Dicke, fette Schneeflocken rieselten herab. Manchmal fielen sie dichter, sammelten sich in Böen und wurden zu weißen Schleiern hochgewirbelt. Richard ritt hinter Schwester Verna. Das dritte Pferd war an seinem festgebunden. Wenn der Schnee in dichten Wirbeln vom Himmel stürzte, war von der Schwester kaum mehr als ein grauer Schatten zu sehen.
Er kam nie auf den Gedanken, sich zu fragen, wohin sie ritten, oder sein Gewand gegen den kalten, schneidenden Wind zu schließen. Es war ihm egal, alles war ihm egal.
Seine Gedanken fanden keine Ruhe und schienen mit dem Schnee zu treiben und zu tanzen. Noch nie in seinem Leben hatte er jemanden so geliebt wie Kahlan. Sie bedeutete ihm sein ganzes Leben.
Und sie hatte ihn fortgeschickt.
Sein Schmerz war so groß, daß er an nichts anderes denken konnte. Er war bestürzt, daß sie seine Liebe in Frage stellen und ihn fortschicken konnte. Warum nur, fragte er sich.
Diese schwermütigen Gedanken ließen ihn nicht los. Er begriff nicht, wie sie ihn hatte bitten können, als Beweis für seine Liebe einen Halsring anzulegen. Er hatte ihr doch erklärt, was das für ihn bedeutete. Vielleicht hätte er ihr alles erzählen sollen. Vielleicht hätte sie dann verstanden.
Die Stelle an seiner Brust, wo Darken Rahl ihn verbrannt hatte, schmerzte. Als er die Hand hob und den Verband berührte, merkte er schließlich, daß das Schneetreiben aufgehört hatte. Die tiefhängenden, dahinjagenden Wolken waren hier und dort aufgerissen und ließen schräge Balken leuchtenden Sonnenlichts durch. Die Steppe war von stumpfer, brauner Farbe, die Wolken von einem matten, toten Grau. Die Landschaft war farblos, leer.
Am Stand der Sonne erkannte er, daß es auf den späten Nachmittag zuging. Sie waren lange schweigend geritten. Schwester Verna hatte nicht gesprochen.
Er hob die Hand und befühlte probeweise zum erstenmal den Halsring. Er war glatt, nahtlos, kalt. Er hatte sich geschworen, niemals wieder einen Halsring anzulegen. Das hatte er sich selbst versprochen. Und nun war es doch passiert. Schlimmer noch, er hatte ihn mit eigener Hand angelegt, und zwar, weil Kahlan ihn darum gebeten hatte. Weil sie an ihm zweifelte.
Zum allerersten Mal, seit er ihn angelegt hatte, zwang er sich, an etwas anderes zu denken. Er konnte nicht länger an Kahlan denken, es war zu schmerzhaft. Er war der Sucher — es gab andere Dinge, über die er nachdenken mußte, wichtige Dinge. Mit einem sanften Druck seiner Unterschenkel auf den Sattelgurt seines Pferdes trieb er es nach vorn und holte den kastanienbraunen Wallach der Schwester ein.
Richard wollte die Kapuze seines Gewandes nach hinten schieben und stellte fest, daß er sie nicht einmal übergestreift hatte, also fuhr er sich statt dessen mit den Fingern durch sein nasses Haar.
»Es gibt ein paar Dinge, über die wir uns unterhalten müssen. Wichtige Dinge, von denen Ihr nichts wißt.«
Sie warf ihm einen unbeteiligten Blick zu. Der Rand ihrer Kapuze verdeckte einen Teil ihres Gesichts. »Und welche Dinge wären das?«
»Ich bin der Sucher.«
Sie sah nach vorn. »Das ist mir nicht neu.«
Ihre ruhige, unbeteiligte Art ging ihm auf die Nerven. »Ich habe Pflichten. Ich habe es Euch schon einmal gesagt: es geschehen wichtige Dinge, von denen Ihr nichts wißt. Gefährliche Dinge.« Sie reagierte nicht. Es war, als hätte er überhaupt nichts gesagt. Er beschloß, gleich zum Kern der Sache vorzustoßen. »Der Hüter versucht, aus der Unterwelt zu entkommen.«
»Wir sprechen seinen Namen niemals aus. Du darfst ihn nicht in einer Weise aussprechen, wie du es gerade getan hast. Das weckt seine Aufmerksamkeit. Wenn wir gezwungen sind, von ihm zu sprechen, bezeichnen wir ihn als den Namenlosen.«
Sie sprach mit ihm wie mit einem kleinen Kind. Kahlans Leben war in Gefahr, und diese Frau behandelte ihn wie ein Kind. »Ist mir völlig gleich, wie Ihr ihn nennt. Er versucht zu entkommen. Und eins laßt Euch gesagt sein: Ich habe seine Aufmerksamkeit bereits geweckt.«
Endlich sah sie zu ihm hinüber — gleichgültig. »Der Namenlose versucht immer auszubrechen.«
Richard holte tief Luft und versuchte es noch einmal. »Der Schleier zur Unterwelt ist eingerissen. Er wird entkommen.«
Schwester Verna blickte ihn erneut an, diesmal zog sie den Kapuzenrand zurück, um besser sehen zu können. Braunes, lockiges Haar lugte am Rand der Kapuze hervor. Sie hatte ihre Stirn auf seltsame Art in Falten gelegt. Als ob sie sich amüsierte. In ihren Mundwinkeln spielte die Andeutung eines Lächelns.
»Der Schöpfer selbst hat dem Namenlosen seinen Platz zugewiesen. Der Schöpfer selbst hat mit Seiner eigenen Hand den Schleier vorgezogen, um ihn dort festzuhalten.« Ihr Lächeln wurde etwas breiter. Dabei rückten ihre Brauen etwas aneinander, so daß sich ihre wettergegerbte Stirn in Falten legte. »Der Namenlose kann seinem Gefängnis nicht entkommen. Hab keine Angst, mein Kind.«
Vor Wut explodierend riß Richard sein kastanienbraunes Roß herum zur Schwester. Die beiden Pferde stießen aneinander, wieherten und warfen die Köpfe in den Nacken. Richard schnappte sich die Zügel des Pferds der Schwester mit festem Griff, um zu verhindern, daß es sich aufbäumte oder durchging.
