7

Das dunkle Wesen richtete sich auf, seine Krallen scharrten über den oberen Rand der niedrigen Mauer. Es stieß ein tiefes, keckerndes Lachen aus, das ihr an den Armen und im Nacken eine Gänsehaut bereitete. Kahlan erstarrte. Ihr stockte der Atem. Die Gestalt war ein schwarzes Loch im fahlen Schein des Mondes. Nach dem kurzen Aufblitzen waren die Augen in einem nachtschwarzen Flecken verschwunden.

Ihre Gedanken rasten, versuchten, das, was sie sah, mit dem, was sie kannte, in Übereinstimmung zu bringen. Sie wäre am liebsten fortgelaufen, wußte jedoch nicht, wohin. Zu Richard oder geradewegs in die entgegengesetzte Richtung?

Sie konnte die Augen zwar nicht sehen, aber sie spürte sie — kalt wie der Tod. Aus ihrer Kehle löste sich ein einziger leiser Laut. Unter heulendem Gelächter sprang das dunkle Wesen auf die Mauer.

Mit einem Krachen wurde hinter ihr die Tür aufgestoßen und schlug scheppernd gegen die Wand des Seelenhauses. Gleichzeitig hörte sie das unverkennbare Surren, als das Schwert der Wahrheit im Zorn gezogen wurde. Der schwarze Kopf fuhr zuckend in Richards Richtung herum, und wieder blitzten die Augen golden im Mondschein auf. Richard streckte die Hand aus, packte sie am Arm und stieß sie durch die Tür ins Innere des Seelenhauses. Als die Tür von der Wand zurückprallte, trat er sie hinter sich ins Schloß.

Durch die Tür vernahm Kahlan ein heulendes Gelächter, dann prallte etwas gegen das Holz. Sie erhob sich auf die Füße und zog ihr Messer. Von draußen hörte sie das Sirren des Schwertes, dann den dumpfen Schlag von Körpern, die gegen die Wand des Seelenhauses krachten. Und immer noch das schrille, heulende Gelächter.

Kahlan warf sich mit der Schulter gegen die Tür und purzelte hinaus in die Nacht. Als sie auf die Beine kam, sah sie, wie eine kleine, dunkle Gestalt auf sie zusprang. Sie holte mit dem Messer aus, stach zu und verfehlte die Gestalt.

Das Wesen griff erneut an, doch bevor es sie erreicht hatte, versetzte Richard ihm einen Tritt und schleuderte es damit rücklings gegen die niedrige Mauer. Das Schwert der Wahrheit senkte sich im Mondschein blinkend auf den Schatten herab. Doch die Klinge traf nur die Mauer. Ein Schauer aus Schlammziegelbrocken und Putz schoß explosionsartig in die Höhe. Das Wesen heulte vor Lachen.

Richard konnte sie gerade noch zurückreißen, als das Wesen vorüberflog. Kahlan erwischte es mit ihrer Klinge, durchtrennte etwas Hartes — etwas Knochenhartes. Eine Kralle flog an ihrem Gesicht vorbei, gefolgt vom Schwert, das danebenschlug.

Sie hörte Richard keuchen, als er die Dunkelheit absuchte. Der Schatten kam aus dem Nichts und stieß ihn zu Boden. Dunkle Gestalten wälzten sich über den Boden. Sie konnte nicht erkennen, wer Richard war und wer der Angreifer. Das Wesen wirbelte Staub mit seinen Krallen auf, während es immer wieder auf ihn eindrosch.

Ächzend wuchtete Richard das Wesen über die Mauer. Sofort stand es wieder auf deren Kante und verharrte dort. Seine Augen blitzten golden im Mondschein auf, während es sein grauenhaftes Keckem ausstieß. Die beiden wichen zurück. Als es die beiden rückwärts gehen sah, verstummte es.

Plötzlich war die Luft erfüllt vom Schwirren vieler Pfeile. Im Abstand eines Herzschlags bohrte sich ein Dutzend von ihnen mit dumpfem Schlag in den schwarzen Körper. Nicht einer verfehlte sein Ziel. Einen Atemzug später folgte noch einmal die gleiche Anzahl. Das Wesen japste vor Lachen. Es stand auf der Mauer wie ein schwarzes Nadelkissen.

