47

Inmitten der prickelnden Dunkelheit schmerzte ihre Lippe. Irgend etwas stieß gegen die Platzwunde, wodurch sie zu pochen begann. Sie hatte etwas im Mund. Es fühlte sich an wie ein Finger, der in ihrem Mund herumstocherte.

»Schluck runter!«

Kahlan runzelte in der Finsternis, im Schlaf, die Stirn.

»Schluck runter! Hörst du mich? Schluck runter!«

Eine säuerliche Miene ziehend, tat sie, was man ihr befahl. Der Finger stopfte ihr noch mehr dieser trockenen Dinger in den Mund.

»Schluck noch mal!«

Sie schluckte, in der Hoffnung, die Stimme würde sie danach in Frieden lassen. Das tat sie auch. Kahlan sank zurück in die kribbelnde Leere. Sie trieb bewußtlos durch ein Nirgendwo. Sie hatte keinerlei Vorstellung von Zeit, keine Ahnung, wie lange sie dahintrieb.

Mit einem Japsen schlug sie die Augen auf. Blinzelnd sah sie sich in ihrer Tannenhütte um. Die Kerzen waren halb heruntergebrannt. Jemand hatte sie mit ihrem Fellumhang zugedeckt.

Chandalen beugte sich über sie und blickte auf sie herab. Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Er stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus.

»Du bist wieder aufgewacht«, sagte er. »Jetzt bist du in Sicherheit.«

»Chandalen?« Sie versuchte sich einen Reim auf das zu machen, was sie sah. »Bin ich in der Unterwelt, oder bist du gar nicht tot?«

Er lachte lautlos. »Chandalen ist nicht so leicht umzubringen.«

Sie bewegte mühsam die Zunge, versuchte, ihren trockenen Mund zu befeuchten. Zum ersten Mal seit langem war sie wach, wirklich wach. Ihr kam es vor, als hätte sie vergessen, wie es war, wach zu sein, welch aufwühlendes Gefühl das war. Trotzdem, sie rührte sich nicht, aus Angst, die Finsternis könnte zurückkommen.

»Aber Prindin hatte dich mit einem Zehnschrittpfeil getroffen. Ich habe es selbst gesehen.«

Er blickte verdrossen zur Seite. Sie sah, daß sein schwarzes Haar mit trockenem Blut verklebt war. Er machte eine abweisende Handbewegung, so als sei es ihm nicht recht, dies erklären zu müssen.

»Du erinnerst dich, wie ich dir erzählt habe, daß unsere Vorfahren quassin doe genommen haben, bevor sie in die Schlacht gezogen sind, damit sie das Gift nicht tötet, wenn sie von einem Zehnschrittpfeil getroffen werden?« Sie nickte. Vorsichtig befühlte er seine verletzte Kopfhaut. »Meinen Vorfahren zu Ehren, meinen Kriegervorfahren, habe ich einige der quassin doe-Blätter gegessen, bevor ich loszog, um zu kämpfen. Jenes quassin doe, das du mir in dieser Stadt gegeben hast.« Er zog die Brauen hoch, als sei eine weitere Rechtfertigung vonnöten. »Ich habe es zu Ehren meiner Vorfahren getan.«

Kahlan lächelte ihn freundlich an und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Du hast deinen Vorfahren alle Ehre gemacht.«

Er half ihr, sich aufzusetzen. Im schwachen Licht erkannte sie, daß Prindin neben ihr lag, auf dem Rücken.

Das Knochenmesser, jenes Knochenmesser, das aus den Gebeinen von Chandalens Großvater gefertigt war und das sie um ihren Arm getragen hatte, ragte aus Prindins Brust. Die schwarzen Federn lagen fächerförmig um das Heftende, wie ein Schleier über der tödlichen Wunde ausgebreitet. Irgendwie hatte sie es fertiggebracht, das Messer zwischen sie beide zu bringen, als Prindin auf sie gesprungen war. Irgendwie.

