Kahlan hob den Kopf, als er sich bewegte.
Er blinzelte mit seinen grauen Augen, die den kleinen Raum absuchten, bis sie ihr Gesicht gefunden hatten. »Wo sind wir?«
Sie legte ihm die Hand vorsichtig auf die Schulter. »Bei Nissel. Sie hat deine Brandwunde verbunden.«
Mit der rechten Hand betastete er den unter einem Verband verborgenen Breiumschlag und zuckte zusammen. »Wie lange … wie spät ist es?«
Kahlan hockte neben ihm auf dem Boden. Sie hob den Kopf, rieb sich die Augen und spähte durch die einen Spalt weit geöffnete Tür hinaus ins graue Tageslicht. »Es ist jetzt seit ein, zwei Stunden hell. Nissel liegt im Hinterzimmer und schläft. Sie war fast die ganze Nacht auf den Beinen und hat deine Wunde versorgt. Die Ältesten sitzen draußen und bewachen dich. Seit wir dich hergebracht haben, sind sie nicht fortgegangen.«
»Wann war das? Wann habt ihr mich hergebracht?«
»Mitten in der Nacht.«
Richard sah sich noch einmal um. »Was ist passiert? Darken Rahl war da.« Er packte sie mit seiner großen Hand am Arm. »Er hat mich berührt. Er … hat mich gezeichnet. Wo ist er hin? Was ist passiert, nachdem er mich gezeichnet hat?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Er ist einfach gegangen.«
Er drückte schmerzhaft ihren Arm. In seinem Blick lag etwas Wildes. »Was soll das heißen, einfach gegangen? Ist er zurück in das grüne Licht gegangen? Zurück in die Unterwelt?«
Sie zerrte an seinen Fingern. »Richard! Du tust mir weh!«
Er ließ los. »Entschuldige.« Er nahm ihren Kopf an seine gesunde Schulter. »Tut mir leid. Das wollte ich nicht. Tut mir leid.« Er atmete deutlich hörbar auf. »Ich kann einfach nicht glauben, wie dumm ich war.«
Sie gab ihm einen Kuß auf den Hals. »War halb so schlimm.«
»Das meine ich nicht. Was ich meinte, war: Ich kann einfach nicht glauben, daß ich so dumm war, ihn aus der Unterwelt zurückzurufen. Ich kann einfach nicht fassen, daß ich eine solche Dummheit begangen habe. Ich war gewarnt. Ich hätte nachdenken sollen. Ich hätte darauf kommen müssen. Ich habe mich so sehr auf eine Sache konzentriert, daß ich nicht gesehen habe, was aus der anderen Richtung kommt. Ich muß verrückt gewesen sein.«
»Das darfst du nicht sagen«, meinte sie leise. »Du bist nicht verrückt.« Sie schob sich hoch und sah ihn an. »Das darfst du niemals von dir selbst behaupten.«
Er blinzelte, dann drückte er sich ebenfalls hoch und setzte sich ihr gegenüber hin. Er zuckte zusammen, als er erneut den Verband berührte. Dann hob er den Arm, strich ihr über die Wange, fuhr ihr durchs Haar. Er lächelte ein Lächeln, welches ihr Herz zum Schmelzen brachte.
Er suchte ihre Augen. »Du bist die schönste Frau der Welt. Habe ich dir das eigentlich je gesagt?«
»Das sagst du ständig.«
»Aber es stimmt. Ich liebe deine grünen Augen, dein Haar. Du hast das wunderbarste Haar, das ich je gesehen habe. Kahlan, ich liebe dich über alles in der Welt.«
Sie zwang sich, ihre Tränen zurückzuhalten. »Ich liebe dich genauso. Bitte, Richard, versprich mir, nie an meiner Liebe zu zweifeln. Versprich mir, niemals daran zu zweifeln, wie sehr ich dich liebe, was auch immer passieren mag.«
Er legte ihr die Hand auf die Wange. »Ich verspreche es. Ich verspreche dir, nie an deiner Liebe zu zweifeln. Egal, was auch passieren mag. In Ordnung? Was ist?«
Sie beugte sich zu ihm vor, legte den Kopf an seine Schulter und schlang die Arme um seinen Körper — vorsichtig, damit sie ihm nicht weh tat. »Darken Rahl hat mir angst gemacht, das ist alles. Ich hatte solche Angst, als er dich mit seiner Hand verbrannt hat. Ich dachte, du wärst tot.«
Er streichelte ihre Schulter. »Aber was ist dann geschehen? Ich erinnere mich noch, wie er mir erklärt hat, er sei hier, weil ich ihn gerufen hätte, und daß er mein Vorfahr sei. Dann sprach er davon, daß er mich für den Hüter brandmarken wolle. Danach erinnere ich mich an nichts mehr. Was ist passiert?«
Kahlans Gedanken rasten. »Nun … er sagte, er wolle dich brandmarken, dich töten, und daß das Mal dich dem Hüter zuführen würde. Er meinte, er sei gekommen, um den Schleier endgültig aufzureißen. Dann hat er dir die Hand aufgelegt und dich verbrannt. Aber bevor er das lange genug tun und dich damit töten konnte, habe ich den Blitz herbeigerufen, den Con Dar.«
Ihm stockte der Atem. »Dann war uns wohl nicht das Glück vergönnt, daß er ihn getötet oder vernichtet hat, oder was immer man einer toten Seele antun kann.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, zerstört hat es ihn nicht. Er konnte ihn abblocken, zumindest teilweise. Aber ich glaube, er hatte Angst. Dann ist er gegangen. Nicht zurück in das grüne Licht, sondern zur Tür hinaus. Bevor er zu Ende bringen konnte, was er dir antun wollte. Er ist einfach gegangen, das ist alles.«
