56

Während die Wochen vergingen, war Richard ständig beschäftigt.

Er erinnerte sich, daß Kahlan und Zedd ihm erzählt hatten, es gäbe in den Midlands keine Zauberer mit der Gabe mehr. Das konnte kaum verwundern, offenbar hielten sie sich alle im Palast der Propheten auf. Es gab gut über hundert Burschen und junge Männer im Palast. Nach dem, was Richard in Erfahrung bringen konnte, stammte eine gute Zahl, zumindest von den älteren, aus den Midlands, einige sogar aus D’Hara.

Das Töten eines Mriswith hatte Richard bei den jüngeren Burschen zu einer Berühmtheit gemacht. Zwei von ihnen, Kipp und Hersh, waren am aufdringlichsten. Sie folgten ihm, wohin er auch ging, baten ihn, von seinen Abenteuern zu erzählen. Manchmal schienen sie die Reife, ja, fast die Weisheit alter Männer zu besitzen. Zu anderen Zeiten schienen sie sich, wie alle Jungen, für nichts anderes als Unfug zu interessieren.

Opfer dieses Unfugs war gewöhnlich eine Schwester. Im Ersinnen neuer Streiche, die sie ihnen spielen konnten, schienen die Jungen unermüdlich zu sein. Die meisten dieser Possen hatten entweder etwas mit Wasser, Schlamm oder Reptilien zu tun. Die Schwestern bekamen nur selten einen Wutanfall, wenn sie in die Mätzchen der beiden verwickelt wurden, doch selbst dann verziehen sie ihnen schnell. Soweit Richard erkennen konnte, brachte ihnen dies nie mehr ein als eine ernste Strafpredigt.

Anfangs spielten die jungen Burschen mit dem Gedanken, Richard zu einem ihrer Opfer zu machen. Richard hatte zu tun und für dergleichen weder Zeit noch Geduld. Als die Burschen dahinterkamen, daß Richard weder schüchtern noch langsam mit Strafen bei der Hand war, zogen sie mit ihren Wassereimern schnell zu anderen Opfern weiter.

Weil Richard Grenzen setzte, liebten Kipp und Hersh ihn nur noch mehr. Sie schienen geradezu nach älterer männlicher Gesellschaft zu hungern. Richard belohnte sie mit Abenteuergeschichten, oder manchmal, wenn er unterwegs von einem Ort zum ändern war und ihre Gegenwart ihn nicht behinderte, brachte er ihnen etwas über den Wald, das Spurenlesen und die Tiere bei.

Sie waren geradezu versessen darauf, in Richards Gunst zu stehen, daher genügte ein Nicken oder Fingerzeig, wenn er allein sein wollte, und sie verschwanden augenblicklich. Sie durften oft dabei sein, wenn er bei Pasha war, zumal er sich dann ohnehin keinen wichtigeren Dingen widmen konnte. Pasha war enttäuscht, weil sie scheinbar keine Zeit mit ihm allein finden konnte, und ließ sich erst besänftigen, als Richard sie von der Liste mit Opfern der Burschen streichen ließ. Sie wußte es zu schätzen, daß niemand ihre eleganten Kleider naß spritzte und sie nicht befürchten mußte, eine Schlange in ihrem Halstuch vorzufinden.

Gelegentlich bat Richard Kipp und Hersh, kleinere Botengänge für ihn zu erledigen, nur um sie auf die Probe zu stellen. Er hatte vor, ihre Fähigkeiten auszunutzen.

Die anderen jungen Männer mit Halsring wollten Richard die Stadt zeigen. Zwei von ihnen, Perry und Isaac, die mit ihm zusammen im Guillaume-Haus lebten, nahmen ihn mit in die Stadt und zeigten ihm das Gasthaus, wo viele der Wachen zum Trinken hingingen, und schon bald darauf lud er den Schwertmann Kevin Andellmere zu jenem Bier ein, das er ihm versprochen hatte.

Richard fand heraus, daß die meisten der jungen Männer die Nächte außerhalb des Palasts in verschiedenen eleganten Gasthäusern überall in der Stadt verbrachten. Richard brauchte nicht lange, bis er in Erfahrung gebracht hatte, warum. Man hatte sie, genau wie ihn, mit Geld versorgt, und sie waren geübt darin, es auszugeben. Sie kauften sich elegante Kleidung, kleideten sich wie Prinzen und suchten sich die vornehmsten Unterkünfte zum Übernachten aus.

An Frauen, die den Wunsch hegten, diese Unterkünfte mit ihnen zu teilen, bestand kein Mangel. Und es handelte sich um erstaunlich schöne Frauen.

Wenn Perry und Isaac ihn in die Stadt begleiteten, waren sie stets bald von hübschen Mädchen umringt. Richard hatte noch nie so dreiste Frauen gesehen. Jeden Abend wählten die beiden Männer sich je eine Frau aus, manchmal mehrere, kauften ihnen ein Kleid oder irgendwelchen Tand und zogen sich auf ihre Zimmer zurück.

Die beiden erklärten ihm, wenn er sich nicht die Mühe machen und seine Zeit auch für Kaufen von Geschenken verschwenden wolle, könne er auch einfach in eines der Bordelle gehen, sie versicherten ihm jedoch, die Frauen dort seien weder so jung noch annähernd so hübsch wie die Mädchen, die sich auf der Straße an sie heranmachten. Sie gaben allerdings zu, selbst manchmal die Huren aufzusuchen, wenn ihnen nicht danach zumute war, für nichts weiter als einen schlichten Akt der Paarung ihre Zeit mit Geselligkeiten zu vergeuden.

Sobald sein Halsring entdeckt wurde, zog Richard die Frauen ebenso an wie Perry oder Isaac. Richard begann in einem neuen Licht zu sehen, was Schwester Verna mit ihrer Äußerung gemeint hatte, er werde bald ein anderes Paar hübscher Beine finden. Die beiden anderen Männer hielten Richard für verrückt, weil er all die Offerten ablehnte. Manchmal fragte sich Richard, ob sie nicht vielleicht sogar recht hatten.

