68

In der Dunkelheit vor Sonnenaufgang war der grüne Lichtschein gut zu sehen. Wie ein Leuchtfeuer erhob er sich über dem Palast des Volkes, drang durch das Glasdach über dem Garten des Lebens. Diesen Grünton hatte Richard bislang nur an einem einzigen Ort gesehen. In der Unterwelt.

Der eisige Wind zerrte an seinen Kleidern, während Scarlets Flügel in gleichmäßigem Rhythmus schlugen. Sie hatte sich mächtig angestrengt auf diesem Flug nach D’Hara. Sie begriff, welche Gefahr der Hüter darstellte. Die Unterwelt würde auch sie verschlingen. Außerdem haßte sie Darken Rahl. Er hatte damals das Ei gestohlen und es dazu benutzt, sie zu versklaven.

Als sie zur Landung ansetzte, sah sie sich nach ihm um. »Wir haben Zeit genug, Richard. Wir können es noch bis Aydindril schaffen. Er dämmert gerade erst.«

»Ich weiß, du wirst mich hinbringen, Scarlet. Ich werde mich anstrengen und dir nicht allzuviel Zeit zum Ausruhen lassen.«

Scarlet schwenkte nach links ab. Ihr Sinkflug in den Innenhof, in dem sie beide bereits einmal gewesen waren, wurde steiler. Hier konnte der riesige Drachen im Dunkeln landen und hatte ausreichend Platz. Das endlose Durcheinander von Dächern und Mauern stürzte ihnen mit beängstigender Geschwindigkeit entgegen. Richard kribbelten die Zehen. Er hatte das Gefühl, von ihrem Rücken gehoben zu werden, als sie in die Tiefe stürzte.

Plötzlich schoß ein blendender Blitz knisternd aus dem Dunkel unter ihnen in die Höhe und hüllte sie auf allen Seiten ein. Auf Richards Netzhaut blieben gelbe Linien als Nachbilder zurück. Ein weiterer folgte, bevor Richard noch recht wußte, wie ihm geschah.

Scarlet brüllte vor Schmerzen und kippte nach links. Sie trudelten in einer schwindelerregenden Spirale Richtung Erdboden. Richard umklammerte Scarlets Wirbeldorne, während der riesige Drache versuchte, sich wieder zu fangen.

Im Schein des nächsten Lichtblitzes, den die Frau aus ihren Händen schleuderte, sah er sie auf den breiten Treppenstufen, die unter ihnen kreisten. Wieder brüllte Scarlet vor Schmerz auf. Als der Blitz erlosch, war die Frau im Dunkeln nicht mehr zu erkennen.

Scarlet hatte Mühe, einen unkontrollierten Absturz zu verhindern. Richard wußte, ein weiterer Blitz wäre für sie das Ende. Er riß den Bogen von seinem Rücken und zog einen Pfeil aus dem Köcher.

»Scarlet, mach Feuer, damit ich sie sehen kann!«

Als Richard die Sehne an seine Wange zog, stieß Scarlet einen feurigwütenden Schmerzensschrei aus. In dessen rotem Schein sah er, wie die Frau erneut die Arme hob. Bevor er das Ziel herbeirufen konnte, verschwand sie wegen Scarlets Kreisbewegung wieder aus dem Blickfeld.

»Scarlet, paß auf!«

Scarlet zog ihren rechten Flügel ein und neigte sich zur anderen Seite. Der gelbe Lichtblitz schoß links vorüber und verfehlte sie nur knapp. Der Boden kam rasch näher.

Im flackernden roten Schein des Feuerstoßes sah Richard, wie die Frau erneut die Hände hob. Er spannte die Bogensehne und schraubte seinen Körper gegen Scarlets Drehung, um sie im Blick zu behalten.

Bevor sie erneut verschwinden konnte, rief er sein Ziel herbei. Im selben Augenblick, als es zu ihm kam, flog der Pfeil davon.

»Dreh ab!«

Scarlet flatterte mit dem rechten Flügel, so daß sie taumelnd in der Luft standen, als der gelbe Blitz zwischen Drachenhals und -flügel vorüberschoß. Das Licht erlosch, fast bevor es richtig aufgeleuchtet war.

Ein Kräuseln schwärzester Finsternis zog über sie hinweg. Der Pfeil hatte sein Ziel gefunden. Jetzt hatte der Hüter sich auch Schwester Odette geholt.

Mit einem derben Ruck schlugen sie auf dem Erdboden auf.

Richard wurde abgeworfen und überschlug sich. Er setzte sich auf und schüttelte den Kopf, dann sprang er auf die Füße.

»Scarlet! Bist du schwer verletzt? Lebst du noch?«

»Lauf«, stöhnte sie mit tiefer, dröhnender Stimme. »Beeil dich. Du mußt ihn erwischen, bevor er uns alle holt.« Sie streckte den zitternden linken Flügel aus.

Richard strich ihr über die Schnauze. »Ich komme zurück. Halte durch.«

Richard zog das Schwert blank, als er die Stufen hinaufstürmte. Er brauchte den Zorn nicht herbeizurufen, er war da, noch ehe er das Heft des Schwertes überhaupt berührt hatte. In blinder Wut raste er auf die Türen zwischen den gigantischen Säulen zu.