Er grinste und drückte sie fester an sich. »Meine Heldin. Du hast mich gerettet.« Er war einen Augenblick lang still. »Er ist gekommen, um den Schleier zu zerreißen«, sagte er leise zu sich selbst. Er legte die Stirn nachdenklich in Falten. »Und was geschah dann?«
Kahlan wappnete sich für ihre Unterlassungslüge, hielt aber seinem prüfenden Blick nicht stand. Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, ihn vom Thema abzubringen. »Und dann haben die Ältesten und ich dich hierhergetragen, damit Nissel deine Brandwunde verbinden konnte. Sie meinte, die Wunde sei schlimm, aber mit der Packung würde sie wieder verheilen. Du mußt sie ein paar Tage drauflassen, damit die Wunde sich ausreichend schließt.«
Sie drohte ihm verärgert mit dem Finger. »Ich kenne dich. Bestimmt willst du sie früher abnehmen. Du glaubst immer, alles am besten zu wissen. Aber das stimmt nicht. Du wirst sie drauflassen, wie ich es dir gesagt habe, Richard Cypher.«
Sein Lächeln wurde schmaler. »Richard Rahl.«
Sie starrte ihn an. »Tut mir leid«, meinte sie leise. »Richard Rahl.« Sie zwang sich zu lächeln. »Mein Richard. Vielleicht könntest du den Namen ändern, wenn wir verheiratet sind. Du könntest Richard Amnell werden. Gatten von Konfessoren nehmen manchmal den Familiennamen ihrer Frau an.«
Er grinste. »Das gefällt mir. Richard Amnell. Ehemann der Mutter Konfessor. Hingebungsvoller Ehemann. Liebevoller Ehemann.« Sein Blick bekam wieder etwas Gehetztes. »Manchmal habe ich Angst, weil ich nicht weiß, wer oder was ich wirklich bin. Manchmal glaube ich…«
»Du bist ein Teil von mir, und ich bin ein Teil von dir. Das allein zählt.«
Er nickte abwesend, Tränen glitzerten in seinen Augen. »Ich wollte helfen mit der Versammlung. Ich wollte einen Weg finden, um all dem hier ein Ende zu machen. Statt dessen ist es, wie Darken Rahl sagte, ich habe alles nur noch schlimmer gemacht. Er hatte recht, ich bin dumm. Ich werde schuld sein, wenn…«
»Hör auf, Richard. Du bist verwundet worden. Du bist bloß erschöpft. Wenn du dich erholt hast, wirst du dir etwas überlegen. Du wirst wissen, was zu tun ist.«
Er gab sich einen Ruck. Dann warf er die Decke fort und sah an sich herab. »Wer hat mir den Schlamm heruntergewaschen und mich angezogen?«
»Die Ältesten haben den Schlamm heruntergewaschen. Nissel und ich wollten dich anziehen«, meinte sie und fügte hinzu, als er rot wurde, »aber du warst zu groß und schwer für uns. Die Ältesten haben auch das übernommen. Sie hatten alle Hände voll zu tun. Sie mußten alle mithelfen.«
Er nickte gedankenverloren. Er hörte längst nicht mehr zu. Er tastete nach der Stelle auf seiner Brust, wo gewöhnlich die Pfeife, Scarlets Zahn und der Strafer hingen, fand sie aber nicht. »Wir müssen fort von hier. Wir müssen zu Zedd. Sofort, bevor noch etwas geschieht. Ich brauche Zedds Hilfe. Wo ist Scarlets Zahn? Ich muß sie rufen. Wo ist mein Schwert?«
»Deine Sachen befinden sich alle im Haus der Seelen.«
Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht und dachte nach, dann fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar. »Also gut.« Er sah ihr entschlossen in die Augen. »Ich gehe den Zahn holen und rufe Scarlet, dann suche ich unsere Sachen zusammen und bereite alles für unseren Aufbruch vor.« Er drückte sie sanft am Oberarm. »Du gehst zu Weselan und ziehst dein Hochzeitskleid an. Wir können getraut werden, während wir auf Scarlet warten. Sobald Scarlet hier ist, brechen wir auf.« Er gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Dann sind wir verheiratet und werden vor Einbruch der Dunkelheit bei Zedd in Aydindril sein. Alles wird gut werden, du wirst sehen. Alles wird gut werden. Ich werde dahinterkommen, was ich falsch gemacht habe, und es wiedergutmachen. Das verspreche ich.«
Sie schlang ihm die Arme um den Hals. »Wir werden es wiedergutmachen«, verbesserte sie ihn. »Zusammen. Immer zusammen.«
Er lachte ihr leise ins Ohr. »Zusammen. Ich brauche dich. Du leuchtest mir den Weg.«
Sie löste sich von ihm und warf ihm einen strengen Blick zu. »Nun, ich habe strikte Anweisungen für dich, und du wirst genau das tun, was man dir sagt. Du wirst hier warten, bis Nissel dir erlaubt aufzustehen. Sie hat gesagt, wenn du aufwachst, muß sie die Packung und den Verband wechseln und dir deine Medizin geben. Du sollst hierbleiben, bis sie fertig ist. Verstanden? Ich will nicht, daß du mir krank wirst und stirbst, nicht, nachdem ich mir soviel Mühe gegeben und dich gerettet habe — und ich habe mir sehr viel Mühe gegeben. Danach werde ich zu Weselan gehen, damit sie mein Kleid anpassen kann. Wenn Nissel mit dir fertig ist, dann« — sie drohte ihm mit dem Finger — »und erst dann darfst du gehen und Scarlet rufen. Wenn du hier mit Nissel fertig bist, wenn du Scarlet gerufen und unsere Sachen zusammen hast, dann wirst du kommen und mich holen, damit wir heiraten können.« Sie gab ihm einen Kuß auf die Nasenspitze. »Aber nur, wenn du mir versprichst, mich immer zu lieben.«
»Immer«, meinte er und feixte.