Richard fragte Perry und Isaac, ob sie nicht befürchteten, daß der Vater einer der Frauen ihnen den Schädel spaltete. Lachend erwiderten sie, manchmal würden Väter ihre Töchter sogar zu ihnen bringen. Richard warf die Arme in die Höhe und fragte sie, ob sie keine Angst hätten, eine Frau, die sie nicht einmal kannten, zu schwängern. Sie erklärten, wenn eine Frau ›schwanger wurde‹, sorgte der Palast für sie und das Kind und für ihre gesamte Familie.

Als Richard Pasha fragte, was hinter solch seltsamen Gebräuchen steckte, verschränkte sie die Arme über der Brust und kehrte ihm den Rücken zu, während sie ihm erklärte, Männer verspürten unkontrollierbare Gelüste, und diese Gelüste könnten sie davon ablenken zu lernen, wie man sein Han gebrauchte. Daher ermutigten die Schwestern die Männer, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Deswegen ging sie nie des Nachts mit ihm in die Stadt. Es war ihr untersagt, sich seinen … Bedürfnissen in den Weg zu stellen.

Dann drehte sie sich wieder zu ihm und flehte ihn an, er möge doch mit seinen Bedürfnissen zu ihr kommen, sie wolle dafür sorgen, daß er gar nicht erst den Wunsch verspürte, zu einer anderen Frau zu gehen. Und wenn er doch in die Stadt ging, sollte er ihr wenigstens erlauben, eine der Frauen zu sein, mit denen er schlief. Sie erklärte ihm, sie könne ihn besser befriedigen als jede andere Frau, und bot sich an, es zu beweisen.

Solche Reden ließen Richard sprachlos zurück, von ihrem Benehmen ganz zu schweigen. Er erklärte Pasha, er gehe nur in die Stadt, um sich die Sehenswürdigkeiten anzusehen. Da er in den Wäldern aufgewachsen sei, habe er noch nie zuvor in einer Stadt herumstreifen können. Er erkläre ihr, dort, wo er herkomme, sei es nicht recht, eine Frau auf diese Weise zu behandeln.

Er versprach, zuerst zu ihr zu kommen, sollte ihn das Bedürfnis jemals überkommen. Sie war so glücklich, als sie dies hörte, daß es ihr nichts ausmachte, als er sie daran erinnerte, daß er noch nicht soweit sei. Sie hatte keine Ahnung von den Zeiten, in denen er sich so einsam fühlte, daß er arg versucht war, ihr nachzugeben. Sie war fraglos verführerisch, und manchmal fiel es ihm schwer, der Versuchung nicht nachzugeben.

Richard ließ sich von Pasha alles im Palast zeigen, was sie ihm zeigen konnte. Er bat sie, ihr etwas von der Stadt zu zeigen und sie zu einem Rundgang über die Hafenanlagen mitzunehmen, um sich die großen Boote anzusehen. Sie erklärte, daß man diese Boote Schiffe nannte, weil sie hinaus aufs Meer fuhren. Richard hatte auf dem Wasser noch nie so etwas Riesiges gesehen. Sie erklärte ihm, mit ihnen würden Handelsgüter aus den Städten der Alten Welt weiter unten an der Küste herbeigebracht.

Pasha ging mit ihm ans Meer. Dort saßen sie stundenlang und beobachteten die Wellen oder erforschten die Tümpel, die die Gezeiten zurückließen. Richard war überrascht, als er hörte, daß das Meer sich mit den Gezeiten auf und ab bewegte — ganz von selbst. Sie versicherte ihm, das habe nichts mit der Magie des Palastes zu tun, denn es sei überall am Meer so. Das Meer faszinierte Richard. Pasha war zufrieden, einfach mit ihm dazusitzen. Doch oft konnte sich Richard diese Mußestunden nicht erlauben. Er hatte etwas zu erledigen.

Abends durfte Pasha ihn nicht in die Stadt begleiten, denn er könnte sich ja entschließen, mit einer Frau zusammenzusein. Ständig mußte er sie beruhigen, daß dies nicht der Grund sei, weshalb er nachts ausging. Da es der Wahrheit entsprach, fiel es ihm nicht schwer, sie davon zu überzeugen. Doch was er wirklich tat, erzählte er ihr nicht.

Richard kam zu der Überzeugung, solange der Palast gewillt war, ihn mit Geld zu versorgen, sollte er ruhig seinen eigenen Untergang finanzieren. Er gab das Geld des Palastes aus, wo immer es ihm von Nutzen war. Er wurde zum Stammkunden in den Tavernen und Gasthäusern, die regelmäßig von den Palastwachen aufgesucht wurden. Wann immer er dort war, brauchte niemand für seine Getränke zu zahlen.

Richard machte sich die Mühe, alle ihre Namen zu lernen. Nachts schrieb er den Namen jedes neuen Postens nieder, den er kennengelernt hatte, sowie alles, was er über diesen oder einen der anderen Posten hatte in Erfahrung bringen können. Die größte Aufmerksamkeit widmete er denen, die den Komplex der Prälatin und die anderen Orte bewachten, zu denen ihm der Zutritt untersagt war. Wann immer er sich im Palast aufhielt, blieb er bei den Posten stehen und erkundigte sich nebenbei nach ihrem Leben, ihren Freundinnen, ihre Frauen, Eltern, Kindern, dem Essen und ihren Schwierigkeiten.

Richard kaufte Kevin besondere, teure Pralinen, auf die seine Freundin ganz versessen war, die Kevin sich jedoch von seinem Gehalt kaum leisten konnte. Die Pralinen brachten Kevin die besondere Gunst seines Mädchens ein. Kevins Miene hellte sich auf, sobald er Richard kommen sah, auch wenn er manchmal müde wirkte.

Richard lieh jedem Posten Geld, der ihm darum bat, obwohl er wußte, daß es nie zurückgezahlt werden würde. Als einige sich zu entschuldigen suchten, warum sie das Geld nicht zurückzahlen könnten, wollte Richard nichts davon wissen und erklärte ihnen, er habe Verständnis und käme sich komisch vor, wenn sie sich Sorgen machten.