Als er durch die Tür stürzte, griff ihn eine Handvoll Soldaten aus der Dunkelheit heraus an. Ohne stehenzubleiben, fuhr Richard wie eine Sichel zwischen ihnen hindurch. Seine Klinge blitzte im Schein der Fackeln auf, der aus den weiten Hallen im Innern hervordrang. Richard tanzte mit den Seelen. Seine Klinge bewegte sich mit fließender Eleganz inmitten der stumpf um sich hackenden Soldaten.

Den ersten schnitt er in zwei Teile — mitsamt Brustpanzer. Jeder Angriff wurde von seiner flinken Klinge abgewehrt. Es war nur eine Frage von Augenblicken, bis die fünfzehn Mann verstreut auf dem blutüberströmten Boden lagen und Richard weiterging.

Ein schöner Willkommensgruß zu seiner Rückkehr. Er mußte daran denken, wie die d’haranische Armee ihm ihre Ergebenheit geschworen hatte, als er das letzte Mal hiergewesen war und Darken Rahl getötet hatte. Vielleicht wußten sie nicht, wer er war. Wahrscheinlich aber wußten sie es ganz genau.

Richard wählte eine Halle, die in die Richtung des Gartens des Lebens führte. Drei Etagen mit Baikonen blickten auf diese Halle hinab. Die meisten Fackeln waren erloschen. Kein Mensch war zu sehen, als er einen Andachtsplatz mit dem zu einem Kreis geharkten weißen Sand um einen löchrigen Stein passierte.

Ein halbes Dutzend Mord-Sith stürzte aus einem seitlichen Treppenhaus und kam auf ihn zugerannt. Sie alle trugen die rote Lederuniform, und jede hielt einen Strafer in der Hand. Trotz seines Zorns war ihm bewußt, daß er sein Schwert nicht gegen sie benutzen konnte, sonst würden sie ihn mit Hilfe von dessen Magie gefangennehmen. Er war außer sich vor Wut. Er mußte unbedingt zu Darken Rahl. Er hatte keine Zeit, sich mit diesen todbringenden Frauen herumzuschlagen.

Widerstrebend schob Richard das Schwert in die Scheide und zog sein Messer. Denna hatte ihm einst erklärt, wenn er sein Schwert anstelle seines Messers benutzt hätte, dann hätte er sie überwältigen können.

Die Größte, eine Blonde, die ganz vorn lief, hielt ihre Hände abwehrend vor sich, als er sich auf sie stürzte. »Nicht, Lord Rahl!«

Die anderen fünf kamen hinter ihr zum Stehen. Richard schlug nach ihr, doch sie zuckte zurück und ging halb in die Hocke, die offenen Hände seitlich ausgestreckt.

»Lord Rahl, hört auf! Wir sind hier, um Euch zu helfen!«

Er hatte zwar sein Schwert weggesteckt, doch an Wut fehlte es ihm nicht. Er mußte unbedingt zu Darken Rahl, wenn er Kahlan rechtzeitig erreichen wollte. »Ihr könnt mir im Jenseits helfen — denn da werdet ihr euch gleich befinden!«

»Nein, Lord Rahl! Ich bin Cara. Wir sind hier, um Euch zu helfen. Diesen Weg könnt Ihr nicht nehmen. Die Halle ist nicht sicher.«

Richard stand keuchend da, das Messer in der Hand. »Ich glaube euch nicht. Ihr wollt mich gefangennehmen. Ich weiß sehr gut, was Mord-Sith mit ihren Gefangenen anstellen.«

»Ich kannte Denna, Eure Herrin. Ihr tragt ihren Strafer. Der Sinn des Lebens einer Mord-Sith liegt nicht mehr dann Gefangene zu quälen. Ihr habt uns befreit. Wir verehren Euch.«

»Als ich von hier fortging, habe ich die Soldaten angewiesen, all diese Anzüge zu verbrennen und euch neue Kleider zu geben. Ich habe befohlen, euch den Strafer abzunehmen. Wenn ihr mich so verehrt, wieso habt ihr dann die Anweisungen nicht befolgt?«

Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie eine Braue über einem ihrer kalten, blauen Augen hochzog. »Weil Ihr uns nicht befreien könnt, nur um uns wie Sklaven auf ein Leben Eurer Wahl zu verpflichten. Es steht uns frei, selbst zu entscheiden. Das haben wir Euch zu verdanken.

Wir haben uns entschlossen, zu kämpfen und unseren Lord Rahl zu schützen. Wir haben geschworen, wenn nötig, unser Leben für Euch zu opfern. Nicht nur die Soldaten der Ersten Rotte können Euch beschützen. Wir haben uns entschlossen, Eure persönlichen Leibwächter zu sein. Nicht einmal die Erste Rotte hat gewagt, sich uns zu widersetzen. Außer von Lord Rahl nehmen wir von niemandem Befehle entgegen.«

»Dann befehle ich Euch, mich in Ruhe zu lassen!«

»Tut mir leid, Lord Rahl, aber diesen Befehl können wir nicht befolgen.«

Richard wußte nicht, was er glauben sollte. Dies konnte schlicht eine Falle sein. »Ich bin hier, weil ich Darken Rahl Einhalt gebieten will. Ich muß in den Garten des Lebens. Wenn ihr mir nicht aus dem Weg geht, werde ich euch töten müssen.«