Kahlan fiel die Kinnlade herunter, als sie sah, wie es eine Handvoll Pfeile abknickte, die ihm aus der Brust ragten. Das Wesen knurrte sie keckernd an, dann verfolgte es mit verständnislosem Blinzeln, wie sie sich rückwärts gehend entfernten. Sie begriff nicht, wieso es einfach stehenblieb. Der nächste Pfeilhagel schlug mit dumpfem Krachen in den schwarzen Leib. Doch das Wesen schenkte dem keine Beachtung, sondern ließ sich von der Mauer zu Boden fallen.

Eine dunkle Gestalt kam herbeigerannt, einen Speer in der Hand. Das Wesen sprang den rennenden Mann aus dem Schatten der Mauer an. Der Jäger schleuderte den Speer ab. Die dunkle Gestalt tauchte mit unfaßbarer Geschwindigkeit zur Seite weg und schnappte den Speer mit seinen Zähnen aus der Luft. Lachend biß es den Schaft durch. Der Jäger, der den Speer geschleudert hatte, wich zurück. Das Wesen schien das Interesse zu verlieren und wandte sich wieder zu ihr und Richard um.

»Was in aller Welt hat es vor?« flüsterte Richard. »Wieso ist es stehengeblieben? Warum sieht es uns bloß an?«

Dann überkam sie die Erkenntnis wie ein kalter Schock.

»Es ist ein Screeling«, sagte Kahlan ganz leise, mehr zu sich selbst als zu ihm. »Mögen die guten Geister uns beschützen, es ist ein Screeling.«

Die beiden hielten sich gegenseitig an den Armen, gingen rückwärts und beobachteten den Screeling.

»Fort von hier!« schrie sie die Jäger an. »Geht! Rennt nicht!«

Als Antwort feuerten sie einen weiteren sinnlosen Pfeilhagel ab.

»Hier entlang«, meinte Richard. »Zwischen die Gebäude, wo es dunkel ist.«

»Richard, dieses Wesen kann im Dunklen besser sehen als wir im Hellen. Es stammt aus der Unterwelt.«

Er ließ seine Augen nicht von dem Screeling, der unter freiem Himmel im Mondlicht stand. »Ich verstehe. Aber was können wir tun?«

Sie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber auf keinen Fall darfst du rennen oder stehenbleiben. Damit lenkst du seine Aufmerksamkeit auf dich. Wahrscheinlich kann man es nur töten, indem man es in Stücke hackt.«

Er sah zu ihr hinüber, die Augen im Mondlicht voller Zorn. »Was glaubst du, was ich gerade versucht habe?«

Kahlan drehte sich um und besah sich den schmalen Durchgang, den sie gerade betraten. »Vielleicht sollten wir doch hier durchgehen. Möglicherweise bleibt es dort stehen, und wir können fliehen. Wenn nicht, können wir es wenigstens von den anderen fortlocken.«

Der Screeling verfolgte, wie sie sich rückwärts entfernten, dann sprang er ihnen mit seiner fiesen Lache japsend hinterher.

»Nichts ist jemals einfach«, murmelte Richard.

Im Rückwärtsgang passierten sie den schmalen Durchgang aus glatt verputzten Wänden, den Screeling auf den Fersen. Kahlan sah, wie die dunkle Masse der Jäger ihm in den Durchgang folgte, spürte ihr Herz schlagen.

»Ich wollte, daß du im Haus der Seelen bleibst. Warum bist du nicht dort geblieben, wo du in Sicherheit gewesen wärst?«

Sie kannte diesen zornigen Unterton — die Magie des Schwertes. Die Hand, mit der sie ihn am Ärmel hielt, fühlte sich feucht und warm an. Sie sah ihn an und stellte fest, daß Blut seinen Arm hinunterlief, über ihre Hand. »Weil ich dich liebe, du Ochse. Und untersteh dich, so etwas noch mal zu machen.«

»Sollten wir hier je lebend herauskommen, lege ich dich übers Knie.«

Sie gingen weiter rückwärts durch die gewundene Gasse. »Sollten wir je lebend herauskommen, darfst du das sogar. Was machen deine Kopfschmerzen?«

Richard schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Eben noch konnte ich kaum atmen, jetzt sind sie verschwunden. Gleich nachdem sie verschwunden waren, habe ich dieses Wesen hinter der Tür gespürt und sein grauenhaftes Lachen gehört.«

»Vielleicht hast du nur geglaubt, es zu spüren, weil du es gehört hast.«

»Das weiß ich nicht. Kann sein. Auf jeden Fall war es ein höchst seltsames Gefühl.«

Sie zog ihn am Ärmel in eine Seitengasse. Hier war es dunkler. Mondlicht fiel hoch oben links auf einen Mauerrand. Sie fuhr zusammen, als sie die finstere Gestalt des Screelings wie einen riesigen, schwarzen Käfer über die mondbeschienene Mauer huschen sah. Kahlan mußte sich zwingen weiterzuatmen.

