Der Wind riß an ihr, zerrte an ihren Kleidern und ließ den Saum flattern. Nach dem Durcheinander gestern war Kahlan froh, daß sie wenigstens daran gedacht hatte, sich das Haar zurückzubinden. Sie klammerte sich an Richard, als ginge es ums nackte Überleben, preßte ihre Wange an seinen Rücken und hielt die Augen fest geschlossen.
Da war es wieder — dieses dumpfe Gefühl der Schwere, bei dem sich ihr der Magen umdrehte. Sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Sie hatte Angst, die Augen aufzumachen, sie wußte, was geschah, wenn sie sich, wie jetzt, schwer fühlte. Richard rief nach hinten, sie solle die Augen aufmachen.
Sie öffnete sie einen Spaltbreit und linste durch zwei schmale Schlitze. Wie sie vermutet hatte, war die Welt in einem Wahnsinnswinkel zur Seite gekippt. Ihr drehte sich der Kopf, ihr wurde übel. Wieso mußte der Drache sich jedesmal so weit in die Kurve legen? Sie spürte, wie sie gegen die roten Schuppen gedrückt wurde. Wieso sie nicht herunterfiel, war ihr ein Rätsel.
Richard hatte ihr erklärt, er sei dahintergekommen, daß es fast dasselbe war, wenn man einen Eimer Wasser rund um den eigenen Kopf schwenkte, ohne daß das Wasser hinauslief. Sie hatte nie einen Eimer Wasser um ihren Kopf geschwenkt und war daher nicht völlig sicher, ob er in diesem Punkt die Wahrheit sagte. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick nach unten auf die Erde und sah, worauf Richard zeigte — das Dorf der Schlammenschen.
Siddin kreischte vor Vergnügen auf seinem Platz in Richards Schoß, als Scarlet mit ihren riesigen, ledrigen Schwingen die Luft einfing und einen engen Kreis zog. Als der Rote Drache auf die Erde zustürzte, schien sich Kahlans Magen bis zum Hals hochzudrücken.
Wie die anderen daran Gefallen finden konnten, war ihr ein Rätsel. Die hatten tatsächlich Spaß daran! Die Arme in die Luft gereckt, lachten sie vor Vergnügen und führten sich auf wie kleine Jungs. Nun, einer von beiden war ein kleiner Junge und hatte wohl das Recht dazu.
Plötzlich mußte sie grinsen und fing selber an zu lachen. Nicht, weil sie einen Drachen flog, sondern weil sie sah, wie glücklich Richard war. Sie würde jeden Tag auf einem Drachen fliegen, nur um ihn so glücklich lachen zu sehen. Sie richtete sich auf und küßte ihn in den Nacken. Er griff nach hinten und strich ihr zärtlich über die Beine. Sie klammerte sich ein wenig fester an ihn und hätte fast vergessen, wie schlecht ihr war.
Richard rief Scarlet vorn zu, sie solle auf dem freien Feld mitten im Dorf landen. Die Sonne ging gerade unter, so daß die hellbraun getünchten Lehmgebäude deutlich im schräg einfallenden Licht hervortraten. Kahlan konnte den süßlichen Rauch der Feuerstellen riechen. Lange Schatten jagten den Menschen hinterher, die sich rennend in Sicherheit brachten. Frauen ließen ihre Kochstellen im Stich und Männer ihre Waffenschmieden. Alles rief und brüllte durcheinander.
Hoffentlich fürchteten sie sich nicht allzusehr. Als Scarlet das letzte Mal hierhergekommen war, hatte sie Darken Rahl getragen, der Richard hier gesucht, nicht gefunden und daraufhin mehrere Menschen getötet hatte. Diese Menschen wußten nicht, daß Rahl erst Scarlets Ei gestohlen und sie dann gezwungen hatte, ihn zu fliegen. Natürlich hielte hier jeder einen roten Drachen auch ohne Darken Rahl auf seinem Rücken für eine tödliche Bedrohung. Sie wäre selbst bei diesem Anblick um ihr Leben gerannt. Die roten Drachen waren die furchteinflößendsten ihrer Art, und beim Anblick eines Roten würde man ihn entweder zu töten versuchen oder um sein Leben rennen.
Das heißt, niemand außer Richard. Wer außer Richard käme auf die Idee, sich mit einem anzufreunden? Er hatte sein Leben riskiert, um Scarlets Ei Rahls Zugriff zu entreißen, damit sie ihm half, und hatte dabei eine Freundin fürs Leben gewonnen — auch wenn Scarlet immer noch die Absicht bekundete, ihn eines Tages aufzufressen. Kahlan nahm an, daß es sich um einen Scherz zwischen den beiden handelte, da Richard jedesmal lachte, wenn Scarlet dies erwähnte. Ganz sicher war sie nicht. Kahlan blickte nach unten ins Dorf und hoffte, die Jäger würden nicht auf die Idee kommen, Giftpfeile abzufeuern, bevor sie sahen, wer auf dem roten Drachen ritt.
Plötzlich entdeckte Siddin sein Zuhause. Er zeigte aufgeregt darauf und plapperte Richard in der Sprache der Schlammenschen die Ohren voll. Richard verstand kein einziges Wort, lächelte aber, nickte und strich Siddin durchs Haar. Die beiden klammerten sich an Scarlets Rückendornen, als sie den steilen Sinkflug abbremste. Staub stieg ringsum in die Höhe, aufgewirbelt von Scarlets riesigen, ledrigen Flügeln, als sie auf dem Boden niederging.
Richard schnappte sich Siddin und hob sich den kleinen Jungen auf die breiten Schultern, dann richtete er sich auf. Die steife, kalte Brise verwehte den Staub, und man sah einen ungleichmäßigen Ring aus Jägern mit gezücktem Bogen, deren vergiftete Pfeile auf die drei gerichtet waren. Kahlan hielt den Atem an.
Siddin fuchtelte strahlend mit beiden Händen über seinem Kopf herum, wie Richard es ihm geraten hatte. Scarlet hielt den Kopf gesenkt, damit die Schlammenschen deutlich erkennen konnten, wer auf ihr ritt. Die erstaunten Jäger senkten langsam die Bögen. Kahlan atmete auf, als sie sah, wie die Spannung aus den Bogensehnen wich.
Eine Gestalt in Wildlederhose und ebensolcher Jacke trat durch den Ring der Jäger. Sein langes, silbriges Haar hing ihm breit auf die Schultern herab. Der Vogelmann. Der Schreck stand ihm ins sonnengegerbte Gesicht geschrieben.
»Ich bin es, Richard! Ich bin zurück! Dank eurer Hilfe haben wir Darken Rahl besiegt. Außerdem bringen wir Savidlins und Weselans Sohn zurück.«
Der Vogelmann sah Kahlan an, während sie übersetzte. Ein strahlendes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Wir heißen euch beide bei unserem Volk mit offenen Armen willkommen.«
Frauen und Kinder scharten sich jetzt hinter dem Ring der Jäger zusammen. Dunkles, mit Schlamm geglättetes Haar umrahmte die Gesichter. Scarlet ließ ihren massigen Körper auf den Boden herab. Richard glitt von ihrer Schulter und landete mit dumpfem Aufprall auf seinen Stiefeln. Er hielt Siddin mit einer Hand fest, während er Kahlan mit der anderen herunterhalf. Und diese war froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Weselan drängte sich durch die Menschenmenge und rannte, dicht gefolgt von Savidlin, auf sie zu. Sie rief den Namen ihres Sohnes. Siddin streckte ihr freudig die Hände entgegen und sprang ihr geradezu in die Arme. Weselan wußte nicht, ob sie weinen oder lachen sollte, während sie versuchte, ihren Sohn, Richard und Kahlan gleichzeitig zu umarmen. Savidlin strich seinem Jungen über den Rücken und sah sie und Richard mit feuchten Augen an.
»Er war tapfer wie ein Jäger«, erklärte Kahlan ihm.
Er nickte einmal entschlossen, voller Stolz. Dann musterte er sie einen Augenblick lang, trat näher und verpaßte ihr einen leichten Klaps. »Kraft dem Konfessor Kahlan.«
Kahlan erwiderte Klaps und Begrüßung, dann schlang er die Arme um sie und drückte sie lange und fest an sich. Als er damit fertig war, zog er das Kojotenfell des Ältesten auf seinen Schultern zurecht und sah Richard an. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Und dann verpaßte er Richard einen deftigen Schlag ans Kinn, zum Zeichen seines von ganzem Herzen kommenden Respekts vor Richards Kraft.
»Kraft dem Richard mit dem Zorn.«
Kahlan wäre es lieber gewesen, er hätte es nicht getan. Sie sah Richards Augen an, daß er Kopfschmerzen hatte. Seit gestern schon. Sie hatte gehofft, nach einer gut durchschlafenen Nacht in Scarlets Höhle würden sie besser werden. Siddin hatte mit den kleinen roten Drachen gespielt, bis er todmüde war, dann hatte er sich zwischen sie gekuschelt und war eingeschlafen.
Sie hatte seit Tagen keine Ruhe gefunden und hatte geglaubt, ohne Mühe einschlafen zu können. Doch dann hatte sie die Augen nicht von Richard wenden können. Schließlich hatte sie den Kopf an seine Schulter gelegt, mit beiden Händen die seine ergriffen und war lächelnd eingeschlafen. Sie alle hatten die Ruhepause nötig gehabt. Böse Träume hatten Richard mehrmals in kalten Schweiß gebadet aus dem Schlaf gerissen, und obwohl er nichts davon erwähnte, hatte sie seinen Augen angesehen, daß ihn die Kopfschmerzen noch immer quälten. Richard ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken und erwiderte Savidlins Schlag mit gleicher Wucht.
»Kraft dem Savidlin, meinem Freund.«
Nach der offiziellen Begrüßung und dem Schutz für alle Seelen lief Savidlin grinsend umher und schlug jedem auf den Rücken. Nachdem sie auch den Vogelmann begrüßt hatten, wandte Richard sich an die Menschenmenge.
