61

Richard schnappte sich die beiden Jungen beim Arm. »Langsam«, sagte er leise. »Ich hab’ euch doch erklärt, ich muß zuerst gehen.«

Kipp und Hersh seufzten ungeduldig. Richard sah um die Ecke, blickte den Gang hinunter, dann drückte er die beiden Jungs an die Wand. Frösche strampelten in ihren Hosentaschen.

»Dies ist eine ernste Angelegenheit. Ich hab’ euch zwei ausgesucht, weil ich weiß, daß ihr die Besten seid. Und jetzt tut, was ich euch erklärt habe, so wie wir es geplant haben. Bleibt hier stehen, mit dem Rücken zur Wand, und zählt bis fünfzig. Bevor ihr bei fünfzig seid, dürft ihr nicht einmal um die Ecke linsen. Ich verlasse mich auf euch.«

Die beiden grinsten. »Wir sind deine Leute«, meinte Kipp. »Wir holen sie da raus.«

Richard hockte sich vor sie und hielt den beiden drohend den Finger vors Gesicht. »Dies ist eine ernste Angelegenheit. Das ist nicht einfach irgendein Spiel. Diesmal könnt ihr richtigen Ärger bekommen. Seid ihr sicher, daß ihr mitmachen wollt?«

Kipp streckte die Hände in die Taschen und betastete die Frösche. »Du hast die Richtigen gefragt. Wir schaffen das. Wir wollen ganz bestimmt, Richard.«

Sie waren so aufgeregt, weil sie noch nie an den Wachen vorbeigekommen waren. Dies war Neuland für ihre Streiche. Richard wußte, sie konnten die Gefahr dabei nicht einschätzen, und er fand es abscheulich, sie auf diese Art mißbrauchen zu müssen, doch es war die einzige Möglichkeit, die ihm eingefallen war.

»Also gut, dann fangt an zu zählen.«

Richard bog um die Ecke und rannte mit wehendem Mriswith-Cape den Gang entlang. Als er die richtige Tür erreicht hatte, stellte er sich vor die weiße Marmorwand gegenüber der Doppeltür und streifte die Kapuze über. Er schloß das Cape und konzentrierte sich auf den Marmor hinter sich.

Er stand regungslos da. Die Jungen kamen lärmend um die Ecke, brüllten und schrien aus Leibeskräften und rannten den Gang entlang. Vor der Doppeltür blieben sie stehen und warfen einen Blick in beide Richtungen. Sie merkten nicht, daß er hinter ihnen stand, und er wußte, daß sie sich fragten, wo er sich versteckte.

Wie man ihnen aufgetragen hatte, stießen sie die Doppeltür auf und begannen, vor Aufregung kichernd, Frösche aus ihren Taschen zu ziehen und in das Zimmer zu werfen. Die beiden Schwestern waren einen Augenblick lang vor Schreck wie erstarrt. Richard beobachtete, wie sie dann um ihre Tische herumgeeilt kamen und wie eine von ihnen sich dabei eine Rute schnappte. Die beiden Jungs schleuderten ihre letzten Frösche kreischend von sich, dann flitzten sie, spöttisch rufend ›Ihr kriegt uns nicht! Ihr kriegt uns nicht!‹ in entgegengesetzten Richtungen davon.

Die Schwestern Ulicia und Finella kamen rutschend auf dem polierten Marmorboden draußen vor der Tür zum Stehen. Fast wären sie genau in ihn hineingeschlittert — sie waren nur noch Zentimeter entfernt. Richard hielt den Atem an.

Die Schwestern verfolgten, wie die beiden Jungs an den entgegengesetzten Enden des Ganges um die Ecke bogen. Sie warfen die Hände nach vorn. Bilder stürzten krachend zu Boden, als leuchtende Lichtblitze sie von den Wänden an den Stirnseiten fegten, doch die Jungs wurden nicht getroffen. Verärgert vor sich hin brummend, teilten sich die Schwestern auf und rannten je einem Jungen hinterher.

Richard wartete ab, bis sie um die Ecke waren, dann löste er sich von der Wand und ließ das Cape wieder schwarz werden. Er fragte sich, wie es wohl auf einen Beobachter wirken mochte, wenn plötzlich jemand aus dem Nichts auftauchte.

Im Vorzimmer war niemand. Vor der Tür, zwischen den beiden Schreibtischen, schien die Luft zu schimmern und zu summen. Richard steckte probeweise seine Hand hinein. Die Luft fühlte sich dick an, schien aber keine schädlichen Auswirkungen zu haben. Er schob sich durch die Funken hindurch und trat durch die dahinter liegende Tür.


Der Raum dahinter, der nicht ganz so groß war wie das Vorzimmer, war schummrig beleuchtet und in edlem, dunklem Holz getäfelt. In der Mitte stand ein schwerer Tisch aus Walnußholz voller Stapel aus Papieren und Büchern sowie drei Kerzen. Zu beiden Seiten gab es wandhohe Bücherregale, übervoll mit zerlesenen Büchern und ein paar anderen Gegenständen.

Eine alte Frau, eine Putzfrau, in einem dunkelgrauen, schweren Wollkleid stand auf einem Hocker und staubte einen der oberen Regalböden ab. Sie drehte sich überrascht um, als er stehenblieb. Kurz sah sie zur Tür, dann wieder zu ihm.

»Wie bist du …?«

»Tut mir leid. Ich wollte Euch nicht erschrecken. Ich bin gekommen, um die Prälatin zu sprechen. Ist sie hier?«

Die Frau bückte sich, suchte mit dem Fuß nach dem Boden. Richard reichte ihr die Hand. Dankbar lächelnd strich sie sich eine Strähne ihres ergrauenden Haars aus dem Gesicht. Das meiste davon hatte sie zu einem lockeren Knoten hinter ihrem Kopf zusammengebunden. Als sie wieder auf dem Fußboden stand, reichte ihr Kopf gerade bis an das untere Ende seines Brustbeines. Ihr Körper ging ein wenig in die Breite, so als wäre sie früher größer gewesen, und ein Riese hätte ihr die Hand auf den Kopf gelegt und sie einen guten Fuß weit gestaucht.

