42

Richard und Schwester Verna ritten weiter durch einen dunklen und feuchten, dumpfigen und stickigen Tunnel aus Grün. Die Straße stieg sanft an, dem summenden, betörenden Geräusch ferner Flöten entgegen. Äste, die nicht nur ihre eigenen Blätter trugen, sondern auch Schlingpflanzen aller Art, sowie bleiches, in feinen Schleiern herabhängendes Moos füllten die Lücken zwischen den Stämmen zu den Seiten und sperrten das Licht aus.

Niedrige Mauern zu beiden Seiten, scheinbar errichtet, um das ineinander verschlungene Dickicht zurückzuhalten, waren diesem statt dessen zum Opfer gefallen und wurden von dem blattreichen Geflecht eingehüllt, welches sie hatten zurückhalten sollen. Aus den Fugen zwischen den Steinblöcken sprossen Schlingpflanzen hervor, die ganze Abschnitte der Mauer überwucherten und sie unter sich begruben, sie an anderen Stellen ausbauchten und gelegentlich einen Stein herausstießen, der dann im schiefen Winkel hing, wegen des Rankengewirrs jedoch niemals zu Boden fallen konnte. Die Mauern wirkten wie ein Beutestück, das von einem schwerfälligen Raubtier verschlungen wurde.

Ein einziger Teil war vom Leben des Waldes unberührt geblieben — die menschlichen Schädel. Man hatte sie oben auf der Mauer zu beiden Seiten im Abstand von nicht mehr als drei Fuß aufgereiht. Jeder einzelne saß auf seinem eigenen Geviert aus flechtenbewachsenem Stein, jeder einzelne war frei von Bewuchs und sah aus wie eine Kreuzblume mit Augenhöhlen und einem zahnreichen Grinsen. Richard hatte längst aufgegeben, die Schädel zu zählen.

Nicht einmal seine Neugier und seine Angst konnten sein hartnäckiges Schweigen bezwingen. Seit ihrem letzten Streit hatten er und die Schwester kein Wort mehr gewechselt. Er hatte nicht einmal bei ihr im Lager geschlafen, sondern es statt dessen vorgezogen, seine Wache sowie den Rest der Nacht mit Jagen zu verbringen oder bei Gratch zu schlafen. Endlich einmal war Schwester Vernas verärgertes Schweigen seinem nicht gewachsen. Diesmal wollte er auf keinen Fall derjenige sein, der nachgab. Die beiden waren damit zufrieden, alles mögliche anzuschauen, nur nicht einander.

Die Straße öffnete sich dem Sonnenlicht, wurde breiter und teilte sich in der Ferne vor einer mit Furchen durchsetzten Pyramide. Richard runzelte die Stirn und versuchte festzustellen, was ihr dieses Aussehen verlieh — fleckig hellbraun, dunklere, waagerechte Streifen in gleichmäßigen Abständen an den Seiten. Er schätzte, das Bauwerk war dreimal so hoch wie er auf Bonnie.

Im Näherkommen erkannte er, daß der Hügel ausschließlich aus Knochen errichtet war. Menschenknochen. Die fleckig-braunen Stellen waren Arm- und Beinknochen, die man mit dem schmalen Ende nach außen aufgeschichtet hatte. Seiner Schätzung nach mußten sich zehntausende von Schädeln in dem geordneten Haufen befinden. Er starrte im Vorüberreiten darauf. Schwester Verna schien keine Notiz davon zu nehmen.

Hinter dem Knochenstapel führte die breite Straße auf den Marktplatz einer düsteren, unwirklichen Stadt, die aus dem dichten Wald herausragte. Man hatte den flachen Hügel oben von jedem Baum gesäubert, genau wie die terrassenartigen Felder, die sie vor kaum einer Stunde passiert hatten.

Die Felder hatten ausgesehen, als bereitete man sie zur Aussaat vor. Der Erdboden war frisch umgegraben, und es gab Vogelscheuchen, die die Tiere vertreiben sollten, sobald mit der Aussaat begonnen wurde. Es war Winter, hier jedoch, an diesem Ort, säten die Menschen. Richard hielt es für ein Wunder.

Anstatt ein Gefühl von Offenheit zu vermitteln, wirkte diese ausgedehnte Stadt, die man von allem Grün befreit hatte, noch enger und düsterer als die übertunnelte Straße. Die Gebäude waren rechteckig, hatten flache Dächer und waren mit einem schmuddeligen, rindenfarbigen Bewurf verputzt. Gleich unterhalb der Dächer und auf der Höhe eines jeden Stockwerks ragten die Enden von Stützbalken aus dem Verputz. Die Fenster waren klein, und es gab nie mehr als eins in einer Wand. Die Gebäude variierten in der Höhe, waren aber meist zu unregelmäßigen Blocks zusammengefügt. Die größten hatten bestimmt vier Stockwerke. Keines wies, abgesehen von der Höhe, auch nur die geringste stilistische Abweichung auf.

Dunst und Rauch von Holzfeuern verdunkelten den Himmel und die Gebäude in der Ferne. Der Marktplatz schien nichts weiter zu sein als eine unbebaute Fläche rings um einen Brunnen in der Mitte und bildete die einzig freie Stelle von nennenswerter Größe. Er endete rasch in engen, dunklen Gassen mit glatten Wänden, die zu beiden Seiten aufragten und so von Menschenhand geschaffene Schluchten bildeten. Viele der blockartigen Gebäude überspannten die Straßen und verwandelten sie so in finstere Tunnel, und wo es über den Köpfen keine dieser Brückengebäude gab, hing zwischen gegenüberhegenden Fenstern Wäsche auf der Leine. Einige Straßen waren gepflastert, die meisten jedoch nicht, und durch sie rann stinkendes Wasser.

Menschen in freudloser, weiter Kleidung füllten die engen Straßen, liefen barfuß durch den Schlamm, standen mit verschränkten Armen da oder hockten in Türeingängen. Frauen mit tönernen Wasserkrügen auf dem Kopf, die sie mit der Hilfe einer Hand im Gleichgewicht hielten, drückten sich dicht an die Mauer, um Platz für die drei Pferde zu machen. Gleichgültig schweigend setzten sie ihren Weg zum Brunnen oder nach Hause fort, wenn Richard und Schwester Verna vorüberritten.