Zwei der Hartgesottensten, die eine verbotene Zone an der Westseite des Palastes bewachten, ließen sich zwar von ihm zum Bier einladen, ansonsten wurde er mit ihnen nicht recht warm. Richard betrachtete dies als Herausforderung. Schließlich kam er auf die Idee, ihnen die Dienste von vier Prostituierten zu bezahlen — zwei für jeden — um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sie wollten wissen, warum. Richard erklärte ihnen, daß der Palast ihn mit Geld versorge und er nicht einsehe, warum nur er etwas davon haben sollte. Er erklärte ihnen, sie müßten den ganzen Tag auf den Beinen sein, um den Palast zu bewachen, deshalb sei es nur gerecht, wenn der Palast ihnen mal eine Frau bezahlte.

Das Angebot war zu gut, um es auszuschlagen. Schon bald zwinkerten sie ihm verstohlen zu, wenn er vorüberging. Nachdem er sie erst einmal mit seinem Angebot gefügig gemacht hatte, sorgte er dafür, daß sie Grund hatten, ihm noch häufiger zuzuzwinkern.

Wie Richard vorausgesehen hatte, begann die beiden Posten mit ihren Techtelmechteln zu prahlen. Als einige der anderen Männer dahinterkamen, daß Richard den beiden bereitwillig die Dienste der Damen zur Verfügung gestellt hatte, wiesen sie darauf hin, es sei den anderen gegenüber nicht gerecht, ausgeschlossen zu werden. Richard gestand ihrem Argument eine gewisse Logik zu. Doch fehlte ihm die Zeit, individuelle Wünsche zu erfüllen, und schließlich hatte er eine Idee.

Er fand die Madame eines Bordells, die aufgeschlossen war für ein originelles geschäftliches Arrangement. Er stellte dem Etablissement einen Vorschuß zur Verfügung, der nur seinen ›Freunden‹ offenstand. Er rechnete sich aus, daß er auf diese Weise dem Palast einer individuellen Regelung gegenüber tatsächlich sogar Geld ersparte.

Die Männer sollten sich daran erinnern, wem sie ihren Dank schuldig waren, daher mußten sie der Madame das Losungswort ›ein Freund von Richard Cypher‹ angeben, bevor sie eingelassen wurden. Andere Auflagen gab es nicht. Richard gewährte der Madame eine kräftige Erhöhung des Vorschusses, als sie sich bei ihm beschwerte, die Geschäfte würden sich beständiger entwickeln, als sie vorausgesehen hatte.

Richard tröstete sein Gewissen wegen der moralischen Bedenken über sein Vorgehen, indem er sich immer wieder sagte, daß er für das, was die Menschen taten, keine Verantwortung trüge, daß es ihm vielleicht jedoch ersparte, Wachen töten zu müssen, wenn der Zeitpunkt gekommen war. In diesem Licht betrachtet ergab es Sinn.

Eines Tages war Pasha bei ihm, als ein Mann ihm zuzwinkerte. Sie wollte wissen, warum. Er erklärte ihr, das läge daran, daß er in Begleitung der attraktivsten Frau aus dem Palast sei. Sie strahlte eine Stunde lang.

Richard gewöhnte die Wachen auch an das schwarze Cape des Mriswith, welches er ständig trug. Wenn Pasha ihn begleitete, machte er sie glücklich, indem er häufig jene rote Jacke trug, die sie am liebsten mochte. Gelegentlich trug er auch die anderen: die blaue, die dunkelblaue, die braune oder die grüne. Am liebsten ging Pasha mit ihm in die Stadt, doch führten sie ihre Spaziergänge auch in die nähere Umgebung, wo sie an den Dingen teilzuhaben versuchte, die Richard interessierten.

Richard fand heraus, daß die Wachen Soldaten der Imperialen Ordnung waren, ein für den Palast abgestelltes Sonderkommando. Die Imperiale Ordnung herrschte überall in der Alten Welt, schien gegenüber dem Palast jedoch eine Politik der Nichteinmischung zu verfolgen. Keine der Schwestern und kein Mann, der den Rada’Han trug, wurde je von ihnen behelligt.

Die Wachen waren im Palast stationiert und kümmerten sich um all die Menschen, die die Drahle-Insel aufsuchten. Jeden Tag strömten Menschen über die Brücken, um den Palast zu besuchen. Schwestern empfingen Bittsteller mit jeglichem Anliegen. Manche ersuchten um Mildtätigkeit, andere um Schlichtung bei einem Streit, und einige wollten in der Weisheit des Schöpfers unterwiesen werden. Wieder andere kamen, um in den Höfen zu beten, die über die gesamte Insel verstreut waren. Ihnen war der Palast heilig, in dem die Schwestern des Lichts lebten.

Richard erfuhr, daß die Stadt Tanimura, so riesig sie war, nur einen Außenposten der Alten Welt am Rande des Imperiums darstellte. Offenbar hatte der Kaiser der Imperialen Ordnung eine Übereinkunft mit dem Palast getroffen, die Wachen zu stellen, jedoch keine Gesetze vorgeschrieben. Richard vermutete, daß die Wachen sich in den Augen des Kaisers in einem Gebiet seines Reiches befanden, wo man ihm die Regierungsgewalt abstritt. Richard fragte sich, was der Kaiser als Gegenleistung für diese Regelung erhielt.

Richard erfuhr auch, daß in wenigstens einer der verbotenen Zonen die Schwestern einen ›besonderen Gast‹ beherbergten, der sich niemals zeigte. Mehr jedoch konnte er nicht in Erfahrung bringen.

Richard ging dazu über, die Loyalität der Wachen mittels kleiner, harmloser Wünsche auf die Probe zu stellen. Er erklärte Kevin, er wolle eine besondere Rose für Pasha, die nur im Trakt der Prälatin wuchs. Richard machte es sich zur Gewohnheit, Pasha Kevin zu präsentieren, wenn sie die gelbe Rose trug. Kevin strahlte vor Stolz.

In anderen verbotenen Zonen benutzte Richard die Ausrede mit der Blume ebenfalls, oder er erzählte, er wolle den Blick aufs Meer von einer bestimmten Mauer aus genießen. Er achtete darauf, zu jeder Zeit im Blick zu bleiben, um die Wachen zu beruhigen und ihre Vorsicht zu mindern.