Sie hob den Kopf und sah ihn mit einem neugierigen Stirnrunzeln an. »Haben die Schwestern Ulicia und Finella dich hereingelassen?«

»Nein«, sagte Richard und sah sich in dem gemütlich vollgestellten Zimmer um. »Sie sind hinausgegangen.«

»Aber sie hätten doch bestimmt einen Schild…«

»Entschuldigung, aber ich muß dringend die Prälatin sprechen.« Auf der anderen Seite des Zimmers sah Richard eine Doppeltür, die offenstand und in den Innenhof hinausführte. »Ist sie in der Nähe?«

»Bist du angemeldet?« fragte sie mit ruhiger, sanfter Stimme.

»Nein«, gestand er. »Ich habe es tagelang versucht. Die beiden waren nicht sehr hilfsbereit, also habe ich mich selbst eingelassen.«

Sie legte einen Finger an die Unterlippe. »Verstehe. Aber du mußt angemeldet sein. So lauten die Regeln. Tut mir leid.«

Richard wandte sich zur offenen Tür. Er wurde ungeduldig, hielt seine Stimme jedoch im Zaum, da er die alte Dienstmagd nicht erschrecken wollte. »Hört, gute Frau, ich muß die Prälatin sprechen, sonst sind wir alle beim Hüter persönlich angemeldet.« Er ging los.

Sie zog erstaunt die Brauen hoch. »Tatsächlich?« Sie schnalzte mit der Zunge. »Der Hüter also, so, so.«

Abrupt blieb Richard stehen. Er zuckte zusammen und stöhnte. Dann machte er auf dem Absatz kehrt.

»Die Prälatin, das seid Ihr, nicht wahr?«

Ein schelmisches Grinsen huschte über ihr Gesicht, ihre Augen begannen zu funkeln. »Ja, Richard, ich denke, das bin ich.«

»Ihr wißt, wer ich bin?«

Sie lachte stillvergnügt in sich hinein. »Oh, ja, das weiß ich.«

Ihr Lachen wurde lauter. »Wie mir zu Ohren gekommen ist, scheinst du hier die Leitung übernommen zu haben. Du bist kaum einen Monat da, und schon hast du den halben Palast um den Finger gewickelt. Ich hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, mir einen Termin geben zu lassen, um dich zu sprechen.«

Richard blickte sie freundlich an. »Ich hätte ihn Euch gewährt.«

»Ich habe mich darauf gefreut, dich kennenzulernen.« Sie tätschelte seinen Arm. »Von nun an kannst du mich besuchen, wann immer du willst.«

»Wieso habt Ihr mich dann vorher nicht zu Euch vorgelassen?«

Sie verschränkte die Arme unter ihren schweren, runden Brüsten. »Eine Prüfung, mein Junge, eine Prüfung.« Sie lächelte zu ihm hinauf. »Ich bin beeindruckt. Ich hatte erwartet, du würdest noch sechs oder acht Monate brauchen.«

Die Tür flog auf. Richard wurde von den Beinen geholt, von seinem Halsring nach hinten gerissen und gegen eine Wand geworfen. Er saß fest, die Luft wurde ihm aus den Lungen gepreßt. In der Tür standen die beiden wutentbrannten Schwestern, die Fäuste in die Hüften gestemmt.

»Na, na«, meinte die Prälatin, »hört auf damit, ihr zwei. Laßt den Jungen runter.«

Richard schlug dumpf auf dem Boden auf und sah die beiden Schwestern wütend an. »Ich war es, der die beiden Jungs zu ihrem Streich überredet hat. Was sie getan haben, ist meine Schuld. Wenn sich irgend jemand dafür rächen will, dann an mir und nicht an ihnen. Wenn Ihr ihnen etwas tut, habt Ihr Euch vor mir dafür zu verantworten.«

Eine der Schwestern machte einen Schritt auf ihn zu. »Ihre Strafe wurde bereits angeordnet. Diesmal werden sie endlich eine Lektion erteilt bekommen.« Wütend zeigte sie mit einer kräftigen Rute auf ihn. »Du kannst dir über deine eigene Bestrafung Gedanken machen.«

»Ganz recht, Schwester Ulicia«, meinte die Prälatin. »Ich denke, eine Bestrafung ist durchaus angebracht.« Die Schwester sah Richard selbstzufrieden lächelnd an. »Und zwar für Euch.«

Schwester Ulicia blieb die Luft weg. »Prälatin Annalina?«

»Habe ich Euch nicht ausdrücklich angewiesen, daß Richard hier nicht eingelassen werden darf?«

Die beiden Schwestern richteten sich auf. »Doch, Prälatin Annalina.«

»Und trotzdem steht er hier. Mitten in meinem Arbeitszimmer.«

Schwester Ulicia deutete auf die Tür. »Aber … wir haben einen Schild hinterlassen. Er hätte niemals…«

»Ach nein? Niemals?« Die Schwester ließ die Hand an ihre Seite fallen, als sie die düstere Miene der Prälatin sah. »Mir scheint, als sehe ich ihn vor mir stehen. Oder etwa nicht, Schwestern?«

»Ja, Prälatin Annalina«, meinten die beiden wie aus einem Mund.

