihm nachsahen, stahl ich mich auf mein Zimmer davon und schloß mich ein. Ich lag stundenlang auf dem Bett und weinte ohne Unterlaß, weil ich diese Schmerzen gesehen hatte. Lady Ordith pochte an meine Tür, verlangte nach mir, doch ich rief ihr zu, ich sei krank, und schließlich zog sie eingeschnappt ab. Ich weinte, bis sich mein Innerstes aufzulösen drohte. Ich hatte die Tugend in diesem Mann gesehen und weinte aus Angst vor dem Bösen, das nach ihm griff.

Obwohl alle Visionen so unterschiedlich waren, bedeuteten sie das gleiche. Sie alle vermittelten mir das gleiche Gefühl. Von allen Seiten umgab den Mann Gefahr wie Wasser einen Fisch.« Unter Zedds stummen Augen gewann sie ein wenig von ihrer Haltung zurück. »Deswegen will ich nicht für ihn arbeiten. Die guten Geister beschützen mich, und mit den Gefahren, die diesen Mann umgeben, will ich nichts zu tun haben. Und auch nicht mit der Unterwelt.«

»Vielleicht könntest du ihm mit deinen Fähigkeiten helfen, diesen Gefahren aus dem Weg zu gehen. Das hatte ich jedenfalls gehofft«, meinte Zedd ruhig.

Jebra tupfte sich die Wangen mit der Unterseite ihres Ärmels trocken. »Nicht für alles Gold und alle Macht des Grafen will ich zum Gefolge des Lord Rahl gehören. Ich bin nicht feige, aber ich bin auch keine Heldin und keine Närrin. Ich habe mir die Därme nicht in den Leib zurückstopfen lassen, damit sie mir abermals herausgerissen werden, und diesmal meine Seele mit ihnen.«

Zedd beobachtete ruhig, wie sie allmählich schniefend die Beherrschung zurückgewann und die beängstigenden Visionen beiseite schob. Sie holte tief Luft und seufzte. Schließlich sah sie ihn mit ihren blauen Augen an.

»Richard ist mein Enkelsohn«, sagte er schlicht.

Sie schloß erschrocken die Augen. »Oh, die guten Seelen mögen mir vergeben.« Sie schlug die Hände vor den Mund, wo sie sie einen langen Augenblick liegen ließ, dann machte sie die Augen auf und legte ihre Stirn entsetzt in Falten. »Zedd … entschuldigt, daß ich Euch erzählt habe, was ich gesehen habe. Vergebt mir. Hätte ich es gewußt, ich hätte Euch niemals davon erzählt.« Ihre Hände zitterten. »Vergebt mir. O bitte, verzeiht mir.«

»Die Wahrheit ist die Wahrheit. Ich gehöre nicht zu jenen Menschen, die jemandem die Tür vor der Nase zuknallen, weil er die Wahrheit gesehen hat. Ich bin Zauberer, Jebra. Ich kenne die Gefahren bereits, die ihn umgeben. Deswegen habe ich dich um Hilfe gebeten. Der Schleier vor der Unterwelt hat einen Riß. Dieses Wesen, das dich verwundet hat, ist durch diesen Riß in die Welt der Lebenden entkommen. Wenn der Schleier weiter aufreißt, wird der Hüter selbst entkommen. Richard hat Dinge vollbracht, die ihn den Prophezeiungen zufolge als den vielleicht einzigen ausweisen, der in der Lage wäre, den Riß zu schließen.«

Er legte ihr den Beutel Gold langsam in den Schoß. Sie ließ ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen. Er zog seine leere Hand zurück. Ihr Blick blieb auf dem Geldbeutel haften, als wäre er ein wildes Tier, das zuschnappen könnte.

»Ist es sehr gefährlich?« fragte sie schließlich mit schwacher Stimme.

Zedd lächelte, als sie die Augen hob. »Nicht gefährlicher als ein Nachmittagsspaziergang in einer Palastburg.«

Reflexartig faßte sie sich an den Unterleib, dorthin, wo die Wunde gewesen war. Sie hob den Kopf und schaute durch die weiten, prächtigen Hallen, als suchte sie dort eine Fluchtmöglichkeit oder als befürchtete sie einen weiteren Angriff. Sie sprach, ohne ihn anzusehen.

»Meine Großmutter war ebenfalls Seherin und die einzige, die mir den Weg gewiesen hat. Einmal erzählte sie mir, die Visionen würden mir lebenslang Schmerzen bereiten, und es gäbe nichts, mit denen ich sie jemals würde unterbinden können. Sie meinte, sollte sich mir eine Chance bieten, diese Visionen für einen guten Zweck einzusetzen, dann sollte ich diese Gelegenheit beim Schöpf packen, und das würde mir einen gewissen Trost für all die Last bieten. An jenem Tag legte sie den Stein in meine Hand.«

Jebra nahm den Beutel und legte ihn zurück in Zedds Schoß. »Ich werde es nicht für alles Gold D’Haras tun. Aber für Euch.«

Zedd lächelte und tätschelte ihre Wange. »Danke, Kind.« Er legte das Gold abermals zurück in ihren Schoß. Die Münzen klimperten leise. »Du wirst es brauchen. Du wirst Auslagen haben. Der Rest gehört dir. Ich möchte es so.«

Sie nickte resigniert. »Was muß ich dafür tun?«

»Nun, zuerst müssen wir beide mal ausschlafen. Du wirst ein paar Tage ruhen müssen, um wieder zu Kräften zu kommen. Und dann wirst du auf Reisen gehen müssen, Lady Bevinvier.« Er mußte lächeln, als er sah, wie sie erstaunt die Stirn runzelte. »Wir sind beide im Augenblick sehr müde. Morgen, wenn ich ausgeruht bin, muß ich in einer wichtigen Angelegenheit abreisen. Bevor ich aufbreche, werden wir das Weitere besprechen. Doch im Augenblick möchte ich dich bitten, den Stein nicht dort zu tragen, wo man ihn sehen kann. Es kann nichts Gutes dabei rauskommen, den Augen in den Schatten deine Fähigkeiten unnütz zu verraten.«

»Mein neuer Arbeitgeber wird mich also auch heimlich anstellen? Das ist nicht gerade sehr ehrenvoll.«

»Die, die dich jetzt erkennen könnten, haben es nicht auf Gold abgesehen. Sie sind Diener des Hüters. Sie wollen ganz etwas anderes als Gold. Wenn sie dich entdecken, wirst du dir wünschen, ich hätte dich heute nicht gerettet.«

Sie zuckte zusammen, dann endlich nickte sie.

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