»Diese tapfere und edle Drachendame, Scarlet«, rief er mit lauter Stimme, damit ihn alle hören konnten, auch wenn sie die Worte nicht verstanden, »hat mir geholfen, Darken Rahl zu töten und unsere Ermordeten zu rächen. Sie hat uns hergebracht, und so konnte Siddin zurückkehren, und seine Eltern müssen nicht noch eine weitere Nacht um ihn fürchten. Sie ist meine Freundin und eine Freundin der Schlammenschen.«
Alles reagierte verblüfft, als Kahlan übersetzte. Schließlich warfen sich auch die Jäger stolz in die Brust, als sie hörten, daß ein Feind der Schlammenschen von einem der ihren getötet worden war — wenn dieser auch nur zu einem der ihren erklärt und nicht als solcher geboren worden war. Die Schlammenschen respektierten Stärke, und ein Zeichen von Stärke war es für sie, wenn man jemanden tötete, der ihrem Volk Schaden zugefügt hatte.
Scarlet senkte den Kopf und zuckte mit den Ohren. Sie sah Richard aus einem ihrer gelben Augen finster an. »Von wegen Freund! Kein roter Drache ist der Freund von Menschen! Wir werden von allen gefürchtet!«
»Du bist meine Freundin.« Richard grinste. »Und ich bin ein Mensch.«
Scarlet schnaubte und hüllte ihn in eine Rauchwolke. »Pah! Irgendwann werde ich dich fressen.«
Richards Grinsen wurde breiter. Er zeigte auf den Vogelmann. »Siehst du diesen Mann dort? Er hat mir die Pfeife geschenkt, mit der ich dein Ei gerettet habe. Ohne diese Pfeife hätten die Gars dein Junges vielleicht aufgefressen.« Er strich ihr mit der Hand über ihre leuchtend rote Schnauze. »Und das wäre doch jammerschade gewesen.«
Scarlet legte den Kopf zur Seite und zwinkerte dem Vogelmann mit einem ihrer großen Augen zu. »Für einen anständigen Happen ist er wohl ein wenig mager.« Dann sah sie Richard wieder an, ein tiefes Lachen in der Kehle. »Das ganze Dorf zusammen würde keine vernünftige Mahlzeit abgeben. Kaum der Mühe wert.« Sie schob den Kopf noch dichter zu ihm hin. »Wenn das deine Freunde sind, Richard Cypher, dann sind es auch meine Freunde.«
»Scarlet, dieser hier heißt Vogelmann, weil er Geschöpfe liebt, die fliegen können.«
Scarlet machte ein erstauntes Gesicht. »Tatsächlich?« Sie schwenkte ihren Kopf dicht an den Vogelmann heran und musterte ihn aufs neue. Scarlets riesiger Schädel war jetzt so nah, daß einige, die dabeistanden, ein oder zwei Schritte zurückwichen. Der Vogelmann blieb standhaft. »Danke, Vogelmann, daß du Richard geholfen hast. Er hat mein Junges gerettet. Die Schlammenschen haben von mir nichts zu befürchten. Auf meine Ehre als Drache.«
Der Vogelmann sah Kahlan an, während sie übersetzte. Dann lächelte er Scarlet zu und wandte sich an sein Volk. »Es ist, wie Richard mit dem Zorn sagt. Dieser noble Drache, Scarlet, ist ein Freund der Schlammenschen, Es sei ihm erlaubt, auf unserem Land zu jagen, und wir werden ihm ebensowenig ein Leid zufügen wie er uns.«
Die Menge brach in Jubel aus. Man betrachtete es als Anerkennung der Stärke ihres Volkes, einen Drachen als Freund zu haben. Alles rief vor Aufregung durcheinander. Die Menschen warfen die Arme in die Luft und tanzten stampfend in kleinen Kreisen umeinander. Scarlet stimmte in das bunte Treiben ein, indem sie den Kopf in den Nacken warf und eine donnernde Feuersäule in den Himmel stieß. Der Jubel wurde lauter.
Schulter gelegt, mit beiden Händen die seine ergriffen und war lächelnd eingeschlafen. Sie alle hatten die Ruhepause nötig gehabt. Böse Träume hatten Richard mehrmals in kalten Schweiß gebadet aus dem Schlaf gerissen, und obwohl er nichts davon erwähnte, hatte sie seinen Augen angesehen, daß ihn die Kopfschmerzen noch immer quälten. Richard ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken und erwiderte Savidlins Schlag mit gleicher Wucht.
Kahlan bemerkte, daß Richard zur Seite blickte. Sie folgte der Richtung seines Blicks zu einer kleinen Gruppe Jäger, die beieinanderstanden. Von ihnen jubelte keiner. Dann erkannte sie den Anführer. Es war derselbe, der Richard vorgeworfen hatte, Ärger in das Dorf zu tragen — und der ihn für den Tod der Schlammenschen durch Darken Rahl verantwortlich gemacht hatte.
Inmitten des Jubels und des Gegröles winkte Richard Scarlet zu sich. Sie senkte den Kopf und hielt ihm das Ohr hin. Nachdem sie sich angehört hatte, was er zu sagen hatte, zog sie den Kopf zurück und sah ihn aus einem ihrer großen, gelben Augen an. Sie nickte.
Richard hielt die Pfeife aus geschnitztem Knochen vor sich hin, die an einem Lederband um seinen Hals hing, und wandte sich an den Vogelmann. »Du hast mir dies hier zum Geschenk gemacht und mir gesagt, es würde mir nichts nützen, weil ich immer nur alle Vögel auf einmal damit rufen kann. Dieses Geschenk hat geholfen, die Menschheit vor Darken Rahl zu retten. Es hat mir geholfen, Kahlan zu retten. Ich danke dir.«
Der Vogelmann strahlte, als er die Übersetzung hörte. Richard flüsterte Kahlan ins Ohr, er sei bald zurück, dann kletterte er an Scarlet hinauf.
»Verehrter Ältester, Scarlet und ich möchten dir ein kleines Geschenk machen. Wir möchten dich hinauf in die Lüfte mitnehmen, damit du sehen kannst, wo deine geliebten Vögel fliegen.« Er reichte dem Vogelmann die Hand.
Der Älteste hörte die Übersetzung und warf Scarlet einen abschätzenden Blick zu. Ihre kraftvoll roten Schuppen gleißten in der späten Nachmittagssonne, hoben und senkten sich bei jedem Atemzug wie Wellen. Ihr Schwanz reichte fast bis an die Schlammziegelhäuser auf der anderen Seite des Platzes heran. Der Drache breitete seine Flügel aus und räkelte sich faul. Der Vogelmann blickte Richard an, der ihm immer noch die Hand hinhielt. Ein Kleinjungenlächeln erhellte das Gesicht des Ältesten. Kahlan mußte lachen. Er ergriff Richards Arm und zog sich hoch.
Savidlin kam hinzu und stellte sich neben Kahlan, als der Drache in die Höhe stieg. Die Menschen jubelten vor Begeisterung, als sie sahen, wie der Drache ihren geehrten Ältesten in die Lüfte hob. Kahlan sah den Drachen nicht. Sie hatte nur für Richard Augen. Sie konnte den Vogelmann lachen hören, als Scarlet sie hoch hinauf und davontrug. Hoffentlich lachte der Vogelmann auch nach Scarlets erster Kurve noch.
Savidlin sah sie an. »Es gibt nicht viele wie Richard mit dem Zorn.«
Sie nickte lächelnd. Ihr Blick fiel auf die andere Seite des Weges und dort auf einen Mann, der weder jubelte noch einen glücklichen Eindruck machte. »Savidlin, wer ist dieser Mann?«
»Das ist Chandalen. Seiner Ansicht nach ist es Richards Schuld, daß Darken Rahl hierhergekommen ist und Menschen getötet hat.«
Ihr fiel das Erste Gesetz der Magie ein: Die Menschen sind bereit, alles zu glauben. »Wäre Richard nicht gewesen, würde Darken Rahl jetzt über uns alle herrschen — derselbe Darken Rahl, der diese Menschen getötet hat.«
Savidlin zuckte mit den Achseln. »Nicht jeder, der Augen im Kopf hat, kann sie auch benutzen. Erinnerst du dich noch an den Ältesten, der getötet wurde? An Toffalar? Das war sein Onkel.«
Sie nickte, war aber mit den Gedanken woanders. »Warte hier.«
Kahlan überquerte den freien Platz und zog dabei das Band aus ihrem Haar. Sie war immer noch benommen von der Erkenntnis, daß Richard sie liebte und ihre Magie ihm nichts anhaben konnte. Nie hatte sie sich vorstellen können, daß sie, ein Konfessor, jemals erfahren würde, was Liebe ist. Das widersprach allem, was man ihr beigebracht hatte. Am liebsten hätte sie Richard irgendwo hingebracht, wo sie ihn für sich allein hatte und bis ins Alter küssen und umarmen konnte.
Doch konnte sie nun unmöglich erlauben, daß dieser Mann, Chandalen, Richard irgendein Leid zufügte. Jetzt, da sie den Mann gefunden hatte, den sie liebte und mit dem sie wie durch Zauberei zusammenbleiben konnte, war sie nicht mehr gewillt, diese Errungenschaft durch irgend etwas gefährden zu lassen.
Allein der Gedanke, jemand könnte Richard etwas antun, brachte den Con Dar, den Blutrausch, in ihrem Inneren zum Kochen. Sie hatte zuvor nie etwas von dem Con Dar gehört, hatte nie gewußt, daß er ein Teil ihrer Zauberkräfte war — bis sie dachte, Richard sei getötet worden, und sie ihn selbst hervorgerufen hatte. Seitdem fühlte sie ihn in ihrem Innern, genau wie die übrigen Zauberkräfte des Konfessors auch.
Chandalen sah sie mit vor der Brust verschränkten Armen näher kommen. Seine Jäger standen hinter ihm, auf Speere gestützt, die mit dem Knauf im Boden steckten. Offensichtlich waren sie gerade von einer Jagd zurückgekehrt. Ihre schlanken Leiber waren noch mit klebrigem Schlamm beschmiert. Ihre Haltung war locker, trotzdem waren sie wachsam. Bögen waren über ihre Schultern geschlungen, an einer Seite ihres Gürtels hingen Köcher, lange Messer an der anderen. Einige der Männer waren blutbeschmiert. Zu Büscheln zusammengebundenes Gras an ihren Oberarmen und rings um ihre Köpfe sollte sie bei Bedarf in der grasbewachsenen Steppe ringsum unsichtbar machen. Kahlan blieb vor Chandalen stehen und sah ihm in die dunklen Augen.