»Wir wissen, wohin Ihr wollt«, meinte Cara. »Wir bringen Euch dorthin, doch diesen Weg dürft Ihr nicht nehmen. Wir haben nicht den gesamten Palast in unserer Hand. Dieser Weg ist nicht sicher. Genaugenommen befindet sich dieser ganze Teil des Palastes in der Hand der Rebellen. Die Erste Rotte hätte tausend Mann verloren, wäre sie hierher vorgerückt. Wir haben ihnen erklärt, wir würden gehen — das Risiko wäre so für Euch geringer. Nur deshalb waren sie einverstanden.«

Richard versuchte sich an den Frauen vorbeizudrängen. »Ich glaube euch nicht. Und was ihr mit mir vorhabt, wenn es doch gelogen ist, kann ich nicht riskieren. Die Angelegenheit ist zu wichtig. Wenn ihr versucht, mich aufzuhalten, werde ich euch töten müssen.«

»Wenn Ihr diesen Weg wählt, Lord Rahl, werdet Ihr sterben. Bitte, laßt mich Euch eine geheime Botschaft ins Ohr flüstern.« Cara reichte der Frau hinter ihr den Strafer. »Ihr könnt mir Euer Messer an den Hals legen. Ich bin unbewaffnet.«

Richard packte ihre Haare mit einer Faust und hielt ihr das rasiermesserscharfe Messer an die Kehle. Cara schob ihren Mund ganz dicht an sein Ohr.

»Wir sind hier, um Euch zu helfen, Lord Rahl«, flüsterte sie. »Das ist die … Wahrheit der gerösteten Kröte.«

Richard richtete sich auf. »Wo hast du denn das aufgeschnappt?«

»Ihr wißt, was es bedeutet? Der kommandierende General Trimack meinte, es sei eine verschlüsselte Nachricht vom Obersten Zauberer Zorander, damit Ihr wißt, daß wir Euch ergeben sind. Er sagte, ich dürfe es niemandem sagen außer Euch.«

»Wer ist der kommandierende General Trimack?«

»Der oberste Befehlshaber der Ersten Rotte der Palastwache. Sie sind Euch ergeben. Die Erste Rotte ist der Ring aus Stahl um Lord Rahl. Zauberer Zorander hat General Trimack damit beauftragt, den Garten des Lebens um jeden Preis zu bewachen.

Vor zwei Tagen ist dann diese magische Frau aufgetaucht. Sie hat fast dreihundert unserer Soldaten getötet, um in den Garten des Lebens zu gelangen. Wir haben versucht sie aufzuhalten, aber es ist uns nicht gelungen. Heute abend hat sie auf dem Weg nach draußen wieder fast einhundert Mann getötet.

Wir sind ihr nach draußen gefolgt und haben sie von einem Fenster im dritten Stock aus beobachtet. Wir haben gesehen, wie sie Blitze geschleudert hat, um Euren Drachen vom Himmel zu holen. Dann haben wir gesehen, wir Ihr sie getötet habt. Nur der echte Lord Rahl ist zu so etwas imstande.

Bitte, Lord Rahl, im Garten des Lebens geschehen entsetzliche Dinge. Erlaubt, daß wir Euch dorthin bringen, auf daß ihr dem bösen Geist ein Ende macht.«

Richard hatte keine Zeit zu verlieren. Offenbar hatten sie die Nachricht von Zedd bekommen. Er mußte ihnen vertrauen.

»Also gut, gehen wir. Aber schnell!«

Die Frauen grinsten. Cara nahm ihren Strafer wieder an sich und packte Richard an der Schulter seines Hemdes. Eine zweite Mord-Sith packte ihn an der anderen Schulter. Sie rannten los, zogen ihn mit. Cara zischte, sie sollten so leise wie möglich sein. Die anderen vier schwärmten vor ihnen aus, um den Weg auszukundschaften.

Schnell und doch leise schleusten sie ihn durch kleine Nebengänge und dunkle Gemächer. Als die Kundschafterinnen einen engen Dienstbotenaufgang hinaufhuschten, drückten Cara und die andere ihn gegen eine Wand, legten den Zeigefinger an die Lippe und warteten ab, bis sie einen kurzen Pfiff hörten, dann rannten sie, ihn an seinem Hemd mit sich ziehend, die Stufen hinauf.

Oben angekommen, wäre er fast über die Leiche einer der Mord-Sith gestolpert. Man hatte ihr das Gesicht mit einem Schwert aufgeschlitzt. Acht d’haranische Soldaten lagen mit verdrehten Gliedern im Gang verteilt. Aus ihren Ohren troff Blut. Richard sah sofort, daß ein Strafer ihren Tod verursacht hatte.

Eine der Frauen im roten Leder winkte ihnen vom Ende des Ganges zu, sie sollten weitergehen. Cara zog ihn um eine Ecke, auf die die Frau gezeigt hatte, und eine weitere Treppe hinauf. Er kam sich vor wie ein Sack Wäsche. Mal zogen sie ihn hier-, mal dorthin, drückten ihn gegen Wände und in Ecken, während die anderen einen freien Weg auskundschafteten.