»Und jetzt wollt Ihr Euer beider Versagen auch noch damit belohnen, daß Ihr auf Euren Posten zurückkehrt, als sei nichts geschehen, und die Jungen für ihren Erfolg bestrafen?« Die Prälatin schnalzte mit der Zunge. »Ihr werdet die Strafe auf Euch nehmen, die Ihr für die Jungen angeordnet habt.«

Die Schwestern wurden bleich. »Aber Prälatin…«, hauchte die zweite. »Das könnt Ihr keiner Schwester antun.«

»Wirklich nicht, Schwester Finella? Was habt Ihr für die beiden Jungen angeordnet?«

»Daß sie den Hintern versohlt bekommen … öffentlich … morgen früh, gleich nach dem Frühstück.«

»Das klingt gerecht. Ihr zwei werdet ihre Plätze einnehmen.«

»Aber Prälatin«, zischelte Schwester Ulicia erstaunt. »Wir sind Schwestern des Lichts. Das wäre doch demütigend.«

»Es hat noch niemandem geschadet, ein wenig Demut beigebracht zu bekommen. Vor dem Schöpfer leben wir alle in Demut. Für euer Versagen wird man Euch an ihrer Statt schlagen.«

Schwester Ulicia richtete sich zu ganzer Größe auf. »Und wenn wir uns weigern, Prälatin Annalina?«

Die Prälatin lächelte. »Damit gäbt Ihr mir zu verstehen, daß Ihr mein Vertrauen nicht länger verdient habt, und weiterhin, daß Ihr nicht länger Schwestern des Lichts sein wollt.«

Die beiden verneigten sich. Als die Tür sich hinter ihnen schloß, sah Richard die Prälatin erstaunt an.

»Hoffentlich errege ich niemals Euren Zorn, Prälatin Annalina.«

Sie lachte stillvergnügt. »Nenn mich bitte Ann. So nennen mich alle meine alten Freunde.«

»Ich fühle mich geehrt, Euch Ann zu nennen, Prälatin, aber ich bin kein alter Freund.«

»Du glaubst, das bist du nicht?« Sie lächelte. »Was für ein gescheiter Junge. Nun, wie auch immer. Nenne mich trotzdem Ann. Weißt du, warum ich sie bestraft habe? Weil du die Verantwortung für dein Tun übernommen hast. Sie haben noch nicht erkannt, was das heißt. Du bist auf dem Weg, zu lernen, wie man ein Zauberer wird.«

»Wie meint Ihr das?«

»Du wußtest, daß es gefährlich war, die beiden zu verärgern, nicht wahr?« Richard nickte. »Und dennoch hast du die beiden Jungen benutzt, obwohl du wußtest, ihnen könnte etwas zustoßen.«

»Ja. Aber ich mußte es tun. Es war zu wichtig. Außerdem ist mir nichts anderes eingefallen.«

»Die Bürde eines Zauberers. So nennt man es. Die Menschen zu benutzen. Ein weiser Zauberer begreift, daß er nicht alles allein machen kann und, wenn eine Angelegenheit wichtig genug ist, andere Menschen benutzen muß, um das zu erreichen, was getan werden muß. Selbst wenn es den einen oder anderen dieser Menschen das Leben kosten sollte. Dies ist eine seltene Fähigkeit, und für einen guten Zauberer lebenswichtig. Für eine gute Prälatin vielleicht auch.«

»Ann, es ist dringend. Ich muß mit Euch sprechen.«

»Dringend, ja? Nun, warum gehen wir dann nicht in meinen Garten, dann können wir diese dringende Angelegenheit besprechen.«

Sie hakte sich bei ihm ein und führte ihn durch die offene Tür. Draußen im Mondschein lag ein prächtiger, großzügiger Innenhof mit Bäumen, Pfaden, Blumenbeeten, wild überwucherten Stellen und einem wunderschönen Teich. Richard entging die Schönheit des Gartens vollkommen. Seit seiner Unterredung mit Warren hatte er kaum essen oder schlafen können. Sollte der Hüter entfliehen, würde er alle Menschen bekommen, auch Kahlan. Richard mußte etwas unternehmen.

»Ann, der Welt steht großer Ärger ins Haus. Ich brauche Eure Hilfe. Ich muß diesen Halsring loswerden, damit ich selbst helfen kann.«

»Dafür bin ich da, Richard. Um zu helfen. Was ist das für ein Ärger?«

»Der Hüter…«

»Der Namenlose«, verbesserte sie.

»Was macht das für einen Unterschied?«

»Ihn beim Namen zu nennen, weckt seine Aufmerksamkeit.«

»Ann, das ist doch nur ein Wort. Die Bedeutung eines Wortes zählt, nicht die Zusammensetzung der Buchstaben. Glaubt Ihr, wenn Ihr den Hüter statt dessen den Namenlosen nennt, daß er sich dadurch täuschen ließe und nicht wüßte, daß Ihr von ihm sprecht? Es ist ein Fehler, seine Feinde für dumm zu halten und sich selbst für zu schlau.«

Ein herzhaftes Lachen entfuhr ihrer Brust. »Ich habe sehr lange darauf gewartet, daß jemand darauf kommt.«

Sie blieb mit ihm am Rand des Teiches stehen, und er fragte: »Was ist ›der Kiesel im Teich‹?«

Sie blickte über das Wasser. »Du bist einer, Richard.«

»Soll das heißen, daß es mehr als einen gibt?«

Ein kleiner Stein schwebte durch die Luft, hinauf in ihre Hand. »Jeder hat eine Wirkung auf andere. Manche Menschen inspirieren andere dazu, Großes zu tun. Manche ziehen andere mit sich ins Verderben. Die Menschen, die die Gabe besitzen, haben einen noch größeren Einfluß auf ihre Umgebung. Je stärker das Han, desto größer die Wirkung.«

»Und was hat das mit mir zu tun? Was hat das mit dem Kiesel im Teich zu tun?«

»Siehst du die Entengrütze, die auf der Oberfläche treibt? Nimm einmal an, das sind die anderen Menschen, die Welt der Lebenden, und dieser Kiesel, das bist du.« Sie warf den Stein in den Teich. »Siehst du, was geschieht? Die von dir hervorgerufenen Wellen beeinflussen alle anderen. Ohne dich wäre es zu all diesen Wellen nicht gekommen.«

