36

Der Vielfraß wurde in seinem Blickfeld immer größer. Der Pfeil wartete darauf, daß der flache, dunkle Kopf sich hob. Ein tiefes Knurren ertönte von hinter seiner linken Schulter.

»Still!« zischte Richard.

Der Gar verstummte. Der Vielfraß hob den Kopf. Ein Sirren, und der Pfeil war fort. Mit bebenden Flügeln tänzelte der kleine Gar auf den Ballen seiner Füße, die Aufmerksamkeit ganz auf den Flug des Pfeils geheftet.

»Warte«, flüsterte er. Der Gar erstarrte.

Mit einem dumpfen Aufprall fand der Pfeil sein Ziel. Der Gar quiekte vor Wonne. Er breitete die Flügel aus, sprang flatternd in die Höhe, dann drehte er sich zu ihm um. Richard beugte sich zu ihm vor und zielte mit dem Finger auf die runzelige Nase des Gar. Der Gar sah ihn aufmerksam an.

»Also gut. Aber bring mir den Pfeil zurück.«

Ein heftiges Kopfnicken zum Zeichen, daß er einverstanden war, dann hob der Gar ab. Im fahlen Licht der frühen Dämmerung verfolgte Richard, wie er sich auf sein totes Opfer stürzte und darüber herfiel, als könnte es jeden Augenblick die Flucht ergreifen. Fetzen flogen im Gezerr der Krallen. Die dunkle Silhouette wurde flacher. Er legte seine Flügel an den Rücken, hockte gebückt über seiner Beute und riß knurrend sein Mahl in Stücke.

Richard kehrte dem Anblick den Rücken zu und beobachtete statt dessen, wie die Wolkenschleier am heller werdenden Himmel die Farbe wechselten. Schwester Verna würde bald aufwachen. Er stand immer noch auf seinem Posten, wenn sie auch darauf beharrte, daß dies überflüssig sei.

Sie hatte schließlich nachgegeben, aber er wußte, sie war noch immer wütend, weil er nicht klein beigeben wollte. Das war es, was sie wütend machte. Aber was machte sie nicht wütend? Seit sie am Tag zuvor das Tal durchquert hatten, war sie wütender als sonst. Sie kochte innerlich.

Richard sah zu dem kleinen Gar hinüber und guckte, ob er noch immer mit Fressen beschäftigt war. Wie es dem Gar gelungen war, ihm durch das Tal der Verlorenen zu folgen, war ihm schleierhaft. Noch ehe sie das Tal erreicht hatten, hatte er es für einen Fehler gehalten, ihn immer weiter durchzufüttern; andererseits fühlte er sich verantwortlich für ihn. Jeden Abend, wenn er seinen Posten bezog, war der Gar zu ihm gekommen, und Richard hatte ihm etwas zu fressen gejagt. Als sie in die Alte Welt hinübergewechselt waren, hatte er geglaubt, ihn los zu sein, doch irgendwie war er ihnen gefolgt.

Der kleine Gar zeigte sich äußerst anhänglich, sobald er auf Posten war. Er aß mit ihm, spielte mit ihm und schlief zu Richards Füßen, wenn nicht gar auf ihnen. War die Wache vorbei, machte er kaum Aufhebens davon, daß Richard ihn verließ. Richard sah den Gar niemals zu einer anderen Zeit. Er schien sich instinktiv von der Schwester fernzuhalten und vorher zu verbergen. Richard war einigermaßen sicher, daß sie versuchen würde, ihn zu töten. Vielleicht ahnte der Gar das.

Das kleine, pelzige Tier überraschte ihn immer wieder mit seiner Intelligenz. Es lernte schneller als jedes andere Tier, das er kannte. Kahlan hatte ihm erklärt, daß kurzschwänzige Gars klug waren. Jetzt wußte er, wie recht sie damit hatte.

Er brauchte ihm etwas nur ein- oder zweimal zu zeigen, damit er begriff. Er lernte bereits, seine Worte zu verstehen und versuchte sie nachzuahmen, obwohl er offenbar kein Sprachvermögen besaß. Einige seiner Geräusche kamen dem dennoch seltsam nahe.

Richard wußte nicht, was er mit dem Gar anfangen sollte. Vielleicht wäre es besser, wenn er auf eigenen Füßen stünde, lernte, wie man jagt und überlebt, doch er wollte nicht fort. Er folgte außer Sichtweite, wohin sie auch gingen, selbst wenn es gefährlich wurde. Vielleicht war er zu jung, um allein zurechtzukommen. Vielleicht sah er in Richard seine einzige Überlebenschance. Vielleicht betrachtete er ihn als eine Art Ersatzmutter.

In Wahrheit wollte Richard gar nicht, daß ihn der Gar verließ. Auf dem Weg durch die Wildnis war er ihm zum Freund geworden. Er schenkte ihm seine bedingungslose Zuneigung, kritisierte ihn niemals, widersprach ihm nicht. Es war ein gutes Gefühl, einen Freund zu haben. Wie konnte er dem Gar gerade das verweigern?

Flügelschlag riß ihn aus seinen Gedanken. Der Gar landete mit dumpfem Plumps vor ihm auf dem Boden. Er hatte reichlich zugenommen, seit Richard ihn aufgelesen hatte. Er hätte schwören können, daß er zudem fast einen halben Fuß gewachsen war.

Die Muskeln unter der rosafarbenen Haut seines Bauches waren fest geworden, und seine Arme bestanden nicht mehr, wie ursprünglich, daß nur aus Haut und Knochen, sondern setzten Muskeln an.

Die Vorstellung, wie groß er schließlich werden würde, hatte etwas Beängstigendes. Hoffentlich käme er dann allein zurecht. Genügend Futter für einen ausgewachsenen kurzschwänzigen Gar zu jagen, würde ihn sonst den ganzen Tag auf Trab halten.