Er beugte sich zu ihr hinüber, seine Brust hob und senkte sich immer noch vor Wut. »Ich lasse mich nicht beleidigen! Ich lasse mich nicht beschimpfen, nur weil ich einen Halsring trage! Ich bin Richard! Richard Rahl!«
Schwester Verna verzog keine Miene. Ihre Stimme blieb glatt und ungerührt. »Tut mir leid, Richard. Die Macht der Gewohnheit. Ich bin gewohnt, mit Knaben umzugehen, die viel jünger sind als du. Es war nicht herabwürdigend gemeint.«
Unter ihrem festen, starren Blick fühlte er sich plötzlich töricht, peinlich berührt. Wie ein kleines Kind. Er ließ die Zügel los. »Entschuldigt, ich wollte nicht so brüllen. Doch befinde ich mich nicht gerade in bester Stimmung.«
Sie runzelte erneut die Stirn. »Ich dachte, du heißt Richard Cypher.«
Er zog das Gewand vor seine Brust, dort, wo der Verband seine Brandwunde bedeckte. »Das ist eine lange Geschichte. George Cypher hat mich wie seinen eigenen Sohn großgezogen. Erst vor kurzem bin ich dahintergekommen, daß ich in Wahrheit Darken Rahls Sohn bin.«
Die Falten auf ihrer Stirn wurden tiefer. »Darken Rahl. Der mit der Gabe, den du getötet hast? Du hast deinen eigenen Vater umgebracht?«
»Seht mich nicht so an. Ihr habt ihn nicht gekannt. Ihr habt keine Ahnung, was für ein Mann er war. Er hat mehr Menschen ins Gefängnis geworfen, gefoltert und getötet, als Ihr oder ich uns vorstellen können. Es macht mich krank, mir vorzustellen, daß er mit meiner Mutter zusammen war. Aber das ist nun einmal leider die Wahrheit. Ich bin sein Sohn. Wenn Ihr wollt, daß es mir leid tut, ihn getötet zu haben, könnt Ihr lange warten — länger als eine Ewigkeit.«
Schwester Verna schüttelte sichtlich ernsthaft besorgt den Kopf. »Das tut mir leid, Richard. Manchmal bestimmt der Schöpfer seltsame Wege für unser Leben, und uns bleibt nichts, als uns zu wundern. Aber einer Sache bin ich mir ganz sicher: Er hat seine Gründe für das, was Er tut.«
Geschwätz. Er bekam von dieser Frau Geschwätz zu hören. »Ich sage Euch, der Schleier ist eingerissen, und der Hüter ist dabei auszubrechen.«
Sie senkte bedrohlich ihre Stimme. »Der Namenlose.«
Er sah kurz genervt zu ihr hinüber. »Na schön. Der Namenlose. Es ist mir vollkommen egal, wie Ihr ihn nennen wollt, aber er wird ausbrechen. Wir alle befinden uns in großer Gefahr.«
Kahlan war in großer Gefahr.
Es war ihm völlig gleichgültig, ob diese Magierin von einer Schwester ihn zu Schlacke verbrannte, sein eigenes Leben bedeutete ihm nichts mehr. Seine einzige Sorge war Kahlans Sicherheit.
Schwester Verna setzte wieder ihr spöttisches Stirnrunzeln und Grinsen auf. »Wer hat dir so etwas erzählt?«
»Shota, eine Hexe — sie hat mir gesagt, der Schleier hätte einen Riß bekommen.« Er erwähnte nicht, daß Shota ihm ebenfalls erzählt hatte, daß er es war, der ihn zerrissen hatte. »Sie sagte, er sei eingerissen, und wenn er nicht geschlossen werde, werde der Hü — der Namenlose entkommen.«
Schwester Verna lächelte. »Eine Hexe.« Sie lachte kurz auf. »Und du hast ihr geglaubt? Du hast einer Hexe geglaubt? Du glaubst, Hexen sprechen auf derart simple Weise die Wahrheit?«
Richard funkelte sie wutentbrannt aus den Augenwinkeln an. »Sie schien sich ihrer Sache ziemlich sicher zu sein. In einer so wichtigen Angelegenheit würde sie nicht lügen. Ich glaube ihr.«
Schwester Verna schien sich über ihn zu amüsieren. »Hättest du jemals zuvor mit Hexen zu tun gehabt, Richard, dann wüßtest du, daß sie eine eigenartige Sicht der Dinge haben. Manchmal haben sie die besten Absichten, doch selten ereignet sich das, was man aus ihren Worten zu hören glaubt, wirklich so.«
Das nahm ihm ein wenig den Wind aus den Segeln. Offenkundig kannte Schwester Verna sich mit Hexen aus. Genaugenommen schien sie sogar seine Ansicht über sie zu teilen.
»Sie war sich ihrer Sache ziemlich sicher. Sie hatte Angst.«
»Davon bin ich überzeugt. Ein weiser Mensch hat immer Angst vor dem Namenlosen. Aber auf das, was sie sagt, würde ich nicht allzuviel geben.«
»Es ist nicht bloß das, was sie sagt. Es sind auch noch andere Dinge geschehen.«
Sie sah neugierig zu ihm herüber. »Zum Beispiel?«
»Ein Screeling.«
Sie richtete ihre ruhigen braunen Augen wieder nach vorn. »Ein Screeling. Du hast also einen Screeling gesehen, ja?«
»Ihn gesehen? Er hat mich angegriffen! Screelings stammen aus der Unterwelt. Der Namenlose schickt sie. Er wurde durch einen Riß im Schleier gesandt, um mich zu töten!«
Ihr Lächeln kehrte zurück. »Du besitzt eine blühende Phantasie, Richard. Du hast zu viele Kinderlieder gehört.«
Er hielt seine wieder aufflackernde Wut im Zaum. »Was soll das heißen?«
»Screelings stammen tatsächlich aus der Unterwelt, wie auch andere Ungeheuer. Die Herzhunde zum Beispiel. Aber sie werden nicht ›geschickt‹. Sie entkommen einfach. Wir leben in einer Welt, die zwischen Gut und Böse liegt, zwischen Licht und Dunkelheit. Der Schöpfer hat nicht gewollt, daß diese Welt vollkommen ist — und gefeit vor allen Übeln. Seine Gründe sind für uns nicht immer nachzuvollziehen, trotzdem kennt Er sie, und Er ist vollkommen. Vielleicht sollen die Screelings uns die dunkle Seite zeigen. Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, daß sie ein Übel sind, das nun mal gelegentlich auftritt. Ich habe schon früher beobachtet, wie das Menschen mit der Gabe widerfahren ist. Vielleicht lockt die Gabe sie an. Vielleicht ist es eine Prüfung. Eine Warnung vielleicht vor dem widerlichen Bösen, das jene erwartet, die vom Weg des Lichts abkommen.«
»Aber … es gibt Prophezeiungen, die besagen, daß sie ausgesandt werden, wenn der Schleier eingerissen ist, und zwar vom Namenlosen selbst.«
»Wie soll das möglich sein, Richard? War der Schleier jemals zuvor eingerissen?«
»Wie soll ich das wissen?« Er dachte einen Augenblick lang nach. »Ich wüßte jedenfalls nicht, wie. Wie hätte er dann geflickt werden können? Außerdem wäre das nicht unbemerkt geblieben. Worauf wollt Ihr hinaus?«
»Nun, wenn der Schleier noch niemals eingerissen war, wie hätten dann die Screelings früher ausgesandt werden können? Wie hätte man ihnen dann schon einen Namen geben können?«