Er konnte kaum mit ihnen mithalten, als sie durch die Gänge hasteten, während sie ihn noch immer am Hemd hielten und mitschleiften. Richard verlor die Orientierung, als es die Treppen hinauf- und durch zahllose Gemächer hindurchging. Einige der Räume hatten Fenster, und er konnte sehen, daß die Sonne aufging.

Völlig außer Atem erkannte Richard endlich den breiten Korridor wieder, den sie jetzt betraten. Hunderte von Soldaten in Uniformen aus Kettenhemden und glänzenden Brustpanzern fielen gleichzeitig auf ein Knie, als sie ihn erblickten. Das Scheppern ihrer Rüstungen und Waffen hallte durch den breiten Korridor. Jeder Mann schlug sich mit der Faust vors Herz. Als sie sich wieder erhoben, trat einer von ihnen vor.

»Lord Rahl, ich bin der kommandierende General Trimack. Wir befinden uns noch am Garten des Lebens. Ich werde Euch hinbringen.«

»Ich weiß, wie ich ihn finde.«

»Lord Rahl, Ihr müßt Euch beeilen. Die Generäle der Rebellen haben losgeschlagen. Ich weiß nicht, ob wir diese Stellung lange halten können, aber solange Ihr dort drinnen seid, werden wir sie bis zum letzten Mann verteidigen.«

»Vielen Dank, General. Haltet sie einfach auf, bis ich diesen Bastard Darken Rahl in die Unterwelt zurückbefördert habe.«

Der General salutierte mit einem Faustschlag aufs Herz, derweil Richard sich in Bewegung setzte. Er trabte durch eine Halle aus poliertem Marmor, die ihm bekannt vorkam. Sie führte ihn zu den riesigen, goldbeschlagenen Doppeltüren des Gartens des Lebens.

Die Wut hatte Richard in eine Art Trancezustand versetzt, als er durch die Türen hindurch in den Garten platzte. Die Sonne war mittlerweile aufgegangen. Ihre ersten Strahlen berührten die Wipfel der Bäume im Garten. Entschlossenen Schritts ging Richard den Pfad entlang, vorbei an niedrigen, efeuüberwucherten Mauern, und trat hinaus auf die Rasenfläche.

In der Mitte des Gartens befand sich ein Kreis aus weißem Sand — Zauberersand. In seiner Mitte lag der runde Skrinknochen, umgeben von komplizierten Linien, die jemand in den Sand gezeichnet hatte. Dahinter stand der Altar mit den drei Kästchen der Ordnung — das Tor zu einer anderen Welt. Jedes einzelne von ihnen war schwärzer als schwarz und schien das Licht aus dem Raum zu saugen.

Aus dem geöffneten Kästchen strahlte ein Balken grünen Lichts nach oben durch das Glasdach und in den Himmel. Was immer Darken Rahl getan hatte, das Tor öffnete sich. Funkelndes Licht in Blau, Gelb und Rot durchzog spiralförmig den Balken.

Die weiße, leuchtende Gestalt Darken Rahls beobachtete Richard, wie er über den Rasen geschritten kam. Richard blieb ihm gegenüber vor dem Kreis aus Zauberersand stehen. Ein verhaltenes Lächeln huschte über Darken Rahls Lippen.

»Willkommen, mein Sohn«, war seine zischelnde Stimme zu vernehmen.

Richard spürte die Narbe des Handabdrucks auf seiner Brust. Er ignorierte den Schmerz. Darken Rahls leuchtend blaue Augen entdeckten den Stein der Tränen, der an Richards Hals baumelte.

Darken Rahl blickte Richard in die Augen. »Ich habe einen großen Zauberer gezeugt. Wir möchten, daß du dich uns anschließt, Richard.«

Richard schwieg. Er schäumte vor Wut, als er sah, wie Darken Rahls Lächeln breiter wurde. Er betrachtete ihn durch den rasenden Zorn, den magischen Zorn hindurch, und versuchte gleichzeitig, die Ruhe seiner Mitte zu finden.

»Wir können dir etwas bieten, was dir niemand sonst bieten kann, Richard. Was dir nicht einmal der Schöpfer selbst bieten kann. Wir sind größer als der Schöpfer. Wir möchten, daß du dich uns anschließt.«

»Was könntest du mir wohl bieten?«

Darken Rahl breitete seine leuchtenden Arme aus. »Unsterblichkeit.«

Richard war zu erzürnt, um lauthals loszulachen. »Wann hast du dich der Selbsttäuschung hingegeben, ich könnte irgend etwas glauben, was du sagst?«

»Aber es stimmt, Richard«, sagte er leise. »Wir haben die Macht, dir Unsterblichkeit zu gewähren.«

»Bloß weil du einige der Schwestern mit deinen Lügen betören konntest, bedeutet das noch lange nicht, daß ich sie dir ebenfalls abnehme.«

»Wir sind der Hüter der Unterwelt. Wir herrschen über Leben und Tod. Es steht in unserer Macht, sowohl das eine wie das andere zu gewähren, besonders jemandem mit deiner Magie. Du könntest der Herrscher über die Welt des Lebendigen sein. Der ich geworden wäre, hättest du … dich nicht eingemischt.«

»Kein Interesse. Hast du nichts Besseres zu bieten?«

Darken Rahls grausames Grinsen wurde breiter. Er zog die Brauen hoch. »Aber ja, mein Junge«, zischte er. »Aber ja.«

Er machte eine ausladende Handbewegung über den Kreis aus Sand hinweg. Glitzerndes Licht formte sich zu einer knienden Gestalt, die sich vornüberbeugte. Ihr Haar war kurzgeschnitten, genau wie in der Vision, die er im Turm gesehen hatte. Eine Träne drang aus ihrem geschlossenen Auge hervor, als sie ihr Gesicht mit der Seite auf den Richtblock preßte. Sie formte mit den Lippen seinen Namen und flüsterte, daß sie ihn liebte. Richards Herz schlug wild.