Es dauerte nicht lange, bis er alle Wachen an seine Ausflüge gewöhnt hatte. Nach einer Weile kam und ging er fast nach Belieben. Er war ihr Freund — ein vertrauenswürdiger und nützlicher Freund.

Da er schon so viele Blumen aus den verbotenen Bereichen sammelte, setzte er sie auch zu seinem Vorteil ein — er verschenkte sie an die Schwestern, die mit ihm übten. Sie reagierten verwirrt darauf, daß er ihnen Blumen aus den verbotenen Bereichen schenkte. Er erklärte, die Schwestern, die ihn ausbildeten, wären für ihn etwas Besonderes, daher wolle er ihnen nicht irgendwelche Blumen schenken. Abgesehen davon, daß dies sie erröten ließ, entschärfte diese Erklärung auch den ansonsten unvermeidbaren Verdacht, wenn er sich häufig in verbotenen Bereichen aufhielt.

Soweit Richard feststellen konnte, gab es an die zweihundert Schwestern, aber nur sechs arbeiteten mit ihm.

Die Schwestern Tovi und Cecilia waren älter und so liebevoll wie vernarrte Großmütter. Tovi brachte immer Kekse oder eine andere Kleinigkeit zu ihren Sitzungen mit. Cecilia bestand darauf, ihm das Haar mit den Fingern aus der Stirn zu streichen und ihm dorthin einen Kuß zu geben, bevor sie nach getaner Arbeit aufbrach. Beide erröteten heftig, als er ihnen seltene Blumen schenkte. Richard fiel es schwer, sich die beiden als mögliche Feinde vorzustellen.

Als Schwester Merissa zum ersten Mal an seiner Tür erschien, hätte Richard fast seine Zunge verschluckt. Ihr dunkles Haar und die Art, wie sie ihr rotes Kleid ausfüllte, ließen ihn stammeln wie einen Trottel. Schwester Nicci, die niemals eine andere Farbe trug als Schwarz, hatte die gleiche Wirkung auf ihn. Wenn Schwester Nicci ihn mit ihren blauen Augen durchbohrte, hatte er Mühe, das Atmen nicht zu vergessen.

Die Schwestern Merissa und Nicci waren älter als Pasha — in seinem Alter oder höchstens vielleicht ein paar Jahre älter. Sie traten selbstsicher und mit gesetztem Charme auf. Obwohl Merissa dunkel und Nicci blond war, schienen sie aus demselben seltenen Holz geschnitzt zu sein.

Ihrer beider Han verstrahlte eine Kraft, die sie fast erglühen ließ. Manchmal glaubte Richard, er könne die Luft um sie geradezu knistern hören. Die beiden gingen nicht. Sie schwebten dahin — wie Schwäne, kühl und heiter. Und doch war Richard überzeugt, daß sie beide mit ihrem freundlichen Lächeln Eisenerz zum Schmelzen bringen konnten.

Keine von ihnen grinste jemals. Sie ließen einem höchstens ein kleines, gezähmtes Lächeln zuteil werden. Und auch nur dann, wenn sie ihm in die Augen sahen. Richard spürte, wie sein Herz schneller schlug, wenn sie es taten.

Einmal bot er Schwester Nicci eine seiner seltenen Blumen aus einem verbotenen Bereich an. Seine Erklärung, woher sie stammte und weshalb er sie ihr zum Geschenk machte, war augenblicklich wie verflogen. Sie nahm die weiße Rose behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger, so als könnte sie ihre Hand beschmutzen, und während sie den Blick auf seine Augen geheftet hielt, lächelte sie, wie immer zurückhaltend, und meinte in gleichgültigem Ton: »Danke, Richard.« Er mußte daran denken, wie Pasha ihm erzählt hatte, daß manche Burschen den Schwestern Frösche mitbrachten. Nie wieder schenkte er den Schwester Merissa oder Nicci eine Blume. Alles andere als Juwelen von unschätzbarem Wert schien sie zu beleidigen.

Keine der beiden erbot sich, bei den Sitzungen auf dem Fußboden Platz zu nehmen. Bereits die Vorstellung, Schwester Merissa oder Nicci könnten auf dem Boden sitzen, erschien ihm lächerlich. Die älteren Schwestern, Tovi und Cecilia, saßen, genau wie Pasha, auf dem Fußboden, und es wirkte vollkommen normal. Die Schwestern Merissa und Nicci saßen auf Sesseln und hielten seine Hände über einem kleinen Tisch. Es hatte irgendwie etwas Erotisches. Ihm brach der Schweiß dabei aus.

Beide sprachen in ruhigen, gewählten Worten, was ihrem Auftreten einen Hauch von Adel verlieh. Zwar machten sie nie ein direktes Angebot, doch irgendwie gelang es ihnen, Richard nicht im Zweifel zu belassen, daß sie für eine Nacht mit ihm zur Verfügung stünden. Richard hätte niemals etwas Konkretes an ihren Äußerungen festmachen können, was diesen Eindruck bestätigt hätte, doch Zweifel hatte er keine. Ihre verblümte Ausdruckweise ließ ihm den Raum, so zu tun, als habe er ihre Absicht überhört, und keine der beiden erläuterte das Gesagte je näher.

Er betete dafür, daß sie ihr Angebot nie deutlicher zum Ausdruck brächten, denn täten sie es, dann, so wußte er, hätte er sich die Zunge abbeißen müssen, um sich zurückzuhalten und nicht einzuwilligen. Die beiden riefen stets in Erinnerung, was Pasha ihn über die Männer und ihre unkontrollierbaren Triebe erzählt hatte. Nie war er in der Gegenwart von Menschen gewesen, die ihn so stammeln und herumtappen ließen und bei denen er sich scheinbar so zum Narren machte, wie bei diesen beiden. Die Schwestern Merissa und Nicci waren die Verkörperung purer, unverfälschter Lust.

Als Pasha herausfand, daß die Schwestern Merissa und Nicci zwei seiner Lehrerinnen waren, zuckte sie kurz mit den Achseln und meinte, sie seien äußerst begabte Schwestern und würden ihm sicherlich helfen, sein Han zu finden. Doch auf ihren Wangen erschienen plötzlich rote Flecken.