Jetzt war es an Richard, nachdenklich zu werden. »Vielleicht kennen wir sie nur deswegen als Screelings, weil sie in der Prophezeiung so genannt wurden.«
»Du hast die Prophezeiung gelesen?«
»Nein. Kahlan hat mir davon erzählt.«
»Und sie hat sie selbst gelesen, mit ihren eigenen Augen?«
»Nein. Sie hat in ihrer Jugend davon gehört.« Richards Gereiztheit wuchs zunehmend. »In einem Lied. Das ihr Zauberer beigebracht haben.«
»In einem Lied.« Schwester Verna sah nicht hinüber, doch ihr Lächeln wurde breiter. »Richard, ich will deine Befürchtungen nicht schmälern, doch Dinge, die oft wiederholt werden, ganz besonders in einem Lied, neigen dazu, eine andere Gestalt anzunehmen. Was Prophezeiungen anbelangt, so sind sie schwerer zu verstehen als eine Hexe. Wir haben im Palast ganze Gewölbekeller voll mit ihnen. Vielleicht erlaubt man dir während deiner Studien, mit ihnen zu arbeiten. Ich habe alle gelesen, die wir besitzen, und ich kann dir versichern, daß sie das Begriffsvermögen der meisten übersteigen. Wenn du nicht vorsichtig bist, kann es geschehen, daß du eine Prophezeiung findest, die dir all das sagt, was du hören willst. Oder zumindest wirst du glauben, es sei das, was du hören willst. Einige Zauberer widmen ihr ganzes Leben ihrem Studium, und selbst sie begreifen nur einen kleinen Teil der Wahrheit, die in ihnen steckt.«
»Es ist eine Gefahr, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen darf.«
»Glaubst du, der Schleier bekommt so einfach einen Riß? Habe Vertrauen, Richard. Der Schöpfer hat den Schleier zugezogen. Habe Vertrauen in ihn.«
Richard ritt eine Weile schweigend neben ihr her. Was Schwester Verna sagte, schien Sinn zu ergeben. Sein Verständnis der Welt geriet ins Wanken.
Doch es fiel ihm schwer, sich auf dieses Thema zu konzentrieren: immer wieder drängte sich Kahlan in seine Gedanken. Daß sie von ihm verlangt hatte, den Halsring anzulegen, um seine Liebe zu beweisen, obwohl sie wußte, sie würde ihn dadurch verlieren, das war eine Qual, die ihm das Herz zerriß. Der Verrat brannte ihm schmerzhaft in der Brust.
Er polkte mit seinem Daumennagel an den Zügeln. Schließlich wandte er sich noch einmal an die Schwester. »Das ist noch nicht alles. Das Schlimmste habe ich Euch noch nicht erzählt.«
Sie setzte ein mütterliches Lächeln auf. »Es gibt noch mehr? Dann erzähl es mir. Vielleicht kann ich deine Ängste beruhigen.«
Richard atmete tief durch und versuchte, wenigstens einen kleinen Teil der Schmerzen damit loszuwerden. »Der Mann, den ich getötet habe, Darken Rahl, mein Vater — als er starb, wurde er in die Unterwelt geschickt. Zum Hü — Namenlosen. Gestern nacht ist er entkommen. Entkommen durch einen Riß im Schleier. Er ist in diese Welt zurückgekehrt, um den Schleier endgültig zu zerreißen.«
»Und du weißt, daß es der Namenlose war, der ihn gesandt hat? Du warst selbst in der Unterwelt und hast gesehen, wie er dort an der Seite des Namenlosen eingetroffen ist, ja?«
Die Frau wußte, wie sie seinen Zorn erregen konnte. Er versuchte, die Stichelei zu übergehen. »Ich habe mit ihm gesprochen, als er in diese Welt zurückkam. Er hat es mir gesagt. Er sagte, er sei hier, um den Schleier vollends zu zerreißen. Er meinte, der Hüter bekäme uns alle. Ein Toter, der in diese Welt zurückkehrt. Versteht Ihr? Seine Seele konnte nur hier sein, wenn er durch den Schleier gekommen war.«
»Du hast einfach dagesessen, und dieser Tote ist zu dir gekommen und hat mit dir gesprochen, ja?«
Richard blickte sie verwirrt an, doch sie sah nicht herüber. »Es war auf einer Versammlung bei den Schlammenschen. Ich wollte mit den Seelen ihrer Vorfahren sprechen, um herauszufinden, wie man den Schleier schließen könnte, und da ist er aufgetaucht.«
»Aha.« Sie nickte zufrieden. »Verstehe.«
»Was soll das heißen?«
Schwester Vernas Gesicht bekam einen nachsichtigen Ausdruck, als wollte sie einem Kind etwas erklären. »Haben dir die Schlammenschen einen heiligen Trank gegeben, bevor du diese Seele gesehen hast?«
»Nein!«
»Du hast dich einfach mit ihnen hingesetzt und Seelen gesehen, ja?«
»Nicht ganz. Zuerst findet ein Festessen statt. Ein paar Tage lang. Die Ältesten trinken und essen spezielle Speisen. Das habe ich aber nie getan. Dann wurden wir mit Schlamm bemalt, anschließend bin ich mit sieben Ältesten in das Haus der Seelen gegangen. Wir saßen im Kreis, und sie haben eine Weile gesungen. Dann wurde ein Korb herumgereicht, und wir haben alle einen Seelenfrosch herausgenommen und haben uns den Schleim von seinem Rücken auf die Haut gerieben…«
»Frösche.« Schwester Verna sah ihn an. »Ich habe schon von ihnen gehört. Und deine Haut hat angefangen zu kribbeln, ja? Und kurz darauf hast du die Seelen gesehen?«
»Das ist sehr vereinfacht ausgedrückt, aber vermutlich kann man es so beschreiben. Was wollt Ihr damit sagen?«
»Bist du schon oft durch die Midlands gereist? Hast du viele der Völker hier kennengelernt?«
»Nein. Ich bin aus Westland. Von den Völkern der Midlands weiß ich nicht viel.«
Sie nickte wieder zu sich selbst. »In den Midlands gibt es viele Völker, Ungläubige, die nichts vom Licht des Schöpfers wissen. Sie verehren alles mögliche. Götzen, Seelen und dergleichen mehr. Es sind Wilde, die an Bräuche der Verehrung glauben, die um diese falschen Vorstellungen kreisen. Meist haben sie eins gemeinsam. Sie benutzen heilige Speisen oder Tränke, die ihnen helfen sollen, ihre ›seelischen Beschützer‹ zu ›sehen‹.«
Sie vergewisserte sich mit einem Seitenblick, daß er ihr zuhörte. »Offenbar benutzen die Schlammenschen die Substanz auf den roten Fröschen, um mit ihrer Hilfe die Visionen dessen zu erhalten, was sie sehen wollen.«
»Visionen?«
»Der Schöpfer hat viele Pflanzen und Tiere erschaffen, damit wir sie nutzen. Die Kraft dieser Dinge wirkt auf unsichtbaren Pfaden. Ein Tee aus Weidenrinde, zum Beispiel, kann helfen, das Fieber zu senken. Wir wissen, daß es wirkt, aber wir sehen nicht, wie. Es gibt viele Dinge, deren Genuß uns krank macht oder gar tötet. Der Schöpfer hat uns einen Verstand gegeben, damit wir den Unterschied erkennen können. Manche Dinge, die man ißt oder sich, wie im Fall der Frösche, auf der Haut verreibt, lassen uns Dinge sehen — ganz so, wie wir Dinge im Traum sehen.