Sie erinnerte sich an ihre Not, wie starr und hilflos sie gewesen war. Sie erinnerte sich an das kribbelnde Gefühl des Giftes und daran, daß sie sich nicht hatte bewegen können. Sie erinnerte sich an ihre fürchterliche Angst. Sie erinnerte sich, wie Prindin auf sie gesprungen war.

Aber sie erinnerte sich nicht, das Messer gezogen zu haben.

Ihre Stimme bebte. »Es tut mir so leid, Chandalen.« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Es tut mir so leid, daß ich deinen Freund getötet habe.«

Chandalen funkelte die Leiche wütend an. »Er war nicht mehr mein Freund. Meine Freunde versuchen nicht, mich umzubringen.« Er legte ihr zum Trost eine Hand auf die Schulter. »Er wurde vom großen, finsteren Geist der Toten geschickt. Das Böse hat von seinem Herzen Besitz ergriffen.«

Kahlan packte ihn am Ärmel. »Chandalen, dieser große, finstere Geist der Toten versucht, durch den Schleier zu entkommen. Er will uns alle hinter diesen Schleier ziehen, in die Welt der Toten.«

Er musterte sie mit seinen braunen Augen. »Ich glaube dir. Wir müssen nach Aydindril, damit du helfen kannst, ihn aufzuhalten.«

Sie sank erleichtert zurück. »Ich danke dir, Chandalen. Für dein Verständnis und dafür, daß du mich mit dem quassin doe gerettet hast.« Kahlan faßt ihn am Arm. »Die Soldaten! Prindin hat ihnen eine Falle gestellt! Wie spät ist es?«

Er gab einen beruhigenden Laut von sich. »Als Hauptmann Ryan vor dem Angriff zu Tossidin und mir kam, fragte ich ihn, wo du seist. Ich wußte, daß du bei ihnen sein wolltest. Er erklärte mir, du seist krank. Daß du nicht aufwachen würdest. Für mich klang das nach bandu.

Hauptmann Ryan meinte, du wolltest nichts essen und würdest nur den Tee trinken, den Prindin für dich gemacht hat. Da wußte ich, was geschehen war. Ich wußte, wodurch du vergiftet worden warst, weil du nur den Tee getrunken hattest.

Tossidin und ich waren sehr in Sorge um dich. Schließlich überprüften wir jedoch, ob der Feind seine Stellung verändert hatte. Wir sorgten dafür, daß er den Angriff dort erwartete, wo wir es zuerst geplant hatten. Unsere Männer griffen jedoch von einer anderen Seite an. Gleich nachdem ich meine Befehle erteilt hatte, sind wir hierher zurückgeeilt.

Ich wußte, daß Prindin uns verraten hatte, Tossidin jedoch glaubte, es müsse eine andere Erklärung geben. Er vertraute seinem Bruder und wollte nichts Böses von ihm denken. Er hat für sein Vertrauen, für seinen Fehler, mit dem Leben bezahlt.«

Kahlan wandte in der bedrückten Stille den Blick ab. Sie sah ihn fragend an. »Was ist mit dem Pfeil? Was ist mit der Wunde an deinem Kopf? Wir müssen uns um deine Wunden kümmern.«

Chandalen zog den Kragen seines Wildlederhemdes auf die Seite, so daß ein Verband über seiner linken Schulter zum Vorschein kam. »Die Männer sind in der Nacht zurückgekommen. Sie haben meinen Kopf genäht. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Sie haben auch den Pfeil entfernt.«

Er zuckte zusammen, als er das Hemd wieder über seine Schulter streifte. »Ich habe Prindin gut unterrichtet. Er hat einen Pfeil mit einer Klinge benutzt. Klingenpfeile richten beim Austreten größeren Schaden an als beim Eintreten. Einer der Männer, der die Verwundeten amputiert und näht, hat den Pfeil herausgeschnitten und mich zusammengeflickt. Der Pfeil war auf Knochen gestoßen und ist nicht allzutief eingedrungen. Mein Arm ist steif, und ich werde ihn eine Weile nicht gebrauchen können.«