»Wie macht er das?« hauchte Richard.

Sie wußte keine Antwort. Hinter ihnen tauchten Fackeln auf. Jäger kreisten sie ein, versuchten, den Angreifer zu umzingeln.

Richard sah sich um. »Wenn diese Leute versuchen, das Wesen einzufangen, wird es sie alle töten.« Sie traten auf eine mondbeschienene Kreuzung zweier Gassen. »Das kann ich unmöglich zulassen, Kahlan.« Er sah nach rechts, zu einer Gruppe von Jägern, die sich mit Fackeln näherten. »Geh zu diesen Männern. Halt sie auf!«

»Richard, ich lasse dich nicht…«

Er versetzte ihr einen Stoß. »Tu, was ich sage! Sofort!«

Sein Ton ließ sie zusammenfahren. Gegen ihren Willen wich sie zurück. Richard stand reglos im Mondschein und hielt beidhändig das Schwert, dessen Spitze auf dem Boden ruhte. Er hob den Kopf und sah den Screeling an der Mauer hängen. Der stieß ein heulendes Gelächter aus, als hätte er gerade erkannt, wen er vor sich hatte.

Der Screeling löste seine Krallen, stürzte senkrecht nach unten und landete mit dumpfem Aufprall.

Kahlan sah, wie Richard in wütender Entschlossenheit das Kinn vorreckte, während er verfolgte, wie der kaum zu erkennende Fleck in einer Staubwolke auf ihn zugerast kam. Die Schwertspitze ruhte noch immer auf dem Boden.

Das ist doch nicht möglich, dachte sie, das kann nicht sein. Jetzt, wo endlich alles so ist, wie es sein soll. Dieses Untier könnte ihn töten. Ihn tatsächlich töten. Damit wäre alles aus. Der Gedanke raubte ihr den Atem. Der Blutrausch des Konfessors kochte donnernd an die Oberfläche. Ein Kribbeln ging von oben bis unten durch ihren Körper.

Der Screeling sprang in die Höhe und griff Richard an. Die Schwertspitze zuckte nach oben und pfählte die dunkle, um sich schlagende Gestalt. Sie konnte erkennen, daß gut anderthalb Fuß Stahl aus seinem Rücken ragten und im Mondschein blinkten. Wieder stieß der Screeling sein grauenerregendes, heulendes Gelächter aus. Er krallte sich an das Schwert und zog sich an der Klinge entlang auf Richard zu. Beim Umklammern der Klinge trennte er sich selbst mehrere seiner krallenbewehrten Finger ab, während er immer weiter vorwärts zappelte. Richard holte zu einem mächtigen Schlag aus. Der Screeling glitt von der Klinge und schlug krachend in die Mauer.

Ohne zu zögern, ging er sofort wieder auf den Sucher los. Richard schwang bereits sein Schwert. Kahlan spürte eine Woge aus Panik und Wut. Ohne zu merken, was sie tat, hatte sie einen Arm hochgerissen und die Faust auf dieses Wesen gerichtet, das gerade versuchte, Richard, den Mann, den sie liebte, umzubringen — den einzigen, den sie je lieben würde.

Der Screeling hatte ihn fast erreicht, das Schwert den Schlag beendet. Kahlan spürte, wie die Kraft ihren Körper in einer atemberaubenden Woge durchtoste. Sie ließ sie frei. Ein gespenstisches, blaues Licht schoß explosionsartig aus ihrer Faust und zerriß die Nacht mit einem blendenden, taghellen Blitz.

Schwert und blauer Lichtblitz trafen den Screeling im selben Augenblick. Der Screeling zerplatzte zu einem Niederschlag aus blutleeren, schwarzen Fetzen. Kahlan hatte gesehen, wie das Schwert der Wahrheit dasselbe mit lebendigem Fleisch gemacht hatte. Sie wußte nicht, ob diesmal das Schwert oder der blaue Lichtblitz dafür verantwortlich war.

Donnergrollen, vom Blitz ausgelöst, hallte in der plötzlichen Stille nach.