Sie schlug zu. »Kraft dem Chandalen.«
Er löste seinen haßerfüllten Blick von ihr, drehte, immer noch mit verschränkten Armen, den Kopf und spuckte aus. Sein wilder Blick traf erneut den ihren. »Was willst du, Konfessor?«
Auf den schlammbeschmierten Gesichtern der Jäger erschien ein dünnes, angespanntes Lächeln. Das Land der Schlammenschen war vermutlich der einzige Ort, an dem es eine Beleidigung war, nicht geschlagen zu werden. »Richard mit dem Zorn hat mehr dafür geopfert, dein Volk vor Darken Rahl zu retten, als du dir vorstellen kannst. Wieso haßt du ihn?«
»Ihr beide habt Unruhe in mein Volk gebracht, und ihr werdet es wieder tun.«
»In unser Volk«, korrigierte sie ihn. Kahlan knöpfte die Manschette ihres Hemdes auf und schob den Ärmel bis zur Schulter hoch. Sie hielt ihm den Arm unter die Nase. »Toffalar hat mich mit dem Messer verletzt. Das hier ist die Narbe, die er beim Versuch, mich umzubringen, hinterlassen hat. Das war, bevor ich ihn getötet habe. Nicht danach. Er hat sich durch seinen Angriff auf mich selbst getötet. Ich hatte es nicht auf ihn abgesehen.«
Chandalen blickte ungerührt von der Narbe zu ihren Augen. »Mein Onkel war nie gut mit dem Messer. Schade.«
Kahlans Kiefermuskeln spannten sich. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Sie blickte ihm in die Augen und küßte ihre Fingerspitzen. Dann berührte sie mit den geküßten Fingern die Wange, wo sie ihn geschlagen hatte. Unter den Jägern brach ein zorniges Getuschel aus, sie rissen ihre Speere aus dem Boden. Chandalens Gesicht verzog sich zu einer haßerfüllten, wütenden Grimasse.
Es war die schlimmste Beleidigung für einen Jäger. Er hatte sich unhöflich und kränkend verhalten, indem er sie nicht geschlagen hatte. Damit war nicht gesagt, daß er ihre Stärke nicht respektierte, lediglich, daß er dies nicht zu zeigen wünschte. Durch einen Kuß auf jene Stelle, wo sie ihn zum Zeichen des Respekts geschlagen hatte, hatte sie jedoch ihren Respekt für seine Stärke zurückgenommen. Die Berührung durch den Kuß besagte, daß sie keinen Respekt vor seiner Stärke hatte und in ihm nicht mehr als ein törichtes Kind sah. Sie hatte praktisch in aller Öffentlichkeit auf seine Ehre gespuckt.
Das war zwar gefährlich, doch als noch gefährlicher galt es unter den Schlammenschen, einem Feind gegenüber Schwäche zu zeigen. Ebensogut hätte man darum bitten können, im Schlaf ermordet zu werden. Das Zeigen von Schwäche nahm einem das Recht, einem Widersacher offen gegenüberzutreten. Die Ehre verlangte, daß man seine Stärke öffentlich in Frage stellte. Sie hatte dies getan, von daher verlangte der Ehrenkodex, daß jede Herausforderung seinerseits auf gleiche Weise geschehen müsse.
»Von jetzt an«, sagte sie, »wirst du dir meinen Respekt verdienen müssen, wenn du ihn willst.«
Chandalen riß seine Faust bis zum Ohr zurück, bereit zuzuschlagen.
Kahlan hielt ihm das Kinn hin. »Sieh an. Du hast dich also entschieden, Respekt vor meiner Stärke zu bekunden?«
Sein wütender Blick fiel auf etwas hinter ihr. Seine Jäger fuhren zusammen und bohrten die Knaufe ihrer Speere widerstrebend in den Boden. Kahlan drehte sich um und erblickte ungefähr fünfzig Männer mit gespannten Bögen. Sämtliche Pfeile waren auf Chandalen und seine neun Männer gerichtet.
»Ach«, höhnte Chandalen, »du bist also gar nicht so stark. Du mußt andere bitten, daß sie dir den Rücken stärken?«
»Senkt eure Waffen«, rief sie den Männern hinter sich zu. »Niemand wird für mich seine Waffe gegen diese Männer hier erheben. Niemand. Das ist ausschließlich eine Sache zwischen mir und Chandalen.«
Widerstrebend senkten sich die Bögen, und die Pfeile fielen klappernd zurück in die Köcher.
Chandalen verschränkte erneut die Arme. »Du bist gar nicht so stark. Du versteckst dich sogar hinter dem Schwert des Suchers.«
Kahlan schlug ihm die Hand auf den Unterarm und packte kräftig zu. Chandalen erstarrte und riß die Augen auf. Es galt als unverhohlene Drohung, wenn ein Konfessor jemanden auf diese Weise mit der Hand berührte, und so hatte Chandalen es auch verstanden. Bei aller Verachtung für sie war er nicht so dumm, auch nur einen Muskel zu rühren. So schnell wie ihre Gedanken war er nicht, und das war alles, was sie brauchte.
Leise zischte sie ihn an: »Ich habe im vergangenen Jahr mehr Männer getötet, als du dich fälschlicherweise rühmst, in deinem gesamten Leben getötet zu haben. Solltest du jemals versuchen, Richard etwas anzutun, werde ich dich umbringen.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Selbst wenn du es wagen solltest, diesen Gedanken nur laut auszusprechen, und mir das zu Ohren kommt — werde ich dich umbringen.«
Sie ließ den Blick bewußt langsam über die Jäger schweifen und musterte sie. »Ich strecke jedem von euch meine Hand in Freundschaft entgegen. Erhebt sich aber eine Hand von euch mit einem Messer gegen mich, so werde ich den Betreffenden töten, wie ich Toffalar getötet habe. Ich bin die Mutter Konfessor — glaubt nicht, ich könnte das nicht. Oder würde es nicht tun.«
Sie hielt dem Blick jedes einzelnen Jägers stand, bis diese nickten — zum Zeichen, daß sie verstanden hatten. Schließlich traf ihr stechender Blick Chandalen. Ihr Griff wurde fester. Er schluckte. Endlich nickte auch er.
»Das ist eine Sache zwischen uns. Ich werde dem Vogelmann gegenüber nichts erwähnen.« Sie nahm die Hand von seinem Arm. In der Ferne kündigte ein Donnern die Rückkehr des Drachen an. »Wir stehen auf derselben Seite, Chandalen. Wir beide kämpfen für das Überleben der Schlammenschen. Diesen Teil von dir respektiere ich.«
Sie verpaßte ihm einen sehr sanften Schlag. Sie bot ihm jedoch weder Gelegenheit, ihn zu erwidern, noch ihr eine Antwort zu verweigern, und kehrte ihm statt dessen den Rücken zu. Der Schlag hatte ihm in den Augen seiner Männer einen kleinen Teil seiner Würde zurückgegeben, doch stünde er nun als Tor und Schwächling da, käme er auf die Idee, ihr einen Kampf aufzudrängen. Das Friedensangebot war zurückhaltend, aber es bewies, daß sie ehrenvoll handelte. Die Entscheidung, ob das gleiche auch für ihn galt, wollte sie seinen Männern überlassen. Eine Frau zu schikanieren galt nicht als ehrenvoll.
Andererseits war sie nicht irgendeine Frau, sie war ein Konfessor.
Kahlan stieß einen tiefen Seufzer aus, als sie zu Savidlin zurückkehrte und sich umdrehte, um dem Drachen bei der Landung zuzusehen. Neben ihm stand Weselan, die Siddin immer noch fest an sich drückte. Was Siddin anbetraf, schien er nichts weiter auf der Welt zu wollen, als von seiner Mutter in den Armen gewiegt zu werden. Kahlan schauderte innerlich bei dem Gedanken, was ihm alles hätte zustoßen können.
Savidlin drehte sich zu ihr um und meinte erstaunt: »Du würdest eine gute Älteste abgeben, Mutter Konfessor. Du könntest Lektionen in Ehrgefühl und Führerschaft erteilen.«
»Mir wäre es lieber, die Lektionen wären gar nicht notwendig.«
Savidlin gab ihr durch ein Brummen zu verstehen, daß er derselben Ansicht war. Staub, von Drachenflügeln aufgewirbelt, wehte heran, und der Wind bauschte ihr Gewand auf. Kahlan war damit beschäftigt, ihre Manschette zuzuknöpfen, als die beiden Männer von Scarlet herunterglitten.
Der Vogelmann war ein wenig grün im Gesicht, grinste aber von einem Ohr zum anderen. Er streichelte anerkennend über Scarlets rote Schuppen und strahlte das gelbe Auge an, das ihn musterte. Kahlan ging zu ihm, und der Vogelmann bat sie, eine Botschaft an Scarlet zu übersetzen.
Lächelnd hob sie den Kopf und betrachtete den großen Drachenkopf und die Ohren, die sich in diesem Augenblick in ihre Richtung drehten. »Der Vogelmann möchte dir sagen, daß dies eine der größten Ehren seines Lebens war. Er meint, du hättest ihm das Geschenk einer neuen Sichtweise gemacht. Er sagt, sollte von diesem Augenblick an dein Junges oder du selbst jemals Schutz benötigen, dann seist du in diesem Land sicher und willkommen.«
Scarlet setzte eine Art Drachengrinsen auf. »Danke, Vogelmann. Das freut mich.« Sie senkte den Kopf und wandte sich an Richard. »Ich muß jetzt aufbrechen. Mein Junges war lange genug allein und wird hungrig sein.«
Richard strich lächelnd über eine rote Schuppe. »Danke, Scarlet. Für alles. Danke, daß du uns dein Kleines gezeigt hast. Es ist noch hübscher als du. Paßt auf euch beide auf. Und bewahrt euch eure Freiheit.«
Scarlet riß ihren Kiefer auseinander und griff tief in ihren Schlund. Man hörte ein Knacken, und sie holte eine Zahnspitze hervor, die sie in ihren schwarzgespitzten Krallen hielt. Es war nur eine Spitze, aber gut zwanzig Zentimeter lang.