Kahlan betastete ihr Bein. Unter ihrer Hose war ein Verband. »Hat er mein Bein auch genäht?«

»Nein. Es mußte nicht genäht, sondern nur verbunden werden. Das habe ich getan. Bei dir hat Prindin eine runde Spitze verwendet. So habe ich ihm das nicht beigebracht. Ich weiß nicht, warum er es getan hat.«

Kahlan spürte die Gegenwart der Leiche neben sich. »Er wollte ihn aus mir herausziehen können, nachdem er das Gift in mich hineingeschossen hatte«, sagte sie ruhig. »Er wollte ihn aus dem Weg haben. Er hatte vor, mich zu vergewaltigen, bevor er mich an den Feind ausliefert.«

Chandalen betrachtete die Leiche, da er Kahlan nicht ins Gesicht sehen wollte, und meinte, er sei froh, daß es nicht dazu gekommen war.

Sie berührte seine linke Hand. »Und ich bin froh, daß es deine linke Schulter war und nicht deine Kehle.«

Er zog eine nachdenkliche Miene. »Ich habe Prindin beigebracht, wie man schießt. Aus dieser Entfernung hätte er meine Kehle niemals verfehlen dürfen. Wieso hat er mich nicht in den Hals geschossen?«

Sie zuckte mit den Achseln und tat, als wüßte sie es nicht. Er grunzte mißtrauisch.

»Chandalen, wieso liegt seine Leiche noch hier? Warum hast du ihn nicht fortgeschafft?«

Er bewegte seinen verwundeten Arm leicht mit der anderen Hand und brachte ihn in eine bequemere Lage. »Weil das Seelenmesser meines Großvaters noch in ihm steckt.« Er betrachtete sie mit ernster Miene. »Du hast die Hilfe von Großvaters Knochen benutzt, seine Seele, um dich selbst zu schützen und das Leben eines anderen zu nehmen. Großvaters Seele ist jetzt mit dir verbunden. Niemand sonst darf sein Knochenmesser jetzt anfassen. Es gehört dir, und nur du darfst es berühren. Du mußt es herausziehen.«

Kahlan überlegte einen kurzen Augenblick, ob sie das Messer nicht einfach lassen könnte, wo es war, es mit dem Toten begraben könnte. Vielleicht sollte man auch das Knochenmesser zur Ruhe legen. Doch dann verwarf sie den Gedanken. Für die Schlammenschen war dies eine mächtige Seelenmagie. Sie würde Chandalen kränken, wenn sie das Messer zurückwies.

Vielleicht kränkte sie möglicherweise auch die Seele von Chandalens Großvater, wenn sie das Messer nicht wieder an sich nahm. Sie war nicht völlig sicher, ob es nicht die Seele in diesem Knochenmesser gewesen war, die Prindin getötet und sie gerettet hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie das Messer in ihre Hand gekommen war.

Kahlan streckte die Hand aus und schloß die Finger um das runde Ende, das aus Prindins Brust ragte. Es gab ein saugendes Geräusch, als sie das Messer aus der Leiche zog. Sie wischte es an den Fichtenzweigen ab, die den Boden bedeckten.

Kahlan führte das runde Ende an die Lippen und küßte es sacht. »Ich danke dir, Großvaterseele, daß du mir das Leben gerettet hast.« Irgendwie schien dies genau das richtige zu sein.