Nachdem er den Pfeil an seinem pelzbewachsenen Schenkel abgewischt hatte, um das Blut zu entfernen, grinste der Gar sein häßliches, blutverschmiertes Grinsen und hielt Richard den Pfeil hin. Richard zeigte über seine Schulter.

»Ich will ihn nicht. Steck ihn dorthin zurück, wo er hingehört.«

Der Gar reckte sich über Richards Schulter und ließ den Pfeil in den Köcher zurückgleiten, dann lehnte er sich an einen Baumstumpf. Er verzog das Gesicht, offenbar um herauszufinden, ob er alles richtig gemacht hatte. Lächelnd tätschelte Richard ihm den vollen Bauch.

»Guter Junge. Das hast du gut gemacht.«

Der Gar kauerte sich überglücklich zu Richards Füßen hin und begnügte sich damit, sich das Blut von den Krallen und dem rauhen Fell zu lecken. Als er damit fertig war, legte er seine langen Arme über Richards Schoß und darauf seinen Kopf.

»Du brauchst einen Namen.« Der Gar sah auf und legte den Kopf auf die Seite. Seine bauschigen Ohren drehten sich zu ihm. »Einen Namen.« Er klopfte sich auf die Brust. »Mein Name ist Richard.«

Der Gar streckte die Hand aus, machte es ihm nach und klopfte Richard ebenfalls auf die Brust. »Richard. Richard.«

Er legte den Kopf auf die andere Seite. »Raaaa«, knurrte er zwischen seinen spitzen Reißzähnen hindurch. Seine Ohren zuckten.

Richard nickte. »Rich … ard.«

Er klopfte Richard erneut auf die Brust. »Raaaach aaaarg.«

Richard mußte lachen. »Fast. So, und wie sollen wir dich jetzt nennen?« Richard dachte darüber nach, versuchte sich etwas Passendes einfallen zu lassen. Der Gar setzte sich hin, die Stirn in tiefe Furchen gelegt, und sah ihn aufmerksam an. Kurz darauf ergriff er Richards Hand und schlug ihm damit auf die Brust.

»Raaaach aaarg«, meinte er. Dann zerrte er Richards Hand zu seiner Brust herüber und klopfte damit auf sein Fell. »Grrrratch.«

»Gratch?« Richard richtete sich überrascht auf. »Du heißt Gratch?« Er tippte dem Gar erneut auf die Brust. »Gratch?«

Der Gar nickte und grinste, während er sich auf die eigene Brust klopfte. »Grrratch. Grrratch.«

Richard war leicht verblüfft. Es war ihm niemals in den Sinn gekommen, daß der Gar einen Namen haben könnte. »Also dann eben Gratch.« Er klopfte sich abermals auf die Brust. »Richard.« Dann lächelte er und klopfte dem Gar auf die Schulter. »Gratch.«

Der Gar breitete seine Flügel aus und hämmerte sich mit geöffneten Klauen auf die Brust. »Grrratch!«

Richard mußte lachen, und der Gar sprang ihn an und stieß dabei ein kehliges Kichern aus, während er ihn zu Boden rang. Gratchs Vorliebe für Ringkämpfe wurde nur noch durch seine Liebe zum Futter übertroffen. Die beiden wälzten sich über den Boden und versuchten lachend, sich gegenseitig unterzukriegen.

Richard ging etwas behutsamer zu Werke als Gratch. Der Gar packte Richards Arm mit seinem Maul, biß allerdings dankbarerweise niemals zu. Seine nadelspitzen Reißzähne waren lang genug, um seinen Arm mit Leichtigkeit durchzubeißen, und Richard hatte bereits mehrmals mitangesehen, wie der Gar mit diesen Zähnen Knochen zersplittert hatte.

Richard machte dem Ringkampf ein Ende, indem er sich auf den Baumstumpf setzte. Gratch kauerte sich auf seinen Schoß, Arme, Beine und Flügel um ihn geschlungen. Er rieb sich die Schnauze an Richards Schulter. Gratch wußte, daß Richard mit der Dämmerung verschwinden würde.

Richard erspähte im Unterholz ein Kaninchen und überlegte, ob Schwester Verna ihm vielleicht für ein Stück Fleisch zum Frühstück dankbar wäre. »Gratch, ich brauche ein Kaninchen.«

Gratch kletterte von seinem Schoß herunter, als Richard nach seinem Bogen griff. Nachdem er geschossen hatte, erklärte er dem Gar, er solle ihm das Kaninchen bringen, es aber nicht fressen. Gratch hatte Apportieren gelernt und tat es gern. Er bekam immer, was vom Fell und von den Innereien übrigblieb.

Als Richard fertig war und sich von Gratch verabschiedet hatte, marschierte er zum Lager zurück. Seine Gedanken wanderten zurück zu der Vision von Kahlan, die er im Turm gehabt, und zu den Dingen, die sie ihm erzählt hatte. Das Bild ihrer Enthauptung ließ ihn nicht mehr los. Er erinnerte sich noch an ihre Worte:

»Sprich diese Worte, wenn du mußt, doch erwähne nichts von der Vision. ›Nur eine einzige von allen, die aus der Magie geboren sind, wird übrigbleiben, um die Wahrheit zu verkünden, wenn die Bedrohung des Schattens aufgehoben ist. Damit es eine Chance auf die Bande des Lebens gibt, muß diejenige in Weiß ihrem Volk geopfert werden, zu dessen Freude und unter seinem Jubel.‹«

Er wußte, wer ›diejenige in Weiß‹ war. Er wußte auch, was ›zu dessen Freude und unter seinem Jubel‹ bedeutete.