»Sie treiben also auf und ab, auf den Wellen. Doch der Stein geht unter.«

Sie lächelte ihn ohne jeden Humor an. »Vergiß das nie.«

Die Antwort machte ihn nachdenklich. »Ich glaube, Ihr setzt zu viel Vertrauen in mich. Ihr wißt doch gar nichts über mich.«

»Vielleicht mehr, als du denkst, Junge. Und was besorgt dich am Hüter so?«

»Es muß etwas geschehen. Er kann jeden Augenblick entkommen. Eines der Kästchen der Ordnung wurde geöffnet, das Tor steht offen. Der Stein der Tränen befindet sich in dieser Welt. Ich muß etwas tun.«

»Ahh.« Sie lächelte und blieb langsam stehen. »Du, der du gerade eben vom Han einer einfachen Schwester an die Wand geworfen wurdest, du willst also ausziehen und höchstpersönlich gegen den Hüter kämpfen?«

»Aber es ist viel passiert. Es muß etwas geschehen.«

»Wie ich sehe, hast du mit Warren gesprochen. Ein sehr heller junger Mann, dieser Warren. Doch er ist noch sehr jung. Manchmal braucht er Führung. Anleitung.« Sie zog einen Ast näher heran. »Er studiert hart und liebt diese Bücher. Bestimmt kennt er jeden Fingerabdruck auf ihnen.«

Sie betrachtete eine Blüte auf dem Ast. Während er sich so im Mondschein betrachtete, entschied er, daß er sich vielleicht doch für etwas schlauer gehalten hatte, als er war. Warren ebenfalls.

»Und was ist nun mit dem Hüter? Was ist mit dem Stein der Tränen?«

Sie hakte sich wieder bei ihm ein und führte ihn weiter. »Wenn das Tor offensteht und der Stein der Tränen sich in dieser Welt befindet, Richard, wieso hat der Hüter uns dann nicht längst überwältigt? Hmm?«

»Vielleicht steht er kurz davor, uns alle jeden Augenblick zu verschlingen.«

»Aha. Du glaubst also, er ist vielleicht noch mit seinem Abendessen beschäftigt, und wenn er damit fertig ist, dann kommt er endlich dazu, die Welt alles Lebendigen zu verschlingen. Und deshalb willst du losrennen und das Tor schließen, bevor er sich die Serviette vom Schoß nimmt? Glaubst du tatsächlich, so funktioniert die Welt jenseits der unseren? Auf dieselbe Weise wie die unsere auch?«

Richard fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie das alles funktioniert. Warren meinte jedenfalls…«

»Warren weiß auch nicht alles. Er ist nur ein Schüler. Er ist begabt, was die Prophezeiungen anbetrifft, aber er hat noch viel zu lernen.

Weißt du, warum wir die Prophezeiungen unten in den Gewölbekellern aufbewahren und beschränken, wer sie lesen darf? Aus demselben Grund, weshalb wir auch diese Diskussion führen. Weil Prophezeiungen für den ungeschulten Verstand gefährlich sind, manchmal sogar für den geschulten. An den Dingen ist oft mehr, als einem ins Auge fällt, sonst hätte der Hüter uns längst übermannt.«

»Wollt Ihr damit sagen, wir würden nicht in Gefahr schweben?«

Sie setzte ein verschmitztes Lächeln auf. »Wir schweben ständig in Gefahr, Richard. Solange es eine Welt der Lebenden gibt, solange gibt es auch Gefahr. Alles Leben ist sterblich.«

Sie tätschelte erneut seinen Arm. »Du bist eine wichtige Person, eine Person aus den Prophezeiungen, doch wenn du unüberlegt oder töricht handelst, richtest du mehr Schaden an als Nutzen. Daß der Stein der Tränen in dieser Welt ist, das allein ermöglicht es dem Hüter noch nicht, durch das Tor zu entkommen. Der Stein ist nur eins der Mittel zu diesem Zweck.«

»Hoffentlich habt Ihr recht«, meinte Richard im Weitergehen.

Sie sah kurz auf. »Wie geht es deiner Mutter?«

Richard blickte hinaus in die Dunkelheit. »Sie starb, als ich noch klein war. Bei einem Brand.«

»Das tut mir leid, Richard. Und dein Vater?«

»Welcher«, murmelte er.

»Dein Stiefvater, George.«

Richard räusperte sich. »Er wurde von Darken Rahl umgebracht.« Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Woher kennt Ihr meinen Stiefvater?«

Sie sah ihn mit einem jener zeitlosen Blicke an, die er schon bei anderen gesehen hatte: bei Adie, bei Shota, Schwester Verna, Du Chaillu und Kahlan. »Tut mir leid, Richard. Ich wußte nicht, daß er gestorben ist. George Cypher war ein bemerkenswerter Mann.«

Er blieb stehen. Er hatte eine Gänsehaut bekommen. »Ihr wart es«, sagte er kaum hörbar. »Durch Euch ist mein Vater an dieses Buch gekommen.« Er ließ die Bemerkung vage genug, daß sie die Einzelheiten ergänzen mußte, wenn sie sie bestätigen wollte.