Chandalen lächelte, während sie das Knochenmesser unter das Band um ihrem Arm schob. »Du bist ein guter Schlammensch. Du weißt, was zu tun ist, ohne daß ich es dir erklären muß. Großvaters Seele wird immer über dich wachen.«

»Wir müssen nach Aydindril, Chandalen. Der Schleier zur Unterwelt ist eingerissen. Wir haben unsere Pflicht getan und diesen Männern hier geholfen. Jetzt muß ich meine Aufgabe erfüllen.«

»Als wir diesen Männern begegnet sind, wollte ich nicht bei ihnen bleiben. Ich wollte mich aus ihrem Kampf raushalten, damit du in Sicherheit bist.« Er starrte ins Leere. »Irgendwie ist mir dieser Gedanke abhanden gekommen, und ich wollte nichts weiter tun, als den Feind bekämpfen und töten.«

»Ich weiß«, sagte sie leise, »mir ist es ebenso gegangen. Ich habe alles vergessen, was ich eigentlich hätte tun sollen. Fast scheint es, als hätten auch wir auf den großen, finsteren Geist gehört. Der Schleier ist eingerissen. Vielleicht sind wir deshalb abgelenkt worden.«

»Du glaubst, dieser Schleier ist eingerissen und deshalb haben wir vergessen, was wir vorhatten, und haben nur noch töten wollen?«

»Chandalen, ich kenne die Antworten auf diese Fragen nicht. Ich muß nach Aydindril. Der Zauberer wird wissen, was zu tun ist. Richard braucht Hilfe. Wir haben hier genug Zeit verschwendet. Wir dürfen nicht noch mehr verlieren. Wir müssen mit den Männern reden und uns dann auf den Weg machen. Sind sie dort draußen?« Er nickte. »Fangen wir also an.«

Sie wollte aufstehen, er jedoch legte ihr seine gesunde Hand auf den Arm und hielt sie zurück. »Sie haben die ganze Nacht draußen gewartet. Ich wollte sie nicht hereinlassen.«

Er zog die Hand zurück, während er nach den passenden Worten zu suchen schien. »Ich hatte große Angst, du könntest sterben. Ich wußte nicht, ob ich dir das quassin doe rechtzeitig gegeben hatte. Prindin hat dir Gift gegeben, ohne daß wir etwas davon wußten, und zwar über eine lange Zeit. Fast wärst du in das Land der Seelen aufgebrochen.

Wenn du gestorben wärst, hätte ich nie wieder zu meinem Volk zurückkehren können. Aber das ist nicht der Grund, aus dem ich mich so freue, daß du lebst. Ich bin froh, weil du ein guter Schlammmensch bist. Du bist eine Beschützerin unseres Volkes genau wie Chandalen. Wir kämpfen jedoch jeder auf seine Art.« Er zog die Augenbrauen hoch. »In der letzten Zeit hast du viel zu oft wie Chandalen gekämpft. Darin bist du gut, trotzdem solltest du das mir überlassen und auf die Weise kämpfen, die für dich vorgesehen ist.«

Kahlan mußte lächeln. »Du hast recht. Danke, daß du die ganze Nacht bei mir gesessen hast. Es war gut, dich in der Nähe zu haben. Tut mir leid, daß du verwundet wurdest.«

Er zuckte mit den Achseln. »Irgendwann, wenn ich eine Frau finde, werde ich Narben haben, die ich ihr zeigen kann, damit sie sieht, wie tapfer Chandalen ist.«

Kahlan mußte lachen. »Ich bin sicher, sie wird von deiner Tapferkeit beeindruckt sein, weil du von dem Pfeil getroffen wurdest.«

Chandalen sah sie vorwurfsvoll an. »Daß ich von einem Pfeil getroffen wurde, beweist keine Tapferkeit. Jeder kann getroffen werden.« Er reckte sein Kinn in die Höhe. »Ich bin tapfer, weil ich nicht geschrien habe, als der Pfeil aus mir herausgeschnitten wurde.«

Eines Tages, dachte Kahlan, wird irgendeine glückliche Frau alle Hände voll mit diesem Mann zu tun bekommen. »Ich bin froh, daß die guten Seelen über dich gewacht haben und du bei mir bist.«

Er kniff die Augen zusammen, indes er sie ansah. »Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich glaube, er hat meine Kehle verfehlt, weil auch du über mich gewacht hast.«