Als Perry und Isaac von den Schwestern Merissa und Nicci hörten, hätte sie fast der Schlag getroffen. Sie sagten, sie würden alle Frauen der Stadt aufgeben, für immer, nur um eine Nacht mit einer der beiden verbringen zu können. Richard solle, wenn sich ihm je die Gelegenheit böte, unbedingt annehmen und ihnen alles bis in die Einzelheiten berichten. Richard versicherte ihnen, daß Frauen wie diese beiden sich niemals für einen Waldführer wie ihn interessieren würden.

Er wagte nicht laut auszusprechen, daß man ihm das Angebot bereits gemacht hatte.

Die fünfte Schwester, Armina, war älter — eine reife Frau, die durchaus freundlich war, aber durch und durch bei der Sache. Als er bei seiner Suche, sein Han zu finden, bei ihr ebensowenig Glück hatte wie bei den anderen, erklärte sie ihm, das werde mit der Zeit schon kommen, und er solle nicht enttäuscht sein. Aber vielleicht sollte er versuchen, sich ein wenig mehr Mühe zu geben. Mit der Zeit erwärmte sie sich für ihn und lächelte häufiger. Sie war überrascht über die besonderen Blumen und fühlte sich geschmeichelt. Dabei errötete sie darüber, daß sie errötete. Richard mochte ihre gerade, offene Art.

Die letzte, Liliana, war Richards Lieblingsschwester. Ihr unbeschwertes Lächeln war entwaffnend, ihr schlichtes, knochiges Äußeres irgendwie gewinnend, dank ihrer offenen, netten Art. Sie behandelte Richard wie einen Vertrauten. Richard fühlte sich bei ihr gelöst und verbrachte manchmal mehr Zeit mit ihr, als er sich erlauben konnte, unterhielt sich mit ihr bis tief in die Nacht, einfach, weil er ihre Gesellschaft genoß. Auch wenn er keine Freundinnen unter seinen Häschern hatte, sie kam dem näher als alle anderen.

Als Richard ihr eine der besonderen Blumen schenkte, strich sie sich ihre braunen Haare hinters Ohr und beugte sich nach vorn. Ihre großen Augen glitzerten schelmisch, als sie wissen wollte, wie er an den Wachen vorbeigekommen war. Sie mußte kichern, als er ihr die Geschichte erzählte, die er sich ausgedacht hatte: Er sei hinter ihrem Rücken vorbeigeschlichen. Sie steckte jede Rose von ihm stolz in ein Knopfloch und trug sie, bis sie entweder verwelkt war oder er ihr eine neue geschenkt hatte.

Wenn sie ihn auf freundschaftliche Weise berührte, so schien dies ganz natürlich. Er stellte fest, daß er ihr auf die gleiche Art die Hand auf den Arm legte, wenn er ihr komische Geschichten aus seiner Zeit als Waldführer erzählte. Sie brüllten zusammen vor Lachen, hielten sich die Bäuche, bis ihnen die Tränen kamen.

Schwester Liliana erzählte ihm, wie sie auf einem Bauernhof aufgewachsen war und wie sehr sie das Land liebte. Mehrere Male lud Richard sie zu einem Picknick draußen in den Hügeln ein. Sie fühlte sich wohl auf dem Land und war glücklich. Es machte ihr nichts aus, sich das Kleid schmutzig zu machen. Richard konnte sich nicht vorstellen, daß weder Schwester Merissa noch Schwester Nicci je den Fuß auf nackte Erde setzen würden, Schwester Liliana dagegen hockte sich einfach neben ihm auf den Boden.

Sie machte ihm niemals das Angebot, mit ihm zu schlafen. Allein das nahm ihm alle Befangenheit. Nie war ihr irgendeine Verstellung anzumerken, sie schien ihre Zeit mit ihm ehrlich zu genießen. Wenn er die Augen nach einer Sitzung mit ihr öffnete und gestand, kein Han gespürt zu haben, dann drückte sie ihm die Hände und erklärte ihm, das sei in Ordnung, und sie wolle sich beim nächsten Mal noch mehr Mühe geben, ihm zu helfen.

Richard ertappte sich dabei, wie er ihr Dinge erzählte, die er keiner der anderen verriet. Als er ihr anvertraute, wie sehr er sich wünschte, den Rada’Han loszuwerden, legte sie ihm eine Hand auf den Arm, zwinkerte ihm zu und meinte, sie wolle dafür sorgen, daß er seinen Wunsch erfüllt bekäme, und sie es, wenn die Zeit gekommen sei, selbst tun werde. Sie sagte, sie verstehe, wie er empfinde, und meinte, er solle Vertrauen haben.

Sie versprach, ihm zu helfen und den Halsring abzunehmen, sollte seine Geduld eines Tages zu Ende sein und er es wirklich nicht mehr aushalten. Sie wollte aber, daß er wußte, wie sehr sie an ihn glaube, wie sehr sie wollte, daß er sich alle Mühe gab, um zu lernen, sein Han zu kontrollieren, bevor er dies auch nur in Erwägung zog.

Sie meinte, andere junge Männer versuchten, ihren Halsring zu vergessen, indem sie mit jeder willigen Frau ins Bett gingen. Sie erklärte ihm, sie verstehe seine Triebe, hoffe aber, sollte er sich je entscheiden, mit einer Frau ins Bett zu gehen, dann deswegen, weil er sie liebte, und nicht, weil er versuchte, seinen Halsring zu vergessen. Sie riet ihm, nicht zu den Huren zu gehen, denn die seien schmutzig, und dort könne er sich Krankheiten holen.

Richard erzählte ihr, er sei in eine Frau verliebt und wolle ihr nicht untreu sein. Sie schmunzelte, gab ihm einen Klaps auf den Rücken und meinte, sie sei stolz auf ihn. Richard verriet ihr nicht, daß Kahlan ihn fortgeschickt hatte, hätte es aber gern getan. Er wußte, eines Tages, wenn er es nicht länger aushielt, konnte er dies Liliana sagen, und sie würde zuhören und ihn verstehen.