Er mußte auch an jene Prophezeiung denken, von der Schwester Verna ihm erzählt hatte, in der es hieß: ›Er ist der Bringer des Todes, und er wird sich diesen Namen selbst geben.‹ Sie behauptete, die Prophezeiung besage, der Besitzer des Schwertes sei in der Lage, den Tod auf den Plan zu rufen, die Vergangenheit in die Gegenwart zu zitieren. Besorgt fragte er sich, was das bedeuten mochte.

Im Lager hockte Schwester Verna bereits am Feuer und buk Gerstenfladen. Bei dem Duft begann ihm der Magen zu knurren. Das dünn bewaldete Land erwachte gerade unter den Geräuschen der Tiere zum Leben. Gruppen kleiner, dunkler Vögel zwitscherten in den hohen, lichten Bäumen, und graue Eichhörnchen jagten einander deren Stämme hinauf und hinab. Richard hängte den Spieß mit dem Kaninchen übers Feuer, während Schwester Verna sich weiter um die Fladen kümmerte.

»Ich habe etwas zum Frühstück mitgebracht. Ich dachte, vielleicht mögt Ihr etwas Fleisch.«

Ein Brummen war der einzige Hinweis darauf, daß sie ihn verstanden hatte.

»Seid Ihr noch immer wütend auf mich, weil ich Euch gestern das Leben gerettet habe?«

Mit Bedacht legte sie ein weiteres Stöckchen ins Feuer. »Ich bin nicht wütend auf dich, weil du mir das Leben gerettet hast, Richard.«

»Habt Ihr nicht gesagt, Euer Schöpfer haßt die Unwahrheit? Meint Ihr, ER glaubt Euch? Ich jedenfalls nicht.«

Sie bekam ein derart rotes Gesicht, daß Richard dachte, ihr lockiges Haar könnte Feuer fangen. »Du wirst keine Gotteslästerungen von dir geben.«

»Und Lügen ist etwas anderes?«

»Du begreifst nicht, wieso ich wütend bin, Richard.«

Richard setzte sich auf die Erde, umfaßte seine Knöchel und verschränkte die Beine. »Vielleicht doch. Ihr seid schließlich meine Beschützerin. Nicht umgekehrt. Vielleicht habt Ihr das Gefühl, versagt zu haben. Aber ich empfinde das nicht so. Wir haben beide getan, was wir tun mußten, um zu überleben.«

»Getan, was wir mußten?« Ein Strahlenkranz aus feinen Fältchen umgab ihre Augen, als ihr Blick enger wurde. »Wie ich mich aus dem Buch erinnere, sind einige der Menschen dabei umgekommen, als Bonnie, Geraldine und Jessup sie über den Giftfluß führten.«

Richard lächelte vor sich hin. »Ihr habt es also doch gelesen.«

»Das hab’ ich dir doch schon gesagt! Jedenfalls hast du dumm gehandelt. Wir hätten dabei sterben können.«

»Wir hatten keine andere Wahl.«

»Man hat immer eine Wahl, Richard. Das versuche ich dir ja gerade beizubringen.« Sie setzte sich auf ihre Hacken. »Die Zauberer, die diesen Ort geschaffen haben, dachten auch, sie hätten keine andere Wahl, doch haben sie alles nur noch schlimmer gemacht. Du hast dort unten von deinem Han Gebrauch gemacht, und du hast es getan, ohne zu begreifen, welche Folgen es haben kann.«

»Welche Wahl hatten wir denn?«

Die Hände auf den Knien beugte sie sich vor. »Wir haben immer eine Wahl, Richard. Diesmal hast du Glück gehabt, weil dich der Einsatz deiner Magie nicht umgebracht hat.«

»Wovon sprecht Ihr?«

Schwester Verna zog eine Satteltasche heran und begann darin zu kramen. Schließlich zog sie einen grünen Stoffbeutel hervor. »Du hast ein wenig Blut von dieser Bestie auf dem Arm. Haben dich die Käfer gebissen?«

»An den Beinen.«

»Zeig her.«

Richard zog sein Hosenbein hoch und zeigte ihr die geschwollenen, roten Stiche. Sie schüttelte den Kopf und zog, vor sich hm murmelnd, erst eine, dann eine zweite Flasche aus dem Beutel.

Sie tauchte ein Stöckchen, das sie in der Nähe auf der Erde gefunden hatte, in die weiße Paste aus dem einen Fläschchen und strich sie auf die flache Seite einer Messerklinge. Dann warf sie das Stöckchen ins Feuer. Sie nahm ein zweites, tauchte es in die dunkle Paste aus einer anderen Flasche und vermengte diese mit der hellen auf der Klinge, dann strich sie damit über die Schneide. Schließlich warf sie den zweiten Stock mit Resten der Mischung ins Feuer. Richard fuhr zusammen, als diese in einem weißglühenden Feuerball explodierten, der zum Himmel aufstieg, sich dabei zerteilte und in eine brodelnde Wolke schwarzen Rauchs verwandelte.