»Drachen besitzen Zauberkräfte«, erklärte sie ihm. »Öffne deine Hand.« Sie ließ die Zahnspitze in Richards Hand fallen. »Du hast offensichtlich den Bogen raus, wie man sich in Schwierigkeiten bringt. Bewahre dies sicher. Wenn du jemals in große Not gerätst, rufe mich damit, und ich werde kommen. Aber du mußt deiner Sache gewiß sein, denn es wirkt nur ein einziges Mal.«
»Aber wie kann ich dich damit rufen?«
Ihr Kopf kam schwebend näher. »Du besitzt die Gabe, Richard Cypher. Halte den Zahn einfach in der Hand und rufe mich. Ich werde es hören. Und vergiß nicht, nur in allergrößter Not.«
»Danke, Scarlet, aber ich besitze die Gabe nicht.«
Scarlet warf den Kopf in den Nacken und polterte vor Lachen. Der Boden bebte. Die Schuppen an ihrem Hals erzitterten. Indem ihr Lachanfall langsam verebbte, neigte sie den Kopf so, daß sie ihn aus einem ihrer gelben Augen ansehen konnte. »Wenn du die Gabe nicht besitzt, dann besitzt sie niemand. Bewahre dir die Freiheit, Richard Cypher.«
Alle aus dem Dorf verfolgten schweigend, wie der rote Drache am goldenen Himmel kleiner wurde. Richard legte den Arm um Kahlans Hüfte und zog sie ganz dicht an sich.
»Ich hoffe, das war das letzte Mal, daß ich mir diesen Unsinn anhören muß, ich hätte die Gabe«, murmelte er halb in sich hinein. »Ich habe dich aus der Luft beobachtet.« Er zeigte mit dem Kinn auf die andere Seite der unbebauten Fläche. »Möchtest du mir erzählen, um was es mit deinem Freund dort drüben ging?«
Chandalen gab sich alle Mühe, sie nicht anzusehen. »Nein. Es war nicht wichtig.«
»Werden wir denn nie allein sein?« fragte Kahlan mit scheuem Lächeln. »Nicht mehr lange, und ich werde dich vor all diesen Leuten küssen müssen.«
Die Dämmerung tauchte das improvisierte Fest in ein gemütliches Licht. Richard sah sich unter der grasbedachten Schutzhütte um und betrachtete die Ältesten in ihren Kojotenfellen. Sie lachten und schwatzten. Ihre Frauen und ein paar Kinder hatten sich zu der Gruppe gesellt. Leute warfen einen Blick in die Schutzhütte, um die beiden mit einem Lächeln willkommen zu heißen und sachte Schläge auszutauschen.
Gegenüber jagten kleine Kinder braune Hühner, die sich nichts lieber wünschten als ein ruhiges Plätzchen für die Nacht. Unter lautem Protestgegacker stoben die Hennen flatternd auseinander. Kahlan konnte nicht verstehen, wie es die Kinder aushielten, in dieser Kälte nackt herumzulaufen. Frauen in hellen Kleidern schleppten geflochtene Tabletts mit Tavabrot und glasierte Tonschüsseln mit gerösteten Paprika, Reiskuchen, langen gekochten Bohnen und gegrillten Fleischstücken heran.
»Glaubst du wirklich, sie werden uns von hier fortlassen, bevor wir ihnen die ganze Geschichte unseres großen Abenteuers erzählt haben?«
»Welches große Abenteuer? Ich weiß nur, daß ich die ganze Zeit über Todesangst hatte und mehr Schwierigkeiten, als mir lieb sein konnte.« Ihr Innerstes zog sich gequält zusammen, als sie daran dachte, wie sie erfahren hatte, daß er von einer Mord-Sith gefangengenommen worden war. »Und daß ich dich für tot gehalten habe.«
Er lächelte. »Wußtest du das nicht? Das macht das Abenteuer aus: daß man in Unannehmlichkeiten steckt.«
»Ich habe für den Rest meines Lebens Abenteuer genug gehabt.«
Richards graue Augen bekamen etwas Versonnenes. »Ich auch.«
Ihr Blick fiel auf den roten Lederstab, den Strafer, der an einer Goldkette um seinen Hals hing. Sie griff hinter sich und nahm ein Stück Käse von einer Platte. Ihr Gesicht fing an zu strahlen. Sie hielt ihm den Käse vor den Mund. »Vielleicht können wir einfach eine Geschichte erfinden, die sich anhört wie ein richtiges Abenteuer. Ein kurzes.«
»Von mir aus«, meinte er, dann biß er ein Stück von dem Käse ab, den sie ihm hinhielt.
Er spie den Käse augenblicklich wieder in seine Hand und zog ein säuerliches Gesicht. »Das ist ja grauenhaft!« flüsterte er.
»Wirklich?« Sie schnupperte an dem Stück, das sie noch immer in der Hand hielt. Sie nahm einen winzigen Bissen. »Also, ich mag keinen Käse, aber ich finde, er schmeckt nicht schlimmer als sonst auch. Ich glaube nicht, daß er schlecht ist.«
Er hatte das Gesicht noch immer verzogen. »Ich finde schon!«
Kahlan überlegte einen Augenblick lang, dann runzelte sie die Stirn. »Gestern, im Palast des Volkes, hast du den Käse auch nicht gemocht. Und Zedd meinte, er wäre vollkommen in Ordnung.«
»Vollkommen in Ordnung! Er hat grauenhaft geschmeckt! Ich sollte es wissen, schließlich mag ich Käse wirklich gern. Ich merke doch, ob Käse verdorben ist, wenn ich ihn esse.«
»Also ich kann Käse nicht ausstehen. Vielleicht übernimmst du einfach meine Angewohnheiten.«
Er rollte ein Stück geröstete Paprika in ein Stück Tavabrot und grinste. »Ich könnte mir ein schlimmeres Schicksal vorstellen.«
Sie erwiderte sein Lächeln und sah im selben Augenblick, wie sich zwei Jäger näherten. Sie richtete sich auf. Richard bemerkte ihre Reaktion und setzte sich ebenfalls auf. »Das sind zwei von Chandalens Männern. Ich habe keine Ahnung, was sie wollen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Sei ein guter Junge, ja? Vermeiden wir jedes Abenteuer.«
Ohne zu lächeln oder ihr zu antworten, drehte Richard sich um und sah die beiden näher kommen. Die Jäger blieben am Rand der Plattform stehen. Sie bohrten die Schäfte ihrer Speere fest in den Boden und stützten sich mit beiden Händen darauf. Die beiden schätzten sie mit leicht zusammengekniffenen Augen ab — und einem dünnen, schmallippigen Lächeln, das aber nicht völlig unfreundlich wirkte. Der am nächsten Stehende schob seinen Bogen ein wenig höher auf die Schulter, dann hielt er ihr die geöffnete Hand mit der Handfläche nach oben hin.
Sie betrachtete die Hand. Was das bedeutete, wußte sie — eine offen dargebotene Hand ohne Waffe. Sie hob den Kopf und blickte ihn verwirrt an. »Ist Chandalen damit einverstanden?«
»Wir sind Chandalens Männer, nicht seine Kinder.« Er hielt ihr die Hand noch immer hin.
Kahlan blickte einen Augenblick lang darauf, dann strich sie mit ihrer Hand darüber. Sein Lächeln wurde etwas breiter, dann versetzte er ihr einen leichten Klaps.
»Kraft dem Konfessor Kahlan. Ich bin Prindin. Das hier ist mein Bruder Tossidin.«
Sie gab Prindin einen Klaps und wünschte ihm Kraft. Jetzt hielt Tossidin ihr die geöffnete Hand hin. Sie strich auch über seine. Dann gab er ihr einen Klaps und fügte seinen Wunsch nach Kraft hinzu. Er lächelte freundlich, ganz wie sein Bruder. Von seiner Freundlichkeit überrascht, erwiderte sie seinen Klaps und seinen Wunsch. Kahlan warf Richard einen Blick zu. Die Brüder bemerkten dies und erboten auch ihm Klaps und Gruß.
»Wir wollten dir sagen, daß deine Rede heute voller Kraft und Ehre war«, meinte Prindin. »Chandalen ist ein schwieriger Mann und schwer zu berechnen, aber schlecht ist er nicht. Er macht sich große Sorgen um unser Volk und hat keinen anderen Wunsch, als es vor Schaden zu bewahren. Das ist unsere Aufgabe — unser Volk zu schützen.«
Kahlan nickte. »Richard und ich sind auch Schlammenschen.«
Die Brüder lächelten. »Das haben die Ältesten verkündet, und alle wissen es. Wir werden euch beide beschützen, genau wie jeden anderen aus unserem Volk.«
»Gilt das auch für Chandalen?«
Die beiden schmunzelten, gaben aber keine Antwort. Sie zogen ihre Speere aus der Erde und wollten gehen.
»Erklär ihnen, ich hätte gesagt, sie hätten sehr gute Bögen.«
Sie blickte zur Seite und sah, daß er die beiden beobachtete. Daraufhin teilte sie Prindin seine Worte mit.
Sie nickten freundlich lächelnd. »Wir können auch sehr gut damit umgehen.«
Richards ausdrucksloser Blick blieb auf die beiden Brüder geheftet. »Sag ihnen, ich finde, ihre Pfeile sind sehr gut gearbeitet. Frag sie, ob ich mir einen ansehen kann.«
Kahlan runzelte die Stirn, bevor sie für die Jäger übersetzte.
Die beiden Brüder strahlten vor Stolz. Prindin zog einen Pfeil aus seinem Köcher und reichte ihn Richard. Kahlan fiel auf, daß die Ältesten verstummt waren. Richard rollte den Pfeil zwischen seinen Fingern. Ohne sich seine Gefühle anmerken zu lassen, betrachtete er erst die Kerbe, dann drehte er ihn um und studierte die flache Spitze aus Metall.
Er gab den Pfeil zurück. »Sehr gute Arbeit.«
Während Prindin den Pfeil zurück in seinen Köcher steckte, erklärte Kahlan ihm, was Richard gesagt hatte. Er ließ die Hand ein Stück an seinem Speer nach oben gleiten und stützte sich leicht darauf. »Wenn du mit einem Bogen umgehen kannst, möchten wir dich einladen, uns morgen zu begleiten.«
Bevor sie übersetzen konnte, sprach Savidlin zu ihr. »Richard meinte damals, bei eurem ersten Besuch, er hätte seinen Bogen in Westland zurücklassen müssen und würde ihn vermissen. Als Überraschung habe ich einen für ihn angefertigt — zu eurer Rückkehr. Es ist ein Geschenk dafür, daß er mir beigebracht hat, wie man Dächer baut, die keinen Regen durchlassen. Er befindet sich in meinem Haus. Ich hatte vor, ihm den Bogen morgen zu schenken. Sag ihm das. Und sag ihm auch, wenn er einverstanden ist, würde ich gern einige meiner Jäger mitnehmen und ihn morgen begleiten.« Er lächelte. »Dann werden wir sehen, ob er ein so guter Schütze wie unsere Jäger ist.«
Die Brüder strahlten und nickten begeistert. Sie schienen sich, was den Ausgang des Wettstreits betraf, sehr sicher zu sein. Kahlan erklärte Richard, was Savidlin gesagt hatte.