Sie legte ihm die Hände um den kräftigen Hals und verschränkte die Finger hinter seinem Kopf. »Ich werde Nissel wecken und sie bitten, sich mit dir zu beeilen. Danach darfst du keine Zeit mehr verlieren, Richard. Rufe Scarlet schnell, so schnell du kannst. Ich will fort von hier. Ich will fort, bevor Schwester Verna auch nur in die Nähe kommt. Ich will kein Risiko eingehen, auch wenn sie angeblich erst in ein paar Tagen zurück sein soll. Ich will, daß wir dann fort sind. Fort von den Schwestern des Lichts. Ich will dich zu Zedd bringen, damit er dir mit deinen Kopfschmerzen helfen kann, bevor sie schlimmer werden.«
Er grinste sie schief an wie ein kleiner Junge. »Und was ist mit deinem großen Bett in Aydindril? Du hast es doch auch eilig, dorthin zu kommen, oder?«
Sie drückte ihm sanft einen Finger auf die Nase. »Ich war noch nie mit jemandem in diesem Bett. Hoffentlich bist du nicht enttäuscht.«
Er packte sie mit seinen kräftigen Händen am Handgelenk und zog sie so fest an sich, daß sie aufstöhnte. Er befreite ihren Hals von ihren langen Haaren und drückte ihr einen zärtlichen Kuß darauf — genau dorthin, wo Darken Rahls Lippen gewesen waren. »Enttäuscht? Das, meine Liebste, ist das einzige auf der ganzen Welt, das du bestimmt nicht kannst.« Er küßte sie noch einmal kribbelnd auf den Hals. »Jetzt geh und hole Nissel. Wir verschwenden unsere Zeit.«
Kahlan zupfte an dem Stoff und versuchte ihn so hoch zu ziehen, wie es irgend ging. »Ich habe noch nie etwas so tief Ausgeschnittenes getragen. Meinst du nicht … man kann zuviel erkennen?«
Weselan sah vom Boden auf, wo sie gerade mit dem Saum des blauen Kleides beschäftigt war. Sie nahm die feine Knochennadel aus dem Mund und stand auf, um den Sitz des Kleides zu bewundern. Sie betrachtete einen Augenblick lang das tief ausgeschnittene Dekollete.
»Meinst du, es wird ihm gefallen?«
Kahlan spürte, wie sie rot wurde. »Doch, ich denke schon. Hoffentlich, aber…«
Weselan beugte sich ein Stück näher. »Wenn du dir Sorgen machst, weil er zuviel sehen könnte, solltest du dir das Ganze vielleicht noch einmal überlegen.«
Kahlan machte ein erstauntes Gesicht. »Er ist schließlich nicht der einzige, der hinschauen wird. Ich habe so etwas noch nie getragen. Ich … ich mache mir Sorgen, daß ich dem Kleid vielleicht nicht gerecht werde.«
Weselan tätschelte lächelnd Kahlans Arm. »Das Kleid steht dir ausgezeichnet. Du siehst wundervoll darin aus. Genau das richtige.«
Kahlan schien immer noch besorgt, als sie an sich herabsah. »Wirklich? Bist du sicher? Fülle ich es auch richtig aus?«
Weselans Schmunzeln wurde noch breiter. »Bestimmt. Du hast schöne Brüste. Jeder sagt das.«
Kahlan fühlte, wie sie rot wurde. Sie war sicher, daß Weselans beiläufige Bemerkung der Wahrheit entsprach. Bei den Schlammenschen waren bewundernde Bemerkungen über die Brüste einer Frau in aller Öffentlichkeit ebenso normal wie anderswo die von einem Mann geäußerte Ansicht, eine Frau habe ein hübsches Lächeln. Diese zwanglose Haltung hatte sie mehr als einmal in einem unbedachten Augenblick überrascht.
Kahlan zog das Kleid auseinander. »Das ist das schönste Kleid, das ich je getragen habe, Weselan. Danke, daß du dir soviel Mühe gegeben hast. Ich werde es immer zu schätzen wissen.«
»Vielleicht wird eines Tages deine Tochter es bei ihrer Hochzeit anziehen können.«
Kahlan nickte lächelnd. Bitte, liebe Seelen, dachte sie, sollte ich je ein Kind bekommen, dann sorgt dafür, daß es ein Mädchen ist und kein Junge. Sie betastete die feine Halskette, die sie trug, und drehte den kleinen runden Knochen, der zwischen roten und gelben Perlen hing, zwischen ihren Fingern.
Adie, die Knochenfrau, hatte ihr die Halskette geschenkt, die sie vor den Ungeheuern schützen sollte, welche im Durchgang an der Grenze lebten. Die Grenze hatte seinerzeit die Midlands von Westland getrennt. Die alte Frau hatte gesagt, eines Tages würde sie ihr Kind beschützen.
Kahlan liebte diese Halskette sehr. Sie glich aufs Haar der Kette, die ihre Mutter von Adie bekommen und an Kahlan weitergegeben hatte. Kahlan hatte sie zusammen mit der engsten Freundin aus ihren Kindertagen, Dennee, begraben. Seit Dennees Tod vermißte sie die Kette ihrer Mutter.
Sie war um so wertvoller, als Richard — am Abend, bevor sie den Grenzdurchgang passiert hatten — einen Eid auf sie geschworen hatte, jedes Kind zu beschützen, das sie möglicherweise bekam. Damals hatten weder sie noch Richard ahnen können, daß es vielleicht sein eigenes Kind sein würde.
»Das hoffe ich. Weselan, willst du meine Trauzeugin sein?«
»Trauzeugin?«
Kahlan deckte schüchtern ihre halbnackte Brust mit einem Teil ihrer Haare zu. »Wo ich herkomme, ist es Brauch, daß ein Freund einem bei der Hochzeit Beistand leistet. Als Vertreter der guten Seelen, die über den Bund wachen. Richard hätte gern Savidlin als Beistand. Ich fände es schön, wenn du mir beistehen würdest.«
»Ein seltsamer Brauch. Die guten Seelen wachen doch immer über uns. Aber wenn es bei euch Brauch ist, wäre es mir eine Ehre, dein Beistand zu sein.«
Kahlan strahlte. »Danke.«
»Und jetzt stell dich gerade hin. Ich bin fast fertig.«
Weselan machte sich erneut am Saum zu schaffen. Kahlan versuchte, den Rücken durchzudrücken. Er tat ihr weh, weil sie die ganze Nacht neben Richard auf dem Boden gesessen hatte. Gern hätte sie sich gesetzt oder hingelegt, so müde war sie. Doch am schlimmsten schmerzte ihr Rücken.