Sie hielt das Messer hoch, damit er die graue, auf die Klinge gestrichene Paste sehen konnte. »Licht und Dunkel, Erde und Himmel. Magie, die das heilen soll, was dich andernfalls bis heute abend töten würde. Du hast es raus, dich in gefährliche Lagen hineinzumanövrieren, Richard. Mit jedem Schritt machst du es nur noch schlimmer. Jetzt komm her, näher zu mir.«

Richard stemmte seine Fersen in die Erde und rutschte um das Feuer herum. »Habt Ihr Euch etwa bis jetzt überlegt, ob Ihr mir helfen wollt oder nicht?«

»Natürlich nicht. Dies ist aus mächtiger Magie gemacht, die das Gift unschädlich machen wird, welches dir diese verhexten Kreaturen eingeimpft haben. Zu früh, und die Behandlung würde dich töten. Zu spät, und die Stiche würden dich umbringen. Es muß unbedingt die richtige Art von Magie sein, zur richtigen Zeit. Ich habe lediglich auf den richtigen Zeitpunkt gewartet.«

Richard wollte ihr widersprechen, doch statt dessen sagte er: »Danke, daß Ihr mir geholfen habt.« Sie sah ihn stirnrunzelnd an, bevor sie sich über seine Stiche beugte. »Schwester, inwiefern habe ich alles noch schlimmer gemacht?«

»Du warst leichtsinnig. Die Anwendung von Magie birgt Gefahren. Nicht nur für andere, sondern auch für den, der sie auf den Plan ruft.«

Richard zuckte zusammen, als sie mit der Messerschneide einen der Einstiche aufschnitt, erst in der einen, dann in der anderen Richtung, so daß sich ein Kreuzschnitt ergab. Das Brennen trieb ihm die Tränen in die Augen.

»Wie kann das für mich gefährlich sein?«

Konzentriert beugte sie sich über sein Bein und sprach leise eine Zauberformel, während sie mit dem Messer über sein geschwollenes Fleisch strich. Sie nahm nur leichte Einschnitte vor, doch brannten diese widerlich.

»Es ist, als wollte man ein Feuer inmitten von zundertrockenem Holz entfachen. Plötzlich findet man sich im Zentrum des Feuers wieder, im Zentrum dessen, was man ausgelöst hat. Was du getan hast, war töricht und gefährlich.«

»Ich habe versucht zu überleben, Schwester Verna.«

Sie zeigte mit dem Finger auf einen der schmerzhaften Stiche. »Sieh doch, was passiert ist! Wenn ich dich nicht behandeln würde, müßtest du sterben.« Sie war mit den Beinen fertig und richtete ihr Augenmerk auf seinen Arm. »Als wir von diesen Bestien angegriffen wurden, hast du geglaubt, du würdest uns retten, dabei hat alles, was du getan hast, die Gefahr nur noch vergrößert.«

Als sie fertig war, hielt sie die Klinge übers Feuer. Ein dünner, weißer Feuerstrahl stieg zischend vom Stahl in die Höhe, und die übriggebliebene Paste verbrannte. Sie beließ die Klinge im Feuer, bis sowohl Paste als auch Stichflamme verschwunden waren.

»Hätte ich nicht gehandelt, Schwester, wären wir jetzt tot.«

Sie drohte ihm mit der heißen Klinge. »Ich habe nicht gemeint, daß es falsch war, zu handeln! Ich habe gemeint, du hast falsch gehandelt! Du hast die falsche Art Magie eingesetzt!«

»Ich habe das einzige benutzt, das ich besitze! Das Schwert!«

Sie schleuderte das Messer fort. Mit dumpfem Aufschlag blieb es fest in einem Stück Brennholz stecken. »Es ist gefährlich zu handeln, ohne die Folgen der beschworenen Magie zu kennen!«

»Nun, Ihr habt jedenfalls überhaupt nichts Hilfreiches getan.«

Schwester Verna wippte auf den Fußballen, starrte ihn einen Augenblick lang an, dann drehte sie sich um und machte sich daran, die Flaschen wieder in dem grünen Beutel zu verstauen.

»Tut mir leid, Schwester. Das habe ich nicht so sagen wollen. Ich wollte damit nur sagen, daß Ihr nicht mehr in der Lage wart, den Weg zu spüren, und ich wußte, wenn wir bleiben, würden wir getötet werden.«

Die Flaschen klirrten, als sie sie im Beutel unterbrachte. Sie schien Schwierigkeiten zu haben, sie so zu verstauen, wie sie wollte. »Richard, du glaubst, du sollst bei uns die Beherrschung der Gabe, die Anwendung von Magie lernen. Das ist der leichte Teil. Zu wissen, welche Art von Magie man anwendet, wieviel man anwendet, wann man sie anwendet, und die Folgen der Anwendung zu kennen, das ist der schwierige Teil. Das ist das Entscheidende. Wie, wieviel, wann und was, wenn — genau wie die Magie, mit der ich diese Käferbisse behandelt habe.«

Sie fixierte ihn mit ernstem Blick. »Ohne dieses Wissen bist du wie ein Blinder, der seine Axt inmitten einer Schar von Kindern schwingt. Du hast keine Vorstellung, welche Gefahr du mit der Anwendung von Magie heraufbeschwörst. Wir versuchen, dir den Blick und ein wenig Verstand mitzugeben, bevor du diese Axt kreisen läßt.«

Richard zupfte an einem Grasbüschel zu seinen Füßen. »So habe ich das Ganze noch nie betrachtet.«

»Wenn überhaupt, dann sollte ich vielleicht wütend auf mich selber sein, weil ich töricht war. Ich dachte, nichts dort wäre mächtig genug, mich in eine Falle zu locken. Ich habe mich getäuscht. Danke, Richard, denn du hast mich tatsächlich gerettet.«

Er wickelte sich einen langen Grashalm um den Finger. »Ich war so erleichtert, als ich Euch wiederfand … ich dachte, Ihr wärt tot. Ich bin froh, daß es nicht so ist.«

Sie hatte alle kleinen Fläschchen aus dem Beutel genommen und sie auf der Erde abgestellt. »Ich hätte in diesem Bann für alle Zeiten verlorengehen können. Eigentlich hätte es sogar passieren müssen.«