Ein paar ältere Männer kauerten in Türeingängen oder lehnten an den Mauern. Die Männer trugen krempenlose, steile, runde, dunkle, oben abgeflachte Hüte mit seltsamen Zeichen in einer hellen Farbe, die scheinbar mit Fingern aufgemalt worden waren. Viele der Männer rauchten kurzstielige Pfeifen. Gespräche verstummten, als Schwester Verna und Richard vorüberritten, und alle sahen zu, wie die beiden Fremden und die drei Pferde vorüberzogen. Einige zupften sich untätig an den langen, baumelnden Ohrringen, die sie in ihren linken Ohren trugen.

Schwester Verna ritt durch die engen Straßen voraus und führte sich und Richard tiefer und tiefer in das Gewirr aus graubraunen Häusern hinein. Als sie endlich eine breitere Kopfsteinpflasterstraße erreichten, hielt sie an, drehte sich zu ihm um und sprach mit leiser, warnender Stimme.

»Diese Menschen hier sind Majendie. Ihr Land ist ein ausgedehntes, halbmondförmiges Waldgebiet. Wir müssen ihr Land der Länge nach durchqueren, bis hin zur Spitze der Sichel. Sie verehren Geister. Diese Schädel, die wir ein Stück weiter hinten gesehen haben, waren Opfer für diese Geister.

Sie hängen zwar törichten Vorstellungen an, die verwerflich sind, aber wir haben nicht die Macht, das zu ändern. Wir müssen jedoch unbedingt durch ihr Land hindurch. Deshalb wirst du tun, was sie verlangen, oder unsere Schädel enden bei all den anderen auf dem Stapel.«

Richard widersprach nicht, antwortete überhaupt nicht. Er saß regungslos da, die Hände über dem Sattelknauf verschränkt, und sah sie an, bis sie sich schließlich abwendete und weiterritt.

Nachdem sie unter einem niedrigen Brückengebäude durchgeritten waren, betraten sie einen zur Mitte hin leicht abfallenden, offenen Platz. Vielleicht tausend Männer liefen hier umher und standen in kleinen Gruppen beieinander. Wie die anderen Männer, die er gesehen hatte, trugen sie alle einen langen Ohrring, wenn auch auf der rechten statt der linken Seite. Zudem trugen sie kurze Schwerter und schwarze Schärpen. Anders als die anderen Männer hatte keiner von ihnen einen Hut auf seinem kahlgeschorenen Kopf.

Weiter vorn, auf einer erhöhten Plattform in der Mitte, hockte um einen dicken Pfahl ein Kreis von Männern, die Beine untergeschlagen, das Gesicht zur Mitte hin gekehrt. Hier war die Quelle der unheimlichen Melodie. Um den Ring aus Männern herum saß, mit dem Gesicht nach außen, ein Kreis schwarzgekleideter Frauen.

Mit dem Rücken zum Pfahl stehend, ließ eine dicke Frau in voluminöser Kleidung ihren Handrücken am Pfahl hinaufgleiten und ergriff den Knoten am Ende eines Seils, das an einer Glocke hing. Während sie beobachtete, wie Richard und die Schwester auf den Platz ritten, läutetet sie die Glocke einmal. Die Schwester ließ sofort Halt machen, als das durchdringende Läuten über den Platz wehte, die Männer verstummen ließ und die Flötenspieler veranlaßte, sich noch mehr anzustrengen.

»Das ist eine Warnung«, erklärte Schwester Verna. »Eine Warnung an die Seelen ihrer Feinde. Gleichzeitig ist die Glocke ein Aufruf an die anwesenden Krieger. Das sind die Männer hier auf dem Platz. Die Seelen wurden gewarnt, die Krieger gerufen. Läutet sie die Glocke noch einmal, sterben wir.« Schwester Verna sah kurz in sein gelassenes Gesicht. »Dies ist ein Opferritual, um die Seelen zu besänftigen.«

Sie verfolgte, wie Männer kamen und die Zügel ihrer Pferde ergriffen. Der Kreis der Frauen in Schwarz erhob sich und begann zu der betörenden Musik zu tanzen. Als Schwester Verna das nächste Mal zu Richard hinüberblickte, überprüfte dieser gerade sorgfältig und bedächtig, ob sein Schwert auch locker in der Scheide hing. Sie seufzte und stieg ab. Auf ihr genervtes Räuspern hm stieg auch er schließlich ab.

Schwester Verna raffte ihren hellen Umhang fest um ihren Körper und begann auf ihn einzureden, während sie die Frauen in Schwarz dabei beobachtete, wie sie den Pfahl und die Frau in der Mitte tanzend umkreisten.

»Die Majendie leben in einem halbmondförmigen Landstrich rings um ein sumpfiges Waldgebiet, in dem ihre Feinde leben. Die Menschen, die im Herzen dieses scheußlichen Landes leben, sind ein wilder, primitiver Haufen und werden keinen von uns durch ihr Land lassen, geschweige denn führen. Selbst wenn wir ihnen aus dem Weg gehen könnten, hätten wir uns innerhalb einer Stunde verlaufen und fänden niemals den Weg hinaus. Die einzige Möglichkeit für uns, den Palast der Propheten zu erreichen, der hinter diesen Wilden liegt, ist, sie zu umgehen und dieses halbmondförmige Land, das den Majendie gehört, der Länge nach zu durchqueren. Unser Ziel liegt genau zwischen den Spitzen des Halbmonds, der den Majendie gehört.«

Sie sah zu ihm hinüber, um sich zu vergewissern, daß er wenigstens zuhörte. »Die Majendie befinden sich ständig im Krieg mit den Wilden aus diesem sumpfigen Waldgebiet. Um durch das Land der Majendie gelassen zu werden, müssen wir beweisen, daß wir mit ihnen und ihren Seelen im Bund stehen und nicht mit ihren Feinden.