Sie lief zu Richard und schlang die Arme um ihn, als er sich keuchend nach vorn beugte. »Alles in Ordnung?«

Er drückte sie mit seiner freien Hand an sich und nickte. Sie hielt ihn lange Minuten fest, während die aufgebrachten Jäger mit den Fackeln sie umringten. Richard ließ das Schwert zurück in seine Scheide gleiten. Im Schein der Fackeln sah sie den häßlichen Riß an seinem Oberarm. Sie riß ein Stück von seinem Ärmel ab und wickelte es um die blutende Wunde.

Daraufhin wandte sie sich den Jägern zu, die alle mit schußbereitem Bogen oder einem Speer warteten. »Sind alle in Sicherheit?«

Chandalen trat in den Schein der Fackeln und sprach zu Kahlan. »Ich wußte, daß ihr Arger mit euch bringt.«

Sie erwiderte seinen harten Blick, schließlich dankte sie ihm und seinen Männern jedoch für den Versuch zu helfen.

»Kahlan, was war das für ein Untier? Und was in aller Welt hast du getan?« Richard sackte in sich zusammen.

Sie legte ihm den Arm um die Hüfte. »Man nennt sie Screelings, glaube ich. Und was ich getan habe, weiß ich selbst nicht ganz genau.«

»Screeling? Was ist ein …?«

Er preßte sich die Hände an die Schläfen, zuckte zusammen und schloß die Augen. Dann sank er auf die Knie. Kahlan konnte sein Gewicht nicht halten. Savidlin war zur Stelle und wollte nach ihm greifen, doch noch bevor er den Arm um Richard legen konnte, kippte Richard nach vorn aufs Gesicht. Er brüllte etwas in den Staub.

»Savidlin, hilf mir, ihn zurück ins Haus der Seelen zu schaffen, und schicke jemanden, der Nissel holen soll. Bitte sag ihnen, sie sollen sich beeilen

Savidlin brüllte, einer seiner Leute solle laufen und die Heilerin holen. Er und einige andere hoben Richard auf. Nur Chandalen, auf seinen Speer gestützt, sah zu.

Eine von Fackeln beschienene Prozession wand sich zurück zum Haus der Seelen. Savidlin und die Männer, die Richard trugen, begleiteten Kahlan ins Haus. Sie legten Richard vor dem Feuer ab und plazierten seinen Kopf vorsichtig auf eine Decke. Savidlin schickte seine Männer hinaus, blieb aber selbst bei ihr.

Kahlan kniete neben Richard nieder und befühlte mit zittriger Hand seine Stirn. Der Sucher war eiskalt und schweißgebadet und schien kaum mehr bei Bewußtsein zu sein. Sie biß sich auf die Lippe und versuchte, nicht loszuheulen.

»Nissel wird ihn wieder auf die Beine bekommen«, versuchte Savidlin sie zu beruhigen. »Du wirst sehen. Sie ist eine gute Heilerin. Sie wird wissen, was zu tun ist

Kahlan konnte nur nicken. Richard murmelte Unverständliches und warf den Kopf hin und her, als suchte er nach einer Stellung, die ihm keinen Schmerz bereitete.

Sie saßen schweigend da, bis Savidlin fragte: »Mutter Konfessor, was war das gerade? Wie hast du diesen Blitz erzeugt?«

»Wie ich es gemacht habe, weiß ich nicht genau. Aber es ist ein Teil der Zauberkraft eines Konfessors. Man nennt es Con Dar

Savidlin musterte sie eine Weile, während er dahockte und die sehnigen Arme um die Knie geschlungen hatte. »Ich wußte nicht, daß Konfessoren den Blitz herbeizaubern können

Sie sah ihn an. »Ich weiß es selbst erst seit ein paar Tagen

»Und was war dieses schwarze Ungeheuer?«

»Möglicherweise eine Kreatur aus der Unterwelt

»Vom selben Ort, wo damals auch die Schatten herkamen?« Kahlan nickte. »Und warum sollte es ausgerechnet jetzt auftauchen?«

»Tut mir leid, Savidlin, aber darauf weiß ich keine Antwort. Aber wenn noch weitere kommen, dann sag deinen Leuten, sie sollen sich langsam gebend rückwärts von ihnen entfernen. Bleibt weder stehen, noch lauft fort. Geht einfach weg und holt mich

Er dachte schweigend über ihre Worte nach. Schließlich öffnete sich quietschend die Tür, und eine gebückte Gestalt, flankiert von zwei Fackelträgern, kam herein. Kahlan sprang auf, lief ihr entgegen und ergriff ihre Hand. »Nissel, danke, daß du gekommen bist