Plötzlich fragte sie sich, welche Schmerzen Denna in diesem Augenblick wohl erleiden mußte.
Was kümmert’s mich, versuchte sie sich einzureden. Was immer jetzt mit ihr geschah, es wäre nie genug, nach allem, was sie Richard angetan hatte. Es drehte ihr den Magen um, wenn sie daran dachte, was Denna ihr erzählt hatte.
Kahlan spürte immer noch die Stelle an ihrem Hals, wo Darken Rahl sie mit den Lippen berührt hatte. Ein kalter Schauder lief ihr bei dem Gedanken daran den Rücken hinunter.
Und sie erinnerte sich an das zur gequälten Maske erstarrte Gesicht Dennas kurz vor ihrem Verschwinden. Egal: sie hatte es verdient.
Es hätte Richard sein können. Wäre Denna nicht gewesen, hätte es Richard sein können.
»Hab keine Angst, Kahlan.«
»Was?« Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. Weselan stand lächelnd vor ihr. »Entschuldige. Was hast du gesagt?«
Weselan wischte Kahlan eine Träne von der Wange. »Ich sagte, hab keine Angst. Richard ist ein guter Mann. Du wirst glücklich mit ihm werden. Es ist ganz normal, vor der Hochzeit Angst zu haben, aber mach dir keine Sorgen. Es wird gut werden, du wirst sehen. Ich habe auch geweint, bevor ich Savidlin geheiratet habe. Das hatte ich nicht gedacht, weil ich ihn doch so sehr wollte. Und dann habe ich plötzlich geweint, genau wie du.« Sie zwinkerte ihr zu. »Seitdem hatte ich nie wieder Grund zu weinen. Manchmal habe ich allen Grund, mich zu beschweren, aber niemals Grund zu weinen.«
Kahlan wischte sich über die andere Wange. Was war bloß los mit ihr? Es interessierte sie nicht, was aus Denna wurde. Kein bißchen. Wirklich nicht.
Sie nickte Weselan zu und zwang sich zu lächeln. »Das wäre meine allergrößte Hoffnung im Leben. Nie wieder zu weinen.«
Weselan nahm sie zum Trost in den Arm. »Möchtest du etwas essen?«
»Nein, ich bin nicht…«
Savidlin kam durch die Tür gepoltert. Er war schweißgebadet und außer Atem. Kahlan wurde kalt vor Angst, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. Sie fing an zu zittern, noch bevor er etwas sagen konnte.
»Als Nissel mit Richard fertig war, bin ich mit ihm zum Haus der Seelen gegangen, wie du mir gesagt hast. Damit er den Drachen rufen kann. Dann kam die Schwester des Lichts, um ihn zu holen. Sie ist immer noch bei ihm. Ich habe nicht verstanden, was er gesagt hat, nur deinen Namen. Aber ich wußte, was er meinte. Er wollte, daß ich dich holen gehe. Beeil dich.«
»Neeeeiiin!« schrie Kahlan entsetzt auf und schoß an ihm vorbei und zur Tür hinaus.
Im Laufen hielt sie den Saum des Kleides in die Höhe, um nicht darüber zu stolpern. Noch nie war sie so schnell gerannt. Die Winterluft war kalt auf ihrer Haut. Savidlins Schritte, der hinter ihr lief, blieben zurück.
Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, außer dem, daß sie zu Richard mußte. Das war ausgeschlossen. Viel zu früh. Die Schwester hätte noch nicht hiersein dürfen. Sie waren doch schon so gut wie unterwegs. Das war einfach nicht fair. Richard!
Große, weiße Schneeflocken trudelten vom Himmel, nicht genug, um den Boden weiß zu färben, doch es reichte, um eine eisige Vorahnung des kommenden Winters zu vermitteln — des Winters, der bereits da war. Die nassen Flocken schmolzen augenblicklich, sobald sie mit ihrer erhitzten Haut in Berührung kamen. Einige verfingen sich in ihren Wimpern, bis sie sie fortzwinkerte. Eine leichte Brise wirbelte um eine Häuserecke und wurde zu einem Vorhang aus Weiß hochgeweht. Kahlan flog hindurch und stürzte eine Gasse hinab.
Sie kam rutschend zum Stehen und sah sich um. Es war der falsche Weg. Sie rannte zurück und nahm die richtige Abzweigung. Tränen, vermischt mit schmelzenden Schneeflocken, rannen ihr übers Gesicht. Es war zuviel. Das durfte nicht sein.
Keuchend und verzweifelt kam sie zwischen den Gebäuden hervor und erreichte das unbebaute Gelände rings um das Haus der Seelen. Die Pferde waren auf der anderen Seite des kurzen Mauerstücks angebunden, an jener niedrigen Mauer mit dem Spalt, der bei Richards Versuch, den Screeling zu töten, entstanden war.
Überall standen Menschen, doch Kahlan sah sie nicht. Alles bis auf die Tür des Seelenhauses färbte sich in ihrem Blickfeld grau. Verzweifelt rannte sie auf die Tür zu.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, so als liefe sie in einem Traum und käme kein Stück voran. Ihre Beine schmerzten vor Anstrengung. Sie streckte die Hand nach dem Riegel aus. Sie konnte ihr Herz in den Ohren schlagen hören.
»Bitte, liebe Seelen«, flehte sie, »laßt mich nicht zu spät kommen.«
Verbissen ächzend riß sie die Tür auf und stürzte ins Innere.
Kahlan blieb ruckartig stehen. Sie schluckte trocken. Richard stand vor Schwester Verna, gleich unter dem Loch, das der Blitz ins Dach gerissen hatte. Die beiden standen in einem Kegel grauen Lichts, umgeben von leise rieselnden Schneeflocken. Der übrige Raum rings um die beiden war in Dunkelheit getaucht. Das Schwert an Richards Hüfte funkelte im Licht. Er trug weder Zahn noch Pfeife, noch Strafer um den Hals. Er hatte noch keine Zeit gehabt, Scarlet zu rufen.