Ihr Lächeln kam zögernd zurück. »Du hast Angst, es laut auszusprechen? Das Buch der Gezählten Schatten, das ist das Buch, welches du meinst.« Sie deutete auf eine Bank aus Stein. »Setz dich, Richard, bevor du umfällst.«

Richard ließ sich auf die Bank fallen. Er hob den Kopf, als sie vor ihm stand. »Ihr? Ihr habt meinem Vater das Buch gegeben?«

»Genaugenommen habe ich ihm dabei geholfen, es zu bekommen. Siehst du, Richard, es ist, wie ich gesagt habe. Du und ich, wir sind alte Bekannte. Natürlich, als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du dir noch die Seele aus dem Leib geschrien. Du warst gerade erst ein paar Monate alt.«

Sie lächelte versonnen. »Wenn deine Mutter dich jetzt sehen könnte. Sie war so ungeheuer stolz auf dich. Sie sagte, du seist der Segen, der den Fluch ausgleicht. Weißt du, Richard, Ausgewogenheit, das ist es, worum es in der Welt der Lebenden im wesentlichen geht. Du bist ein Kind dieser Ausgewogenheit. Ich habe viel in dich investiert.«

Richard hatte das Gefühl, seine Zunge würde am Gaumen kleben. »Wieso?«

»Weil du ein Kiesel im Teich bist.« Ihr Blick schien zu verschwimmen. »Vor über dreitausend Jahren besaßen Zauberer subtraktive Magie. Seitdem wurde keiner mehr mit ihr geboren. Wir haben darauf gehofft, doch kein einziger ist mit dieser Gabe geboren worden — bis jetzt. Ein paar hatten die Berufung dazu, aber nicht die Gabe. Du besitzt die Gabe sowohl für die additive als auch die subtraktive Magie.«

Richard fuhr hoch. »Was! Seid Ihr verrückt?«

»Setz dich, Richard.«

Die ruhige Kraft ihrer Stimme, ihr durchdringender Blick, ihre Präsenz ließen ihn auf die Bank zurücksinken. Aus irgendeinem Grund kam sie ihm plötzlich sehr groß vor. Sie war genauso groß wie zuvor, und doch schien sie ihn zu überragen. Auch ihre Stimme verstärkte diesen Eindruck.

»Und jetzt hör mir zu. Du bereitest mir große Unannehmlichkeiten. Du benimmst dich wie ein wilder Bulle, der ständig Zäune niederrennt und Ernten zertrampelt. Es steht zuviel auf dem Spiel, als daß du handeln könntest, ohne zu wissen, was du tust. Ich weiß, du glaubst, du tust das Richtige, aber das glaubt der Bulle auch. Dein Problem ist, es fehlt dir an Wissen. Ich habe die Absicht, dir eine Ausbildung zu geben.

Auch wenn du mir einiges nicht glauben wirst, was ich dir zu sagen habe, so tätest du gut daran, es zu akzeptieren, oder du wirst eine sehr lange Zeit in diesem Halsring stecken, denn er löst sich erst, wenn du die Wahrheit akzeptierst.«

»Man hat mir gesagt, die Schwestern nähmen einem den Halsring ab.«

Der Blick in ihren Augen ließ ihn wünschen, er hätte den Mund gehalten oder er könnte den Platz mit den beiden Schwestern tauschen, die öffentlich eine Tracht Prügel bekommen sollten.

»Nur wenn du dich selbst akzeptierst, deine Fähigkeit und deine wahre Kraft, wird er sich lösen. Du hast dir den Rada’Han selbst um den Hals gelegt. Wir haben nicht die Macht, ihn abzunehmen, bevor du uns nicht helfen kannst, mit deiner eigenen Kraft. Und das kannst du einzig dadurch erreichen, daß du lernst und akzeptierst, wer du bist.

Und jetzt mußt du als allererstes etwas über den Hüter lernen und über den Schöpfer und über das Wesen dieser Welt. Dein Problem, das Problem, das die meisten Menschen haben, das Problem, das auch Warren hat, besteht darin, daß du die Welt des Jenseits vom Standpunkt dieser Welt aus zu verstehen suchst.

Gut und Böse, Schöpfer und Hüter, bilden ein Chaos, das in zwei entgegengesetzte Kräfte aufgespalten ist. Obwohl die beiden sich gegenseitig verabscheuen, so sind sie dennoch voneinander abhängig und können ohne den jeweils anderen nicht existieren. Sie bedingen sich gegenseitig. Unser Kampf, unser Existenzkampf in dieser Welt, bewahrt dieses Gleichgewicht.«

Richard hielt zwar den Mund, aber er konnte nicht verhindern, daß seine Stirn sich in Falten legte.

»Aus dem Schöpfer entspringt das Leben, die Seele des Lebens. Es erblüht in dieser Welt. Ohne den Hüter, ohne den Tod, kann es kein Leben geben. Ohne den Tod wäre das Leben zeitlich unbegrenzt.

Kannst du dir eine Welt vorstellen, in der niemand jemals stirbt? In der jedes Neugeborene überlebt? Auf ewig? In der jede Pflanze, die keimt, zur Blüte gelangt? In der jeder Baum ewig lebt und jeder Samen keimt und zu einem Baum heranwächst?

Was geschähe dann? Wie könnten wir essen, wenn wir kein Tier töten, kein Getreide ernten könnten, wenn alles ewig lebte und nicht sterben könnte? Ein niemals endendes Leben in nagendem Hunger wäre die Folge. Die Welt der Lebenden ginge im Chaos unter und vernichtete sich selbst für immer.

Der Tod, die Unterwelt, wie ihn manche nennen, ist ewig. Du stellst ihn dir vom Standpunkt dieses Lebens aus vor. In der Ewigkeit hat Zeit keine Bedeutung, keine Dimension. Für den Hüter ist eine Sekunde oder auch ein Jahr bedeutungslos.

Nur durch die Menschen, die ihm in dieser Welt dienen, erlangt der Hüter eine Dimension der Zeit. Auf ihr Drängen hin treibt er seinen Kampf voran, denn sie haben einen Begriff von Zeit. Er braucht die Lebenden, wenn er erfolgreich sein will. Die Versprechungen, die er ihnen macht, sind verlockend, und sie gieren danach, daß er obsiegt.«

»Und welche Rolle spielen nun die Lebenden dabei?«

»Wir teilen und bestimmen das Chaos mittels Ordnung und halten es dadurch getrennt: Licht und Dunkel, Gut und Böse. Die Ausgewogenheit, das sind wir.