Wilde, die es nicht besser wissen, halten die Dinge, die sie dann sehen, für wirklich. Genau das ist dir passiert. Du hast den Schleim eines roten Frosches auf deiner Haut verrieben und dadurch Visionen bekommen. Deine begründete Angst vor dem Namenlosen hat sie dir noch wirklicher erscheinen lassen. Wären diese ›Seelen‹ wirklich, warum sollten dann eine besondere Pflanze, eine Speise oder ein Trank oder, wie in diesem Fall, rote Frösche nötig sein, um sie zu sehen und mit ihnen zu sprechen? Denk bitte nicht, ich wolle dich verspotten, Richard. Diese Visionen können einem sehr wirklich erscheinen. Aber das sind sie nicht.«
Es widerstrebte Richard, die Erklärung der Schwester anzunehmen, trotzdem verstand er, was sie meinte. Von Jugend an hatte Zedd ihn in die Wälder mitgenommen, um besondere Pflanzen zu suchen, mit denen man Menschen helfen konnte: Aum, um die Schmerzen fortzunehmen und kleinere Wunden schneller verheilen zu lassen, Akazienwurz zur Linderung von Schmerzen bei tieferen Wunden. Zedd hatte ihm noch andere Pflanzen gezeigt, die gegen Fieber halfen, bei der Verdauung, gegen den Schmerz der Kindgeburt, bei Schwindelanfällen — und er hatte ihm auch von den Pflanzen erzählt, die man meiden sollte, Pflanzen, die gefährlich waren, Pflanzen, die einen Dinge sehen ließen, die es nicht gab: Visionen.
Trotzdem glaubte er nicht, daß er sich Darken Rahl eingebildet hatte. »Er hat mich verbrannt.« Richard tippte auf sein Hemd, wo sich der Verband befand. »Ich kann unmöglich eine Vision gehabt haben. Darken Rahl war da, er hat seine Hand nach mir ausgestreckt und mich berührt und dabei meine Haut verbrannt. Das bilde ich mir doch nicht ein.«
Die Schwester zuckte leicht mit den Achseln. »Das könnte zweierlei bedeuten. Nachdem du dir mit dem Frosch über die Haut gerieben hast, konntest du den Raum nicht mehr sehen, in dem du dich befandest, richtig?«
»Nein. Er war wie in ein dunkles Nichts getaucht.«
»Nun, ob du ihn gesehen hast oder nicht, er war noch immer da. Und ich bin sicher, die Wilden hatten ein Feuer bei dieser Versammlung brennen. Und als du dich verbrannt hast, hast du nicht mehr an derselben Stelle gesessen, sondern bist aufgestanden oder umhergegangen, richtig?«
»Ja«, gab er widerstrebend zu.
Sie spitzte die Lippen. »Wahrscheinlich bist du in diesem Zustand der Selbsttäuschung gestürzt und hast dich an einem Scheit im Feuer verbrannt und dir nur eingeredet, es sei eine Seele gewesen.«
Richard kam sich zunehmend töricht vor. Hatte die Schwester vielleicht recht? War alles so einfach? War er tatsächlich so leichtgläubig?