»Wie meint Ihr das?«

Es kam ihm vor, als wären es mehr Flaschen, als in den Beutel passen konnten, andererseits hatte er sie aber alle zum Vorschein kommen sehen. »Wir haben früher schon versucht, Schwestern zu retten. Wir haben mitangesehen, wie einige zusammen mit ihren Schützlingen in diesen Bannen der Verzückung verlorengingen. Gleich bei meiner ersten Durchquerung habe ich eine gesehen. Wir konnten sie nicht befreien. Bei dem Versuch sind mehrere Schwestern ums Leben gekommen.« Sie machte sich daran, die Fläschchen wieder zu verstauen. »Du hast Magie angewandt.«

»Ich habe das Schwert benutzt. Das Schwert hat magische Kräfte, das wißt Ihr doch.«

»Nein. Du hast nicht die Magie des Schwertes benutzt. Du hast, ohne es zu merken, dein Han benutzt. Dein Han aufgrund eines Wunsches einzusetzen, ohne Weisheit, ist das Gefährlichste, was du tun kannst.«

»Schwester, ich denke, es war nur die Magie des Schwertes.«

»Ich habe dich gehört, als du mich gerufen hast. Die anderen haben uns nie gehört, wenn wir versucht haben, sie zu rufen. Nicht ein einziges Mal.«

»Ihr wußtet einfach nicht, wie es geht. Ihr habt mich auch erst hören können, als ich eine funkelnde Barriere, die Euch umgab, durchbrochen hatte. Danach konntet Ihr mich hören. Man muß nur zuerst diese Barriere durchbrechen.«

Sie schob die Fläschchen nach rechts und links, um zusätzlichen Platz zu schaffen. »Das wissen wir, Richard. Wir haben es mit allen Arten von Magie versucht, trotzdem haben wir die Barrieren dieser Banne weder durchbrechen noch durchschreiten können, noch haben wir die Aufmerksamkeit derer erregen können, die in ihnen gefangen waren. Nie zuvor konnte jemand aus einem Bann der Verzückung befreit werden.« Sie stopfte das letzte Fläschchen an seinen Platz, drehte sich um und sah ihm ins Gesicht. »Danke, Richard.«

Achselzuckend zog er sich den Grashalm vom Finger. »Es war das mindeste, was ich tun konnte, um meinen Fehler wiedergutzumachen.«

»Deinen Fehler?«

Richard tat, als wäre er damit beschäftigt, seine Hose wieder runterzukrempeln. »Nun, bevor ich Euch gerettet habe, habe ich Euch gewissermaßen umgebracht.«

Sie beugte sich vor. »Du hast was getan?«

»Ihr habt mir weh getan. Mit Eurer Magie. Mit dem Halsring.«

»Tut mir leid, Richard. Ich stand unter dem Einfluß des Banns und wußte nicht, was ich tat. Ich hatte nicht die Absicht, dir weh zu tun.«

Er schüttelte den Kopf. »Da nicht. Vorher. Im weißen Turm.«

Sie beugte sich noch weiter vor und biß die Zähne zusammen. »Du bist in einen Turm hineingegangen? Bist du wahnsinnig? Ich habe dir doch erklärt, was es mit diesen Türmen auf sich hat! Wie konntest du nur so…«

»Schwester. Ich hatte keine Wahl.«

»Über die Möglichkeiten der Wahl haben wir bereits gesprochen. Ich habe dir erklärt, wie gefährlich diese Türme sind. Ich habe dir gesagt, du sollst dich von ihnen fernhalten!«

»Hört doch, überall ringsum hat es geblitzt. Die Blitze haben versucht, mich zu treffen. Ich … ich wußte einfach nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Also habe ich mich durch einen Torbogen in den Turm geworfen — um mich zu schützen.«

»Kannst du nicht einmal die einfachsten Anweisungen befolgen? Mußt du dich immer wie ein Kind aufführen?«

Richard sah sie mit gesenktem Kopf an. »Das waren genau Eure Worte. Ihr kamt in den Turm. Ich war sicher, daß Ihr es wart. Ihr wart wütend auf mich, genau wie jetzt, und habt genau dieselben Worte benutzt.«

Er biß die Zähne zusammen und steckte einen Finger unter den Ring an seinem Hals. »Ihr habt dies hier benutzt. Ihr habt es benutzt, um mich an eine Wand zu schleudern und mich dort festzunageln. Ist das mit diesem Halsring möglich, Schwester?«

Sie war viel ruhiger geworden. »Ja. Wir verfügen nicht über die Kraft eines Zauberers, über das männliche Han. Der Halsring verstärkt unsere Kraft, so daß wir stärker sind als der, der ihn trägt. Damit wir ihn ausbilden können.«

Seine Stimme war voller Zorn. »Dann habt Ihr ihn benutzt, um mir Schmerzen zuzufügen, genau wie in Wirklichkeit, als Ihr in dem Bann gefangen wart. Nur waren sie stärker und ließen einfach nicht nach. Ist das mit dem Halsring möglich, Schwester?«

Sie riß neben sich ein Grasbüschel aus, begann, seinem Blick ausweichend, sich die Hände damit zu reinigen. »Ja. Aber das war eine Vision, Richard. Ich habe es nicht wirklich getan.«

»Ich sagte, Ihr solltet aufhören, mir weh zu tun, oder ich würde dem ein Ende machen. Ihr wolltet nicht aufhören, also rief ich die Magie des Schwertes herbei und brach das Band der Macht, das mich hielt. Ihr wart außer Euch. Ihr sagtet, ich hätte meinen letzten Fehler gemacht. Ihr wolltet mich dafür töten, daß ich mich Euch widersetzt habe. Ihr wolltet mich umbringen, Schwester.«

»Verzeih, Richard«, sagte sie leise und hob den Kopf, »daß du all das hast durchmachen müssen.« Ihre Stimme wurde ein wenig fester. »Und was hast du mir nun angetan … der Vision von mir?«

Er beugte sich vor und legte seinen Zeigefinger seitlich an ihre Schulter. »Ich habe Euch mit dem Schwert in der Mitte durchgeteilt. Genau hier.«

Ihre Hände hielten inne, sie war zu Stein erstarrt. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Schließlich fand sie ihre Haltung wieder.