Schwester Verna hielt ihm mit einer Hand den Halsring hin. Ihr Blick fuhr kurz in einer stummen Warnung zu Kahlan hinüber, dann wieder zurück zu Richard. »Du hast die drei Gründe für den Rada’Han gehört. Dies ist deine letzte Chance, Hilfe zu bekommen, Richard. Wirst du das Angebot annehmen?«
Richard löste sich aus dem starren Blick der Schwester und drehte sich langsam zu der Stelle um, wo Kahlan um Atem ringend stand. Der Blick aus seinen strahlend grauen Augen wanderte an ihrem Kleid hinab und dann wieder hoch zu ihrem Gesicht. Seine Stimme klang sanft, ehrfurchtsvoll. »Kahlan … das Kleid ist … wunderbar. Wunderbar.«
Kahlan fand ihre Stimme nicht. Ihr klopfte das Herz, wäre fast zersprungen. Schwester Verna sprach seinen Namen im Tonfall einer ernsten Warnung aus.
Zum erstenmal sah Kahlan, daß Schwester Verna etwas in der Hand hielt. Das silberne Messer. Sie hatte es aber nicht auf sich selbst gerichtet, sondern auf Richard. Kahlan wußte: wenn er nicht annahm, hatte sie die Absicht, ihn zu töten. Er schien das Messer nicht einmal zu bemerken, als es im schwachen Licht aufblitzte. Kahlan fragte sich, ob sie es mit einem Bannspruch vor seinem Blick verbarg.
Richard drehte sich wieder zu der Schwester um. »Ihr habt Euer Bestes gegeben. Euer Bestes versucht. Es hat nicht gereicht. Ich habe Euch vorher schon erklärt, ich werde keinen…«
»Richard!« Kahlan kam einen weiteren Schritt näher, als er sich auf ihren Aufschrei hin umdrehte. Sie sah ihm fest in die Augen. »Richard«, sagte sie leise, während sie noch einen Schritt nach vorn machte. Dann brach ihre Stimme. »Nimm das Angebot an. Nimm den Halsring. Bitte.«
Schwester Verna rührte sich nicht. Sie sah in aller Ruhe zu.
Richard runzelte leicht die Stirn. »Was? Kahlan … du verstehst nicht. Ich habe dir doch gesagt, ich werde niemals…«
»Richard!« Er verstummte und sah sie verwirrt an. Kahlan sah kurz zu der Schwester hinüber, die reglos dastand, das Messer noch immer in ihrer Hand. Ihre Blicke trafen sich. Kahlan wußte: die Frau würde abwarten und zusehen, was geschah. Ihre Augen besaßen eine Härte, die verriet, zu was sie bereit war, wenn Kahlan Richard nicht umstimmte. »Richard, hör mir genau zu. Ich möchte, daß du das Angebot annimmst.«
Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer. »Was …?«
»Nimm den Halsring.«
Seine Augen blitzten zornig auf. »Ich habe es dir doch schon erklärt. Ich werde keinen…«
»Du hast gesagt, daß du mich liebst!«
»Kahlan, was ist los mit dir? Du weißt doch, daß ich dich liebe…«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Dann wirst du das Angebot annehmen. Wenn du mich wirklich liebst, wirst du den Halsring annehmen und tragen. Mir zuliebe.«
Er starrte sie ungläubig an. »Dir zuliebe …? Kahlan, ich kann nicht … ich werde nicht…«
»Doch, du wirst!« Sie war zu sanftmütig, und sie wußte es. Das verwirrte ihn bloß. Sie mußte energischer werden. Sie mußte mehr wie Denna auftreten, wenn sie ihn retten wollte. Liebe Seelen, flehte sie in Gedanken, bitte gebt mir die Kraft, es zu tun und ihn zu retten.
»Kahlan, ich weiß nicht, was in dich gefahren ist. Wir können später darüber sprechen. Du weißt, wie sehr ich dich liebe, aber ich werde nicht…«
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und schrie ihn an: »Doch, du wirst, wenn du mich liebst. Steh nicht bloß da und erzähle mir, daß du mich liebst, wenn du nicht bereit bist, es zu beweisen! Du widerst mich an!«
Er war fassungslos. Der Klang seiner Stimme tat ihr im Herzen weh. »Kahlan…«
»Du bist meiner Liebe nicht würdig, wenn du nicht bereit bist, sie zu beweisen! Wie kannst du es wagen, mich zu lieben!«
Tränen traten ihm in die Augen.
Tränen des Irrsinns.
Weil er daran denken mußte, was Denna ihm angetan hatte.
Er sank langsam auf die Knie. »Kahlan … bitte.«
Sie beugte sich mit geballten Fäusten über ihn. »Wage es nicht, mir zu widersprechen!« Er riß die Arme hoch, um seinen Kopf zu schützen. Er dachte, sie würde ihn schlagen. Er dachte tatsächlich, sie würde ihn schlagen. Sein Herz schien zu zerreißen. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie ihrem Zorn freien Lauf ließ. »Ich hab’ dir gesagt, du sollst den Halsring nehmen. Wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen! Wenn du mich liebst, wirst du ihn nehmen!«
»Kahlan, bitte!« jammerte er. »Tu das nicht. Du verstehst nicht. Bitte mich nicht…«
»Ich verstehe sehr gut!« schrie sie ihn an. »Ich verstehe, daß du sagst, du liebst mich! Aber ich glaube dir nicht! Ich glaube dir nicht! Du lügst mich an! Deine Liebe ist eine Lüge, wenn du den Halsring nicht nimmst! Eine Lüge! Eine schmutzige Lüge!«
Er brachte es nicht fertig, sie anzusehen — sie anzusehen, während sie sich in dem blauen Kleid über ihn beugte, in dem sie ihn hatte heiraten sollen. Er hatte Mühe, die Worte rauszubringen, während sein Blick auf den Boden geheftet blieb. »Es ist keine … keine Lüge. Bitte, Kahlan, ich liebe dich. Du bedeutest mir mehr als alles andere auf der Welt. Bitte, glaube mir. Ich würde alles für dich tun. Aber bitte zwing mich nicht…«
Während sie innerlich daran zu sterben schien, packte sie eine Handvoll seiner Haare, riß seinen Kopf nach oben und zwang ihn so, sie anzusehen. Der Irrsinn tanzte in seinen Augen. Er war dahin. Aber nur im Augenblick, flehte sie. Bitte, geliebte Seelen, nur in diesem Augenblick.