Weil er sich in ihrer Gegenwart so wohl fühlte, hatte er das Gefühl, wenn ihm überhaupt jemand helfen konnte, seinen Han zu finden, dann sie. Richard hatte nur einen Bruder gehabt und wußte nicht, wie es war, eine Schwester zu haben, doch er stellte sich vor, wenn er eine hätte, dann müßte sie wie Liliana sein. Der Name Schwester Liliana hatte für ihn eine andere Bedeutung als beabsichtigt. Sie schien eine Seelenverwandte zu sein.

Trotzdem konnte er sich ihr nicht völlig öffnen. Die Schwestern waren seine Häscher, nicht seine Freunde. Sie waren im Augenblick der Feind. Dennoch wußte er, wenn die Zeit käme, würde sich Liliana auf seine Seite schlagen.

Richards Unterricht mit den sechs Schwestern nahm höchstens zwei Stunden pro Tag in Anspruch. Zwei vergeudete Stunden, soweit es ihn betraf. Er war dem Berühren seines Han nicht näher als beim ersten Mal, als Schwester Verna es ihn hatte versuchen lassen.

Wenn Richard es einrichten konnte, allein zu sein, erkundete er das Land um den Palast, und dabei entdeckte er die Grenzen seiner unsichtbaren Kette. Als er die weiteste Entfernung erreicht hatte, die ihm sein Halsring zugestand, fühlte sich dies an, als ginge er durch eine drei Meter dicke Lage Schlamm. Es war niederschmetternd, ungehindert darüber hinausblicken, jedoch nicht weitergehen zu können.

Soweit er es beurteilen konnte, lag diese Grenze in jeder Richtung gleich weit vom Palast entfernt. Es waren etliche Meilen, doch nachdem er die Grenze einmal gefunden hatte, begann seine Welt sehr zu schrumpfen.

Am Tag, als er die Grenze seines Gefängnisses entdeckte, ging er in den Hagenwald und tötete einen Mriswith.

Sein einziger wahrer Trost war Gratch. Richard verbrachte die meisten Nächte mit dem Gar. Er machte Ringkämpfe mit seinem pelzigen Freund und aß mit ihm. Richard jagte Nahrung für Gratch, doch der Gar lernte, allein auf die Jagd zu gehen. Richard war erleichtert, als er dies bemerkte. Er hatte nicht die Zeit, jede Nacht bei ihm zu sein. Hungrig oder nicht, Gratch war immer besorgt, wenn Richard eine Nacht ausblieb.

Richard war besorgt, Pasha könnte durch seinen Halsring erfahren, wo er ständig hinging, ganz zufällig jedoch entdeckte er eine weitere Fähigkeit des Mriswith-Capes: Es verbarg seinen Aufenthaltsort vor Pasha. Wenn er das Cape trug, konnte sie ihn mit Hilfe seines Halsrings, seines Han, nicht aufspüren.

Das Verschwinden seines Aufenthaltsortes aus ihren Sinnen verwirrte sie, doch sie wirkte nicht übermäßig besorgt und meinte, dafür gäbe es vielleicht eine Erklärung, auf die sie eines Tages noch kommen werde. Richard fragte sich, wieso er die Bestie in Gedanken hatte sehen können. Vielleicht war es, wie Schwester Verna gesagt hatte, daß er sein Han gebrauchte. Doch Schwestern und Zauberer wußten ebenfalls, wie man sein Han benutzt, und konnten den Mriswith trotzdem nicht entdecken.

Für Richard war es einfacher, hingehen zu können, wo er wollte, und dabei zu wissen, daß Pasha keine Ahnung hatte, wo er sich befand. Es ersparte ihm, sich Erklärungen ausdenken zu müssen. Er befürchtete, sollte sie je dahinterkommen, könnte sie das Cape zerstören, daher versteckte er ein zweites für eben diesen Fall.

Gratch schien jedesmal gewachsen zu sein, wenn Richard ihn sah. Gegen Ende von Richards erstem Monat im Palast war der Gar bereits einen Kopf größer als Richard und bedeutend kräftiger. Gratch lernte, vorsichtig zu sein, damit er Richard nicht verletzte, wenn sie miteinander rangen.

Abgesehen davon verbrachte Richard einen Teil seiner Zeit mit Warren und brachte ihm die Welt draußen näher. Anfangs nahm er Warren nachts mit hinaus in die Innenhöfe. Warren hatte ihm erklärt, die Weite des Himmels und der Landschaft machten ihm angst. Richard folgerte daraus, daß er nachts weniger von der Landschaft sehen würde.

Warren meinte, die Schwestern hätten ihn so lange in den Gewölben hocken lassen, bis er glaubte, er habe sich einfach an das Eingeschlossensein gewöhnt, doch jetzt sei er es leid. Richard hatte Mitleid mit ihm und wollte ihm helfen. Er mochte Warren wirklich. Er war so ziemlich der klügste Mensch, den Richard je kennengelernt hatte. Es schien keine Sache zu geben, über die Warren nichts wußte.

Warren wurde nervös, wenn er sich aus der Geborgenheit des Palastes entfernen sollte, doch Richards Gegenwart und der Umstand, daß er sich nie über seine Ängste lustig machte, beruhigten ihn. Richard war stets voller Rücksicht und nahm Warren niemals weiter mit, als es diesem ohne Beschwerden möglich war. Richard erklärte ihm, es sei wie nach einer Verletzung, wenn man eine Zeit ans Bett gefesselt war: Es dauere eine Weile, bis man die alten Muskeln wieder strecken konnte.

Nach ein paar Wochen dieser nächtlichen Ausflüge ging Richard dazu über, Warren bei Tageslicht mit hinauszunehmen, anfangs hinauf auf die Mauern, von wo aus man die Weite des Himmels und des Meeres betrachten konnte. Warren blieb stets in der Nähe einer Treppe, die zurück ins Innere des Palastes führte, damit er immer einen Fluchtweg in der Nähe wußte, sobald er das Gefühl bekam, zurück nach drinnen zu müssen. Ein paarmal war dies der Fall, und Richard begleitete ihn und lenkte das Gespräch auf andere Themen, um ihn von diesem unangenehmen Gefühl abzulenken. Richard ermutigte Warren, ein Buch mit nach draußen zu nehmen, so daß er sich mit Lesen ablenken konnte. Warren dazu zu bringen, die Weite des Himmels zu vergessen, half.