»Der Drache ist verletzt, Richard. Scarlet kann dich nicht nach Aydindril bringen. Deine Zeit ist abgelaufen. Du hast keine andere Wahl, als dir von uns helfen zu lassen.«

»›Helfen lassen‹, was soll das heißen?«

Rahls Lächeln kehrte zurück. »Wie gesagt, wir herrschen über Leben und Tod. Ohne unsere Hilfe wird heute nachmittag Folgendes geschehen — vor den Augen ihres Volkes.«

Seine leuchtende Hand wiederholte die Bewegung. Die breite Kante einer Klinge blitzte in der Luft über Kahlan auf. Die Axt fiel herab, grub sich mit dumpfem Schlag in den Block aus Holz. Blut spritzte. Richard zuckte zusammen.

Kahlans Kopf rollte davon. Unter ihr breitete sich hellrotes Blut aus, versickerte im Sand, durchtränkte ihr weißes Kleid, während ihr Körper seitlich herunterglitt.

»Neeiiiin!« schrie Richard. »Neeiiiin!«

Darken Rahl wischte mit der Hand über die Leiche, sie verschwand in funkelndem Licht und verblaßte.

»Genau, wie ich die Vision dessen, was sich heute zutragen wird, habe verschwinden lassen, genau so können wir der Wirklichkeit Einhalt gebieten. Wir können nicht nur dir Unsterblichkeit bieten, sondern auch Kahlan, vorausgesetzt, du schließt dich uns an.«

Richard stand da wie betäubt. Jetzt dämmerte es ihm, zum ersten Mal drang es in sein Bewußtsein vor. Scarlet war verletzt. Sie konnte ihn nicht nach Aydindril fliegen. Heute war der Tag der Wintersonnenwende. Kahlan würde an diesem Tag sterben, und er hatte keine Möglichkeit, zu ihr zu gelangen. Sein Atem ging keuchend, abgehackt.

Das war das Ende.

Das war es, was die Prophezeiung bedeutete. Nahm er das Angebot an, entschied er sich, ihren Tod zu verhindern, dann würde die Welt für alle enden.

Er mußte an Chase denken, der Rachel mit nach Hause nahm, wo sie ihre neue Mutter kennenlernen sollte. Er dachte an all das Glück, das ihr in diesem Leben, umgeben von Liebe, widerfahren würde. Er dachte an sein eigenes Leben mit seinem Vater und seiner Mutter, an die Liebe, die glücklichen Zeiten miteinander, an die nicht ganz so glücklichen Zeiten und wieviel sie ihm bedeutet hatten.

Er dachte an die Zeit, die er mit Kahlan verbracht hatte, an das Glück, in sie verliebt zu sein, und an all die anderen Menschen, die dieses Glück ebenfalls kannten und es in Zukunft noch erleben würden. Wenn es noch eine Zukunft gab.

»Du kannst Hand in Hand mit ihr durchs Leben schreiten, Richard. Für immer.«

Richards Blick löste sich vom weißen Sand. »Hand in Hand durch die Asche des Todes. Für immer.«

Was hieße das für Kahlan, für die Liebe, die sie für ihn empfand, wenn er ihr ein derart selbstsüchtiges Angebot machte? Sie wäre entsetzt. Und jedesmal, wenn sie ihn dann ansah, sähe sie ein Ungeheuer. Für alle Zeiten.

Statt mit ihrer Liebe müßte er dann für immer mit ihrer Abscheu leben. Wenn er sie rettete, vernichtete er nicht nur alle anderen, sondern zerstörte auch ihr Herz.

Der Preis war zu hoch, selbst für seine Liebe.

Damit wäre sein Leben beendet und seine Liebe auch.

Der Zorn zerfraß Richard, und gleichzeitig wurde er innerlich ganz ruhig. Er blickte in die glühenden Augen des Bösen. »Du willst unsere Liebe mit dem Gift deines Hasses verpesten. Du weißt ja nicht einmal, was Liebe überhaupt bedeutet.«

Sein Zorn schwoll zu einem Unwetter in seinem Innern an. Zumindest wollte er seinen Preis. Seine Rache.

Richard hob den Stein der Tränen in die Höhe. Darken Rahl torkelte einen Schritt zurück.

»Richard, überleg dir, was du tust.«

»Dafür wirst du bezahlen.«

Richard holte eine Handvoll schwarzen Zauberersandes aus seiner Tasche und warf ihn auf den Kreis aus weißem Sand.