Die Schädel, die wir gesehen haben, sind Schädel der Feinde, die man den Seelen der Majendie geopfert hat. Um durchgelassen zu werden, müssen wir ihnen bei diesem Opfer helfen. Die Majendie glauben, daß Männer mit der Gabe wie alle Männer den Samen des Lebens und ihrer Seele in sich tragen, der ihnen von den Seelen gegeben wurde. Mehr noch, sie glauben, daß jemand mit der Gabe über eine besondere, direkte Verbindung zu den Seelen verfügt. Ein Opfer, welches mit Hilfe eines jungen Mannes, der die Gabe hat, vorgenommen wird, überträgt die heilige Barmherzigkeit ihrer Seelen auf das gesamte Volk. Sie glauben, es haucht ihrem Volk Leben ein, göttliches Leben.

Die Majendie verlangen diese Teilnahme am Opfer, wann immer wir junge Männer zum ersten Mal durch ihr Land bringen, denn sie glauben, dadurch würden deren Seelen mit jenen der Majendie verbunden. Die Zeremonie bewirkt darüber hinaus, daß das Volk, mit dem sie sich im Krieg befinden, einen Haß auf Zauberer hat, denn diese helfen immer nur den Majendie und würden niemals mit ihnen zusammenarbeiten. Dies, so glauben die Majendie, verwehrt ihren Feinden den geheiligten Zutritt in die Welt der Seelen.«

Die Männer auf dem Platz zückten allesamt ihre Kurzschwerter. Sie legten die Schwerter auf den Boden, die Spitze auf die Frau in der Mitte gerichtet, knieten nieder und senkten die blanken Schädel.

»Die Frau, die die Glocke geläutet hat, die in der Mitte, ist die Anführerin dieses Volkes. Die Königin-Mutter. Sie ist diejenige, die mit den weiblichen Seelen verbunden ist. Sie repräsentiert die Seelen der Fruchtbarkeit in dieser Welt. Sie ist die Verkörperung des Gefäßes für den göttlichen Samen aus der Welt der Seelen.«

Die tanzenden Frauen in Schwarz formierten sich zu einer Reihe, verließen die Plattform und kamen auf Richard und die Schwester zu.

»Die Königin-Mutter schickt ihre Abgesandten, um dich zu der Opfergabe zu bringen.« Schwester Verna blickte kurz zu ihm auf und spielte dann nervös mit dem Zipfel ihres Umhangs. »Wir haben Glück. Es bedeutet, daß sie jemanden zum Opfern haben. Wäre dies nicht der Fall, hätten wir warten müssen, bis sie einen ihrer Feinde gefangen hätten. Das kann manchmal Wochen, sogar Monate dauern.«

Richard sagte nichts.

Sie drehte den näher kommenden Frauen den Rücken zu und blickte ihm ms Gesicht. »Man wird dich an einen Ort führen, wo der Gefangene festgehalten wird. Dort wird man dir die Chance geben, ihm deinen Segen auszusprechen. Gibst du deinen Segen nicht, bedeutet das, daß du dem Gefangen beim Opfer vorangehen möchtest. Du würdest also ebenfalls sterben.

Du gibst deinen Segen, indem du das heilige Messer küßt, daß man dir darbieten wird. Du brauchst den Betreffenden nicht selbst zu töten. Du brauchst nur das Messer zu küssen, den Segen der Seelen zu erteilen, dann werden sie das Töten übernehmen. Aber du mußt ihnen dabei zusehen, damit die Seelen das Opfer mit deinen Augen verfolgen können.« Sie warf einen Blick über ihre Schulter auf die Frauen in Schwarz. »Der Glaube dieser Menschen ist obszön.«

Sie seufzte resigniert und drehte sich wieder zu ihm um. Richard verschränkte die Arme und funkelte sie zornig an.

»Ich weiß, das gefällt dir nicht, Richard, aber es hat dreitausend Jahre lang für Frieden zwischen uns und den Majendie gesorgt. Es klingt zwar paradox, aber dadurch werden mehr Menschenleben gerettet, als es kostet. Diese Wilden, ihre Feinde, führen nicht nur gegen sie, sondern auch gegen uns Krieg. Der Palast und die zivilisierten Menschen der Alten Welt werden immer wieder Opfer von Überfällen und wütenden Angriffen.«

Kein Wunder, dachte Richard, sagte aber nichts.

Schwester Verna machte einen Schritt zur Seite und stellte sich neben ihn, als die Frauen in Schwarz sich in einer dunklen Traube vor den beiden zusammendrängten. Sie waren alle älter, vielleicht im Alter von Großmüttern. Und alle waren stattlich, und ihre schwarze Kleidung bedeckte ihr Haar und alles andere bis auf ihre runzligen Hände und Gesichter.

Eine von ihnen zurrte den derben, schwarzen Stoff mit schwieligen Fingern am Kinn fest. Sie verneigte sich vor Schwester Verna. »Willkommen, weise Frau. Seit jetzt schon fast einem ganzen Tag wissen wir durch unsere Posten von Eurem Kommen. Es freut uns, Euch bei uns zu wissen, denn es ist Zeit für das Saatopfer. Wir hatten zwar nicht mit Eurer Anwesenheit gerechnet, doch wird es eine große Huldigung an die Seelen sein, wenn wir das Opfer segnen lassen.«

Die alte Frau, die ihm gerade bis ans Brustbein reichte, betrachtete Richard von Kopf bis Fuß, dann richtete sie erneut das Wort an Schwester Verna.