Nissel tätschelte lächelnd ihre Schulter. »Wie geht es seinem Arm, Mutter Konfessor?«

»Er ist verheilt. Das hat er dir zu verdanken. Nissel, irgend etwas stimmt mit Richard nicht. Er hat fürchterliche Kopfschmerzen…«

Nissel lächelte. »Ja, Kind. Wir werden ihn uns einmal ansehen

Einer der beiden Männer in Nissels Begleitung reichte ihr einen Stoffbeutel, während sie sich neben Richard hinkniete. Die Gegenstände im Beutel stießen klirrend aneinander, als sie ihn auf den Boden legte. Sie bat den Mann, die Fackel herbeizuschaffen. Dann nahm sie den blutigen Verband ab und drückte die Wunde mit den Daumen auseinander. Nissel warf einen Blick auf Richards Gesicht, um zu sehen, ob er es gespürt hatte. Er hatte nichts gemerkt.

»Ich werde mich zuerst um die Wunde kümmern, solange er noch schläft

Sie reinigte den klaffenden Schnitt und vernähte ihn, während Kahlan und die drei Männer schweigend zusahen. Die Fackeln fauchten und zischten und tauchten das Innere des fast leeren Seelenhauses in ein grelles, flackerndes Licht. Auf den Seitenborden verfolgten die Schädel zusammen mit allen anderen das Geschehen.

Gelegentlich beim Nähen vor sich hin murmelnd, schloß Nissel die Wunde, legte eine nach Kiefernpech duftende Packung darauf und umwikkelte den Arm mit einer frischen Bandage. Sie kramte in ihrer Tasche und sagte den Männern, sie könnten gehen. Savidlin legte Kahlan im Vorbeigehen die Hand mitfühlend auf die Schulter und meinte, sie würden sich am nächsten Morgen sehen.

Als sie gegangen waren, unterbrach Nissel ihr Herumgekrame und sah zu Kahlan hoch. »Wie ich höre, willst du den Mann hier ehelichen.« Kahlan nickte. »Ich dachte, du dürftest niemanden liehen, weil du Konfessor bist und deine Kraft ihn überwältigen würde … wenn ihr Kinder zeugt

Kahlan lächelte die Heilerin über Richard hinweg an. »Richard ist etwas Besonderes. Er besitzt magische Kräfte, die ihn vor meiner Kraft beschützen.« Die beiden hatten Zedd versprochen, niemals die Wahrheit preiszugeben: daß es seine Liebe für sie war, die ihn beschützte.

Nissel lächelte und legte Kahlan ihre wettergegerbte Hand auf den Arm. »Ich freue mich für dich, Kind.« Sie beugte sich nach hinten zu ihrer Tasche und holte schließlich einige kleine, verstöpselte Fläschchen hervor. »Hat er diese Kopfschmerzen häufiger?«

»Er hat mir gesagt, daß er manchmal üble Kopfschmerzen bekommt, aber das hier ist etwas anderes, es ist schmerzhafter, so als wollte etwas aus seinem Kopf heraus. Er meinte, etwas Vergleichbares hätte er noch nicht erlebt. Glaubst du, du kannst ihm helfen?«

»Wir werden sehen.« Sie entkorkte ein Fläschchen nach dem anderen und hielt sie ihm der Reihe nach wedelnd unter die Nase. Eins von ihnen riß Richard schließlich aus dem Schlaf. Nissel schnupperte selbst an dem Fläschchen, um zu sehen, was es war. Sie nickte, murmelte etwas und griff ein weiteres Mal in ihren Beutel.

»Was ist denn?« stöhnte Richard.

Kahlan beugte sich vor und küßte ihn auf die Stirn. »Nissel wird etwas gegen deine Kopfschmerzen tun. Beweg dich nicht

Richard bäumte sich auf und kniff vor Schmerz die Lider zusammen. Er preßte sich die zitternden Fäuste an die Schläfen.

Die Heilerin drückte mit den Fingern sein Kinn nach unten, zwang ihn, den Mund zu öffnen, und verabreichte ihm mit der anderen Hand ein paar kleine Blätter. »Sag ihm, er soll kauen. Immer weiter

»Sie meint, du sollst die Blätter kauen. Sie werden dir helfen.«

Richard nickte und rollte sich beim Kauen vor Schmerzen auf die Seite. Kahlan kämmte ihm mit den Fingern die Haare nach hinten. Sie kam sich hilflos vor und hätte gern mehr für ihn getan. Es machte ihr angst mitanzusehen, wie er sich quälte.