»Du hast gesagt, es könnte zweierlei bedeuten? Was ist die andere Möglichkeit?«
Die Schwester ritt einen Augenblick lang schweigend weiter. Als sie endlich sprach, klang ihre Stimme leiser, dunkler als zuvor. »Der Namenlose trachtet ständig danach, uns auf seine Seite zu ziehen. Er ist zwar hinter seinem Schleier gefangen, und doch reicht sein Zugriff bis in diese Welt. Er kann uns immer noch Schaden zufügen. Er ist gefährlich. Die dunkle Seite ist gefährlich. Wenn Unwissende sich auf oberflächliche Weise mit Dingen aus der Finsternis beschäftigen, können sie eine Gefahr heraufbeschwören oder die Aufmerksamkeit des Namenlosen oder seiner Günstlinge auf sich ziehen. Es ist durchaus möglich, daß du tatsächlich von einem dieser Teufel berührt und verbrannt worden bist.« Sie sah ihn an. »Es gibt Gefahren, die die Menschen in ihrer Torheit nicht vermeiden können. Manchmal sind sie sogar tödlich.«
Ihre Stimme hellte ein wenig auf. »Das ist eine unserer Aufgaben: wir versuchen, denen, die das Licht des Schöpfers noch nicht gesehen haben, beizubringen, wie sie sich diesem Licht nähern — und sich von den dunklen, gefährlichen Dingen fernhalten können.«
Richard wußte nicht, was er den Erklärungen der Schwester hätte entgegenhalten können. Was sie sagte, ergab einen Sinn. Wenn sie recht hatte, bedeutete dies, daß Kahlan nicht wirklich in Gefahr schwebte, sondern in Sicherheit war. Er hätte das nur zu gern geglaubt. Er klammerte sich verzweifelt an diesen Glauben. Trotzdem…
»Ich gestehe wohl ein, du könntest recht haben, aber sicher bin ich mir nicht. Es scheint mehr dahinterzustecken, als ich in Worte fassen kann.«
»Das verstehe ich, Richard. Es fällt schwer, einen Irrtum offen einzugestehen. Niemand gibt gern zu, daß er hereingelegt worden ist oder daß man ihn zum Narren gehalten hat. Und doch gehört es zum Erwachsenwerden, zu lernen, die Wahrheit allem anderen vorzuziehen, selbst wenn man dabei törichte Einbildungen zugeben muß. Bitte, glaub mir, Richard, ich halte dich deswegen nicht für einen Narren. Deine Angst war verständlich. Ein weiser Mensch zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, hinter die Wahrheit zu blicken. Er kann immer noch mehr lernen, als er bereits weiß.«
»Aber all diese Dinge hängen zusammen…«
»Tun sie das? Ein weiser Mensch zieht die Perlen unabhängiger Geschehnisse nicht auf eine Kette, nur damit er das erhält, was er gern sehen möchte. Ein weiser Mensch sieht die Wahrheit, selbst wenn sie unerwartet kommt. Das ist die allerschönste Kette, die man tragen kann — die Wahrheit.«
»Die Wahrheit«, murmelte er in sich hinein. Er war der Sucher. Die Wahrheit, das war es, worum es dem Sucher einzig ging. Sie war mit Golddraht in das Heft seines Schwertes eingewirkt: des Schwertes der Wahrheit. Irgend etwas an diesen Geschehnissen überstieg seine Fähigkeit, sie ihr mit Worten zu erklären. Konnte es sein, daß es so war, wie sie sagte? Konnte er sich einfach täuschen?
Er mußte an das Erste Gesetz der Magie denken: Menschen sind dumm. Sie glauben alles, entweder weil sie es glauben wollen, oder weil sie sich davor fürchten, es könnte wahr sein. Aus Erfahrung wußte er, daß er ebenso anfällig dafür war wie alle anderen. Er war keinesfalls darüber erhaben, eine Lüge zu glauben.
Er hatte geglaubt, Kahlan würde ihn lieben. Er hatte geglaubt, sie würde nie etwas tun, was ihn verletzte. Und doch hatte sie ihn fortgeschickt. Richard spürte, wie ihm der Kloß abermals den Hals versperrte.
»Ich sage die Wahrheit, Richard. Ich bin hier, um dir zu helfen.« Er antwortete nicht. Er glaubte ihr nicht. Wie als Antwort auf seine Gedanken fragte sie: »Was machen deine Kopfschmerzen?«
Die Frage verblüffte ihn. Nicht so sehr die Frage als vielmehr die Erkenntnis. »Sie sind … weg. Die Kopfschmerzen sind völlig verschwunden.«
Schwester Verna lächelte und nickte zufrieden. »Wie ich dir versprochen habe, der Rada’Han wird dir die Kopfschmerzen nehmen. Wir wollen dir nur helfen, Richard.«
Er drehte sich um und musterte sie. »Ihr habt auch gesagt, der Kragen diene dazu, mich zu beherrschen.«
»Damit wir dich unterrichten können, Richard. Man braucht die Aufmerksamkeit eines Menschen, wenn man ihm etwas beibringen will. Das ist der einzige Grund.«
»Und um mir weh zu tun. Ihr habt gesagt, er wird mir Schmerzen bereiten.«
Sie zuckte mit den Achseln und öffnete ihre Handflächen gen Himmel, die Zügel mit ihren Fingern verflochten. »Ich habe dir gerade weh getan. Ich habe dir gezeigt, welch törichte Dinge du geglaubt hast. Tut dir das nicht weh? Ist es nicht schmerzlich, wenn man erfahren muß, daß man sich getäuscht hat? Und doch, ist es nicht besser, die Wahrheit zu kennen, als einer Lüge zu glauben? Selbst wenn es schmerzlich ist?«
Er sah zur Seite und mußte daran denken, wie Kahlan ihn gezwungen hatte, einen Halsring anzulegen, und ihn fortgeschickt hatte. »Möglich. Aber es gefällt mir nicht, einen Halsring zu tragen. Kein bißchen.«
Er war das Gerede leid. Seine Brust tat weh. Seine gesamte Muskulatur war verkrampft. Er war müde. Er vermißte Kahlan. Aber Kahlan hatte ihn gezwungen, den Halsring anzulegen und fortzugehen. Er ließ sein Pferd und das, das an seinem Sattel angebunden war, zurückfallen und blieb ein Stück hinter der Schwester zurück, während ihm eine Träne über die Wange lief. Sie fühlte sich auf seiner Haut wie Eis an.
Er ritt schweigend vor sich hin. Sein Pferd riß Grasbüschel aus und kaute sie, während es gemächlich vorantrottete. Normalerweise würde Richard sein Pferd nicht fressen lassen, solange es eine Kandare im Maul hatte. Mit einer Kandare konnte es nicht richtig kauen und sich am Ende eine Kolik einhandeln. Durch eine Kolik verlor man ein Pferd leicht. Anstatt es daran zu hindern, strich Richard ihm über den warmen Hals und tätschelte es ein paarmal zur Beruhigung.
Es tat gut, sich in einer Gesellschaft zu befinden, die ihm nicht einredete, er sei dumm, in einer Gesellschaft, die weder Urteile abgab noch Forderungen stellte. Ihm war nicht danach, das Pferd ebenso zu behandeln. Als Pferd war man besser dran, überlegte er. Gehen, drehen, anhalten. Sonst nichts. Alles war besser als das, was er war.
Ganz gleich, was Schwester Verna gesagt hatte, er war nichts weiter als ein Gefangener. Was immer sie sagte, nichts konnte daran etwas ändern.
Wollte er jemals wieder freikommen, mußte er lernen, die Gabe zu beherrschen. Waren die Schwestern erst einmal mit ihm zufrieden, würden sie ihn vielleicht aus der Gefangenschaft entlassen. Auch wenn Kahlan ihn nicht mehr wollte, so wäre er zumindest frei.
Das würde er tun, beschloß er. So schnell wie möglich die Gabe beherrschen lernen, damit man ihm den Halsring abnahm und ihn freiließ. Und schnell lernen konnte er, zumindest hatte Zedd das immer von ihm behauptet. Er würde alles lernen. Außerdem hatte ihm das schon immer Spaß gemacht. Immer hatte er mehr wissen wollen. Er hatte nie genug. Diese Vorstellung hellte seine Stimmung ein wenig auf. Er lernte gern Neues. Vielleicht war es gar nicht so schlimm. Er konnte es schaffen. Außerdem, was gab es sonst zu tun?