»Ist dies ein magischer Mann? Er ist kein Junge mehr.«

»Wir haben noch nie zuvor jemanden in den Palast der weisen Frauen gebracht, der so alt war«, sagte Schwester Verna. »Aber er ist ein magischer Mann, genau wie die anderen.«

Die Alte in Schwarz blickte Richard in die Augen, während er sie ausdruckslos betrachtete. »Er ist zu alt, um den Segen zu geben.«

Schwester Verna drückte den Rücken durch. »Trotzdem, er ist ein magischer Mann.«

Die Frau nickte der Schwester zu. »Aber er ist zu alt, als daß die anderen das Opfer für ihn durchführen könnten. Er muß es selbst tun. Er muß unser Opfer mit eigener Hand den Seelen darbringen.« Sie winkte eine Frau hinter sich vor. »Führe ihn zu der Stelle, wo die Opfergabe wartet.«

Die Frau trat mit einem Nicken nach vorn und bedeutete Richard, ihr zu folgen. Schwester Verna zupfte ihn am Ärmel seines Hemdes. Richard spürte die Glut der Magie, die von ihren Fingern ausging, seinen Arm hinaufkroch und in einem unangenehmen Kribbeln am Hals unter dem Rada’Han endete.

»Richard«, flüsterte sie, »wage es nicht, diesmal die Axt zu schwingen. Du hast keine Ahnung, was du damit zerstören würdest.«

Richard sah ihr in die Augen, dann wandte er sich ohne ein Wort ab.

Die rundliche Alte führte ihn durch eine verschlammte Straße, vorbei an alten Männern, die in Eingängen hockten und sie beobachteten, dann bog sie ab und bog in eine enge Gasse ein. An deren Ende ging sie gebückt durch einen niedrigen Türeingang. Richard mußte sich fast um die Hälfte kleiner machen, um ihr zu folgen.

Drinnen bedeckten Teppiche mit kunstvollen Mustern, aber matten Farben den Boden. Möbel gab es keine, bis auf mehrere niedrige, lederbezogene Truhen, auf denen Öllampen standen. Vier Männer mit rasierten Köpfen hockten mehr als daß sie saßen auf den Teppichen, zwei auf jeder Seite eines Durchgangs, der mit einem schweren Teppich verhängt war. Kurze Speere mit spitzen, blattförmigen Eisenköpfen ruhten quer über ihren Knien. Unter der unerwartet hohen Decke hing eine Wolke Pfeifenrauchs.

Die Männer erhoben sich und verneigten sich vor der Alten. Sie nickte ihnen zu und zerrte Richard dabei nach vorn.

»Dies ist der magische Mann. Da er bereits das Mannesalter erreicht hat, verfügt die Königin-Mutter, daß die Seelen das Opfer aus seiner Hand entgegennehmen sollen.«

Alle nickten, bekundeten mit harter Unerbittlichkeit die Weisheit dieser Entscheidung und baten sie, der Königin-Mutter auszurichten, daß alles wie verfügt erledigt werde. Die Frau in Schwarz wünschte ihnen allen Glück. Sie schloß die derbe Fichtenholztür hinter sich, nachdem sie sich unter der niedrigen Öffnung hindurchgebückt hatte.

Als sie gegangen war, begannen die Männer zu feixen. Sie klopften Richard auf den Rücken, als wollten sie ihn ins Vertrauen schließen. Der ausrasierte Nacken eines der Männer legte sich in eine Reihe von Falten, als er sich umdrehte und einen kurzen Blick auf den teppichverhangenen Durchgang warf. Er legte Richard einen Arm um die Schultern und drückte mit seinen kräftigen Fingern zu.

»Du hast allerdings Glück, Junge. Es wird dir gefallen, was wir für dich haben.« Sein verschlagenes Feixen ließ eine Zahnlücke in der unteren Reihe erkennen. »Komm mit. Es wird dir gefallen, Junge. Das können wir dir versprechen, bestimmt.« Er gluckste dreist in sich hinein. »Heute wirst du zum Mann werden, wenn du nicht schon einer bist.« Die anderen drei fielen in sein Lachen ein.

Die drei schoben den Wandteppich zur Seite und nahmen eine der Öllampen mit. Der letzte gab Richard einen Klaps auf den Rücken und schob ihn hindurch. Sie alle glucksten in freudiger Erwartung.

Abgesehen vom Pfeifenrauch, glich der nächste Raum dem ersten fast aufs Haar. Sie führten ihn weiter durch eine Reihe von Räumen, die alle, abgesehen von ein paar vereinzelten Teppichen, bar jeglichen Schmucks waren. Schließlich hockten sich die Männer neben einen letzten verhangenen Durchgang, pflanzten die Schäfte ihrer Speere in den Boden und beugten sich, mit einer Hand auf ihren Schaft gestützt, zu ihm. Sie alle trugen das gleiche schlaue Grinsen im Gesicht.

»Vorsicht jetzt, Junge. Sei nicht zu übereifrig. Behalte einen kühlen Kopf und denk an dich selbst, dann wirst du Spaß mit dieser Wilden haben.«

Sie kicherten über diesen Scherz, schoben den Vorhang zur Seite und gingen hindurch. Der kleine, quadratische Raum dahinter hatte einen nackten Lehmboden. Die Decke war wenigstens drei Stockwerke hoch. Ein Fenster in der Nähe des oberen Rands der Wand tauchte den Raum in trübes Licht. Es stank nach dem Nachttopf, der ein Stück entfernt an der Seite stand.

Links auf der anderen Seite hockte eine nackte Frau. Sie versuchte sich tiefer in die Ecke zu drücken, als sie die Männer sah. Sie schlang die Arme um die Knie und zog sie fest an ihren Körper.

Sie war übersät mit Schmutz, Schnittwunden und blauen Flecken. Ihr langes, verfilztes schwarzes Haar umrahmte kraus ihr verdrecktes Gesicht. Der Blick in ihren dunklen Augen verengte sich vor Ekel, während sie die vier Männer beobachtete. Nach deren lüsternen Grinsen zu urteilen, wußte sie offenbar, was sie von ihnen zu erwarten hatte.

Um ihren Hals lag ein mächtiger Eisenring, der mittels einer schweren Kette an einem massiven Stift in der Wand befestigt war.

Die Männer verteilten sich ringsum im Raum, hockten sich hin und lehnten sich mit dem Rücken an die Wand. Ihre Speere hielten sie senkrecht zwischen den Knien. Richard tat es ihnen nach, setzte sich auf den Boden und lehnte sich an die Wand rechts von der Frau.