Sie schmunzelte nur. Als ihr Blick auf die Leiche fiel, schwand ihr Schmunzeln dahin. Sie strich über das Fell ihres Umhangs. »Der arme Tossidin. Er hat seinen Bruder geliebt. Ich werde ihn vermissen.«

Chandalen warf einen knappen Blick auf die Leiche. »Ich kannte die beiden, seit sie kleine Jungen waren. Sie sind mir beide überallhin gefolgt und haben mich gebeten, sie zu unterrichten. Haben mich gebeten, zu meinen Männern gehören zu dürfen.« Er ließ stumm den Kopf hängen. Schließlich richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie. »Die Männer machen sich große Sorgen um dich. Sie warten.«

Kahlan folgte ihm, als er auf Knien und einer Hand hinauskrabbelte. Sie schleppte das Schwert mit. Draußen im Hellen erhob sich ein plötzliches Geraschel, als die Männer aufsprangen.

Hauptmann Ryan rannte zu ihr, doch ein großer Kerl mit einem Arm in der Schlinge hielt den Hauptmann mit dem gesunden Arm zurück. Er hatte eine gewaltige Streitaxt in der Faust.

»Orsk? Du lebst auch noch?«

Seine Augen waren rot von Tränen. Kahlan mußte daran denken, wie sein Vater geweint hatte, wenn seine Mutter, seine Herrin krank gewesen war.

»Herrin!« Erneut schossen ihm die Tränen in die Augen. »Ihr seid wohlauf! Was wünscht Ihr?«

»Orsk, diese Männer hier sind alle meine Freunde. Keiner von ihnen wird mir etwas tun. Du brauchst sie nicht von mir fernzuhalten. Ich bin in Sicherheit. Ich wäre sehr froh, wenn du dich jetzt einfach ruhig hinsetzen würdest.«

Er ließ sich augenblicklich auf den Boden fallen. Kahlan warf Chandalen einen fragenden, verwunderten Blick zu.

Chandalen zuckte mit den Achseln. »Ich habe gesehen, wie er gekämpft hat, um dich zu beschützen. Prindin wollte ihn töten, also gab ich ihm quassin doe. Die Männer haben ihm den Pfeil aus dem Rücken geholt. Ich weiß nicht genau, wie schlimm er verletzt ist. Für seine Verletzung interessiert er sich nicht, nur für dich. Ich konnte nur verhindern, daß er die Hütte betritt, indem ich ihm erklärte, du müßtest Ruhe haben, sonst würdest du dich womöglich nicht erholen. Er wollte aber nicht von diesem Platz weichen, solange du drinnen bist.«

Seufzend betrachtete Kahlan das gräßliche Gesicht, das schweigend zu ihr aufblickte. Sie konnte den Anblick der ausgefransten weißen Narbe und der zugenähten Augenhöhle kaum ertragen. Sie richtete ihr Augenmerk wieder auf den ungeduldigen Hauptmann und die Hunderte von Gesichtern hinter ihm.

»Wie steht es um den Krieg?«

»Der Krieg! Zum Teufel mit dem Krieg! Seid Ihr gesund? Ihr habt uns einen Todesschrecken eingejagt!« Er warf einen hitzigen Blick auf Chandalen, dann auf den im Schnee sitzenden Orsk. »Diese zwei wollten mich nicht einmal kurz zu Euch hereinlassen, um zu sehen, wie es Euch geht.«

»Das war ihre Aufgabe«, erwiderte Kahlan. Sie lächelte ihnen freundlich zu. »Vielen Dank euch allen für eure Sorge. Chandalen hat mich gerettet.«

»Aber was ist passiert? Hier herrschte ein einziges Chaos. Das Dutzend Männer, das ich hiergelassen hatte, war niedergemetzelt worden. Mit einer troga. Prindin und Tossidin sind tot. Überall lagen tote Soldaten der Imperialen Ordnung herum. Wir hatten Angst, sie hätten Euch getötet.«

Kahlan wurde klar, daß Chandalen ihnen nichts erzählt hatte. »Einer der Toten, er liegt ein Stück in dieser Richtung, ist General Riggs von der Armee der Imperialen Ordnung. Orsk hier«, damit zeigte sie hinter sich auf den Einäugigen, »hat die meisten der Soldaten der Imperialen Ordnung getötet. Sie waren gekommen, um mich zu überwältigen. Prindin hat unsere Wachen und seinen Bruder umgebracht und versucht, mich zu töten.« Erschrockenes Geflüster erhob sich unter den Männern.