Er mußte daran denken, wie Denna ihn ausgebildet, ihm etwas beigebracht hatte.
Doch abermals verließ ihn der Mut. Er redete sich bloß wieder etwas ein. Sie würden ihn niemals freilassen. Er würde nicht etwa lernen, weil er es wollte oder was er wollte. Er würde lernen, was die Schwestern des Lichts von ihm verlangten. Außerdem war er nicht unbedingt davon überzeugt, daß das, was sie ihm beibrachten, die Wahrheit war. Sie würden ihm beibringen, was Schmerzen waren. Es war hoffnungslos.
Vertieft in seine finsteren, grüblerischen Gedanken ritt er weiter. Er war der Sucher. Der Bringer des Todes.
Als der Himmel in Rosa-, Gelb- und Goldtönen erglühte, sah er ein Stück vor sich einige weiße Flecken. Schnee war es nicht, der Schnee war nicht liegengeblieben. Außerdem bewegten sie sich. Schwester Verna verlor kein Wort über sie, sondern ritt einfach weiter. Die Sonne in ihrem Rücken warf lange Schatten voraus. Zum erstenmal wurde Richard bewußt, daß sie nach Osten ritten.
Als sie näher herangekommen waren, erkannte er die weißen Gestalten, die über ihren Weg verteilt standen und von den letzten Sonnenstrahlen in rosafarbenes Licht getaucht wurden. Es war eine kleine Schafherde. Als sie zwischen ihnen hindurchritten, sah Richard, daß die Menschen, die sie hüteten, Bantak waren. Er erkannte sie an der Art ihrer Kleidung.
Drei Bantak-Männer näherten sich Richard von der Seite her. Schwester Verna beachteten sie nicht. Sie murmelten etwas, das er nicht verstand, doch ihre Worte und Gesichter schienen eine gewisse Ehrerbietung auszudrücken. Die drei fielen auf die Knie und verneigten sich. Sie streckten die Arme in seine Richtung und legten die Hände auf den Boden. Richard ließ sein Pferd im Schrittempo gehen und blickte von oben auf sie herab. Dann richteten sie sich wieder auf und schnatterten auf ihn ein, doch er verstand nicht, was sie sagten.
Richard hob den Kopf zum Gruß. Das schien sie zufriedenzustellen. Die drei fingen an zu grinsen und verbeugten sich noch ein paarmal, während er vorüberritt. Sie kamen wieder auf die Beine, trabten neben seinem Pferd her und versuchten, ihm verschiedene Dinge in die Hand zu drücken: Brot, Früchte, Trockenfleischstreifen, einen farblosen, schmutzigen Schal, aus Zähnen, Knochen und Perlen gefertigte Halsketten, sogar ihre Schäferstökke.
Richard zwang sich zu einem Lächeln und versuchte anhand von Zeichen, die sie seiner Ansicht nach verstehen mußten, ihre Angebote abzulehnen, ohne sie zu kränken. Einer der drei drängte ihn besonders hartnäkkig, eine Melone anzunehmen, bot sie ihm immer wieder an. Richard wollte sie nicht verärgern, also nahm er die Melone schließlich und neigte mehrere Male seinen Kopf. Sie schienen stolz zu sein, nickten und verbeugten sich, während er weiterritt. Er verneigte sich ein letztes Mal aus dem Sattel heraus vor ihnen und ließ die Melone in die Satteltasche gleiten.
Schwester Verna hatte ihr Pferd gewendet und wartete auf ihn. Sie zog ein finsteres Gesicht. Richard drängte sein Pferd nicht zur Eile, sondern ließ es gehen, wie es wollte. Was war jetzt wieder los, fragte er sich.
Als er sie endlich erreicht hatte, beugte sie sich zu ihm herüber. »Warum sagen sie solche Sachen!«
»Was für Sachen? Ich verstehe ihre Sprache nicht.«
Sie biß die Zähne aufeinander. »Sie halten dich für einen Zauberer. Wie kommen sie darauf? Wieso?«
Richard zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich deshalb, weil ich es ihnen selbst gesagt habe.«
»Was!« Sie schob die Kapuze ihres Umhanges zurück. »Du bist kein Zauberer! Du hast kein Recht, ihnen so etwas zu erzählen! Du hast gelogen!«
Richard legte die Hände auf den hohen Knauf seines Sattels. »Ihr habt recht. Ich bin kein Zauberer. Und ich habe sie angelogen.«
»Lügen ist ein Verbrechen gegen den Schöpfer!«
Richard stieß einen matten Seufzer aus. »Ich habe es nicht getan, weil ich mich als Zauberer aufspielen wollte. Ich habe es getan, um einen Krieg zu verhindern. Es war die einzige Möglichkeit zu verhindern, daß eine Menge Menschen sterben. Es ist gelungen, denn niemand ist zu Schaden gekommen. Ich würde dasselbe wieder tun, wenn ich dadurch verhindern könnte, daß Menschen sich umbringen.«
»Lügen ist falsch! Der Schöpfer haßt es, wenn man lügt!«
»Gefällt es Eurem Schöpfer vielleicht besser, wenn Menschen sich gegenseitig umbringen?«
Schwester Verna zog ein Gesicht, als würde sie jeden Augenblick Feuer speien. »Er ist unser aller Schöpfer, nicht meiner. Und er haßt Lügen.«
Richard schätzte ruhig ihren hitzigen Gesichtsausdruck ab. »Das hat er Euch persönlich erzählt, ja? Er ist einfach zu Euch gekommen, hat sich neben Euch gesetzt und gesagt: ›Schwester Verna, ich möchte, daß du weißt, wie sehr ich Lügen hasse.‹«
Sie knirschte mit den Zähnen und stieß knurrend hervor: »Natürlich nicht. Es steht geschrieben. Geschrieben in den Büchern.«
»Ach so«, nickte Richard. »Na, dann muß es ja die Wahrheit sein. Wenn es in Büchern geschrieben steht, dann muß es ja stimmen. Das weiß doch jeder, wenn etwas geschrieben steht und unterschrieben ist, dann muß es die Wahrheit sein.«
Ihr Blick glühte wie Feuer. »Du gehst sehr leichtfertig mit dem Wort des Schöpfers um.«
Er beugte sich zu ihr hinüber. »Und Ihr, Schwester Verna, geht leichtfertig mit dem Leben jener Menschen um, die Ihr als Heiden bezeichnet.«
Sie schwieg und hatte Mühe, sich zu beruhigen. »Richard, du mußt begreifen, daß Lügen falsch ist. Vollkommen falsch. Es richtet sich gegen den Schöpfer. Gegen alles, was wir lehren. Du bist so sehr ein Zauberer, wie ein kleines Kind ein Mann ist. Dich selbst als Zauberer zu bezeichnen, wenn du keiner bist, ist eine Lüge. Eine schmutzige Lüge. Eine Entweihung. Du bist kein Zauberer.«
»Schwester Verna, ich weiß sehr wohl, daß Lügen nicht richtig ist. Es ist nicht meine Angewohnheit, herumzuspazieren und Lügen zu verbreiten, doch es ist vergleichsweise immer noch besser, als den Tod vieler Menschen in Kauf zu nehmen. Ich hatte keine andere Wahl.«
Sie atmete tief durch und nickte. Die Locken ihres braunen Haars wippten leicht auf und ab. »Vielleicht hast du recht. Solange du nur weißt, daß es falsch ist zu lügen. Mach es dir nicht zur Gewohnheit. Du bist kein Zauberer.«
Richard starrte sie an und griff die Zügel fester. »Ich weiß, daß ich kein Zauberer bin, Schwester Verna. Ich weiß genau, wer ich bin.« Er setzte die Rippen seines Pferdes mit den Schenkeln unter Druck und drängte es voran. »Ich bin der Bringer des Todes.«
Ihre Hand schoß vor. Sie packte ihn am Ärmel und riß ihn im Sattel herum. »Was hast du gesagt? Wie hast du dich genannt?« zischte sie ihn eindringlich an.