Nissel schüttete eine Flüssigkeit aus einem Schlauch in eine große Tasse und mischte Pulver aus anderen Gefäßen hinein. Zusammen mit Kahlan half sie Richard, sich aufzusetzen, damit er das Gebräu trinken konnte. Als er fertig war, ließ er sich wieder schwer atmend nach hinten sinken, kaute jedoch wenigstens die Blätter.

Nissel erhob sich. »Der Trank wird ihm helfen zu schlafen.« Kahlan kam auf die Beine, und Nissel reichte ihr einen kleinen Beutel. »Gib ihm noch mehr von diesen Blättern zu kauen, wenn er sie braucht. Sie werden gegen die Schmerzen helfen

Kahlan beugte sich ein wenig nach unten, damit sie die alte Frau nicht gar so sehr überragte. »Nissel, hast du eine Ahnung, was mit ihm nicht stimmt?«

Nissel zog den Stöpsel aus der kleinen Flasche und roch daran, dann hielt sie sie Kahlan unter die Nase. Es roch nach Lilien und Lakritz. »Die Seele«, sagte sie schlicht.

»Die Seele? Was willst du damit sagen?«

»Die Seele ist krank. Nicht das Blut, nicht seine Haltung. Sondern seine Seele

Kahlan hatte keine Ahnung, was all das bedeutete, aber so genau wollte sie das auch gar nicht wissen. »Wird er wieder gesund werden? Werden die Medizin und die Blätter ihn wirklich kurieren?«

Nissel tätschelte lächelnd Kahlans Arm. »Sonst könnte ich doch nicht mit euch Hochzeit feiern. Ich werde nicht aufgeben. Wenn dies nicht funktioniert, gibt es noch andere Mittel, die man versuchen kann

Kahlan faßte sie am Arm und begleitete sie zur Tür hinaus. »Danke, Nissel.« Kahlan sah Chandalen neben der niedrigen Mauer stehen. Ein Stück weiter in der Dunkelheit standen einige seiner Männer. Prindin lehnte ganz in der Nähe an der Wand des Hauses der Seelen. Sie ging zu ihm. »Würdest du Nissel nach Hause bringen, bitte?«

»Natürlich.« Er ergriff voller Respekt den Arm der Heilerin und führte sie hinaus in die Nacht.

Kahlan wechselte einen langen Blick mit Chandalen, dann ging sie zu ihm hinüber. »Ich weiß zu schätzen, daß du und deine Männer mich beschützen. Danke

Er sah sie ohne innere Regung an. »Ich stehe hier nicht für dich Wache. Ich beschütze unser Volk vor dir. Vor dem, was du uns als nächstes bescheren wirst

Kahlan wischte sich den Staub von den Schultern. »Wie auch immer, wenn noch etwas auftaucht, versucht nicht, es selbst umzubringen. Ich möchte nicht, daß jemand aus dem Volk der Schlammenschen umkommt. Das gilt auch für dich. Wenn irgend etwas kommt, dürft ihr weder still stehenbleiben noch wegrennen. Wenn ihr es tut, wird es euch töten. Ihr müßt langsam gehen. Und mich holen kommen. Versucht nicht, es selbst zu bekämpfen. Hast du das verstanden? Kommt mich holen

Er zeigte noch immer keine Regung. »Und du wirst wieder einen Blitz herbeirufen?«

Sie sah ihn kühl an. »Wenn ich muß.« Sie fragte sich, ob sie wohl dazu in der Lage war. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es angestellt hatte. »Richard mit dem Zorn geht es nicht gut. Möglicherweise kann er morgen mit dir und deinen Leuten keine Pfeile schießen

Er setzte eine selbstgerechte Miene auf. »Ich dachte mir schon, daß er sich irgendeine Ausrede einfallen lassen würde

Kahlan holte durch die zusammengebissenen Zähne tief Luft. Sie hatte nicht die Absicht, sich mit diesem Narren Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Sie wollte wieder ins Haus, zu Richard. »Gute Nacht, Chandalen

Richard lag noch immer auf dem Rücken und kaute die Blätter. Sie setzte sich neben ihn und faßte neuen Mut, als sie sah, daß er munterer wirkte.