Hauptmann Ryans Augen schienen aus seinem Kopf platzen zu wollen. »Prindin? Doch nicht Prindin. Bei den Seelen, warum nur?«

Sie wartete, bis es unter den Männern wieder still geworden war. Dann sagte sie in ruhigem Tonfall: »Prindin war ein Verderbter.«

Einen Augenblick lang herrschte entsetztes Schweigen, dann hörte sie, wie das Wort ›Verderbter‹ getuschelt durch die Reihen ging.

»Ihr Soldaten leistet gute Arbeit. Doch jetzt müßt ihr ohne mich kämpfen. Ich muß nach Aydindril.« Enttäuschtes Gemurmel erfüllte die Luft. »Ich würde euch nicht verlassen, wenn ich nicht wüßte, daß ihr der Aufgabe gewachsen seid. Ihr alle habt euren Wert und euren Mut im Kampf bewiesen. Ihr seid Soldaten, die jedem Feind gewachsen sind.«

Den Männern schwoll die Brust an. Sie hingen ihr an den Lippen, als hätten sie ihren General vor sich.

»Ich bin stolz auf jeden einzelnen von euch. Ihr seid die Helden der Midlands. Diese Armee der Imperialen Ordnung ist zwar bedrohlich, und doch steht sie nur stellvertretend für eine noch größere Bedrohung der Midlands, ja, für die ganze Welt der Lebenden. Daß der Hüter einen Verderbten schickt, um mich aufzuhalten, ist der Beweis dafür.

Ich bin überzeugt, daß die Imperiale Ordnung mit dem Hüter im Bunde steht. Ich muß mich nun ganz auf diese Bedrohung konzentrieren. Ich weiß, ihr werdet weiterkämpfen, wie ihr es geschworen habt, und dem Feind keine Gnade gewähren. Ich bin überzeugt, die Tage der Imperialen Ordnung sind gezählt.«

Kahlan stellte fest, daß ihr Nacken nicht mehr schmerzte. Sie berührte die Bißwunde mit den Fingern. Sie war verschwunden. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dem Zugriff des Hüters vielleicht auf mehr als eine Art entkommen zu sein.

Mit ernster Miene blickte sie in die jungen Gesichter, die sie aufmerksam ansahen. »Ihr sollt zwar schonungslos weiterkämpfen, doch dürft ihr nicht zulassen, daß ihr zu dem werdet, was ihr bekämpft. Der Feind kämpft, um zu töten und zu versklaven. Ihr kämpft für das Leben und die Freiheit. Bewahrt dies stets in eurem Herzen!

Werdet nicht zu dem, was ihr haßt. Ich weiß, wie leicht das geschehen kann. Mir wäre es fast passiert.«

Kahlan reckte die Faust gen Himmel. »Ich gelobe, keinen einzigen von euch je zu vergessen. Versprecht mir, wenn dies alles eines Tages vorbei ist, nach Aydindril zu kommen, damit die Midlands euer Opfer würdigen können.«

Die Männer hoben alle die Faust zum Gelöbnis. Ein Jubelschrei erschallte.

»Hauptmann Ryan, bitte gebt meine Worte an die Männer in den anderen Lagern weiter. Ich wünschte, ich könnte selbst zu allen sprechen, aber ich muß sofort aufbrechen.«

Er versicherte ihr, daß dies geschehen werde. Kahlan hob das Schwert mit beiden Händen in die Höhe.