Richard zupfte wieder an dem Grasbüschel zu seinen Füßen. »Ich wollte es nicht tun, aber ich war absolut überzeugt, daß Ihr mich töten wolltet.«

Sie warf das Grasbüschel fort. »Bestimmt, Richard. Aber das war nur eine Vision. Wäre es die Wirklichkeit gewesen, wäre die Sache nicht so ausgegangen. Du hättest nicht tun können, was du getan hast.«

»Wen wollt Ihr überzeugen, Schwester? Mich oder Euch selbst?«

Sie hielt seinem wütenden Blick stand. »Was du gesehen hast, war nicht die Wirklichkeit. Es war schlicht ein Trugbild.«

Richard ließ das Thema fallen. Er drehte den Stock mit dem Kaninchen, um die andere Seite zu garen, und schob den Blechteller mit den Gerstenfladen neben das Feuer, damit er abkühlen konnte.

»Wie auch immer, als ich Euch wiedersah, wußte ich nicht, ob Ihr eine Vision wart oder Wirklichkeit. Aber ich habe ehrlich gehofft, daß Ihr lebt. Ich habe Euch nicht töten wollen.« Er hob den Kopf und lächelte. »Außerdem habe ich Euch versprochen, Euch durch das Tal der Verlorenen zu bringen.«

Sie nickte. »Ja, in der Tat. Mehr Wunschdenken als Weisheit.«

»Schwester, ich habe bloß getan, was mir einfiel, um zu überleben. Und auch um Euch zu helfen, damit Ihr überlebt.«

Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Richard, ich weiß, du willst nur dein Bestes tun, aber du mußt begreifen, daß das, was du für das Beste hältst, nicht notwendigerweise auch richtig ist. Du rufst dein Han, ohne zu wissen, was du tust, oder auch nur zu merken, daß du es tust. Dadurch beschwörst du eine Gefahr herauf, die du nicht ermessen kannst.«

»Wie habe ich denn mein Han benutzt?«

»Zauberer machen Versprechungen, die ihr Han zu halten bestrebt ist. Du hast mir versprochen, mich durch das Tal zu bringen — mich zu retten. Indem du das getan hast, hast du dich auf eine Prophezeiung berufen.«

Richard legte die Stirn in Falten. »Ich habe keine Prophezeiung ausgesprochen.«

»Du hast sie nicht nur ausgesprochen, sondern dabei dein Han benutzt, ohne es zu merken. Du hast eine Prophezeiung benutzt, ohne ihre Form zu kennen, um etwas in der Vergangenheit zu tun, daß dir in der Zukunft hilft.«

»Wovon redet Ihr?«

»Du hast die Kandaren der Pferde zerstört.«

»Ich habe Euch damals doch erklärt, warum. Sie sind brutal.«

Sie schüttelte den Kopf. »Genau das meine ich. Du warst in dem Glauben, es aus einem bestimmten Grund zu tun, und doch diente es einem ganz anderen Zweck. Mit deinem Verstand suchst du eine vernünftige Erklärung für das, was dein Han tut. Auf unserer Flucht aus dem Tal habe ich nicht an das geglaubt, was du tust, und versucht, mein Pferd herumzureißen. Ich konnte es nicht, weil es keine Kandare hatte.«

»Na und?«

Sie beugte sich weiter vor. »Das Zerstören der Kandaren war eine Notwendigkeit, damit du ein Versprechen, das du in der Zukunft geben würdest, halten konntest. Damit hast du dich einer Prophezeiung bedient. Du hast die Axt blind kreisen lassen.«

Richard sah sie skeptisch an. »Das klingt weit hergeholt, Schwester. Selbst für Euch.«

»Ich weiß, wie die Gabe funktioniert, Richard.«

Richard dachte darüber nach und entschied schließlich, ihr nicht zu glauben. Er entschied jedoch auch, nicht mit ihr darüber zu streiten. Es gab andere Dinge, die er noch erfahren wollte.

»Ist Euer Buch voll? Ich habe Euch nicht mehr darin schreiben sehen.«

»Ich habe gestern eine Nachricht abgeschickt, daß wir das Tal durchquert haben. Sonst gibt es nichts zu berichten, das ist alles. Das Buch ist Magie. Mit Magie löschen wir alte Nachrichten. Bis auf zwei Seiten habe ich alles gelöscht. Mit dem, was ich gestern geschrieben habe, sind jetzt drei Seiten beschrieben.«

Richard riß eine Ecke des heißen Gerstenfladens ab. »Wer ist die Prälatin?«

»Von ihr erhalten die Schwestern des Lichts ihre Weisungen. Sie ist…« Sie kniff die Augen zusammen. »Ich habe nie über sie gesprochen. Woher weißt du von ihr?«

Richard leckte sich die Krümel von den Fingern. »Ich habe es in Eurem Buch gelesen.«

Ihre Hand zuckte zum Gürtel und tastete nach dem Buch. Es war da, wo es immer war. »Du hast meine privaten Aufzeichnungen gelesen! Dazu hattest du kein Recht! Ich werde…«

»Zu der Zeit wart Ihr tot.« Sie klappte den Mund zu, und er fuhr fort. »Als ich Euch oder Euer Trugbild getötet hatte, fiel das Buch herunter. Ich habe darin gelesen.«

Die Spannung wich aus ihrem Körper. »Oh. Nun, das ist einfach ein Teil des Trugbildes. Wie gesagt, darin ist nichts wie in Wirklichkeit.«