»Worte! Mehr hast du mir nicht zu bieten! Keine Liebe! Keinen Beweis! Nur Worte! Wertlose Worte!«
Während sie ihn an den Haaren hielt, holte sie mit ihrer anderen Hand aus, um ihn zu ohrfeigen. Er zuckte zusammen und schloß die Augen. Sie brachte es nicht übers Herz, sie konnte ihn nicht schlagen. Sie konnte sich gerade noch auf den Beinen halten und verhindern, daß sie auf die Knie fiel, die Arme um ihn schlang und ihm sagte, wie sehr sie ihn liebte und daß alles in Ordnung war.
Dabei war nichts in Ordnung. Wenn er es nicht tat, würde er sterben. Sie war die einzige, die ihn retten konnte. Selbst wenn sie dabei draufging.
»Schlag mich nicht mehr«, jammerte er leise. »Bitte, Denna … Tu’s nicht.«
Kahlan unterdrückte den Klagelaut, der ihrer Kehle zu entweichen drohte, und zwang sich zu sprechen. »Sieh mich an.« Er tat, wie sie ihm befahl. »Ich sage es dir nicht noch einmal, Richard. Wenn du mich liebst, wirst du das Angebot annehmen und den Halsring anlegen. Wenn nicht, werde ich dafür sorgen, daß du bedauerst, mir nicht gehorcht zu haben, und zwar mehr, als du je etwas in deinem Leben bedauert hast. Tu es jetzt, oder es ist vorbei. Alles ist vorbei.« Sein Blick brach. Sie biß die Zähne zusammen.
»Ich sage es dir nicht noch einmal, mein Schoßhündchen. Leg den Halsring an. Jetzt!«
Kahlan wußte es. Sie wußte, daß Denna ihn ›mein Schoßhündchen‹ genannt hatte. Denna hatte es ihr zusammen mit all dem anderen erzählt. Sie wußte, welche Bedeutung diese zwei Worte für ihn hatten. Sie hatte gehofft, sie nicht benutzen zu müssen. Was immer ihn noch bei klarem Verstand hielt, erlosch in diesem Augenblick. Sie sah es seinen Augen an: das, was er mehr fürchtete als den Tod.
Verrat.
Sie löste den Griff in seinem Haar, als er sich, noch auf den Knien, zu Schwester Verna umdrehte. Die hielt ihm den Halsring hin. Im kalten Licht wirkte er stumpf, grau. Tot. Richard starrte ihn an. Schneeflocken wehten durch den ruhigen, stillen Lichtkegel. Schwester Verna sah ihn mit ausdrucksloser Miene an.
»Also gut«, meinte er leise. Mit zitternder Hand griff er nach dem Ring. Seine Finger berührten ihn, schlossen sich um ihn. »Ich nehme das Angebot an. Ich nehme den Halsring.«
»Dann leg ihn dir um den Hals«, sagte Schwester Verna mit sanfter Stimme, »und schließe ihn.«
Er drehte sich zu Kahlan. »Für dich würde ich alles tun«, sagte er leise.
Kahlan wollte sterben.
Seine Hände zitterten so heftig, daß sie dachte, er würde den Halsring fallen lassen, als er ihn von Schwester Verna entgegennahm. Er hielt ihn in der Hand und starrte ihn an.
Doch dann hörten seine Hände auf zu zittern. Er atmete tief durch und legte sich den Ring um den Hals. Er rastete mit einem Klicken ein, die Schnittstelle verschwand, und übrig blieb ein glatter Ring aus Metall.
Das Licht des Kegels trübte sich ein, als würde es schon dämmern, dabei war es mitten am Tag. Ein tiefes, unheilverkündendes Donnern grollte in alle Richtungen hinaus über die Steppe. Es klang anders als jeder Donner, den Kahlan je gehört hatte. Sie spürte ihn im Boden unter ihren Füßen. Vielleicht hatte es etwas mit der Magie des Halsrings zu tun, mit den Schwestern.
Doch als sie zu Schwester Verna hinübersah und bemerkte, wie deren Blicke umherschweiften, wußte sie, daß dies nicht der Fall war.
Richard kam mit Schwung vor der Schwester auf die Füße. »Möglicherweise werdet Ihr feststellen, Schwester Verna, daß es schlimmer ist, die Leine dieses Rings zu halten, als ihn selbst zu tragen.« Er knirschte mit den Zähnen. »Viel schlimmer.«
Schwester Vernas Stimme blieb ruhig. »Wir wollen dir nur helfen, Richard.«
Er nickte kaum merklich. »Auf Euer Wort allein glaube ich gar nichts. Ihr werdet es beweisen müssen.«
In einem Anfall von Panik kam Kahlan ein Gedanke. »Was ist der dritte Grund? Wie lautet der dritte Grund, den Halsring anzulegen?«
Als Richard sich zu ihr umdrehte, hatte er einen Blick in den Augen, der sogar seinem Vater alle Ehre gemacht hätte. Sie vergaß einen Augenblick lang, Luft zu holen.
»Der erste Grund soll meine Kopfschmerzen beherrschen und meine Gedanken öffnen, damit man mir beibringen kann, wie ich die Gabe zu nutzen habe. Der zweite Grund dient dazu, mich zu beherrschen.« Er hob den Arm und packte sie an der Kehle. Er durchbohrte sie mit seinem Blick. »Der dritte Grund ist der, daß man mir Schmerz bereiten will.«
Sie schloß die Augen und stieß einen entsetzten Schrei aus. »Nein! Bei allen guten Seelen! Nein!«
Er ließ ihre Kehle los. Sein Gesicht erschlaffte, wurde ausdruckslos. »Ich hoffe, ich habe dir meine Liebe bewiesen, Kahlan. Hoffentlich glaubst du mir jetzt. Ich habe dir alles gegeben. Hoffentlich ist es genug. Ich habe nichts mehr zu bieten. Nichts.«
»Das hast du. Mehr, als du je wissen wirst. Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt, Richard.«
Sie streckte die Hand aus, um seine Wange zu berühren. Er stieß sie fort. Seine Augen sagten alles — sie hatte ihn verraten.