»Diese Dinger fangen an zu schmecken.«

Kahlan strich ihm über die Stirn. »Wie fühlst du dich?«

»Ein wenig besser. Die Schmerzen kommen und gehen. Ich glaube, die Blätter helfen etwas. Abgesehen davon, daß sich mir der Kopf von ihnen dreht.«

»Aber das Drehen ist besser als das Pochen?«

»Ja.« Er legte ihr die Hand auf den Arm und schloß die Augen. »Mit wem hast du gerade gesprochen?«

»Mit diesem Narren, Chandalen. Er bewacht das Haus der Seelen. Er glaubt, wir bringen ihnen noch mehr Ärger.«

»Vielleicht ist er gar nicht so ein Narr. Ich glaube, ohne uns wäre dieses Wesen hier nicht aufgetaucht. Wie hast du es genannt?«

»Screeling.«

»Und was ist ein Screeling?«

»Das weiß ich nicht genau. Niemand, den ich kenne, hat je einen gesehen, aber ich habe Beschreibungen gehört. Angeblich stammen sie aus der Unterwelt.«

Richard hörte auf zu kauen, riß die Augen auf und sah sie an. »Aus der Unterwelt? Was weißt du über diesen Screeling?«

»Nicht viel.« Sie legte die Stirn in Falten. »Hast du Zedd jemals betrunken gesehen?«

»Zedd? Nein, nie. Er mag keinen Wein. Seiner Ansicht nach verträgt sich Wein nicht mit Nachdenken, und etwas Wichtigeres als Nachdenken gibt es für ihn nicht.« Richard mußte grinsen. »Er behauptet, je schlechter ein Mann beim Denken ist, desto besser ist er beim Trinken.«

»Nun ja, Zauberer können recht beängstigend werden, wenn sie betrunken sind. Einmal, als ich klein war, saß ich im Burgfried und studierte meine Sprachen. Dort gibt es Bücher über alle Sprachen. Wie auch immer, ich saß da und lernte, und vier der Zauberer lasen zusammen ein Buch mit Prophezeiungen. Ein Buch, das ich nie zuvor gesehen hatte. Sie saßen darübergebeugt und wurden immer aufgeregter. Sie unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Ich konnte sehen, daß sie es mit der Angst zu tun bekommen hatten. Es war entschieden interessanter, die Zauberer zu beobachten, als meine Sprachbücher zu lesen.

Ich schaute auf, und sie alle waren blaß wie Schnee geworden. Plötzlich richteten sie sich alle senkrecht auf und klappten den Buchdeckel zu. Ich erinnere mich noch, wie es geknallt hat und ich aufsprang. Sie standen da und schwiegen eine Weile, dann ging einer von ihnen und kam mit einer Flasche zurück. Ohne ein Wort zu sagen, verteilte er Becher und schenkte ein. Sie stürzten es in einem Zug hinunter. Er schenkte nach, und die Prozedur wiederholte sich. Sie setzten sich auf Hocker um den Tisch, auf dem das große Buch lag, und tranken, bis die Flasche leer war. Mittlerweile waren sie ziemlich gut gelaunt. Und betrunken. Sie lachten und sangen. Ich fand das ungeheuer interessant. Ich hatte so etwas noch nicht gesehen.

Schließlich bemerkten sie, daß ich sie beobachtete, und riefen mich zu sich. Ich wollte eigentlich nicht, aber es waren schließlich Zauberer, und ich kannte sie recht gut, also hatte ich keine Angst und ging zu ihnen. Einer von ihnen setzte mich auf sein Knie und fragte mich, ob ich mitsingen wolle. Ich sagte, ich würde das Lied nicht kennen, das sie sangen. Sie sahen sich an und meinten, dann brächten sie es mir eben bei. Also saßen wir lange da, und sie brachten mir das Lied bei.«

»Dann kannst du es noch immer auswendig?«

Kahlan nickte. »Ich habe dieses Lied niemals vergessen.« Sie setzte sich ein wenig zurecht, dann sang sie es ihm vor.


Die Screelings sind los, denn der Hüter will siegen.

Seine meuchelnden Mörder werden dich kriegen.

Ihre goldenen Augen erspähn dich, willst du sie fliehen,

und dann werden sie lachen und die Haut dir abziehen.


Geh langsam, ganz langsam, so kannst du sie meiden,

wenn nicht, wirst du schreckliche Qualen erleiden.

Denn ihre goldenen Augen erspähn dich, bleibst du stehen,

und im Dienste des Hüters lassen sie’s schlecht dir ergehen.