Richard riß ein weiteres Stück vom Fladen ab. »Es waren nur zwei Seiten beschrieben, genau wie in dem echten Buch. Die dritte habt Ihr erst hinzugefügt, als wir das Tal hinter uns hatten. Damals waren es nur zwei.«

Sie beobachtete, wie er den Fladen verspeiste. »Ein Trugbild, Richard.«

Er hob den Kopf. »Auf einer Seite stand: ›Ich bin die Schwester, die für diesen Jungen verantwortlich ist. Diese Anweisungen sind ungerechtfertigt, wenn nicht gar absurd. Ich verlange, daß man mir den Sinn dieser Anweisungen erklärt. Ich verlange zu wissen, auf wessen Geheiß sie gegeben wurden. — Im Dienste des Lichts, Eure Schwester Verna Sauventreen.‹ Auf der zweiten Seite stand: ›Du wirst tun, was man dir aufgetragen hat, oder du mußt die Konsequenzen tragen. Wage es nicht noch einmal, die Befehle des Palastes in Frage zu stellen. — Höchstselbst, Die Prälatin.‹«

Die Farbe war aus dem Gesicht der Schwester gewichen. »Du hattest kein Recht, etwas zu lesen, was einem anderen gehört.«

»Wie gesagt, zu dem Zeitpunkt wart Ihr tot. Welche Weisungen hat man Euch für mich gegeben, daß Ihr so wütend wart?«

Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück. »Es geht um eine formale Spitzfindigkeit. Du würdest es ohnehin nicht verstehen, und außerdem geht es dich nichts an.«

Richard zog eine Augenbraue hoch. »Es geht mich nichts an? Ihr behauptet, mir nur helfen zu wollen, und doch nehmt Ihr mich gefangen, und dann sagt Ihr, es ginge mich nichts an? Ich trage diesen Ring um meinen Hals, mit dem Ihr mir Schmerz zufügen, mich vielleicht töten könnt, und dann sagt Ihr, es ginge mich nichts an? Ihr erklärt, ich müßte tun, was Ihr verlangt, und das auf guten Glauben hin, obwohl dieser Glaube mit jeder neuen Entdeckung erschüttert wird, und doch geht mich das nichts an? Ihr sagt, die Trugbilder, die ich gesehen habe, entsprächen nicht der Wirklichkeit, doch als ich herausfinde, daß dies nicht stimmt, behauptet Ihr, das ginge mich nichts an?«

Schwester Verna schwieg. Sie betrachtete ihn kalt. Betrachtete ihn, fand er, wie einen Käfer in der Schachtel.

»Schwester Verna, werdet Ihr mir etwas erklären, über das ich schon lange nachdenke?«

»Wenn ich kann.«

Er zog die Beine dichter unter seinen Körper und versuchte, jegliche Feindseligkeit in seinem Ton zu vermeiden. »Als Ihr mich das erste Mal gesehen habt, da wart Ihr überrascht, daß ich erwachsen war. Ihr dachtet, ich sei noch klein.«

»Das ist richtig. Wir haben Leute im Palast, die spüren, wenn jemand mit der Gabe geboren wird. Du warst jedoch vor uns verborgen, daher hat es sehr lange gedauert, bis wir dich gefunden haben.«

»Aber gerade erst vor ein paar Tagen habt Ihr mir erzählt, Ihr hättet mehr als die Hälfte Eures Lebens außerhalb des Palastes mit der Suche nach mir verbracht. Wenn Ihr mehr als zwanzig Jahre nach mir gesucht habt, wie konntet Ihr dann erwarten, ich sei noch klein? Ihr hättet davon ausgehen müssen, daß ich erwachsen bin, es sei denn, Ihr hättet nicht gewußt, daß ich schon geboren bin, und wärt lange bevor jemand im Palast mich erspürt hatte, aufgebrochen, um mich zu suchen.«

Sie antwortete vorsichtig, mit ruhiger Stimme. »Du hast recht. So war es zuvor noch nie.«

»Warum seid Ihr dann aufgebrochen, um nach mir zu suchen, noch bevor jemand von Euch spürte, daß einer mit der Gabe geboren war?«

Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Wir wußten nicht genau, wann du geboren werden würdest, aber wir wußten, daß du geboren werden würdest, deshalb hat man uns auf die Suche geschickt.«

»Woher wußtet Ihr, daß ich geboren werde?«

»In einer Prophezeiung ist von dir die Rede.«

Richard nickte. Er hätte gern etwas über diese Prophezeiung in Betracht gebracht, hätte gern gewußt, warum man ihn für so wichtig hielt, doch wollte er nicht von dem einmal eingeschlagenen Pfad abweichen. »Ihr wußtet also, daß es noch viele Jahre dauern konnte, bevor Ihr mich findet?«

»Ja. Wir wußten nicht, wann du geboren würdest. Wir konnten dies nur bis auf einige Jahrzehnte eingrenzen.«

»Wie wählt man die Schwestern aus, die ausgesandt werden?«

»Wir wurden von der Prälatin ausgesucht.«

»Ihr habt in der Angelegenheit kein Wort mitzureden?«

Ihre Anspannung wuchs, so als befürchtete sie, aus Versehen den Kopf in eine Schlinge zu stecken, trotzdem brachte sie es nicht fertig, ihren Glauben zu verschweigen. »Wir arbeiten im Dienst des Schöpfers. Wir hätten keinen Grund gehabt, einen Einwand vorzubringen. Der alleinige Zweck des Palastes besteht darin, denen zu helfen, die die Gabe besitzen. Dafür auserwählt zu werden, jemanden mit der Gabe zu retten, ist eine der größten Ehren, die einer Schwester zuteil werden können.«