An einem hellen, sonnigen Tag, nachdem Warren seine Beklommenheit im Freien abgelegt hatte, beschloß Richard ihn in die Hügel mitzunehmen. Zunächst war Warren ein wenig schwindelig, doch als sie dann auf einem Felsen hoch in den Hügeln saßen und auf die Landschaft und die Stadt hinunterblickten, meinte Warren, er habe das Gefühl, seine Angst überwunden zu haben. Er fühlte sich zwar immer noch beklommen, spüre jedoch, daß er die Angst unter Kontrolle habe.

Er mußte grinsen über die weite Landschaft, die sich unter ihm ausbreitete, und genoß den Ausblick, der ihm wegen seiner Ängste so lange vorenthalten worden war. Richard sagte ihm, er sei froh, derjenige zu sein, der ihn aus seinem Maulwurfsloch hätte holen können. Warren mußte lachen.

Warren sagte, er brauche ein wenig Abenteuer in seinem Leben, und dies scheine der Anfang dazu zu sein.

Was Warrens Nachforschungen anbetraf, so hatte er reichlich wenig in Erfahrung bringen können. Bislang hatte er nur ein paar Hinweise in alten Büchern entdeckt, in denen vom Tal der Verlorenen und den Baka Ban Mana die Rede war. Was er jedoch gefunden hatte, war faszinierend. In der Quelle war von der Macht die Rede, die die Zauberer den Baka Ban Mana als Gegenleistung für ihr Land gegeben hatten, damit sie eines Tages ihr Land zurückbekommen konnten. Dort hieß es, sobald das Bindeglied sich mit der Macht vereinte, mit der ihre Seelenfrau ausgestattet war, würden die Türme fallen.

Richard dachte daran, daß Du Chaillu davon gesprochen hatte, er sei der Caharin, und sie beide jetzt Mann und Frau. Das war eine Art Verbindung. Er fragte sich, ob in der Zwischenzeit sich dieses Wort für Verbindung entgegen der ursprünglichen Bedeutung zu Ehe gewandelt haben konnte.

Während sie dasaßen und die weite Landschaft betrachteten, meinte Warren: »Die Prälatin hat Prophezeiungen und Geschichten gelesen, in denen vom ›Kiesel im Teich‹ die Rede ist.«

Richard wurde hellhörig. Er erinnerte sich, daß Kahlan ihm ein Lied über Screelings vorgesungen hatte, in dem ein ›Kiesel im Teich‹ vorkam. Warren hatte diese Prophezeiungen zuvor nicht untersucht und war bislang nicht imstande gewesen, das Puzzle ihrer Wichtigkeit zusammenzusetzen.

»Weißt du, wie das Zweite Gesetz der Magie lautet?« fragte Richard.

»Das Zweite Gesetz? Zauberer haben Gesetze? Wie lautet das Erste?«

Richard schaute hinüber. »Erinnerst du dich an den Abend, als Jedidiah sich das Bein brach und ich zu dir sagte, du hättest Teppichasche auf der Schulter? Und wie du versucht hast, sie abzuwischen? Da habe ich das Erste Gesetz der Magie angewandt.« Warren runzelte die Stirn. »Denk darüber nach, Warren, und sag mir, zu welchem Ergebnis du kommst. In der Zwischenzeit ist es wichtig, daß du deine Suche nach den Informationen vorantreibst, um die ich dich gebeten habe.«

»Nun, jetzt wird es etwas einfacher, da es Schwester Becky jeden Morgen übel ist und sie mir nicht mehr über die Schulter sieht. Sie ist schwanger«, gab er als Antwort auf Richards fragendes Stirnrunzeln.

»Haben viele Schwestern Kinder?«

»Klar«, sagte Warren. »Bei all den Zauberern, die nicht mehr in die Stadt gehen können. Die Schwestern helfen ihnen bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse, damit sie sich ihren Studien widmen können.«

Richard warf Warren einen argwöhnischen Blick zu. »Ist Schwester Beckys Kind von dir?«

Warren wurde heftig rot. »Nein.« Er hielt den Blick auf die Stadt gerichtet. »Ich warte auf die Frau, die ich hebe.«

»Pasha«, meinte Richard.

Warren nickte. Richard blickte hinunter zum Palast der Propheten und auf die Stadt, die ihn umgab. Bedürfnisse.

»Warren, erben alle Kinder die Gabe ihrer Väter?«

»O nein. Man sagt, vor vielen tausend Jahren, bevor die Alte und die Neue Welt getrennt wurden, hätten viele die Gabe besessen. Doch im Laufe der Zeit haben die Machthaber alle jungen Männer mit der Gabe methodisch ausgerottet, damit sie ihre Herrschaft nicht gefährden konnten. Sie versagten ihnen auch die nötige Ausbildung. Früher war es so, daß die Väter ihre Söhne ausbildeten, doch als immer weniger mit der Gabe geboren und immer mehr Generationen übersprungen wurden, behielten diejenigen, die wußten, wie man es macht, ihre Kenntnisse für sich. Aus diesem Grunde wurde auch der Palast der Propheten geschaffen — um denen zu helfen, die die Gabe besaßen, aber keinen Lehrer hatten.

Im Laufe der Zeit wurde die Gabe den Menschen weggezüchtet, so wie man Tieren ein bestimmtes Merkmal wegzüchtet. Dadurch bot sich den Zauberern, die die Macht in Händen hielten, noch weniger Widerstand.

Jetzt, da dieses Merkmal weggezüchtet ist, wird nur noch äußerst selten jemand mit der Gabe geboren. Vielleicht nur eins von tausend Kindern, die von einem Zauberer gezeugt werden, wird noch mit der Gabe geboren. Wir sind eine aussterbende Art.«

Richard sah wieder auf die Stadt, dann auf den Palast.