Richard war überrascht. Was Savidlin getan hatte, schien ihn zu rühren. »Die Schlammenschen stellen mit die feinsten Bögen her, die ich je gesehen habe. Ich fühle mich geehrt, Savidlin.« Er mußte grinsen. »Jetzt können wir den beiden zeigen, wie man schießt.«
Die beiden lachten, als sie den letzten Teil der Übersetzung hörten. »Bis morgen also«, meinte Prindin schon im Gehen.
Richard blickte den beiden mit finsterer Miene nach.
»Was war das für eine Geschichte mit den Pfeilen?« fragte sie.
Schließlich sah er zu ihr hinüber. »Frag Savidlin, ob ich einen Blick auf seine Pfeile werfen dürfte, dann zeige ich dir, was ich meine.«
Savidlin reichte ihm den Köcher. Richard zog eine Handvoll Pfeile heraus und sortierte die mit einer dünnen, gehärteten Holzspitze aus. Kahlan wußte, daß sie vergiftet waren. Richard nahm einen Pfeil mit einer flachen Spitze aus Metall und steckte den Rest zurück.
Er reichte ihr den Pfeil. »Sag mir, was du siehst.«
Sie rollte ihn zwischen ihren Fingern, wie er es mit dem anderen gemacht hatte. Sie wußte nicht, was ihr das sagen sollte, daher betrachtete sie die Kerbe und die Spitze.
Sie zuckte mit den Achseln. »Sieht mir aus wie ein ganz gewöhnlicher Pfeil. Wie jeder andere auch.«
Richard lächelte. »Wie jeder andere?« Er zog einen Pfeil am eingekerbten Ende aus dem Köcher und hielt die schmale, runde Spitze in die Höhe, damit sie sie sehen konnte. Er zog eine Braue hoch. »Sieht er genauso aus wie dieser hier?«
»Eigentlich nicht. Diese Spitze ist klein, lang, dünn und rund. Der dagegen hat eine Spitze aus Metall. Er ist genau wie der, den Prindin hatte.«
Richard schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das ist er nicht.« Er steckte den Pfeil mit der Holzspitze zurück, nahm ihr den einen aus der Hand und hielt ihn ihr mit der Kerbe nach vorn hin. »Siehst du, hier? Wo die Sehne hineingreift? Man klemmt ihn so auf die Sehne, daß die Kerbe senkrecht steht. Sagt dir das irgend etwas?« Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Einige Pfeile haben spiralförmige Federn, damit die Pfeile rotieren. Manche Leute glauben, daß sie dadurch an Wucht gewinnen. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber darum geht es auch nicht. Die Pfeile der Schlammenschen sind mit geraden Federn versehen. Das stabilisiert ihren Flug. Sie treffen in der gleichen Stellung auf, in der sie abgeschossen werden.«
»Aber mir ist immer noch nicht klar, worin sich dieser Pfeil von Prindins unterscheidet.«
Richard drückte seinen Daumennagel in die Kerbe. »So paßt der Pfeil auf die Sehne. Mit der Kerbe von oben nach unten. Wenn der Pfeil im Bogen liegt und wenn er trifft, befindet er sich genau in dieser Stellung. Und jetzt wirf einen Blick auf die Spitze. Siehst du, daß sie auch senkrecht steht? Genau wie die Kerbe. Spitze und Sehne liegen in derselben Ebene. Savidlins Pfeile mit Metallspitze sind alle so.
Der Grund dafür ist, daß er die Metallspitzenpfeile für die Jagd auf große Tiere benutzt, Wildschweine und Hirsche. Die Rippenknochen verlaufen bei Tieren senkrecht, genau wie die Metallspitzen. Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß sie durch die Rippen dringen, ohne von ihnen aufgehalten zu werden.«
Er beugte sich ein wenig weiter zu ihr herüber. »Prindins Pfeile sind anders. Die Spitzen sind um neunzig Grad gedreht. Wenn seine Pfeile in der Kerbe liegen, ist die Spitze waagerecht. Seine Pfeile sind nicht dafür gemacht, zwischen den Rippen von Tieren hindurchzudringen. Die Spitzen liegen waagerecht, weil er etwas anderes jagt. Etwas, dessen Rippen waagerecht liegen. Menschen.«
Kahlan spürte, wie sie eine Gänsehaut an den Armen bekam. »Warum sollte er das tun?«
»Die Schlammenschen sind sehr darauf bedacht, ihr Land zu sichern. Es geschieht nicht oft, daß sie Fremde hereinlassen. Ich könnte mir denken, daß Chandalen und seine Männer die Grenzen gegen Übertritte schützen. Vermutlich sind sie die wildesten Jäger der Schlammenschen und die besten Schützen. Frag Savidlin, ob sie mit ihren Bögen umzugehen verstehen.«
Sie leitete die Frage weiter.
Savidlin schien amüsiert. »Keiner von uns kann Chandalens Männer schlagen. Selbst wenn Richard mit dem Zorn gut sein sollte, wird er verlieren. Doch sie sind darauf bedacht, uns nicht zu sehr zu erniedrigen. Sie sind gute Gewinner. Richard braucht sich keine Sorgen zu machen, der Tag wird ihm Freude bereiten. Sie werden ihm beibringen, besser zu schießen. Das ist auch der Grund, weshalb ich meine Männer mitnehmen möchte: Chandalens Männer zeigen uns immer, wie wir uns verbessern können. Wenn man gewinnt, der Beste ist, bedeutet das bei den Schlammmenschen, daß man Verantwortung für die Besiegten übernimmt. Man muß ihnen zeigen, wie sie sich verbessern können. Sag ihm, daß er unmöglich kneifen kann, jetzt, nachdem er die Herausforderung angenommen hat.«
»Ich war immer schon der Ansicht, daß es nicht schaden kann, dazu zulernen«, meinte Richard. »Ich werde nicht kneifen.«
Als sie Richards angespannten Blick sah, mußte sie grinsen, bis ihre Kiefermuskeln schmerzten. Richard drehte sich grinsend um, zog seinen Rucksack über den Dielenboden und holte einen Apfel heraus. Er schnitt den Apfel entzwei, entfernte das Kerngehäuse und reichte ihr die Hälfte.
Die Ältesten rutschten nervös hin und her. In den Midlands galten rote Früchte als giftig — sie waren das Ergebnis eines bösen Zaubers. Im Westland, woher Richard stammte, war das unbekannt. Dort konnte man rote Früchte, wie zum Beispiel Äpfel, essen. Sie hatten ihn bereits einmal einen Apfel essen sehen, als er sie mit einem Trick dazu gebracht hatte, keine Frau aus ihrem Dorf heiraten zu müssen. Damals hatte er sie überzeugt, durch den Genuß eines Apfels könnte sein Samen für seine Braut vergiftet werden. Doch auch diesmal schwitzten sie, als sie sahen, wie die beiden die Prozedur wiederholten.
»Was tust du?« fragte Kahlan ihn.
»Iß einfach deinen Apfel, und dann übersetze für mich.«
Als sie fertig waren, erhob sich Richard und gab ihr ein Zeichen, sich neben ihn zu stellen. »Verehrte Älteste, ich bin zurückgekehrt, nachdem ich die Bedrohung für Euer Volk abgewehrt habe. Jetzt, wo das vorüber ist, möchte ich Euch in einer Sache um Eure Erlaubnis bitten. Ich hoffe, ich habe Eure Wertschätzung verdient. Ich möchte Euch um Erlaubnis bitten, eine Frau aus dem Volk der Schlammenschen zur Frau nehmen zu dürfen. Wie Ihr seht, habe ich Kahlan beigebracht, diese Dinge so zu essen, wie ich es tue. Sie wird weder durch sie noch durch mich zu Schaden kommen, und desgleichen werde ich auch durch sie nicht zu Schaden kommen, obwohl sie ein Konfessor ist. Wir möchten Zusammensein und würden uns gern vor Eurem Volk trauen lassen.«
Kahlan saß ein dicker Kloß im Hals. Sie brachte die letzten Worte kaum heraus und konnte sich nur schwerlich beherrschen, nicht die Arme um ihn zu schlingen. Sie spürte, wie ihre Augen brannten und sich mit Tränen füllten, und mußte sich räuspern, bevor sie zu Ende sprechen konnte. Sie legte Richard den Arm um die Hüften und lehnte sich bei ihm an.
Die Ältesten strahlten überrascht. Der Vogelmann trug ein breites Grinsen im Gesicht. »Ich glaube, allmählich lernt ihr, was es heißt, Schlammmenschen zu sein«, sagte er. »Eine größere Freude als eure Heirat könnt ihr uns gar nicht machen.«
Richard wartete die Übersetzung gar nicht erst ab, sondern gab ihr einen Kuß, der ihr den Atem raubte. Die Ältesten und ihre Frauen klatschten Beifall.
Für Kahlan war es etwas ganz Besonderes, vor den Schlammenschen getraut zu werden. Kahlan fühlte sich hier zu Hause. Als sie das erste Mal hier gewesen waren und nach Hilfe im Kampf gegen Darken Rahl gesucht hatten, hatte Richard den Schlammenschen beigebracht, wie man Dächer baute, die kein Regenwasser durchließen. Sie waren Freunde geworden und hatten zusammen Kämpfe ausgefochten. Dabei hatten die beiden einen Bund mit diesen Menschen geschlossen. Als Anerkennung ihrer Opfer hatte der Vogelmann sie zu Schlammenschen gemacht.
Der Vogelmann erhob sich und nahm Kahlan väterlich in den Arm. Er war froh, daß sie endlich ihr Glück gefunden hatte. Sie weinte ein paar Tränen an seiner Schulter, während er sie in seinen kräftigen Armen hielt. Ihr Abenteuer, eine lange, schwere Prüfung, hatte sie aus den Tiefen der Qualen und der Verzweiflung zu den Höhen des Glücks hinaufgeführt. Der Kampf war gestern erst beendet worden. Kaum zu glauben, daß er endlich vorbei sein sollte.