Wir sind wie die Entengrütze, die auf der Oberfläche eines Teiches treibt. Die Luft darüber ist der Schöpfer, die Tiefen darunter der Hüter. Die Seelen der Lebenden, die vom Schöpfer herabgestiegen sind, erblühen an diesem Ort zum Leben, und wenn sie sterben, sinken sie hinab in die Welt der Toten.

Doch das bedeutet nicht, daß dieser böse ist. Böse, das ist ein Urteil, das wir ihm auferlegen. Der Hüter ist wie der Schlick am Grunde des Teiches. Die Seelen der Toten wohnen überall, angefangen von den Tiefen dieses Chaos und des Hasses in der Nähe des Hüters, bis in die Nähe der Lebenden, in die Nähe des Lichts des Schöpfers. Es ist die Hoffnung der Lebenden, die Ewigkeit in der Wärme dieses Lichtes zu verbringen.

Wir, die Lebenden, sind es, die die Welten trennen und sie zu beiden Seiten des Lebens bestimmen. Magie ist das Element, das dieser Welt die Kraft dazu gibt. Magie ist der Ausgleichspunkt.

Der Hüter würde gern die Welt der Lebenden verschlingen, um zu triumphieren. Dazu muß er die Magie ausmerzen. Gleichzeitig jedoch muß er, um zu triumphieren, Magie einsetzen, um das Gleichgewicht zu kippen.«

Richard hatte Mühe, den Kopf nicht in den trüben Wassern der Verwirrung zu verlieren. »Und Zauberer haben die Kraft, diese Ausgewogenheit zu beeinflussen?«

Sie stand noch immer über ihn gebeugt. Sie hob den Zeigefinger. »Ja. Und du besitzt beide Seiten der Magie.« Ihr Lächeln löste sich auf eine Weise auf, die ihm den Atem raubte. »Das macht dich zu einem äußerst gefährlichen Menschen, Richard.

Du besitzt beide Seiten der Gabe, du hast die Kraft, den Schleier zu richten oder zu zerstören. Es gibt gute Menschen, die dich im Handumdrehen töten würden, wüßten sie von deiner Kraft — aus Angst, du könntest uns alle, wenn nicht absichtlich, so doch aus Versehen, vernichten.«

»Und Ihr? Gehört Ihr auch zu denen?«

»Wenn, dann hätte ich deinem Vater nicht geholfen, das Buch der Gezählten Schatten zu bekommen. Durch deine Beteiligung wurde die unmittelbare Bedrohung abgewendet, aber dadurch wurde dem Tor auch Magie zugeführt, wodurch sich das Risiko erhöht, daß uns in Zukunft noch größere Gefahren drohen. Ich mußte dieses Risiko eingehen. Es nicht zu tun, hätte eine Katastrophe bedeutet. Doch wenn das, was schiefgelaufen ist, nicht gerichtet wird, dann wird es am Ende zu einer noch größeren Katastrophe kommen.«

»Was ist der Schleier? Wo befindet er sich?«

Sie streckte die Hand aus und tippte ihm gegen die Stirn. »Der Schleier befindet sich in denen von uns, die Magie besitzen. Wir sind seine Wächter. Deswegen bedeutet den Menschen mit der Gabe Ausgewogenheit so viel. Wenn der Schleier eingerissen ist, beginnt das Gleichgewicht zu kippen. Je mehr es kippt, um so weiter reißt der Schleier ein.

Der Schöpfer herrscht über sein Reich, der Hüter über das seine. Der Hüter braucht den Schöpfer, da dieser ihm Leben zuführt, der Schöpfer braucht den Hüter, damit sich das Leben erneuern kann. Der Schleier wahrt dieses Gleichgewicht.«

Ihre Miene wurde grimmig. »Viele würden dies als Blasphemie bezeichnen. Sie sehen den Hüter nur als Übel, das vernichtet werden muß. Doch damit bewirkte man genau das Gegenteil — alles Leben würde fortgeschwemmt wie eine Sandbank von der Flut.«

»Nur um der Debatte willen, was wäre, wenn ich tatsächlich beide Arten von Magie besäße? Wozu dient meine Kraft?«

»Die meisten Zauberer haben ein Talent, das in eine bestimmte Richtung geht. Einige sind Heiler, manche stellen magische Gegenstände her, Propheten sind schon seltener. Am seltensten sind Kriegszauberer. Seit über dreitausend Jahren wurde keiner mehr geboren. Bis du kamst.«

Richard wischte sich die schweißnassen Hände an den Hosenbeinen ab. »Das gefällt mir überhaupt nicht.«

»Das Wort Kriegszauberer hat zwei Bedeutungen, die sich, wie alle Dinge der Magie, ausgleichen. Die erste hat zum Inhalt, daß sie den Schleier einreißen, Tod und Zerstörung bringen können — eben Krieg. Und die zweite, daß sie jene Magie besitzt, die man braucht, um gegen die Kräfte des Hüters anzukämpfen. Ein Kriegszauberer zu sein, bedeutet nicht, daß du böse bist, Richard. Viele, die kämpfen, tun dies, um Wehrlose zu schützen. Es bedeutet vielmehr, daß du genug Verantwortungsbewußtsein besitzt, um zu kämpfen und die Wehrlosen zu verteidigen.«

»›Nur der, der aus der Wahrheit geboren wurde, kann um die Bande des Lebens kämpfen. Und dieser ist gezeichnet, er ist der Kiesel im Teich‹«, zitierte Richard.

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Für jemanden, der vorgibt, sich nichts aus Prophezeiungen zu machen, ist es erstaunlich, wie gut du einige der zentraleren Stellen zu kennen scheinst. Wenn ich nicht völlig verwirrt bin, müßtest du gezeichnet sein.«

Richard spürte die Narbe auf seiner Brust, als er nickte. »Wollt Ihr damit sagen, das Ende meines Lebens zeichnet sich bereits ab? Daß ich es nur zu Ende leben soll, so wie es vorherbestimmt ist?«

»Nein, Richard. Das Leben ist nicht vorherbestimmt. Die Prophezeiungen bedeuten lediglich, daß du über das Potential verfügst. Du besitzt die Fähigkeit, Ereignisse zu beeinflussen. Deswegen ist das Lernen für dich so wichtig.