Darken Rahl breitete die Arme auseinander. »Nicht! Du Narr!«

Der weiße Sand fing an zu wimmeln, ganz so, als lebte er, als hätte er Schmerzen. Die in ihn gezeichneten Symbole verdrehten sich, wanden sich umeinander. Der Boden bebte. Dampfende Risse rasten über die grasbewachsene Erde.

Lichtblitze loderten plötzlich aus dem funkelnden weißen Sand hervor, zuckten durch den Garten des Lebens. Der Raum erzitterte unter einem Ausbruch von Lärm und gleißendem Licht. Der Zauberersand schmolz zu einer flüssigen Lache aus blauem Feuer. Die Luft erbebte unter heftigen Erschütterungen.

Darken Rahl drohte dem Himmel mit den Fäusten. »Nein!«

Er senkte den Kopf und verstummte, als er Richard langsam auf sich zukommen sah, den Stein der Tränen in der ausgestreckten Faust. Drohend hob er die Hand.

Richard taumelte und blieb stehen, der Schmerz der Narbe auf seiner Brust nahm ihm den Atem. Unerträgliche Qualen durchzogen seinen ganzen Körper. Tief in seinem Innern entschloß er sich, trotz der Qualen weiterzugehen. Die Schmerzen wurden mit jedem Schritt schlimmer. Es war, als würde man ihm das Fleisch von den Knochen brennen, als kochte selbst das Mark. Im ruhigen Mittelpunkt dieses Unwetters aus Zorn konnte er das alles ignorieren.

Richard streifte sich den Stein der Tränen über seinen Kopf. Er hielt das Lederband in der ausgestreckten Hand. Der Stein baumelte vor Darken Rahls Gesicht. Rahl wich ängstlich zurück.

»Du wirst dies in den Tiefen des Todes tragen. Für immer.« Richard kam näher. »Knie nieder.«

Die leuchtende Gestalt sank auf die Knie. Die glühenden Augen wichen nicht vom Stein der Tränen, der über ihnen hing. Richard senkte das Lederhalsband und hängte es dem Geist seines Vaters um den Hals. Er wartete.

Hinter Darken Rahl sah er den Altar, auf dem die Kästchen standen. Das offene in der Mitte, in dem es von Dingen wimmelte, die alles Wissen überstiegen, strahlte sein grünes Licht wie ein Leuchtzeichen in den Himmel.

Richard erinnerte sich daran, was Ann, Nathan und Warren ihm erklärt hatten. Gebrauchte er den Stein aus egoistischen Motiven, aus Haß, so würde dies den Schleier zerreißen. Mehr als alles andere wollte er Darken Rahl in die Tiefen der Unterwelt verbannen, um ihn auf ewig für seine Untaten zu bestrafen. Doch damit erreichte er nur das, was einen viel zu hohen Preis darstellte, wie ihm bereits klargeworden war.

Außerdem hatte er sich dies selbst eingebrockt. Es machte keinen Unterschied, daß er es nicht absichtlich getan hatte. Das Leben war nicht gerecht, es war ganz einfach das Leben. Trat man versehentlich auf eine giftige Schlange, wurde man eben gebissen. Absichten waren ohne Belang.

»Ich bin an meinem Kummer selbst schuld«, sagte Richard leise. »Ich muß die Konsequenzen meines Tuns tragen. Ich kann niemand anderen zwingen, für das zu zahlen, was ich bewirkt habe, ob es nun Absicht war oder nicht.«

Richard hängte sich den Stein der Tränen wieder um den Hals. Darken Rahl erhob sich erschrocken.

»Richard … du weißt nicht, was du sagst. Bestrafe mich. Häng mir den Stein der Tränen um den Hals. Nimm Rache!«

Richard drehte sich ein Stück weit zur Mitte des Gartens des Lebens um und streckte die Hand aus. Der runde Skrinknochen schoß aus der Lache blauen Feuers in seine Hand. Seine Magie beschützte ihn.

Richard hielt den Skrinknochen in die Höhe. In den Klauen seines Zorns, in der Gewalt seiner Ruhe, rief er die Kraft herbei. In einer Explosion brach sie aus seiner Hand hervor.

Blitze, gelb und heiß, schossen hervor und bohrten sich in Darken Rahl.

Blitze, schwarz und kalt, schossen hervor und bohrten sich in Darken Rahl.

Sie verbanden sich im entfesselten Zorn des Skrin.

Ein Kräuseln schwärzester Finsternis fegte durch den Raum, und als es nachließ, waren die Blitze und Darken Rahl verschwunden. Der Skrinknochen war in seiner Hand erkaltet.

Das grüne Licht aus dem Kästchen wurde heller und ließ den Raum vibrieren. Richard nahm den Stein der Tränen von seinem Hals. Das Lederband löste sich, als der Stein sich in seiner Hand schwarz färbte.

Richard streckte die Hand aus. Der Stein der Tränen flog ins grüne Licht, schwebte einen Augenblick lang darin, rotierte im Lichtbalken. Das grüne Licht erlosch, als der Stein der Tränen sich in das Kästchen senkte, durchsichtig wurde und seine materielle Existenz verlor. Das Leuchtfeuer aus grünem Licht erlosch. Im Garten des Lebens wurde es still.