Je länger das Fest andauerte, desto heftiger wünschte sich Kahlan sein baldiges Ende herbei, damit sie mit Richard allein sein konnte. Er war über einen Monat lang gefangen gewesen und hatte sie erst am Vortag wiedergetroffen. Sie hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Oder ihn auch nur richtig in die Arme zu schließen.
Kinder tanzten und sprangen um das kleine Feuer herum, während die Erwachsenen sich um die Fackeln scharten, aßen, sich unterhielten, lachten. Weselan hockte sich neben sie, drückte sie an sich und meinte, sie wolle ihr ein richtiges Hochzeitskleid nähen. Savidlin drückte ihr einen Kuß auf die Wange und gab Richard einen Klaps auf den Rücken. Es fiel ihr schwer, Richard nicht andauernd in die grauen Augen zu sehen. Am liebsten hätte sie ihn ständig angeschaut.
Die Jäger, die damals draußen in der Ebene dabeigewesen waren, als der Vogelmann Richard hatte beibringen wollen, mit der Spezialpfeife, die er ihm geschenkt hatte, bestimmte Vogelarten herbeizurufen, schlenderten an der Plattform der Ältesten vorbei. Damals hatte Richard nur einen einzigen Laut zustande gebracht, mit dem er sämtliche Vögel auf einmal rief, nicht aber die einzelnen Arten. Die Jäger hatten an jenem Tag nicht mehr aufgehört zu lachen.
Jetzt hörten sie zu, wie Savidlin Richard bat, die Pfeife herzuzeigen und noch einmal zu erzählen, wie er mit ihrer Hilfe all die Vögel herbeigerufen hatte, die in dem von Gars bewohnten Tal nisteten. Tausende hungriger Vögel hatten die Blutmücken der Gars gefressen und eine Panik erzeugt. In dem Durcheinander war es Richard gelungen, Scarlets Ei zu retten.
Der Vogelmann lachte, obwohl er die Geschichte mittlerweile schon dreimal gehört hatte. Savidlin schlug Richard vor Lachen auf den Rücken. Die Jäger lachten und schlugen sich auf die Schenkel. Richard lachte, als er sah, wie sie auf Kahlans Übersetzung reagierten.
Und Kahlan lachte, weil sie Richard lachen sah. »Ich glaube, die Geschichte gefällt ihnen.« Sie dachte darüber nach, dann runzelte sie die Stirn. »Wie hat es Scarlet eigentlich geschafft, dich nahe genug am Ei abzusetzen, ohne von den Gars gesehen zu werden?«
Richard drehte den Kopf fort und wurde eine Zeitlang still. »Sie hat mich im Tal auf der anderen Seite der Hügel rings um die Feuerstelle abgesetzt. Ich bin durch die Höhle gegangen.«
Er sah sie nicht an. Kahlan schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Und gab es in der Höhle tatsächlich ein Ungeheuer? Einen Shadrin?«
Er atmete tief durch und blickte über die unbebaute Fläche hinweg. »Allerdings. Und noch etwas anderes.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Er ergriff sie und küßte sie auf den Handrücken, immer noch in die Ferne blickend. »Ich dachte, ich müßte dort sterben, einsam und allein. Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen.« Dann schien er die Erinnerung abzuschütteln, stützte sich auf einen Ellbogen und sah sie mit seinem schiefen Lächeln an.
»Der Shadrin hat ein paar Narben hinterlassen, die noch nicht verheilt sind. Aber ich müßte meine Hosen ausziehen, wenn ich sie dir zeigen wollte.«
»Ach, wirklich?« Kahlan lachte derb. »Ich glaube, ich sollte besser einen Blick darauf werfen … um zu sehen, ob alles noch in Ordnung ist.«
Sie sah ihm tief in die Augen, und ganz plötzlich wurde ihr bewußt, daß die meisten Ältesten sie beobachteten. Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Sie schnappte sich einen Reiskuchen und nahm schnell einen Bissen, heilfroh darüber, daß die anderen ihre Worte nicht verstehen konnten. Hoffentlich wußte niemand den Blick in ihren Augen zu deuten. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie nicht darauf geachtet hatte, wo sie war. Richard setzte sich wieder auf. Kahlan beugte sich zu einer kleinen Schale mit gebratenen Rippchen hinüber, die dem Anschein nach vom Wildschwein stammten, und stellte sie ihm in den Schoß.
»Hier. Probier mal hiervon.«
Sie schaute zu einer Gruppe Frauen hinüber, hielt den Reiskuchen in die Höhe und lächelte. »Sie sind ausgezeichnet.« Die Frauen nickten zufrieden. Sie drehte sich wieder zu Richard um. Er starrte in die Schale mit dem Fleisch. Sein Gesicht war blaß.
»Nimm es fort«, sagte er leise.
Kahlan nahm ihm erstaunt die Schale aus dem Schoß und stellte sie hinter sich ab. Sie rutschte näher an ihn heran. »Richard, was ist denn?«
Er starrte immer noch in seinen Schoß, als wäre die Schale noch dort. »Ich weiß es nicht. Ich habe das Fleisch gesehen, dann habe ich es gerochen. Mir ist schlecht davon geworden. Es kam mir vor, als wäre es einfach nur ein totes Tier. Als würde ich ein totes Tier essen, das dort vor mir liegt. Wie kann man ein totes Tier verspeisen, das einfach nur so daliegt?«
Kahlan wußte nicht, was sie sagen sollte. Er sah gar nicht gut aus. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Man hat mir auch schon einmal Käse zu essen gegeben, als mir übel war. Ich habe alles wieder ausgespuckt. Die Leute dachten, es würde mir guttun, und gaben mir jeden Tag mehr davon zu essen. Und ich spie alles wieder aus, bis es mir besserging. Vielleicht ist es bei dir ähnlich, weil du diese Kopfschmerzen hast.«
»Vielleicht«, meinte er mit schwacher Stimme. »Ich war lange im Palast des Volkes. Dort ißt man kein Fleisch. Darken Rahl ißt — oder aß — kein Fleisch, also wurde im Palast keines aufgetischt. Vielleicht habe ich mich daran gewöhnt, kein Fleisch zu essen.«
Sie rieb ihm über den Rücken, während er seinen Kopf in die Hände nahm und sich mit den Fingern durch die Haare fuhr. Erst der Käse, jetzt das Fleisch. Seine Eßgewohnheiten wurden so merkwürdig wie die eines … Zauberers.
»Kahlan … es tut mir leid, aber ich muß irgendwohin, wo es ruhig ist. Mein Kopf tut wirklich weh.«
Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Seine Haut fühlte sich kalt und feucht an. Er sah aus, als könnte er jeden Augenblick zusammenklappen. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit.
Kahlan wandte sich an den Vogelmann. »Richard fühlt sich nicht gut. Er braucht ein wenig Ruhe. Ist das in Ordnung?«
Anfangs glaubte er zu wissen, weshalb sie fortwollten. Sein Lächeln verblaßte jedoch, als er ihr besorgtes Gesicht sah. »Bring ihn zum Haus der Seelen. Dort ist es ruhig. Niemand wird ihn dort behelligen. Hole Nissel, wenn du es für nötig hältst.« Zögernd kehrte sein Lächeln zurück. »Vielleicht hat er zuviel Zeit auf dem Drachen verbracht. Ich danke den Seelen, daß mein Fluggeschenk nur von kurzer Dauer war.«
Sie nickte, brachte es aber nicht fertig, groß zu lächeln. Sie verabschiedete sich schnell von den anderen und wünschte ihnen eine gute Nacht. Dann hob sie ihre beiden Rucksäcke vom Boden auf, faßte Richard unterm Arm und half ihm auf die Beine. Er hatte die Augen fest geschlossen und die Brauen vor Schmerzen zusammengezogen. Der Schmerz schien ein wenig nachzulassen. Er öffnete die Augen, atmete tief durch und marschierte mit ihr los über die unbebaute Fläche.
Die Schatten zwischen den Gebäuden waren tiefschwarz, doch der Mond schien und spendete ihnen genug Licht, um den Weg zu erkennen. Der Lärm des Festes hinter ihnen verklang, bis nur noch das leise Scharren von Richards Stiefeln auf dem trockenen Boden zu hören war.
Er richtete sich ein wenig auf. »Ich glaube, es hat schon nachgelassen.«
»Hast du oft Kopfschmerzen?«
Er lächelte sie im Schein des Mondes an. »Ich bin berühmt für meine Kopfschmerzen. Wie mir mein Vater erzählt hat, bekam meine Mutter immer dieselben Kopfschmerzen wie ich, so heftig, daß einem übel wird. Es ist, als hätte ich etwas in meinem Kopf, das herauswill.« Er nahm ihr seinen Rucksack ab und warf ihn über seine Schulter. »Diesmal ist es schlimmer als sonst.«
Sie traten aus den schmalen Gassen hinaus auf die weite, freie Fläche, die das Haus der Seelen umgab. Es stand allein im Mondschein, der von einem Ziegeldach zurückgeworfen wurde, bei dessen Konstruktion Richard dem Volk der Schlammenschen geholfen hatte. Aus dem Schornstein kräuselte sich Rauch.
Um die Ecke, neben der Tür, hockte eine Reihe Hühner auf einer niedrigen Mauer. Sie sahen interessiert zu, wie Kahlan die Tür für Richard aufzog, und erschraken leicht, als die Angeln quietschten. Als die beiden im Innern verschwanden, beruhigten sie sich wieder.
Richard ließ sich vor der Feuerstelle fallen. Kahlan holte eine Decke heraus, sagte ihm, er solle sich hinlegen, und schob ihm die zusammengefaltete Decke unter den Kopf. Er legte den Arm über die Augen, als sie sich mit gekreuzten Beinen neben ihn setzte.
Kahlan kam sich hilflos vor. »Ich denke, ich sollte Nissel holen gehen. Vielleicht kann eine Heilerin etwas für dich tun.«
Er schüttelte den Kopf. »Es wird schon gehen. Ich mußte nur fort von all diesem Lärm.« Er lächelte, den Arm immer noch über den Augen. »Ist dir jemals aufgefallen, was für schlechte Gäste wir sind? Jedesmal, wenn wir auf einer Feier sind, passiert irgend etwas.«
Kahlan dachte an die Zusammenkünfte zurück, die sie gemeinsam erlebt hatten. »Ich fürchte, du hast recht.« Sie strich ihm mit der Hand über die Brust. »Wahrscheinlich ist es das beste, wenn wir unter uns bleiben.«
Richard küßte ihre Hand. »Ich hätte nichts dagegen.«
Sie nahm seine große Hand in beide Hände, wollte seine Wärme spüren, während sie zusah, wie er sich ausruhte. Im Haus der Seelen war es bis auf das leise Knistern des Feuers totenstill. Sie lauschte seinem langsamen, gleichmäßigen Atem.