Er sah sie gelassen an. »Ich bin der Bringer des Todes.«
»Wer hat dir diesen Namen gegeben?«
Richard musterte ihr aschfahles Gesicht. »Ich weiß, was es bedeutet, dieses Schwert zu tragen. Ich weiß, was es bedeutet, es zu ziehen. Ich weiß es besser als jeder Sucher vor mir. Es ist ein Teil von mir, und ich bin ein Teil von ihm. Ich habe die Magie dieses Schwertes dazu benutzt, den Menschen zu töten, der mir zuletzt einen Ring um den Hals gelegt hat. Ich weiß, zu was es mich macht. Ich habe die Bantak angelogen, weil ich nicht wollte, daß jemand getötet wurde. Aber es gibt noch einen anderen Grund. Die Bantak sind ein friedfertiges Volk. Ich wollte nicht, daß sie das Grauen des Tötens kennenlernen. Diese Lektion habe ich nur zu gut gelernt. Du hast Schwester Elizabeth umgebracht, vielleicht kennst du sie auch.«
»Wer hat dich ›Bringer des Todes‹ genannt?« verlangte sie zu wissen.
»Niemand. Den Namen habe ich mir selbst gegeben, denn das ist es, was ich tue, was ich bin. Ich bin der Bringer des Todes.«
Sie ließ sein Hemd los. »Verstehe.«
Sie wollte gerade ihr Pferd herumdrehen, als er sie im Befehlston beim Namen rief. Sie hielt inne. »Warum? Warum wollt Ihr wissen, wer mich so genannt hat? Warum ist das so wichtig?«
Ihr Ärger schien verflogen, und ein Hauch von Angst war an seine Stelle getreten. »Ich sagte schon, ich habe alle Prophezeiungen im Palast gelesen. Es gibt dort ein Fragment, das folgende Worte enthält: ›Er ist der Bringer des Todes, und er wird sich selbst so nennen.‹«
Richard kniff die Augen zusammen. »Und was besagt der Rest der Prophezeiung? Steht dort auch, daß ich Euch töten werde — und jeden anderen, den ich töten muß, um diesen Halsring wieder loszuwerden?«
Sie wich seinem wütenden Blick aus. »Die Prophezeiungen sind nicht für ungeübte Augen oder Ohren bestimmt.«
Mit einem scharfen Fußtritt überraschte sie ihr Pferd. Es bäumte sich auf und schoß davon. Richard folgte hinterher und beschloß, die Sache nicht mehr zu erwähnen. Prophezeiungen waren ihm egal. Soweit es ihn betraf, waren sie nichts weiter als Rätsel, und Rätsel konnte er nicht ausstehen. Wenn irgend etwas wichtig genug war, um es zu erwähnen, warum es dann in ein Rätsel kleiden? Rätsel waren dumme Spielereien und bedeutungslos.
Während er so dahinritt, überlegte er, wie viele Menschen er wohl töten mußte, um den Halsring loszuwerden. Einen oder einhundert, es spielte keine Rolle. Er kochte vor Wut, wenn er daran dachte, am Rada’Han gegängelt zu werden. Er biß die Zahne zusammen. Seine Kiefermuskeln spannten sich bei dem Gedanken. Er umklammerte die Zügel fester.
Bringer des Todes. Er würde so viele umbringen, wie er mußte. Er würde den Halsring loswerden oder bei dem Versuch sterben. Der wilde Zorn, das Bedürfnis zu töten, brandete durch jede Faser seines Körpers.
Erschrocken stellte er fest, daß er die Magie des Schwertes hervorrief, obwohl es noch in seiner Scheide steckte. Er brauchte es nicht mehr in die Hand zu nehmen, um das zu tun. Er spürte, wie sich der Zorn kribbelnd seiner bemächtigte. Er hatte Mühe, ihn zu besänftigen und wieder ruhig zu werden.
Abgesehen von dem wütenden Haß des Schwertes wußte er auch, wie man sein Gegenteil, seine weiße Magie, hervorrief. Die Schwestern wußten nicht, daß er das konnte. Hoffentlich brauchte er es ihnen nie zu zeigen. Doch wenn er dazu gezwungen war, würde er es tun. Er würde den Halsring wieder loswerden. Er würde jede Seite der Magie des Schwertes benutzen oder beide, um ihn loszuwerden. Wenn die Zeit gekommen war. Wenn die Zeit gekommen war.
Im violetten Licht der späten Dämmerung ließ Schwester Verna für die Nacht Halt machen. Sie hatte nicht mehr mit ihm gesprochen. Er wußte nicht, ob sie noch immer verärgert war, aber eigentlich war ihm das auch egal.
Richard führte die Pferde ein kurzes Stück bis zu einer Reihe kleiner Weiden am Ufer eines Bachlaufs, nahm ihnen das Zaumzeug ab und tauschte es gegen Halfter aus. Sein Brauner warf den Kopf hoch und war froh, von der Kandare befreit zu werden. Richard sah, daß es eine Breitkandare war. Es gab kaum eine grausamere Strafe für ein Tier.