»Ich möchte mit den Seelen sprechen«, erklärte Richard. Die vier Männer sahen ihn verständnislos an. »Ich muß sie fragen, wie sie es haben möchten.«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, es zu tun«, meinte der, dem ein Zahn fehlte. »Du mußt ihr den Kopf abschneiden. Jetzt, da sie den Eisenring um den Hals hat, ist es die einzige Möglichkeit, sie herauszubekommen. Ihr Kopf muß vom Körper getrennt werden.«

»Trotzdem, es muß so gemacht werden, wie die Seelen es wünschen. Ich muß mit ihnen sprechen. Ich muß ganz genau wissen, wie ich es machen soll … um sie nicht zu verärgern.«

Sie dachten darüber nach. Der Kerl mit dem fehlenden Zahn schob die Wange mit der Zunge nach außen, während er grübelte. Schließlich hellte sich seine Miene auf. »Die Königin-Mutter und ihre Frauen trinken juka, um mit den Seelen zu sprechen. Ich könnte dir etwas juka bringen, dann kannst du auch mit den Seelen sprechen.«

»Dann hol mir dieses juka, damit ich mit den Seelen sprechen und tun kann, was sie verlangen. Ich möchte nichts tun, womit ich euer Saatopfer verderben könnte.«

Die Männer hielten dies für ein weises Ansinnen, wenn man bedachte, daß Richard das Opfer persönlich durchführen und nicht einfach nur segnen sollte. Einer der Männer eilte davon.

Die anderen drei warteten schweigend und musterten dabei erneut lüstern die Frau. Sie schob ihre Füße enger zusammen, um sich zu bedecken, während sie in der Ecke hockte und ihren Blick finster erwiderte.

Einer der Männer zog eine Pfeife mit dünnem Stiel und einen Fidibus aus irgendeiner Tasche. Er entzündete den Fidibus an der Flamme der Lampe und steckte damit seine Pfeife an. Paffend betrachtete er die Frau, beäugte sie auf obszöne Weise. Die Frau funkelte ihn wütend an, das Kinn trotzig hochgereckt. Der Rauch stieg im trüben Licht nach oben, während der Mann schneller paffte.

Richard nahm eine geduckte Haltung ein, lehnte sich an die Wand, die Arme über seinem Schoß gekreuzt, und verbarg so seine rechte Hand, die er lässig neben das Heft gelegt hatte. Schließlich kam der vierte Mann mit einen runden Tontopf zurück, den er in beiden Händen trug. Der Topf hatte oben eine kleine Öffnung und war auf der Seite mit weißen Symbolen bemalt.

»Die Königin-Mutter und ihre Frauen haben zugestimmt und schicken dieses juka, damit du die Seelen rufen kannst. Wenn du dies trinkst, werden die Seelen dich besuchen.« Er stellte den Topf vor Richard ab, dann zog er ein Messer aus seinem Gürtel und hielt ihm den grünen Malachitgriff hin. Er war mit Figuren in obszönen Stellungen verziert. »Dies ist das heilige Messer, welches bei dem Opfer benutzt werden muß.« Als Richard das Messer entgegennahm und die kräftige Klinge hinter seinen Gürtel schob, setzte sich der Mann zu seinen Gefährten an den Wänden.

Der Mann, der der Frau auf der anderen Seite am nächsten saß, schien erfreut, weil die Königin-Mutter das juka geschickt hatte. Er zwinkerte Richard durchtrieben zu. Dann hielt er der Frau die Spitze seines Speeres vors Gesicht.

»Der magische Mann ist gekommen, um dich den Seelen zu opfern.« Er grinste aufmunternd an ihr vorbei, zu Richard. »Aber vorher möchte er dir die Seelengabe seines Samens zum Geschenk machen.« Sie rührte sich nicht. Sein Grinsen wurde zum Feixen, als er mit dem Schaft seines Speeres auf die Erde schlug. »Beleidige die Seelen nicht! Du wirst ihre Gabe annehmen!« Er senkte die Stimme zu einem Knurren. »Und zwar jetzt!«

Ohne ihn auch nur für einen Augenblick aus den Augen zu lassen, löste sie sich und legte sich folgsam mit dem Rücken auf die Erde. Sie machte die Beine breit und sah Richard trotzig an. Offenbar wußte sie darum, was folgen würde, wenn sie diesen Männern nicht zu Willen war.

Der Kerl sprang vor und stach ihr mit dem Speer in den Schenkel. Sie stieß einen Schrei aus und wich zurück.

»So dumm bist du nicht! Du wirst uns nicht beleidigen! Wir sind nicht blöde!« Er täuschte einen weiteren Stoß mit dem Speer an. »Und mach es richtig!«

Richards Finger krallten sich um das Heft seines Schwertes, ansonsten rührte er sich jedoch nicht. Die Frau machte keinerlei Anstalten, sich um die blutende Schnittwunde an ihrem Bein zu kümmern, sondern wälzte sich gehorsam auf Ellenbogen und Knie und reckte ihr Hinterteil in die Luft.

Die Männer sahen Richard kichernd an.

»Einer wie der willst du dabei bestimmt nicht ins Gesicht sehen«, meinte der Kerl mit dem fehlenden Zahn. »Sie beißt nämlich.« Die anderen nickten. Sie wußten offenbar Bescheid. »Besteig sie so herum und halte sie an den Haaren fest. Auf diese Weise wird sie dich nicht beißen können, und du kannst dir alles nehmen, was du willst.«

Die Männer warteten. Weder Richard noch die Frau rührten sich.

»Habt ihr Trottel keine Augen im Kopf?« meinte die Frau. »Er will mich nicht wie ein Hund vor euch besteigen!« Das Gesicht an die Erde gepreßt, warf sie Richard ein spöttisches Grinsen zu. »Er ist nämlich schüchtern. Er will nicht, daß ihr seht, wie klein sein Zauberstab ist.«

Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Richards Knöchel umspannten weiß das Heft. Nur mit Anstrengung gelang es ihm, den Zorn, der aus dem Schwert brennend durch seinen Körper zog, unter einer ungerührten Miene zu verbergen. Er hatte Mühe, einen klaren Kopf zu behalten.