Nach einer Weile zog er seine Hand zurück und sah sie an. Der Schein des Feuers spiegelte sich in seinen Augen. Da lag etwas in seinem Gesicht, in seinen Augen; etwas, auf das ihr Verstand sie aufmerksam machte. Er sah aus wie jemand, dem sie einmal begegnet war, aber wer war es? Weit hinten in ihrer Erinnerung wurde ein Name geflüstert, den sie jedoch nicht recht verstand. Sie strich ihm die Haare aus der Stirn. Seine Haut fühlte sich nicht mehr ganz so kalt an.
Er setzte sich auf. »Mir ist gerade etwas eingefallen. Ich habe zwar die Ältesten um Erlaubnis gefragt, dich zu heiraten, aber nicht dich.«
Kahlan lächelte. »Stimmt, das hast du nicht.«
Plötzlich wirkte er verlegen und unsicher. Sein Blick schweifte umher. »Das war wirklich dumm von mir. Entschuldige. Das gehört sich nicht. Hoffentlich bist du nicht böse. Vermutlich bin ich nicht besonders geschickt in diesen Dingen. Es war das erste Mal.«
»Für mich auch.«
»Und wahrscheinlich ist dies auch nicht gerade der romantischste Ort für so etwas. Es hätte eine wunderschöne Gegend sein sollen.«
»Für mich ist der romantischste Ort der Welt da, wo du bist.«
»In deinen Augen sieht es bestimmt ziemlich albern aus, dir eine solche Frage zu stellen, während ich hier liege und Kopfschmerzen habe.«
»Wenn du mich nicht bald fragst, Richard Cypher«, sagte sie leise, »werde ich dich würgen, bis du es tust.«
Endlich trafen ihre Blicke sich, und er sah sie derart entschlossen an, daß es ihr fast den Atem raubte. »Kahlan Amnell, willst du mich heiraten?«
Zu ihrer eigenen Überraschung brachte sie kein Wort heraus. Sie schloß die Augen und küßte seine weichen Lippen, während eine Träne über ihre Wange rollte. Er schlang die Arme um sie und drückte sie fest gegen seinen heißen Körper. Als sie sich löste, war sie atemlos. Endlich fand sie die Stimme wieder. »Ja.« Sie küßte ihn noch einmal. »Ja, bitte.«
Kahlan legte ihm den Kopf auf die Schulter. Richard strich ihr sanft übers Haar, während sie seinem Atem und dem Knistern des Feuers lauschte. Er hielt sie zärtlich fest und gab ihr einen Kuß auf den Scheitel. Worte waren überflüssig. Sie fühlte sich in seinen Armen geborgen.
Kahlan ließ ihren Schmerzen freien Lauf: den Schmerzen, ihn mehr zu lieben als das Leben und dabei zu wissen, daß er bei den Mord-Sith Todesqualen erlitten hatte, bevor sie ihm sagen konnte, wie sehr sie ihn liebte; den Schmerzen, geglaubt zu haben, ihn nicht bekommen zu können, weil sie Konfessor war und ihre Kraft ihn zerstören könnte; der Qual, ihn so sehr zu brauchen und unkontrollierbar zu lieben.
Dann hatten sich ihre Qualen erschöpft, und an ihre Stelle trat die Freude darüber, was vor ihnen lag: ein ganzes Leben, das sie zusammen verbringen würden. Eine atemlose Aufregung ergriff von ihr Besitz. Sie klammerte sich an ihn, wollte mit ihm verschmelzen, eins mit ihm werden.
Kahlan lächelte. So würde die Ehe mit ihm sein: eins sein mit ihm, wie Zedd es ihr damals versprochen hatte — so, als hätte sie die andere Hälfte ihres Selbst gefunden.
Als sie endlich den Kopf hob, stand ihm eine Träne im Auge. Sie wischte sie ihm von der Wange, und er tat das gleiche bei ihr. Hoffentlich bedeuteten die Tränen, daß auch er seine Dämonen losgeworden war.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie.
Richard zog sie fest an sich. Mit den Fingern zeichnete er eine Spur über leichten Erhebungen ihres Rückgrats.
»Es ist wirklich frustrierend, daß es keine besseren Worte als ›Ich liebe dich‹ gibt«, sagte er. »Sie kommen mir so unzureichend vor für das, was ich für dich empfinde. Es tut mir leid, daß ich keine schöneren Worte habe, um dir das zu sagen.«
»Die Worte genügen mir vollkommen.«
»Also gut. Ich liebe dich, Kahlan. Tausendmal, millionenmal, ich hebe dich. Für ewig.«
Sie lauschte dem Knicken und Knistern des Feuers, seinem Herzschlag. Ihrem eigenen Herzschlag. Er wiegte sie sanft. Am liebsten wäre sie für immer in seinen Armen geblieben. Plötzlich erschien ihr die Welt wunderbar.
Richard faßte sie an den Schultern und schob sie ein Stück zurück, damit er sie richtig ansehen konnte. Ein bezauberndes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. »Ich kann gar nicht glauben, wie schön du bist. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schön ist wie du.« Er strich ihr mit der Hand übers Haar. »Ich bin so froh, daß ich dir damals nicht die Haare abgeschnitten habe. Du hast wundervolles Haar. Trag es nie anders.«
»Ich bin Konfessor, schon vergessen? Mein Haar ist das Symbol meiner Kraft. Außerdem kann ich es nicht selbst abschneiden. Das kann nur jemand anders.«
»Gut. Ich würde es niemals tun. Ich liebe dich so, wie du bist, mit deiner Kraft und allem anderen. Laß niemals zu, daß dir jemand die Haare abschneidet. Ich habe dein Haar seit jenem Tag im Wald von Kernland gemocht, als ich dich zum erstenmal gesehen habe.«
Lächelnd erinnerte sie sich an diesen Tag. Richard hatte ihr seine Hilfe bei der Flucht vor den Quadronen angeboten. Er hatte ihr das Leben gerettet. »Das scheint so lange her zu sein. Wirst du dieses Leben vermissen — als einfacher, sorgloser Waldführer?« Sie lächelte kokett. »Und als einsamer Mann?«
Richard mußte grinsen. »Die Einsamkeit vermissen? Nicht mit dir an meiner Seite. Und den Waldführerposten? Vielleicht ein wenig.« Er starrte ins Feuer. »Was auch immer geschieht, ich bin der wahre Sucher. Ich besitze das Schwert der Wahrheit und habe von daher all die Pflichten, die mit ihm verbunden sind, was immer sie sein mögen. Glaubst du, du kannst als Frau des Suchers glücklich werden?«
»Ich würde sogar in einem hohlen Baumstumpf glücklich werden, vorausgesetzt, du bist bei mir. Aber leider, Richard, bin ich noch immer die Mutter Konfessor. Auch ich habe Pflichten.«
»Nun, du hast mir erzählt, was es bedeutet, Konfessor zu sein — daß du jemanden nur mit deiner Kraft zu berühren brauchst, um alles zu zerstören, was er vorher war, und um es durch eine vollkommene magische Ergebenheit dir oder deinen Wünschen gegenüber zu ersetzen. Und daß du jemanden dadurch zwingen kannst, all seine Verbrechen zu gestehen oder überhaupt alles zu tun, was dir beliebt. Aber welche anderen Pflichten hast du noch?«
»Vermutlich habe ich dir nie von all den anderen Dingen erzählt, die es mit sich bringt, wenn man Mutter Konfessor ist. Es war nicht wichtig damals. Ich war überzeugt, daß wir niemals zusammenbleiben könnten. Ich dachte, wir würden sterben. Und selbst wenn es uns irgendwie gelingen würde, zu gewinnen, dachte ich, du müßtest zurück nach Westland und ich würde dich nie wiedersehen.«
»Du meinst jenen Teil, in dem es heißt, du seist mehr als eine Königin?«
Sie nickte. »Der Zentralrat der Midlands in Aydindril besteht aus Vertretern der wichtigeren Länder der Midlands. Mehr oder weniger ist es der Zentralrat, der die Midlands regiert. Obwohl die Länder unabhängig sind, unterwerfen sie sich dem Wort des Zentralrats. Auf diese Weise werden in der gesamten Konföderation der Länder die gemeinsamen Ziele geschützt, und der Frieden bleibt gewahrt. Und so bringt man auch die Leute dazu, miteinander zu reden, anstatt sich zu bekriegen. Sollte ein Land ein anderes angreifen, würde man dies als einen Angriff auf die Einheit betrachten, gegen die Gesamtheit, und diese Gesamtheit würde die Aggression niederwerfen. Könige, Königinnen, Herrscher, Beamte, Kaufleute und andere suchen den Zentralrat mit ihren Eingaben auf: Handelsverträge, Grenzabkommen, Übereinkünfte, die die Magie betreffen — es gibt eine endlose Liste mit Wünschen und Begehren.«
»Verstehe. In Westland ist es ganz ähnlich. Der Rat dort regiert auf ganz ähnliche Weise. Auch wenn Westland längst nicht groß genug für verschiedene Königreiche ist, so gibt es doch Bezirke, die sich selbst verwalten, in Kernland jedoch von Räten vertreten werden.