Du mußt, und das ist von äußerster Wichtigkeit, lernen, dich selbst zu akzeptieren. Wenn du das nicht tust, dann fügst du dem entscheidendsten Teil deines Ichs Schaden zu: deinem freien Willen. Wenn du handelst, ohne zu verstehen, überläßt du dich dem Chaos.

Ich habe dich bei deiner Geburt am Leben gelassen, weil du die Fähigkeit besitzt, Gutes zu tun. In dir ruht die Hoffnung des Lebens. Doch bis du wirklich beide Seiten deiner Magie akzeptierst, stellst du für jedes lebendige Wesen eine Gefahr dar.«

Richard wollte verzweifelt das Thema wechseln. Er fühlte sich von alldem, von der ganzen Welt erdrückt. »Was ist der Stein der Tränen?«

Sie zuckte kurz mit den Achseln. »In der Welt der Toten existiert er als eine Kraft. In dieser Welt ist er ein Gegenstand, der Macht besitzt, und diese Kraft repräsentiert.

Der Stein der Tränen ist wie ein Gewicht, das den Hüter am grenzenlosen Ende seiner Welt gefangenhält, wohingegen hier sein Einfluß bis zur Ausgewogenheit abgeschwächt ist.«

»Wenn er sich also hier befindet, von ihm gelöst, dann ist der Hüter aus seinem Gefängnis frei.«

»Wenn das stimmte, dann wären wir alle längst tot. Hmmm?« Sie zog fragend die Augenbrauen hoch, doch Richard sagte nichts. »Er ist eines der Siegel, die den Hüter ins Jenseits sperren. Es gibt andere, die noch immer halten. Magie hält ihn fürs erste noch zurück.

Der Stein der Tränen besitzt allerdings die Kraft, das Gleichgewicht zu zerstören, den Schleier einzureißen und den Hüter zu befreien, wenn ihn jemand wie du in dieser Welt auf die falsche Art benutzt. Du siehst, der Stein hat die Kraft, jede Seele in die unendlichen Tiefen der Unterwelt zu verbannen. Doch würde er auf diese Art benutzt, aus Haß und Selbstsucht, dann gäbe er Kraft an diese Seite ab und zerstörte den Schleier.

Der Schleier kann nur von jemandem wiederhergestellt werden, der die Gabe für beide Seiten der Magie besitzt. Der Stein muß wieder dorthin zurückgebracht werden, wo er hingehört.

Wir müssen darum kämpfen, daß die anderen Siegel bis zu jenem Tag intakt bleiben, an dem jemand wie du den Schleier erneuern kann — solange noch Zeit ist. In der Zwischenzeit gewinnt der Hüter hier an Kraft. Seine Günstlinge kämpfen darum, die anderen Siegel aufzubrechen. Es gibt noch andere Wege, den Hüter zu befreien. Ann … seid Ihr sicher, was mich anbetrifft? Vielleicht…«

»Du hast es heute abend erst bewiesen, indem du durch diesen Schild gegangen bist. Unsere Schilde sind aus additiver Magie gemacht. Du hast es nur durchdringen können, weil dein Han subtraktive Magie benutzt.«

»Vielleicht ist mein Han, meine Additive Magie, bloß stärker.«

»Als du durch das Tal der Verlorenen gekommen bist, bist du doch bestimmt von den Türmen angezogen worden. Hab’ ich recht?«

»Es könnte doch sein, daß ich ganz zufällig auf sie gestoßen bin.« Sie seufzte matt. »Die Türme wurden von Zauberern geschaffen, die über beide Arten von Kraft verfügen. Im weißen Turm gibt es weißen Sand, Zauberersand. Ich glaube nicht, daß du welchen mitgenommen hast.«

»Das beweist gar nichts. Was ist Zauberersand überhaupt?«

»Zauberersand ist äußerst wertvoll, fast unbezahlbar. Er sammelt sich nur in den Türmen an. Zauberersand besteht aus den kristallisierten Knochen von Zauberern, die den Türmen ihr Leben geopfert haben. Es handelt sich um eine Art destillierter Magie. Er verleiht den Bannen, die damit gezeichnet werden, Macht — im guten wie im bösen Sinn. Der richtige Bann, in weißem Zauberersand gezeichnet, kann den Hüter heraufbeschwören.

Du hast statt dessen etwas von dem schwarzen Sand mitgenommen, nicht wahr?«

»Na ja, stimmt. Ich wollte nur ein kleines bißchen, das ist alles.« Sie nickte. »Nur ein kleines bißchen! Richard, seit der Errichtung der Türme hat kein Zauberer mehr schwarzen Zauberersand einsammeln können. Nur wer subtraktive Magie besitzt, kann ihn aus dem Turm entfernen. Hüte diesen schwarzen Sand wie dein Leben. Er ist wertvoller, als du dir vorstellen kannst.«

»Wieso? Was kann man damit machen?«

»Schwarzer Zauberersand ist das Gegenstück des weißen. Sie heben sich gegenseitig auf. Der schwarze, nur ein einziges Körnchen davon, vergiftet einen Bann, der gezeichnet wurde, um den Hüter zu beschwören. Er zerstört diesen Zauber. Ein Löffel voll ist eine Waffe, die Königreiche wert ist.«

»Trotzdem«, meinte er, »könnte es doch sein –«

»Die letzten Zauberer, die mit beiden Arten von Magie geboren wurden, haben den Palast der Propheten mit ihrer Magie ausgestattet. Die Propheten jener Zeit wußten, daß einst wieder jemand mit beiden Seiten der Magie geboren werden würde, und so schufen sie auch den Hagenwald und die Mriswiths. Wer mit Subtraktiver Magie geboren wurde, würde sich dort hingezogen fühlen. Um dort zu kämpfen.