Es würde nichts bringen, der Magie hier drinnen freien Lauf zu lassen.

Einer der Männer versetzte einem seiner Kumpane einen spielerischen Ellbogenstoß und lachte. »Vielleicht hat sie recht. Er ist noch jung. Vielleicht ist er es nicht gewöhnt, daß andere ihn bei seinem Vergnügen zusehen.«

Seine Geduld war bis zum Reißen gespannt. Richard konzentrierte sich darauf, seine freie Hand ruhig zu halten und sie mit elegantem Schwung zu bewegen. Er nahm den Tontopf mit dem juka und zeigte ihn den Männern. Er hatte alle Mühe, seine Stimme zu beherrschen. »Die Seelen möchten zu mir von wichtigen Dingen sprechen.«

Das Grinsen auf sämtlichen Gesichtern erlosch. Sie wußten, er war ein magischer Mann, doch war er nicht so jung, wie sie es gewohnt waren. Sie hatten keine Vorstellung von seiner Kraft, was sie offensichtlich ebenso besorgt stimmte wie seine undurchschaubare, viel zu ruhige Art.

»Wir müssen es ihm überlassen, seine Pflicht zu tun«, meinte einer der Männer. »Wir sollten ihn mit den Seelen allein lassen. Dann kann er sich mit der Wilden vergnügen, wenn er will, bevor er den Seelen sein Opfer darbringt.« Er neigte Richard seinen glänzenden Schädel zu. »Wir werden dich in Frieden lassen. Wir werden dort auf dich warten, wo du uns zuerst begegnet bist.«

Die vier eilten mit ernster Miene davon. Als sie verschwunden waren und er sicher sein konnte, daß sie sich ein gutes Stück entfernt hatten, spie die Frau ihn an.

Sie bog den Rücken durch wie eine läufige Katze und reckte ihren Hintern noch höher in die Luft. »Jetzt kannst du mich besteigen wie der Hund, der du bist. Komm schon, magischer Mann, beweise, daß du eine Frau besteigen kannst, wenn man sie mit einer Kette für dich festhält. Du kannst mir auch nichts Schlimmeres antun als die anderen Hunde.« Sie spie ihn erneut an. »Ihr seid alle Hunde.«

Richard stieß mit dem Fuß gegen ihre Hüfte und warf sie um. »Ich bin nicht wie diese Männer.«

Sie wälzte sich auf den Rücken. Sie breitete Arme und Beine aus und warf ihm einen verächtlich funkelnden Blick zu. »So. Du hältst dich also für besser als sie.«

Richard biß die Zähne zusammen. »Laß das. Deswegen bin ich nicht hier.«

Sie setzte sich auf. Sie hob das Kinn, doch ihre Augen füllten sich mit plötzlichem Entsetzen. »Du wirst mich jetzt also opfern?«

Richard merkte, daß er noch immer das Heft umklammert hielt. Er hatte vergessen, seinen ruhigen Gesichtsaudruck zu bewahren. Er zog seine Hand zurück, wodurch seine Magie zurückwich, sein Zorn abkühlte. Vor ihren Augen schüttete er das juka auf dem Boden aus.

»Ich werde dich hier rausholen. Mein Name ist Richard. Und deiner?«

Sie kniff die Augen zusammen. »Warum willst du das wissen?«

»Wenn ich dich hier rausholen soll, muß ich wissen, wie ich dich rufen kann. Ich kann dich schließlich nicht ›Frau‹ nennen.«

Sie musterte ihn einen Augenblick schweigend. »Ich bin Du Chaillu.«

»Wie soll ich dich nennen? Du? Oder Du Chaillu?«

Sie legte verwirrt die Stirn in Falten. »Du Chaillu. So lautet mein Name.«

Richard lächelte sie beruhigend an. »Also schön. Du Chaillu. Dein Volk, was sind das für Leute? Wie werden sie genannt?«

»Wir sind die Baka Ban Mana.«

»Und was bedeutet das, Baka Ban Mana?«

Sie reckte ihr Kinn erneut empor. »Die ohne Herren.«

Richard lächelte vor sich hin. »Ich denke, du machst deinem Volk Ehre. Du siehst nicht aus wie eine Frau, die sich beherrschen läßt.«

Das Kinn noch immer vorgereckt, blickte sie ihm prüfend in die Augen. »Das sagst du, aber eigentlich willst du mich besteigen wie die anderen.«

Richard schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab’ dir doch gesagt, daß ich das nicht tun werde. Ich werde versuchen, dich hier rauszuholen und zu deinem Volk zurückzubringen.«

»Niemand aus meinem Volk, der von den Majendie gefangen wurde, ist je zurückgekehrt.«

Richard beugte sich zu ihr vor. »Dann bist du eben die erste.«

Richard zog sein Schwert blank. Du Chaillu wich zurück zur Wand, zog die Knie vor die Brust und versteckte ihr Gesicht. Er merkte, daß sie sein Tun falsch ausgelegt hatte und nun das Schlimmste erwartete. »Schon gut, Du Chaillu. Ich tue dir nichts. Ich muß dir nur diesen Eisenring abnehmen.«

Sie scheute vor ihm zurück. Dann bedauerte sie ihren schmachvollen Rückzug, überlegte es sich anders, hob das Kinn und spie ihn an. »Ja, indem du mir den Kopf abschlägst. Du sprichst nicht die Wahrheit. Du wirst mich jetzt töten und willst bloß, daß ich dir lammfromm den Hals hinhalte.«

Richard wischte sich die Spucke mit dem Ärmel von der Schläfe. Dann legte er ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Nein. Ich werde dir nichts tun. Das Schwert brauche ich nur, um dir den Ring abzunehmen. Wie soll ich dich sonst hier rausschaffen? Du wirst gerettet werden, warte nur ab. Kann ich ihn dir jetzt abnehmen?«

»Schwerter können kein Eisen schneiden!«

Richard zog eine Braue hoch. »Aber Magie.«

Sie kniff die Augen zusammen und hielt den Atem an, als er ihr sanft den Arm um die Schulter legte und sie mit dem Gesicht nach unten in seinen Schoß zog. Er legte ihr die Schwertspitze seitlich an den Hals. Er hatte das Schwert der Wahrheit schon einmal Eisen durchtrennen sehen und wußte, die Magie des Schwertes war dazu in der Lage. Du Chaillu lag absolut still, als er das Schwert unter das schwere Eisen schob.