»Keine der anderen, die ausgesandt wurden, hat also jemals so viele Jahre ihres Lebens opfern müssen, um einen zu retten, der die Gabe hat?«

»Nein. Meines Wissens hat es nie länger als ein Jahr gedauert. Ich wußte aber, daß dieser Auf trag Jahrzehnte dauern konnte.«

Richard lächelte triumphierend in sich hinein. Er lehnte sich zurück und reckte sich. Er atmete tief durch. »Jetzt verstehe ich.«

Ihre Augen wurden schmal. »Was verstehst du?«

»Ich verstehe, Schwester Verna, wieso Ihr mich so behandelt. Ich verstehe, warum wir laufend miteinander kämpfen, warum wir uns ständig gegenseitig an die Kehle gehen. Ich verstehe, warum ihr mich nicht leiden könnt. Warum Ihr mich haßt.«

Sie sah aus wie jemand, der erwartet, daß sich unter ihm eine Falltür öffnet. »Ich hasse dich nicht, Richard.«

Er nickte, dann zog er den Bolzen aus der Falltür. »Doch, das tut Ihr. Ihr haßt mich. Und ich verüble Euch das nicht einmal. Ich verstehe das. Wegen mir mußtet Ihr Jedidiah aufgeben.«

Sie fuhr zusammen, als hätte sich gerade eine Schlinge um ihren Hals zusammengezogen. »Richard! Rede gefälligst nicht in diesem Ton –«

»Deswegen seid Ihr wütend auf mich. Nicht wegen des Schicksals der beiden anderen Schwestern. Jedidiah ist der Grund. Wäre ich nicht gewesen, dann wärt Ihr jetzt bei ihm. Ihr wärt die letzten zwanzig Jahre bei ihm gewesen. Ihr habt die Liebe Eures Lebens aufgeben müssen, um auf diese verfluchte Suche zu gehen und mich zu finden. Man hat Euch geschickt. Ihr hattet keine Wahl, Ihr mußtet gehen. Es ist Eure Pflicht, und es hat Euch Eure Liebe gekostet und die Kinder, die Ihr vielleicht bekommen hättet. Das ist der Preis, den Ihr für mich bezahlt, und deshalb haßt Ihr mich.«

Schwester Verna saß da und starrte in die Luft. Weder sprach sie, noch rührte sie sich. Schließlich meinte sie: »Der Sucher, fürwahr.«

»Tut mir leid, Schwester Verna.«

»Du hast keinen Grund, Richard, dich entschuldigen zu müssen. Du weißt nicht, worüber du sprichst.« Langsam nahm sie das Kaninchen vom Feuer und legte es neben die Gerstenfladen auf den Blechteller. Einen Augenblick lang starrte sie hinaus ins Leere. »Wir sollten jetzt essen. Wir müssen aufbrechen.«

»Also schön. Aber Ihr solltet bedenken, daß ich dies nicht aus eigenem Entschluß getan habe. Ich habe Euch das nicht angetan. Sondern die Prälatin. Ihr solltet entweder auf sie wütend sein, oder, wenn Ihr Euch Eurer Pflicht, Eurem Schöpfer so verbunden fühlt, wie Ihr behauptet, dann solltet Ihr ihm mit Freuden dienen. Wie auch immer, aber hört auf, mir die Schuld zu geben.«

Sie öffnete den Mund und wollte etwas erwidern, machte sich dann jedoch am Stöpsel des Wasserschlauchs zu schaffen, bekam ihn schließlich heraus und nahm einen langen Schluck. Als sie fertig war, atmete sie mehrmals tief durch.

Ihr unerschütterlicher Blick traf den seinen. »Bald werden wir im Palast sein, Richard, doch zuerst müssen wir ein Land mit sehr gefährlichen Bewohnern durchqueren. Die Schwestern haben eine Übereinkunft mit ihnen getroffen, um es passieren zu können. Du wirst etwas für sie tun müssen. Du wirst es tun, oder es wird große Schwierigkeiten geben.«

»Was muß ich tun?«

»Du wirst jemanden für sie töten müssen.«

»Schwester Verna, ich versichere Euch eins, ich werde nicht…«

Ihr Zeigefinger schnellte aus ihrer geballten Faust, und sie bat sich Ruhe aus. »Wage es nicht, diesmal die Axt zu schwingen, Richard«, zischte sie. »Du hast keine Ahnung, welche Folgen das hätte.«

Sie erhob sich. »Mach die Pferde fertig. Wir müssen aufbrechen.«

Richard stand auf. »Wollt Ihr Euer Frühstück nicht?«

Sie überging seine Frage und trat dicht an ihn heran.

»Zum Streiten gehören zwei, Richard. Du bist ständig wütend auf mich, egal, was ich zu dir sage. Du ärgerst dich über mich. Du haßt mich, weil du glaubst, ich hätte dich gezwungen, den Halsring anzulegen. Aber das war ich nicht, und das weißt du. Kahlan hat dich dazu gezwungen. Ihretwegen trägst du den Rada’Han. Wäre sie nicht gewesen, wärst du nicht hier bei mir. Das ist der Preis, den du bezahlt hast, und deswegen haßt du mich.

Aber du solltest bedenken, daß ich dies nicht aus eigenem Entschluß getan habe. Ich habe dir dies nicht angetan. Sondern Kahlan. Du solltest entweder auf sie wütend sein, oder du solltest, wenn du ihr so ergeben bist, wie du behauptest, ihr den Wunsch mit Freuden erfüllen. Vielleicht hatte sie einen gewichtigen Grund dafür. Vielleicht hatte sie dein Wohl im Sinn. Wie auch immer, hör auf, mir die Schuld zu geben.«

Richard versuchte zu schlucken, aber es wollte ihm nicht gelingen.

Загрузка...