Der Halsring verhindert, daß die additive Magie dich tötet. Der Hagenwald stellt ein Ventil für die andere Seite deiner Kraft dar. Das ist etwas, das dir die Schwestern nicht bieten können.«

»Aber ich habe doch das Schwert der Wahrheit benutzt.« Seine Stimme kam ihm vor wie ein in den Sturm gerufenes Flehen. »Es war das Schwert.«

»Auch das Schwert der Wahrheit wurde von Zauberern mit der Gabe für beide Seiten der Magie geschaffen. Nur jemand, der von Geburt an war wie sie, kann ihm das volle Maß an Magie entlocken. Nur du kannst die Möglichkeiten des Schwertes voll ausschöpfen. Das hast du aber bis jetzt noch nicht getan.

Es hilft dir, und doch benötigst du es nicht, um einen Mriswith zu töten. Deine Gabe genügt. Wenn du mir nicht glaubst, dann laß dein Schwert zurück und geh nur mit deinem Messer in den Hagenwald. Du wirst den Mriswith trotzdem töten.«

»Andere haben die Klinge auch schon benutzt. Sie hatten nicht einmal die Gabe, noch viel weniger subtraktive Magie.«

»Sie haben nicht wirklich die Magie des Schwertes eingesetzt. Die Klinge wurde für dich gemacht. Sie ist ein Hilfsmittel, so wie Prophezeiungen und die Mriswiths Hilfsmittel sind, die man dir durch die Zeit hindurch zukommen läßt.«

»Ich glaube nicht, daß ich einer dieser Kriegszauberer bin.«

»Magst du Fleisch?«

»Was hat das damit zu tun?«

»Du bist ein Kind der Ausgewogenheit. Zauberer müssen sich selbst ausgleichen, die Dinge, die sie tun, ihre Kraft. Kriegszauberer essen selten Fleisch. Ihre Enthaltsamkeit in diesem Punkt ist ein Ausgleich für das Töten, zu dem sie gelegentlich gezwungen sind.«

»Tut mir leid, Ann, aber ich kann einfach nicht glauben, daß ich subtraktive Magie besitze.«

»Deshalb bist du eine solche Gefahr. Jedesmal, wenn du Magie begegnest, lernt dein Han mehr darüber, wie es dich schützen und dir dienen kann, obwohl du selbst gar nicht merkst, daß es etwas dazulernt. Der Rada’Han hilft ihm nur beim Wachsen.

Du tust Dinge, ohne die Wichtigkeit oder den Grund zu kennen, wie zum Beispiel, als du dich zum schwarzen Zauberersand hingezogen fühltest und ihn nahmst oder als du den runden Skrinknochen von Adie mitgenommen hast.«

Richards Brauen zogen sich zusammen. »Adie kennt Ihr auch?«

»Ja. Sie hat deinem Vater und mir geholfen, durch den Paß zu gelangen, damit wir das Buch der Gezählten Schatten zurückholen konnten.«

»Welchen runden Knochen meint Ihr?«

Richard bemerkte, wie ihre Augen kurz alarmiert aufblitzten.

»Adie hatte einen runden Knochen, in den ringsum Bestien geschnitzt waren. Es handelt sich um einen Gegenstand von großer Kraft. Bestimmt hat dich deine subtraktive Magie zu ihm hingezogen.«

Richard erinnerte sich, den runden Knochen oben auf einem Regal gesehen zu haben. »Ich habe so etwas in ihrem Haus gesehen, aber ich habe den Knochen nicht mitgenommen. Ich würde niemals etwas nehmen, was mir nicht gehört. Vielleicht besitze ich also in Wirklichkeit doch keine subtraktive Magie?«

Sie richtete sich auf. »Nein. Er ist dir aufgefallen. Daß du ihn nicht mitgenommen hast, bedeutet bloß, daß deine Kraft noch nicht genug entwikkelt war, um dich zu dem Skrinknochen ebenso hinzuziehen wie zu dem schwarzen Sand — und zwar deshalb, weil du den Rada’Han noch nicht getragen hast.«

Richard war unschlüssig. »Ist das ein Problem?«

Sie lächelte. Ihm kam dieses Lächeln gezwungen vor. »Nein. Adie würde diesen Knochen mit ihrem Leben verteidigen. Sie weiß, wie wichtig er ist. Du kannst ihn später wiederfinden.«

»Was kann man damit tun?«

»Er hilft, den Schleier zu beschützen. Von einem Kriegszauberer benutzt, der wie du über beide Kräfte verfügt, ruft er den Skrin herbei. Die Skrin sind eine Kraft, die dafür sorgt, daß die Welten getrennt bleiben. Man könnte sie als Wächter der Grenze zwischen den Welten bezeichnen.«

»Und wenn er in die falschen Hände gerät? In die Hände eines Menschen, der dem Hüter helfen will?«

Sie zupfte an seinem Hemd, drängte ihn, sich zu erheben. »Du machst dir zu viele Gedanken, Richard. Ich habe noch zu tun. Du mußt mich jetzt damit allein lassen. Gib dein Bestes, Kind, und lerne. Lerne, dein Han zu berühren, es zu beherrschen. Du mußt lernen, wenn du dem Schöpfer eine Hilfe sein willst.«

Richard drehte sich wieder zu ihr um. Ihr Blick war ins Ferne gerichtet.

»Ann, wozu will der Hüter die Welt der Lebenden? Was bringt ihm das? Was ist sein Ziel?«

Sie gab die Antwort mit leiser, entrückter Stimme. »Der Tod ist die Antithese des Lebens. Es ist der Lebenszweck des Hüters, die Lebenden zu verschlingen. Sein Haß für das Leben kennt keine Grenzen. Sein Haß ist genauso ewig wie sein Gefängnis des Todes.«

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