Und dann stürzte sie sich auf ihn. Im Nu hatte sie seinen linken Arm fest im Griff. Ihre Zähne verbissen sich in seinen Unterarm und zwackten seine Nerven.

Richard erstarrte. Ihm war klar, wenn er jetzt den Arm zurückriß, würde sie ihm mit ihren Zähnen vermutlich das Fleisch von den Knochen reißen. Er hatte seine Rechte noch immer am Schwert. Der Zorn der Magie pulsierte durch seinen Körper. Er benutzte ihn, um die Schmerzen zu blockieren und ruhig zu bleiben.

So wie das Schwert unter dem Eisenring steckte, wäre es ein leichtes, es zu verdrehen und zuzustoßen. Er würde ihr damit die Kehle durchschneiden, wenn nicht gar den Kopf abtrennen und könnte sich von ihren Zähnen befreien. Die Schmerzen waren kaum auszuhalten.

»Du Chaillu«, brachte er durch die zusammengebissenen Zähne hervor. »Laß los. Ich werde dir nichts tun. Läge es in meiner Absicht, dir weh zu tun, könnte ich jetzt mit dem Schwert zustechen, damit du losläßt.«

Nach einer ganzen Weile, in der es bis auf ihren schwer gehenden Atem völlig still war, ließen ihre Zähne locker, ohne den Arm ganz freizugeben.

Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Warum?« Sie lugte zu ihm hoch. »Warum willst du mir helfen?«

Richard sah ihr fest in die dunklen Augen. Er riskierte es und nahm die Hand vom Schwert. Dann hob er die Hand und berührte das kalte Metall des Rings um seinen Hals.

»Auch ich bin ein Gefangener. Auch ich weiß, was es heißt, von einem Ring gehalten zu werden. Ich mag Halsringe nicht. Ich kann mich zwar auf diese Weise nicht selbst befreien, aber dich.«

Sie sah ihn fragend an.

»Aber du bist ein magischer Mann.«

»Deshalb hat man mich gefangengenommen. Die Frau, die ich begleite, bringt mich an einen Ort, der Palast der Propheten genannt wird. Sie behauptet, die Magie wird mich töten, wenn ich nicht an diesen Ort gehe.«

»Du bist bei einer dieser Hexen? Aus dem großen, steinernen Hexenhaus?«

»Sie ist keine Hexe, sondern jemand, der auch Magie besitzt. Sie hat mir diesen Ring umgelegt, damit ich sie begleite.«

Du Chaillus Blick fuhr zum Ring um seinen Hals.

»Wenn du mich gehen läßt, werden dir die Majendie nicht erlauben, durch ihr Land zu dem großen Steinhaus zu reiten.«

Richard sah sie an. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich hatte gehofft, wenn ich dir helfe und dich zu deinem Volk zurückbringe, würdet ihr uns erlauben, durch euer Land zu reiten, und du würdest uns vielleicht führen, damit wir den Palast erreichen.«

Sie grinste hinterhältig. »Wir könnten die Hexe töten.«

Richard schüttelte den Kopf. »Ich töte niemanden, es sei denn, ich bin dazu gezwungen. Es würde ohnehin nichts nützen. Ich muß in den Palast, damit man mir den Ring abnimmt. Wenn ich nicht dorthin gehe, sterbe ich.«

Du Chaillu wich seinem Blick aus. Richard wartete, während sie sich in ihrem Gefängnis umsah.

»Ich weiß nicht, ob du die Wahrheit sagst oder mir die Kehle durchschneiden willst.« Sie rieb ihm sachte über den Arm, dort, wo sie ihn gebissen hatte. »Aber wenn du mich tötest — ich sollte ohnehin getötet werden und hatte keine Chance –, dann werde ich wenigstens nicht mehr von diesen Hunden bestiegen. Wenn du die Wahrheit sagst, dann werde ich frei sein. Trotzdem müssen wir immer noch entkommen. Wir befinden uns mitten im Land der Majendie.«

Richard zwinkerte ihr zu. »Ich habe einen Plan. Wir können es zumindest versuchen.«

Sie sah ihn fragend an. »Du könntest mir das antun, dann wären sie zufrieden, und du könntest in den Palast gehen. Du wärst in Sicherheit. Hast du keine Angst, daß sie dich töten?«

Richard nickte. »Aber ich habe noch größere Angst, den Rest meines Lebens zu leben und in Gedanken immer deine hübschen Augen vor mir zu sehen und mir zu wünschen, ich hätte dir geholfen.«

Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Vielleicht bist du ein magischer Mann, aber klug bist du nicht. Ein kluger Mann würde die Sicherheit vorziehen.«

»Ich bin der Sucher.«

»Was ist das, der Sucher?«

»Das ist eine lange Geschichte. Aber vermutlich bedeutet es, daß ich mein Bestes tue, damit die Wahrheit Oberhand behält und Recht geschieht. Dieses Schwert besitzt magische Kräfte, und es hilft mir bei meiner Suche. Es wird das Schwert der Wahrheit genannt.«

Mit einem langen Seufzer legte sie schließlich ihren Kopf wieder in seinen Schoß. »Versuch es also, oder töte mich. Ich war ohnehin schon tot.«

Richard klopfte ihr beruhigend auf die schmutzige, nackte Schulter. »Halt still.«

Er griff unter ihren Hals, schloß die Finger um den Ring und hielt ihn fest. Mit seiner anderen Hand, der Hand am Heft, jener Hand, durch die die Magie in seinen Körper strömte, zog er mit voller Wucht daran.