Den Blick auf den Palast geheftet, stand Richard langsam auf. »Sie kümmern sich nicht um unsere ›Bedürfnisse‹«, sagte er leise, »sie benutzen uns als Zuchtvieh.«

Warren sprang auf. Er runzelte die Stirn. »Was?«

»Sie benutzen den Palast, die jungen Männer im Palast, um Zauberer zu züchten.«

Die Falten auf Warrens Stirn wurden tiefer. »Aber warum?«

Richards Kiefernmuskeln spannten sich. »Ich weiß es nicht, aber ich habe die Absicht, es herauszufinden.«

»Gut«, meinte Warren grinsend. »Ich könnte ein Abenteuer gebrauchen.«

Richard sah ihn kalt an. »Weißt du, was ein Abenteuer ist, Warren?«

Warren nickte, das Lächeln noch immer im Gesicht. »Eine aufregende Erfahrung.«

»Abenteuer bedeutet, Todesangst zu haben und nicht zu wissen, ob man überleben oder sterben wird, oder ob die, die man liebt, überleben oder sterben werden. Abenteuer bedeutet, daß man in Schwierigkeiten steckt, aus denen man nicht wieder rauszukommen weiß.«

Warren spielte nervös mit dem Aufschlag seines Ärmels. »So habe ich das noch nie gesehen.«

»Das solltest du aber tun«, sagte Richard. »Ich habe nämlich vor, ein Abenteuer anzufangen.«

»Nun«, meinte Warren mit einem Zwinkern in den Augen, »ich habe wenigstens eines herausgefunden, das helfen kann.«

»Der Stein der Tränen?«

Warren nickte grinsend. »Ich habe herausgefunden, daß du ihn unmöglich gesehen haben kannst. Er ist hinter dem Schleier eingesperrt. In gewisser Weise ist er Teil des Schleiers.«

»Bist du sicher? Bist du sicher, daß ich ihn unmöglich gesehen haben kann?«

»Absolut. Der Stein der Tränen ist das Siegel, das den Namenlosen in seinem Gefängnis des Todes, in der Unterwelt eingesperrt hält. Er kann die Seelen der Toten beherrschen, die mit ihm dort sind, aber er kann nicht in unsere Welt hinein. Der Stein der Tränen sperrt ihn aus.«

»Gut«, meinte Richard mit einem Seufzer der Erleichterung. »Das ist großartig, Warren. Gute Arbeit.« Er packte sanft Warrens Gewand und zog ihn an sich. »Du bist also sicher. Es ist völlig ausgeschlossen, daß der Stein der Tränen sich in dieser Welt befindet.«

Warren nickte. »Völlig. Es ist unmöglich. Die einzige Möglichkeit, in diese Welt zu gelangen, besteht darin, durch das Tor zu kommen.«

Richard spürte, wie seine Haut zu kribbeln begann. »Das Tor? Was ist ›das Tor‹?«

»Nun, der Name sagt es bereits. Ein Durchgang. In diesem Fall ein Durchgang zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Es ist Magie aus beiden Welten, ein Durchgang, konstruiert aus Magie. Das Tor kann nur sowohl mit additiver als auch mit Subtraktiver Magie geöffnet werden. Der Namenlose verfügt nur über subtraktive Magie, daher kann er das Tor nicht öffnen. Genauso, wie jemand aus dieser Welt es nicht öffnen kann, da wir nur über additive Magie verfügen.«

Richard bekam eine Gänsehaut. »Aber jemand aus dieser Welt, jemand, der über beide Formen der Magie verfügt, könnte das Tor öffnen?«

»Nun ja, sicher«, stammelte Warren. »Vorausgesetzt, er ist im Besitz des Tores. Doch es ist seit über dreitausend Jahren verschollen. Es ist verschwunden.« Er lächelte Richard selbstbewußt an. »Wir sind in Sicherheit.«

Richard lächelte nicht. Er packte Warren mit beiden Händen an der Robe und riß sein Gesicht heran. »Warren, sag mir, daß das Tor nicht Magie der Ordnung genannt wird. Sag mir, daß das Tor nicht aus den drei Kästchen der Ordnung besteht.«

Warrens Augen weiteten sich langsam bis zur Größe zweier Goldmünzen. »Wo hast du die Namen dafür gehört?« fragte er leise in besorgtem Ton. »Ich bin neben der Prälatin und den beiden Schwestern der einzige im Palast, dem es gestattet ist, die Bücher zu lesen, die das Tor bei seinem alten Namen nennen.«

Richard biß die Zähne aufeinander. »Was geschieht, wenn eines der Kästchen geöffnet wird?«

»Sie können nicht geöffnet werden«, beharrte Warren. »Es geht nicht. Wie gesagt, man braucht beide Arten von Magie, additive wie auch subtraktive, um ein Kästchen zu öffnen.«

Richard rüttelte ihn. »Was passiert!«

Warren schluckte, die Augen noch immer aufgerissen. »Dann wird das Tor zwischen den Welten geöffnet. Der Schleier bekommt einen Riß. Das Siegel wird vom Namenlosen entfernt.«

»Und der Stein der Tränen befände sich in dieser Welt?« Warren nickte, während Richards Griff an seinem Gewand immer fester wurde. »Und wenn die Kästchen geschlossen würden, damit schlösse sich auch das Tor? Und der Riß wäre versiegelt?«

»Nein. Na ja, schon, aber es kann nur von jemandem mit der Gabe geschlossen werden. Man braucht das magische Gepräge, um das Tor zu schließen. Schließt jedoch jemand mit der Gabe der Kästchen und damit das Tor, dann wird das Gleichgewicht zerstört, denn er verfügt nur über additive Magie, und der Namenlose flieht aus der Unterwelt. Um es genauer zu sagen, diese Welt würde von der Welt der Toten geschluckt werden.«

»Wie kann man dann die Kästchen schließen, um die beiden Welten auseinanderzuhalten?«

»Genauso, wie sie geöffnet werden. Mit additiver und Subtraktiver Magie.«

»Und was ist mit dem Stein der Tränen?«

»Das weiß ich nicht. Das müßte ich nachlesen.«

»Dann solltest du dich damit beeilen.«

»Bitte«, greinte Warren, »du willst doch damit nicht etwa sagen, daß du weißt, wo die Kästchen sind. Du hast sie doch nicht etwa gefunden, oder?«

»Sie gefunden? Das letzte Mal, als ich die Kästchen gesehen habe, wurde eins geöffnet und war im Begriff, meinen Vater, diesen Bastard, in die Unterwelt zu ziehen.«

Warren fiel in Ohnmacht.

Загрузка...