»Wirklich?« Er sah fort. »Ich würde dir gern glauben.«
Sie versuchte, den schmerzhaften, brennenden Kloß in ihrem Hals zu schlucken. »Du hast mir versprochen, nie an meiner Liebe zu zweifeln.«
Er nickte schwach. »Das stimmt.«
Hätte sie den Blitz für sich selbst herunterrufen können, sie hätte es getan. »Richard … ich weiß, im Augenblick verstehst du das nicht, aber ich habe nur getan, was ich tun mußte — um dir zu helfen, daß du überlebst. Um zu verhindern, daß dich die Kopfschmerzen oder deine Gabe töten. Hoffentlich wirst du das eines Tages einsehen. Ich werde immer auf dich warten, denn ich liebe dich von ganzem Herzen.«
Er nickte unter Tränen. »Wenn das wahr ist, dann geh und suche Zedd. Sag ihm, was du getan hast. Sag es ihm.«
Schwester Verna mischte sich ein. »Richard, nimm deine Sachen und warte bei den Pferden.«
Er nickte. Dann ging er in die hinterste Ecke und hob seinen Umhang, seinen Bogen, seinen Rucksack auf. Er griff hinein und zog drei Lederriemen heraus, den mit der Pfeife des Vogelmannes, den mit Scarlets Zahn und den mit Dennas Strafer. Während Kahlan zusah, wie er sich die drei um den Hals hängte, wünschte sie, sie besäße etwas, das sie ihm von ihr geben konnte. Sie versuchte verzweifelt, sich etwas einfallen zu lassen.
Als er an ihr vorüberging, legte sie ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn an. »Warte.« Kahlan nahm das Messer aus seinem Gürtel. Sie zog eine Locke ihres Haars hervor und trennte sie mit dem Messer ab. Sie dachte nicht einmal darüber nach, was sie da tat, was geschah, wenn ein Konfessor sich selbst die Haare schnitt.
Ein gequälter Aufschrei, und sie fand sich am Boden wieder. Die Magie brannte sich in ihren Körper, versengte jeden Nerv. Sie kämpfte darum, bei Bewußtsein zu bleiben, und schnappte nach Luft. Sie kämpfte gegen die reißenden Schmerzen an.
Sie mußte bei Bewußtsein bleiben, sonst brach Richard vielleicht auf, bevor sie ihm die Locke geben konnte. Nur daran dachte sie und zwang sich wieder auf die Beine. Endlich ließ der Schmerz nach.
Noch immer nach Atem ringend, zog Kahlan ein kurzes, blaues Bändchen aus dem Bund des Kleides, schnitt es ebenfalls ab und band die lange Haarsträhne damit in der Mitte zusammen, nachdem sie sie um zwei Finger gewickelt hatte. Unter seinen Blicken steckte sie das Messer zurück in die Scheide an seinem Gürtel und steckte ihm die Haarlocke in die Tasche seines Hemdes.
»Um dich immer daran zu erinnern, daß ich im Herzen bei dir bin … daß ich dich liebe.«
Er sah sie eine ganze Weile ausdruckslos an. »Geh und suche Zedd«, war alles, was er sagte, bevor er kehrtmachte und nach draußen ging.
Nachdem er gegangen war, stand Kahlan da und starrte auf die Tür. Sie war wie betäubt, leer, verloren.
Schwester Verna blieb neben ihr stehen und blickte wie sie zur Tür. »Das war die vielleicht mutigste Tat, die ich je gesehen habe«, meinte sie leise. »Die Menschen in den Midlands können sich glücklich schätzen, dich als Mutter Konfessor zu haben.«
Kahlan starrte noch immer auf die Tür. »Er denkt, ich hätte ihn verraten.« Sie drehte sich um und sah die Schwester an, während ihr die Tränen in die Augen traten. »Er denkt, ich hätte ihn verraten.«
Die Schwester betrachtete ihr Gesicht einen Augenblick lang. »Das hast du nicht. Ich verspreche dir, beizeiten werde ich ihm erkennen helfen, was du am heutigen Tag für ihn getan hast.«
»Bitte«, flehte sie, »tut ihm nicht weh.«
Schwester Verna faltete die Hände vor ihrem Körper und atmete tief durch. »Du hast ihm gerade weh getan, um ihm das Leben zu retten. Möchtest du, daß ich weniger für ihn tue?«
Eine Träne lief ihr über die Wange. »Vermutlich nicht. Außerdem bezweifle ich, daß Ihr etwas ebenso Grausames tun könntet wie ich.«
Schwester Verna nickte. »Ich fürchte, damit hast du recht. Doch ich gebe dir mein Wort darauf: Ich werde persönlich über ihn wachen und dafür sorgen, daß man ihm nur das Nötigste antut. Ich verspreche dir, ich werde nicht zulassen, daß man auch nur einen Zoll weiter geht. Mein Wort darauf als Schwester des Lichts.«
»Ich danke Euch.« Ihr Blick fiel auf das Messer in der Hand der anderen Frau. Die Schwester schob es in den Ärmel zurück. »Ihr hättet ihn getötet. Wenn er sich geweigert hätte, hättet Ihr ihn getötet.«
Sie nickte. »Hätte er nein gesagt, hätten die Qualen und der Irrsinn am Ende ein groteskes Ausmaß angenommen. Das hätte ich ihm erspart. Doch das spielt alles keine Rolle mehr. Du hast ihm das Leben gerettet. Danke, Mutter Konfessor … Kahlan.«
Schwester Verna ging zur Tür. »Schwester? Wie lange? Wie lange werdet Ihr ihn bei Euch haben? Wie lange werde ich warten müssen?«
Die Schwester sah sich nicht um. »Tut mir leid, das kann ich nicht sagen. Es dauert so lange, wie es eben dauert. Viel hängt dabei von ihm ab. Es kommt darauf an, wie schnell er lernt.«
Zum ersten Mal lächelte Kahlan wieder. »Ihr werdet wahrscheinlich überrascht sein, wie schnell Richard lernt.«
Schwester Verna nickte. »Das ist es, was ich am meisten fürchte. Wissen vor Weisheit. Das macht mir mehr angst als alles andere.«
»Ich könnte mir vorstellen, daß Euch auch Richards Weisheit überrascht.«
»Ich bete dafür, daß du recht behältst. Leb wohl, Kahlan. Versuche nicht, uns zu folgen, sonst stirbt er.«
»Noch eins, Schwester.« Die kalte Bedrohlichkeit in ihrer Stimme überraschte sie selbst. »Wenn Ihr mich in irgendeinem Punkt belogen habt, wenn Ihr ihn tötet, dann werde ich jede Schwester des Lichts verfolgen und zur Strecke bringen. Ich werde sie bis zur allerletzten töten. Doch nicht, bevor eine jede endlos um ihren Tod gebettelt hat.«
Die Schwester blieb einen Augenblick lang ganz ruhig stehen, dann nickte sie und machte sich auf den Weg.