Das Eisen zersplitterte mit lautem Krachen. Heiße Metallsplitter prallten von den Wänden zurück. Ein großes Stück des Rings drehte sich auf dem Boden im Staub um die eigene Achse, geriet schließlich ins Trudeln und blieb liegen. Stille senkte sich über die beiden. Er hielt den Atem an und hoffte, daß keines der Metallstücke ihr die Kehle durchgeschnitten hatte.

Du Chaillu richtete sich auf. Mit großen Augen betastete sie sich den Hals. Als sie keine Verletzung entdeckte, fing sie plötzlich breit an zu grinsen.

»Er ist ab! Du hast mir den Ring abgenommen, und mein Kopf ist immer noch dran!«

Richard tat, als sei er leicht empört. »Das habe ich doch gesagt. Jetzt müssen wir fort von hier. Komm.«

Er führte sie durch die Räume zurück, so wie er hereingekommen war. Als er den vorletzten Raum vor dem erreichte, in dem die Männer warteten, hielt er sich einen Finger an die Lippen und erklärte, sie solle sich still verhalten und warten, bis er sie holen komme.

Sie verschränkte die Arme über ihren nackten Brüsten. »Warum? Ich werde mit dir gehen. Du hast gesagt, du willst mich nicht hierlassen.«

Richard stöhnte verzweifelt. »Ich gehe und hole dir etwas zum Anziehen. Wir können nicht fort, solange du…« Mit einer Handbewegung deutete er auf ihre Blöße.

Sie löste die Arme und blickte an ihrem Körper herab. »Wieso? Was stimmt nicht mit mir? Ich bin doch hübsch anzusehen. Viele Männer haben mir das gesagt…«

»Was seid ihr nur für ein Volk!« zischte er aufgebracht. »Seit ich meine Heimat letzten Herbst verlassen habe, habe ich mehr nackte Menschen gesehen als in meinem ganzen Leben zuvor! Und nicht eine von euch scheint auch nur im geringsten…«

Sie mußte grinsen. »Dein Gesicht wird rot.«

Richard knurrte zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Warte hier!«

Mit einem neckischen Lächeln verschränkte sie erneut die Arme. »Ich werde warten.«

Die vier Männer im äußeren Raum sprangen auf, als Richard durch die teppichverhangene Öffnung trat. Er ließ ihnen keine Zeit, irgendwelche Fragen zu stellen.

»Wo sind die Kleider dieser Frau?«

Sie sahen sich verwirrt an. »Ihre Kleider? Wieso willst du ihre …?«

Richard trat bedrohlich einen Schritt auf den Mann zu. »Wer bist du, daß du es wagst, die Seelen in Frage zu stellen! Tu, was ich sage. Beschaff mir ihre Kleider!«

Die vier wichen zurück. Sie starrten ihn kurz an, dann gingen sie zu den niedrigen Truhen. Sie stellten die Lampen zur Seite und öffneten die Deckel, kramten in den Truhen und holten Kleidungsstücke heraus.

»Hier! Ich hab’ sie gefunden!« meinte einer von ihnen. Er hielt ein Kleidungsstück in die Höhe, das aus fein gewobenem Flachs zu sein schien. Von dem hellbraunen Stoff hingen Reihen verschiedenfarbiger Streifen herab. »Das gehört ihr.« Er hielt einen Wildledergürtel in die Höhe. »Und das hier auch.«

Richard riß sie dem Mann aus der Hand. »Ihr werdet hier warten.« Er schnappte sich einen Stoffetzen, den der Mann bei der Suche nach dem Kleid auf den Boden geworfen hatte.

Er war wieder durch die Tür verschwunden, bevor noch Zeit für irgendwelche Fragen war. Du Chaillu wartete, die Arme immer noch verschränkt. Als sie sah, was er den Händen hielt, stockte ihr der Atem. Sie preßte sich das Kleid vor die Brust. Tränen füllten ihre dunklen Augen.

»Mein Gebetskleid!«

Sie schlang ihm die Arme um den Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Richard drückte ihr Gewirr aus schwarzen Locken flach an den Kopf und schob sie von sich.

»Schon gut. Schon gut. Zieh es an. Beeil dich!«

Sie grinste ihn an und streifte das Kleid über den Kopf, steckte ihre Arme durch die langen Ärmel. An der Außennaht der Ärmel und der Schulter befand sich ein geflochtenes Band. Daran waren kleine Streifen Stoffs in verschiedenen Farben geknotet. Das Kleid reichte bis kurz unter die Knie. Als Du Chaillu den Gürtel um die Hüfte band, fiel Richard auf, daß ihr das Blut von der Stelle, wo die Männer sie in den Schenkel gestochen hatten, noch immer auf den Fuß rann.

Er kniete sich vor ihr hin und machte ihr mit den Händen ein Zeichen. »Heb es an. Heb dein Kleid hoch.«

Du Chaillu schaute zu ihm hinunter. Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe mich gerade bedeckt, und jetzt willst du, daß ich mich wieder ausziehe?«

Richard schürzte die Lippen. Er wedelte ihr mit dem Stoffetzen zu. »Du blutest. Ich muß die Wunde verbinden.«

Kichernd hob sie das Kleid an und hielt ihm ihr Bein hin, wobei sie es langsam von einer Seite zur anderen kreisen ließ und es auf neckische Weise zur Schau stellte. Richard band den Fetzen rasch um ihren Oberschenkel, um die klaffende Wunde, und zog den Knoten fest. Sie jaulte auf vor Schmerz. Geschieht dir recht, dachte er, entschuldigte sich aber trotzdem.

Er nahm sie bei der Hand und zog sie weiter. Im letzten Raum fauchte er die vier Männer an, sie sollten bleiben, wo sie waren. Du Chaillus Hand noch immer fest im Griff, führte er sie durch die Gassen und Straßen zum freien Platz. Er sah die Köpfte der drei Pferde, die aus der Menge der glänzenden, kahlen Schädel ragten. Durch das Gedränge bahnte er sich seinen Weg hin zu den Tieren.

Загрузка...