»König Wyborn hat dieses Schwert im Kampf geschwungen, um sein Land zu schützen. Die Mutter Konfessor hat es zur Verteidigung der Midlands geschwungen. Nun lege ich es in würdige Hände.«

Hauptmann Ryan nahm das Schwert vorsichtig aus ihrer Hand entgegen. Er hielt es, als hätte er die Krone Galeas selbst in Händen. Strahlend lächelte er sie an.

»Ich werde es mit Stolz tragen, Mutter Konfessor. Danke für alles, was Ihr uns beigebracht habt. Als Ihr uns gefunden habt, waren wir noch Kinder. Ich danke Euch, daß Ihr uns zu Männern gemacht habt. Ihr habt uns nicht nur beigebracht, wie man besser kämpft, sondern, was noch wichtiger ist, Ihr habt uns beigebracht, was es bedeutet, Soldaten und Beschützer der Midlands zu sein.«

Er umfaßte das Heft mit seiner Faust und reckte das Schwert in den Himmel, dann drehte er sich zu seinen Männern um. »Ein dreifaches Hurra für die Mutter Konfessor!« Als sie den drei wilden Jubelschreien lauschte, wurde Kahlan bewußt, daß sie ihr ganzes Leben lang noch niemanden der Mutter Konfessor hatte zujubeln hören. Es fiel ihr schwer, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Mit einem Handkuß bedankte sie sich bei allen.

»Hauptmann Ryan, ich möchte Nick gern mitnehmen, außerdem werde ich auch noch zwei weitere Pferde brauchen.«

Chandalen stürzte nach vorn. »Wozu brauchst du Pferde?« Sie zog die Augenbrauen hoch und sah ihn an. »Chandalen, ich habe eine Pfeilwunde im Bein. Ich kann kaum stehen, geschweige denn laufen. Ich muß reiten, wenn ich nach Aydindril will. Hoffentlich hältst du mich deswegen nicht für schwach.«

Er legte die Stirn in Falten. »Nein, das nicht. Natürlich kann niemand erwarten, daß du zu Fuß gehst.« Dann blickte er sie wütend an. »Aber wozu brauchst du die beiden anderen Pferde?«

»Wenn ich reite, mußt du ebenfalls reiten.«

»Chandalen braucht nicht zu reiten! Ich bin stark!« Sie beugte sich zu ihm vor und sprach in seiner Sprache. »Chandalen, ich weiß, die Schlammenschen reiten nicht auf Pferden. Ich erwarte auch nicht, daß du weißt, wie es geht. Ich werde es dir zeigen. Du wirst sehr gut zurechtkommen. Wenn du zu deinem Volk zurückkehrst, wirst du eine neue Fähigkeit beherrschen, die kein anderer besitzt. Sie werden beeindruckt sein. Die Frauen werden erkennen, wie tapfer du bist

Er stieß ein mißtrauisches Grunzen aus und zog ein finsteres Gesicht. »Und wozu brauchen wir das dritte Pferd?«

»Wir werden Orsk mitnehmen.«

»Was?«

Kahlan zuckte mit den Achseln. »Bis dein Arm sich erholt hat, kannst du keinen Bogen spannen. Wie willst du mich beschützen? Orsk kann mit seinem gesunden Arm eine Axt schwingen, und du kannst mit deinem einen Speer schleudern.«

Er verdrehte die Augen. »Ich werde dir das wohl nicht ausreden können, oder?«

»Nein.« Kahlan lächelte ihn dünn an. »Wir sollten jetzt besser unsere Sachen holen und uns auf den Weg machen.«

Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick über die Soldaten schweifen. Über ihre Soldaten. Sie salutierte vor ihnen, indem sie die Faust aufs Herz legte.

Jeder einzelne von ihnen erwiderte stumm den Gruß.

Sie hatte viel verloren bei diesen Soldaten. Und viel gewonnen.

»Seid vorsichtig. Jeder von euch.«

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