Richard hielt den Skrinknochen in der ausgestreckten Hand, und ein weiteres Mal brach der Zwillingsblitz explosionsartig hervor, überbrückte donnernd die Entfernung. Weißglühendes Gleißen zuckte über ihn hinweg, eine eiskalte Schwärze hüllte ihn ein. Als es vorbei war, und ihm die Stille wieder in den Ohren klang, standen die drei Kästchen auf dem Altar.

Ein jedes war geschlossen.

Richard wußte, daß sie ohne das Buch der Gezählten Schatten nicht wieder geöffnet werden konnten, und das Buch existierte nur in seinem Kopf. Die Kästchen der Ordnung und das Tor, für das sie standen, würden für alle Zeiten geschlossen bleiben.

Richard hörte ein metallisches Klicken. Er fühlte, wie etwas seinen Hals streifte, fühlte, wie ihm etwas vor die Füße fiel.

Er blickte nach unten und sah auf der Erde den Halsring. Der Rada’Han hatte sich von seinem Hals gelöst. Richard hatte sich von ihm befreit.

Auch die Schmerzen waren verschwunden. Er betastete seine Brust. Die Narbe war verschwunden.

Richard stand benommen in der Stille. Er wußte nicht genau, was gerade geschehen war. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das gemacht hatte.

Es war vorbei.

Für ihn war alles vorbei.

An diesem Tag würde Kahlan sterben.

Und dann rannte er. Noch war der Tag nicht vorüber.

Als er durch die Tür des Gartens des Lebens schoß, umringten ihn die fünf Mord-Sith auf der anderen Seite. Er beachtete sie nicht und lief weiter. Im Korridor dahinter wartete verschwitzt und schmutzig General Trimack mit Hunderten von Männern, die ebenso verdreckt aussahen. Viele waren blutverschmiert.

Unter dem Getöse scheppernder Rüstungen und Waffen sanken die Soldaten, so weit er dies in dem verrauchten Korridor erkennen konnte, auf die Knie und schlugen sich die Faust vors Herz. General Trimack erhob sich wieder. Als er sich mit drei großen Schritten Richard näherte, stellte sich Cara schützend vor ihn.

»Geh mir aus dem Weg, Frau!«

Cara rührte sich nicht von der Stelle. »Niemand krümmt Lord Rahl auch nur ein Haar.«

»Ich bin ebenso sein Wächter wie…«

»Hört auf, alle beide.«

Cara entspannte sich und trat zur Seite. General Trimack packte Richard an den Schultern. »Lord Rahl, Ihr habt es geschafft. Es hat lange gedauert, aber Ihr habt es geschafft.«

»Was geschafft? Was meint Ihr damit, es hätte lange gedauert?«

Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Ihr wart fast den ganzen Tag dort drinnen.«

Richards Atem setzte aus. »Was?«

»Wir haben sie mit aller Heftigkeit stundenlang verteidigt, und trotzdem wurden wir zurückgedrängt. Sie waren uns zehn- oder fünfzehnfach überlegen. Dann habt Ihr die Blitze geschickt. Dergleichen habe ich noch nie gesehen.

Zauberer Zorander hat mir erklärt, der Palast sei ein auf den Boden der Hochebene gezeichneter gewaltiger Machtzauber, der den Lord Rahl schützen und ihm Kraft verleihen soll. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, ich würde es nicht glauben. Im gesamten Palast hat es von Blitzen nur so gewimmelt. Sie haben jede Mauer des Palasts durchbrochen.

Jeder einzelne dieser verfluchten Generäle, die Darken Rahl ergeben waren, wurde von diesen Blitzen niedergestreckt. Ihre Truppen, die weiterkämpften, wurden ebenfalls davon in Stücke gerissen. Nur wer seine Waffen niederlegte und sich uns anschloß, blieb verschont.«

Richard wußte nicht, was er sagen sollte. »Das freut mich, General, aber ich kann mir das nicht als Verdienst anrechnen. Ich war die ganze Zeit dort drinnen. Ich weiß nicht einmal genau, was ich dort gemacht habe, und schon gar nicht, was hier draußen passiert ist.«

»Wir sind der Stahl gegen den Stahl. Ihr habt Euren Part gespielt. Ihr wart Lord Rahl, die Magie gegen die Magie. Wir sind alle stolz auf Euch.« General Trimack klopfte Richard auf die Schulter. »Was immer Ihr getan habt, Ihr habt Euch offenbar richtig entschieden.«

Richard legte seine Finger an die Stirn und versuchte nachzudenken. »Wie spät ist es?«

»Wie gesagt, Ihr wart fast den ganzen Tag dort drin, während wir hier draußen gekämpft haben. Es ist später Nachmittag.«

Richard faßte sich an die Brust. »Ich muß fort.«

Er begann zu rennen. Alles rannte ihm hinterher. Es dauerte nicht lange, und die riesigen, sich nach allen Seiten verzweigenden Gänge verwirrten ihn. Er kam auf den glatten Marmorboden rutschend zum Stehen und drehte sich zu Cara um, die dicht neben ihm stand.