Zerhack sie, zerschneid sie, schlag sie in Stücke,

sonst holen sie dich mit großem Entzücken.

Wenn die Screelings es nicht schaffen, wird’s der Hüter wohl machen,

wird nach dir langen und dich lauthals auslachen.


Deinen Verstand wird er rauben, deine Seele zerschlagen.

Bei den Toten wirst du hausen, dem Leben entsagen.

Und dann bleibst du beim Hüter bis zum Ende der Zeit,

weil er das Leben haßt, für jetzt und für alle Ewigkeit.


Die Screelings kriegen dich, so steht es geschrieben.

Und wenn nicht die Screelings, ist noch der Hüter geblieben.

Nur einer, ein einziger Kiesel von vielen im Teich,

nur der Auserwählte kann bezwingen des Hüters Reich.


Richard starrte sie an, als sie fertig war. »Ziemlich schauerliches Lied für ein kleines Kind.« Schließlich kaute er weiter auf seinen Blättern herum.

Kahlan stieß einen Seufzer aus und nickte. »In jener Nacht hatte ich fürchterliche Alpträume. Meine Mutter kam in mein Zimmer und setzte sich an mein Bett. Sie nahm mich in den Arm und fragte mich, wovon ich so schlimm geträumt hätte. Ich sang ihr das Lied vor, das mir die Zauberer beigebracht hatten. Daraufhin legte sie sich zu mir und blieb die ganze Nacht.

Am nächsten Tag suchte sie die Zauberer auf. Ich habe nie erfahren, was sie ihnen getan oder gesagt hat, aber in den nächsten Monaten machten sie immer sofort kehrt, wenn sie mich sahen, und verschwanden eilig in die entgegengesetzte Richtung. Und eine ganze Zeitlang gingen sie mir aus dem Weg, als sei ich der Tod persönlich.«

Richard nahm das nächste Blatt aus dem kleinen Beutel und steckte es in den Mund. »Die Screelings werden vom Hüter ausgesandt? Dem Hüter der Unterwelt?«

»So heißt es in dem Lied. Es ist bestimmt die Wahrheit. Wie könnte irgend etwas aus dieser Welt so viele Pfeile einstecken und dabei lachen?«

Richard dachte einen Augenblick lang schweigend nach. »Was bedeutet dieser ›Kiesel im Teich‹?«

Kahlan zuckte mit den Achseln. »Ich hatte damals noch nie etwas davon gehört — bis heute nicht.«

»Und diese blauen Blitze? Wie hast du das gemacht?«

»Das hat irgend etwas mit dem Con Dar zu tun. Ich habe es schon einmal gemacht, als er mich überkam.« Sie mußte tief durchatmen, als sie daran dachte. »Als ich dachte, du wärst tot. Ich hatte den Con Dar nie zuvor gespürt, aber jetzt fühle ich ihn die ganze Zeit, genau wie die Zauberkräfte des Konfessors. Auf gewisse Weise ist beides miteinander verbunden. Ich muß es mir irgendwie ins Bewußtsein gerufen haben. Ich glaube, das war es, wovor Adie mich gewarnt hat, damals, als wir bei ihr waren. Ich weiß nicht, wie ich es gemacht habe, Richard.«

Richard lächelte. »Du erstaunst mich immer wieder. Wenn ich gerade herausgefunden hätte, daß ich Blitze herbeibefehlen kann, würde ich bestimmt nicht so ruhig hier sitzen.«

»Denk immer daran, zu was ich imstande bin«, warnte sie ihn, »sollte dir irgendein hübsches Mädchen je schöne Augen machen.«

Er ergriff ihre Hand. »Es gibt keine anderen hübschen Mädchen.«

Sie kämmte ihm mit den Fingern durchs Haar. »Kann ich irgend etwas für dich tun?«

»Ja«, sagte er leise. »Leg dich neben mich. Ich möchte dich in meiner Nähe haben. Ich habe Angst, nicht mehr aufzuwachen, und ich möchte ganz nah bei dir sein.«

»Du wirst bestimmt aufwachen«, versprach sie ihm fröhlich.

Sie holte eine weitere Decke und legte sie über ihn und sich. Dann schmiegte sie sich ganz dicht bei ihm an, legte ihren Kopf auf seine Schulter und einen Arm über seine Brust und versuchte, sich von dem, was er gerade gesagt hatte, nicht beunruhigen zu lassen.

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