Kahlan folgte ihr nach draußen, gesellte sich zu den Menschen dort und beobachtete, wie die Schwester ihr Pferd bestieg. Richard saß bereits auf einem kastanienbraunen Wallach. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und wartete.
Kahlan brach es das Herz. Sie wollte ein letztes Mal sein Gesicht sehen, doch er drehte sich nicht um, als die beiden aufbrachen.
Kahlan sank auf die Knie. »Richard«, jammerte sie, »ich liebe dich.«
Er schien sie nicht zu hören, während er und Schwester Verna im verschneiten Grasland verschwanden. Kahlan hockte in ihrem Hochzeitskleid auf der Erde, ließ den Kopf hängen und weinte. Weselan legte den Arm um sie, versuchte, sie zu trösten.
Kahlan fielen seine Worte ein: Geh und suche Zedd. Sie zwang sich aufzustehen. Die Ältesten waren versammelt. Sie wandte sich ihnen zu.
»Ich muß sofort aufbrechen. Ich muß nach Aydindril. Ich brauche ein paar Männer, die mich begleiten, die mir helfen, es zu schaffen.«
Savidlin trat neben sie. »Ich komme mit. Und so viele meiner Jäger, wie du willst. Alle, wenn du möchtest. Wir nehmen hundert mit.«
Kahlan legte ihm die Hand auf seine Schulter und lächelte gerührt. »Nein. Ich möchte nicht, daß du mitkommst, mein Freund, und auch nicht deine Jäger. Ich werde nur drei Männer mitnehmen.« Verwirrtes Gemurmel erhob sich. »Mehr würden nur Aufmerksamkeit auf uns lenken, vielleicht sogar Schwierigkeiten bedeuten. Zu viert wird es leichter sein, sich unbemerkt durchzuschlagen. Auf diese Weise geht es auch schneller.«
Kahlan zeigte auf einen, der die Szene mit funkelnden Augen verfolgt hatte. »Ich nehme dich mit, Chandalen.« Seine beiden Brüder standen neben ihm. »Und euch, Prindin und Tossidin.«
Chandalen stürzte nach vorn. »Mich! Warum ausgerechnet mich!«
»Weil ich nicht scheitern darf. Ich weiß, wenn ich Savidlin mitnähme, würde er sein Bestes geben, doch wenn er versagt, dann wüßten die Schlammenschen, daß er sein Bestes versucht hätte. Du bist der bessere Menschenjäger. Richard hat mir mal erzählt, müßte er einen Mann aussuchen, der an seiner Seite kämpfen soll, dann wärst das du, obwohl du ihn haßt.
Dort, wo wir hingehen, bilden Menschen die Gefahr. Wenn ich es nicht schaffe und du mich enttäuscht, wird jeder denken, es läge daran, daß du nicht dein Bestes gegeben hast. Man wird immer glauben, daß du mich hast sterben lassen — einen anderen Schlammenschen hast sterben lassen — , weil du mich und Richard haßt. Läßt du zu, daß man mich tötet, wirst du bei den Schlammenschen — bei deinem eigenen Volk — nie wieder willkommen sein.«
Prindin trat vor, sein Bruder gleich neben ihm. »Ich komme mit. Mein Bruder auch. Wir werden dir helfen.«
Chandalen war außer sich. »Aber ich nicht! Ich werde nicht mitgehen!«
Kahlan blickte hinüber zum Vogelmann. Er sah sie aus seinen braunen Augen an, dann warf er Chandalen einen eisenharten Blick zu. »Kahlan ist ein Schlammensch. Du bist der tapferste und gerissenste Krieger von uns allen. Es ist deine Aufgabe, uns zu beschützen. Uns alle. Du wirst es tun. Du wirst mit ihr gehen. Du wirst ihre Befehle befolgen, und du wirst sie sicher dorthin bringen, wohin sie will. Wenn nicht, dann wirst du jetzt sofort gehen und niemals wiederkommen. Noch etwas, Chandalen. Komm nicht zurück, wenn sie getötet wird. Tust du es doch, dann werden wir dich töten wie jeden anderen Fremdling mit schwarzer Farbe über seinen Augen.«
Chandalen bebte vor Wut. Er bohrte seinen Speer in den Boden und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Wenn ich unser Land verlassen soll, wird eine Zeremonie stattfinden müssen, um die Seelen um Schutz auf unserer Reise zu bitten. Das wird bis morgen dauern. Dann brechen wir auf.«
Alle Augen richteten sich auf Kahlan. »Ich breche in einer Stunde auf. Du wirst mich begleiten. Bis dahin hast du Zeit, deine Vorbereitungen zu treffen.«
Kahlan kehrte ins Haus der Seelen zurück, um ihr Hochzeitskleid gegen ihre Reisekleidung zu tauschen und ihre Sachen zusammenzupacken. Dankbar nahm sie Weselans Angebot an, ihr zu helfen.