Da mein Bruder erst Rat, dann Oberster Rat war, habe ich einiges von der Regierung mitbekommen. Ich sah, wie Räte kamen, um ihre Bitten vorzutragen. Als Führer habe ich sie ständig nach Kernland hinein und wieder hinausbegleitet. Aus den Gesprächen mit ihnen habe ich eine Menge gelernt.«
Richard verschränkte die Arme. »Und welche Rolle spielt die Mutter Konfessor nun dabei?«
»Nun, der Zentralrat regiert die Midlands…« Sie räusperte sich und blickte auf ihre Hände, die in ihrem Schoß gefaltet lagen. »… und die Mutter Konfessor herrscht über den Zentralrat.«
Er löste seine Arme. »Willst du damit sagen, daß du über sämtliche Könige und Königinnen herrschst? Über alle Länder? Die gesamten Midlands?«
»Nun, ich denke, auf gewisse Weise schon. Du mußt wissen, daß nicht alle Länder im Zentralrat vertreten sind. Einige sind zu klein, wie Königin Milenas Tamarang oder das Volk der Schlammenschen, und ein paar andere sind Länder der Magie, das Land der Irrlichter zum Beispiel. Die Mutter Konfessor ist die Fürsprecherin dieser kleineren Länder. Überließe man es ihnen selbst, ihre Anliegen vorzutragen, würde der Rat beschließen, diese kleineren Länder zu zerstückeln. Es wäre ein leichtes, die Armeen dazu hätte er. Allein die Mutter Konfessor tritt für die ein, die keine Stimme haben. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, daß die Länder häufig nicht einer Meinung sind. Einige von ihnen sind seit Menschengedenken miteinander verfeindet. Häufig kommt es im Rat zum Patt, oder die verschiedenen Vertreter beharren hartnäckig auf ihren Vorstellungen, zum Nachteil der übergeordneten Interessen der Midlands. Die Mutter Konfessor verfolgt kein anderes Interesse als das Wohl der Midlands.
Ohne Führung würden die verschiedenen Länder sich im Zentralrat nur über Machtfragen streiten. Diesen engstirnigen Interessen stellt sich die Mutter Konfessor entgegen. So wie die Mutter dank ihrer magischen Kräfte oberste Richterin der Wahrheit ist, so ist sie auch die oberste Richterin der Macht. Das Wort der Mutter Konfessor ist Gesetz.«
»Du erklärst also sämtlichen Königen und Königinnen und all den Ländern, was sie zu tun haben?«
Sie ergriff eine seiner Hände und hielt sie fest. »Ich — und das haben die meisten Mütter Konfessor vor mir getan — lasse dem Zentralrat bei seinen Entscheidungen freie Hand. Doch wenn sie sich nicht einigen können oder keine gerechte Lösung finden, dann geht dies meist zu Lasten derer, die nicht vertreten sind. Erst dann schreite ich ein und erkläre ihnen, was geschehen soll.«
»Und sie tun immer, was du sagst.«
»Immer.«
»Warum?«
Sie schöpfte tief Luft. »Nun, sie wissen, wenn sie sich nicht der Führung der Mutter Konfessor beugen, dann sind sie allein und für jeden überlegenen Nachbarn, der nach Macht giert, angreifbar. Es würde so lange Krieg geben, bis die stärksten unter ihnen alle übrigen vernichtet hätten — so wie es Panis Rahl, Darken Rahls Vater, in D’Hara gemacht hat. Sie wissen, daß es letztlich in ihrem eigenen Interesse liegt, einen unabhängigen Ratsführer zu haben, der für kein Land Partei ergreift.«
»Aber im Interesse der Stärksten liegt das nicht. Es muß noch etwas anderes geben als ein gutes Herz oder den gesunden Menschenverstand, das die stärkeren Länder bei der Stange hält.«
Sie nickte und mußte lächeln. »Du kennst das Spiel der Macht sehr gut. Sie wissen ganz genau, wären sie so dreist, ihren Ambitionen freien Lauf zu lassen, würde ich oder eine andere Mutter Konfessor ihren Herrscher mit Hilfe von Magie besiegen. Aber da ist noch etwas. Die Zauberer unterstützen die Mutter Konfessor.«
»Ich dachte, Zauberer wollten mit Macht nichts zu tun haben?«
»Haben sie genaugenommen auch nicht. Es genügt, mit ihrem Einschreiten zu drohen. Die Zauberer nennen es die Paradoxie der Macht: wenn man Macht besitzt und bereit, willens und in der Lage ist, sie einzusetzen, dann braucht man sie nicht auszuüben. Die Länder wissen, wenn sie nicht zusammenarbeiten und sich nicht der unparteiischen Führung der Mutter Konfessor unterstellen, dann warten im Hintergrund noch immer die Zauberer, bereit, ihnen eine Lektion über die Nachteile von Unvernunft und Gier zu erteilen.
Das Ganze ist eine höchst vielschichtige, verschlungene Beziehung, doch letzten Endes läuft es darauf hinaus, daß ich den Zentralrat beherrsche und die Schwachen, Schutzlosen und Friedfertigen überrannt würden, sobald ich nicht anwesend wäre, um diese Aufgabe wahrzunehmen, während die übrigen in einen Krieg hineingezogen würden, der so lange andauert, bis alle außer den Stärksten vernichtet sind.«
Richard ließ sich zurücksinken und dachte mit einer gewissen Skepsis über alles nach. Sie beobachtete, wie der Schein des Feuers auf seinem Gesicht spielte. Sie spürte, was in ihm vorging: er dachte daran, wie sie von Königin Milena nur mit einer Geste ihrer Hand verlangt hatte, auf die Knie zu sinken, ihr die Hand zu küssen und ihr Ergebenheit zu schwören. Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte ihm nicht gezeigt, welche Macht sie besaß und wie gefürchtet sie war, doch was sie getan hatte, war notwendig gewesen. Manche beugten sich nur der Macht. Ein Führer mußte diese Macht zeigen, wenn es nötig war, sonst wurde er hinweggefegt.
Als er schließlich den Kopf hob, war sein Gesicht ernst geworden. »Es wird Ärger geben. Die Zauberer sind alle tot. Sie haben sie selbst entleibt, bevor sie dich auf die Suche nach Zedd geschickt haben. Die Bedrohung hinter der Mutter Konfessor existiert nicht mehr. Die anderen Konfessoren sind alle tot, getötet von Darken Rahl. Du bist die letzte. Du hast keine Verbündeten. Es gibt niemanden, der deinen Platz einnehmen könnte, wenn dir etwas zustößt. Zedd meinte, wir sollten ihn in Aydindril treffen. Und er weiß das sicher auch.
Nach dem, was ich von Menschen mit Macht gesehen habe, angefangen von den Räten meiner Heimat, zu denen auch mein Bruder gehört, über die Königinnen hier bis hin zu Darken Rahl, werden dich alle als Hindernis betrachten, welches ihnen im Weg steht. Wenn man verhindern will, daß die Midlands auseinandergerissen werden, muß die Mutter Konfessor ihre Herrschaft ausüben, und dabei wirst du Hilfe brauchen. Du und ich, wir müssen beide der Wahrheit dienen. Ich werde dich unterstützen.«
Ein verhaltenes Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Wenn diese Räte schon Angst hatten, gegen die Mutter Konfessor zu intrigieren oder ihr Schwierigkeiten zu bereiten, dann warte erst einmal, bis sie den Sucher kennenlernen.«
Kahlan berührte mit den Fingern sein Gesicht. »Es gibt nicht viele wie dich, Richard Cypher. Du befindest dich in Gesellschaft der mächtigsten Person in den Midlands. Und doch gibst du mir das Gefühl, als könnte ich nur mit deiner Hilfe zu wahrer Größe gelangen.«
»Ich bin nichts weiter als der, der dich von ganzem Herzen liebt. Das ist die einzige Größe, der ich mich würdig erweisen möchte.« Richard seufzte. »Als wir beide noch allein in den Wäldern unterwegs waren und ich dir das Abendessen an einem Stock über einem Lagerfeuer gebraten habe, schien mir alles viel einfacher.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Ich darf dir doch immer noch dein Essen zubereiten, oder, Mutter Konfessor?«
»Ich glaube nicht, daß Fräulein Sanderholt das gefallen wird. Sie läßt niemanden in ihre Küche.«
»Du hast eine Köchin?«
»Nun, wenn ich es mir genau überlege, dann habe ich nie gesehen, wie sie etwas gekocht hat. Meist läuft sie hektisch hin und her und regiert ihr Reich mit einem hölzernen Löffel, den sie wie ein Zepter schwingt, kostet Speisen, schilt Köche, Helfer und Küchenjungen. Sie ist die Oberköchin. Sie kann fürchterlich wütend werden, wenn ich in die Küche komme und etwas kochen will. Sie meint, ich mache ihren Leuten angst. Angeblich zittern sie jedesmal den ganzen Tag, wenn ich die Küche betrete und nach Töpfen frage. Also vermeide ich es, so gut es geht. Dabei koche ich so gerne.«
Kahlan mußte lächeln, als sie an Fräulein Sanderholt dachte. Sie war seit Monaten nicht zu Hause gewesen.
»Köche«, brummte Richard vor sich hin. »Ich habe nie jemanden gehabt, der für mich gekocht hätte. Ich habe immer für mich selbst gekocht.« Sein Lächeln kehrte zurück. »Nun, ich denke, Fräulein Sanderholt wird ein wenig zur Seite rücken können, wenn ich dir etwas Besonderes kochen möchte.«
»Ich möchte wetten, du wirst sie schon bald soweit haben, daß sie dir jeden Wunsch erfüllt.«
Er drückte ihre Hand. »Willst du mir eines versprechen? Versprich mir, daß ich dich eines Tages mit zurück nach Westland nehmen und dir einige der wundervollen Orte in den Wäldern zeigen darf — Orte, die nur ich kenne. Ich habe schon davon geträumt, mit dir dorthinzugehen.«
»Sehr gern«, erwiderte Kahlan leise.
Richard beugte sich vor, um sie zu küssen. Bevor sich ihre Lippen berührten, bevor er seine Arme um sie schlingen konnte, fuhr er vor Schmerz zusammen. Sein Kopf sackte nach vorn und fiel auf ihre Schulter, und er stöhnte auf. Kahlan drückte ihn vor Angst an ihren Körper. Als er dann, unfähig zu atmen, die Hände an seinen Kopf preßte, legte sie ihn wieder hin. Panik ergriff sie. Er zog die Knie vor die Brust und rollte auf die Seite.
Sie stützte sich mit ihrer Hand auf seine Schulter und beugte sich über ihn. »Ich werde Nissel holen gehen. So schnell es irgend geht.«
Er schüttelte sich und konnte bloß noch nicken.
Kahlan lief zur Tür, stieß sie auf und stürzte hinaus in die stille Nacht. Als sie die Tür hinter sich zuwarf, sah sie ihren Atem wie Nebel in der frostigen Luft hängen. Ihr Blick fiel auf die niedrige Mauer. Das Mondlicht tauchte den oberen Rand in ein silbriges Licht.
Die Hühner waren verschwunden.
Eine dunkle Gestalt hockte reglos hinter der Mauer.
Sie bewegte sich ein wenig im Mondschein, und kurz blitzten golden glänzende Augen auf.