»Wo geht es lang?«

»Wohin, Lord Rahl?«

»Dorthin, wo ich reingekommen bin! Und zwar auf dem schnellsten Weg!«

»Folgt uns, Lord Rahl.«

Richard rannte den fünf Mord-Sith hinterher. Offenbar folgte ihnen die komplette Armee des Palastes. Der Lärm all der Waffen und Stiefel hallte ohrenbetäubend von den Wänden und den hohen Decken wider. Säulen, Bögen, Treppenhäuser, Andachtsplätze und kreuzende Hallen flogen vorbei. Sie rannten durch Gänge, flogen Treppen hinunter.

Richard war völlig außer Atem, als er fast eine Stunde später durch die Türen zwischen den gewaltigen Säulen und hinaus in die kalte Luft rannte. Hinter ihm strömten Soldaten ins Freie. Er nahm vier Stufen auf einmal.

Scarlet lag auf der Seite im Schnee, die schimmernden roten Schuppen hoben und senkten sich unter ihrem schwerfälligen Atem.

»Scarlet! Du lebst!« Richard rieb ihr über die Schnauze. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«

»Richard. Wie ich sehe, hast du es ebenfalls überlebt. Dann war es vermutlich nicht ganz so schwer, wie du befürchtet hast.« Sie rang sich ein Drachengrinsen ab. Es erlosch. »Tut mir leid, mein Freund, aber fliegen kann ich nicht. Ich habe mir den Flügel verletzt. Ich habe es versucht, aber bis er wieder ausgeheilt ist, sitze ich wohl am Boden fest.«

Richard vergoß eine Träne über ihrer Schnauze. »Ich verstehe, meine Freundin. Du hast mich hergebracht. Du hast die Welt alles Lebendigen gerettet. Du bist die edelste Heldin, die die Geschichte je gesehen hat. Wirst du wieder gesund werden? Wirst du wieder fliegen können?«

Sie stieß einen lauten, knurrigen, halbherzigen Lacher aus. »Ich werde wieder fliegen. Aber frühestens in einem Monat — vielleicht. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«

Richard wandte sich an die hinter ihm stehenden Offiziere. »Scarlet ist eine Freundin von mir. Sie hat uns alle gerettet. Ich möchte, daß Ihr sie versorgt. Bringt ihr, was immer sie braucht, bis sie sich wieder erholt hat. Beschützt sie, wie Ihr mich beschützen würdet.«

Fäuste wurden auf Herzen geschlagen.

Richard packte den General am Arm. »Ich brauche ein Pferd, ein kräftiges Pferd. Und zwar sofort. Und ich muß wissen, wie man nach Aydindril gelangt.«

Der General drehte sich um. »Besorgt ein kräftiges Pferd, sofort! Du, geh und hole Lord Rahl Karten für den Weg nach Aydindril!«

Soldaten setzten sich in Bewegung. Richard wandte sich wieder dem Drachen zu.

»Es tut mir leid, daß du so leiden mußt, Scarlet.«

Scarlets Lachen schnarrte tief in ihrer Kehle. »Die Verletzung ist nicht so schmerzhaft. Komm her und sieh — hier auf diese Seite.«

Ihr Kopf am Ende ihres langen Halses folgte ihm. Zu Richards Verblüffung lag ein Ei in der Beuge ihres Schwanzes.

Sie sah ihn aus einem ihrer großes, gelben Augen an. »Ich habe gerade ein Ei gelegt. Größtenteils rührt meine Schwäche daher. Es macht also nichts, wenn ich am Boden festsitze.«

Sie überzog das Ei mit einem Feuerstoß. Zärtlich strich sie mit ihren Krallen darüber. Als Richard das sah, mußte er an die Herrlichkeit des Lebens denken und wie glücklich er darüber war, daß andere sie auch weiterhin genießen konnten.

Doch die Vision der fallenden Axt ging ihm immer wieder durch den Kopf. Er wurde das Entsetzen nicht los. Seine Hände zitterten. Sein Atem ging in unregelmäßigen Stößen.

Schließlich kam ein Soldat mit einer Karte angerannt. Er hielt sie ihm hin und zeigte auf etwas. »Hier, Lord Rahl, liegt Aydindril. Dies ist die schnellste Route. Aber Ihr werdet trotzdem mehrere Wochen brauchen.«

Richard stopfte sich die Karte in sein Hemd, als ein anderer Soldat auf dem Pferd angaloppiert kam. Richard nahm seinen Rucksack und seinen Bogen aus dem Schnee, wo er die Sachen bei Scarlets Landung hatte fallen lassen.

General Trimack hielt die Zügel des muskulösen Pferdes, während Richard rasch sein Gepäck an den Sattel schnürte. »In den Satteltaschen ist Proviant. Wann werdet Ihr zurück sein, Lord Rahl?«

Richards Verstand war wie in einem Nebel, seine Gedanken rasten in tausend Richtungen gleichzeitig. Alles was er sah, war die sich senkende Axt.

Er sprang in den Sattel. »Ich weiß es nicht. Sobald ich kann. Macht bis dahin weiter. Und bewacht weiterhin den Garten des Lebens. Laßt niemanden hinein.«

»Sichere Rückkehr, Lord Rahl. Unsere Herzen sind mit Euch.«

Fäuste wurden auf Herzen geschlagen, als er das kräftige Pferd zu einem Galopp antrieb und in vollem Tempo durch das riesige Tor hetzte, das man für ihn geöffnet hatte.

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