Menschen, die sie benutzten, so schien es ihm, waren offenbar der Ansicht, Pferde seien nichts als wilde Tiere, die man nur zu unterwerfen und zu beherrschen brauchte. Vielleicht sollten die Menschen die Kandare in den Mund bekommen, damit sie das Gefühl einmal kennenlernten. Richtig ausgebildet, benötigte ein Pferd nichts weiter als eine mit einem Seil verbundene Trense. Wenn es richtig ausgebildet war und man ihm ein wenig Verständnis entgegenbrachte, war eine Kandare überflüssig. Offenbar setzten manche Menschen mehr auf Strafe als auf Geduld.
Er hob probeweise die Hand, um das schwarzgeränderte Ohr des Pferdes zu streicheln. Es hob den Kopf und schwenkte ihn entschlossen von ihm fort. »Aha«, murmelte er, »die Ohren haben sie dir auch verdreht.« Er kraulte und tätschelte den Hals des Pferdes. »Das werde ich dir nicht antun, mein Freund.« Das Pferd stupste ihn mit der Nase an.
Richard holte Wasser in einem Eimer aus Wachstuch und ließ jedes Pferd nur wenige Schlucke trinken, da sie noch nicht abgekühlt waren. In einer der Satteltaschen entdeckte er Bürsten und nahm sich Zeit, jedes von ihnen sorgfältig zu striegeln und ihre Hufe zu reinigen. Er nahm sich mehr Zeit, als er eigentlich gebraucht hätte, denn er zog die Gesellschaft der Tiere der der Schwester vor.
Als er fertig war, schnitt er ein Stück Schale aus der Melone, die der Bantak ihm gegeben hatte, und gab jedem Pferd ein Stück davon. Es gibt nur wenig, auf das Pferde so versessen sind wie auf Melonenschale. Die beiden waren geradezu verrückt danach. Es war das erste Mal, daß eines der beiden ein Anzeichen von Eifer gezeigt hatte. Nachdem er die Breitkandaren gesehen hatte, wußte er auch, warum.
Als ihm klargeworden war, daß seine Brust zu sehr schmerzte, um noch länger herumzustehen, ging er zurück zu der Stelle, wo Schwester Verna auf einer kleinen Decke saß, und legte seine eigene Decke ihr gegenüber auf die Erde. Er nahm den Schneidersitz ein und zog ein Stück flaches Tavabrot aus seinem Gepäck, mehr deswegen, um etwas zu tun zu haben, denn aus Hunger. Sie nahm das Stück, das er ihr anbot. Er schnitt die Melone auf und legte die übriggebliebene Schale zur Seite, für später. Dann bot er Schwester Verna ein Stück Melone an.
Sie betrachtete es kühl, als er es ihr hinhielt. »Du hast sie dir unter einem Vorwand erschwindelt.«
»Sie wurde mir als Dank dafür gegeben, daß ich einen Krieg verhindert habe.«
Schließlich nahm sie das Stück, wenn auch nicht begeistert. »Möglich.«
»Wenn Ihr wollt, übernehme ich die erste Wache«, bot er ihr an.
»Es ist nicht nötig, Wache zu stehen.«
Er musterte sie in fast völliger Dunkelheit, während er ein saftiges Stück Melone kaute. »Es gibt Herzhunde in den Midlands. Und anderes. Ich könnte einen weiteren Screeling anlocken. Ich denke, es wäre klug, eine Wache aufzustellen.«
Sie riß ein Stück Tavabrot ab, ohne aufzusehen. »Bei mir bist du sicher. Es ist nicht nötig, eine Wache aufzustellen.«
Ihre Stimme klang tonlos. Nicht gerade verärgert, aber auch nicht weit davon entfernt. Er aß eine Zeitlang schweigend weiter, dann beschloß er, der Stimmung ein wenig von ihrer Bedrücktheit zu nehmen. Er versuchte, freundlich zu klingen, auch wenn er keine rechte Freude empfand.
»Ich bin hier, Ihr seid hier, ich trage den Rada’Han — wie war’s, wenn Ihr anfangen würdet, mich im Gebrauch der Gabe zu unterrichten?«
Sie sah ihn unter ihren Brauen hervor an, während sie kaute. »Es bleibt noch Zeit genug, dich zu unterrichten, sobald wir den Palast der Propheten erreicht haben.«
Plötzlich schien die Luft sich abgekühlt zu haben. Sein Zorn wurde hitziger. Der Zorn des Schwertes zerrte an ihm und wollte freigelassen werden. Richard unterdrückte ihn. »Wie Ihr wollt.«
Schwester Verna legte sich auf ihre Decke und zog ihren Umhang fest um sich. »Es ist kalt. Mach ein Feuer.«
Er stopfte sich den letzten Bissen Tavabrot in den Mund und wartete, bis er ihn hinuntergeschluckt hatte, bevor er leise antwortete. Sie beobachtete ihn.
»Es überrascht mich, daß Ihr nicht mehr von Magie versteht, Schwester Verna. Es gibt ein magisches Wort. Damit erreicht man mehr, als Ihr vielleicht glaubt. Vielleicht habt Ihr es schon mal gehört. Es lautet ›Bitte‹.« Er stand auf. »Mir ist nicht kalt. Wenn Ihr ein Feuer wollt, macht selber eins. Ich werde Wache stehen. Wie schon gesagt, ich verlasse mich nicht aufs Glauben. Wenn wir in der Nacht getötet werden, dann nicht ohne Vorwarnung.«
Er drehte ihr den Rücken zu, ohne eine Antwort abzuwarten. Er wollte nicht hören, was sie zu sagen hatte. Er lief ein gutes Stück durch trockenes Gras, bis er einen Erdhügel rings um einen Erdhundbau entdeckte, auf den er sich fallen ließ, um Wache zu halten. Und nachzudenken.
Der Mond war aufgegangen. Er tauchte das umliegende, leere Land in fahles, silbriges Licht. Richard ließ den Blick über die menschenleere Landschaft schweifen und fing an zu grübeln. Sosehr er auch versuchte, an etwas anderes zu denken, es nützte nichts. Seine Gedanken kreisten nur um eine Sache: Kahlan.
Er zog die Knie an und schlang die Arme um sie, nachdem er sich ein paar Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte. Er fragte sich, was sie jetzt wohl tat, wo sie steckte, ob sie nach Zedd suchte. Ob er ihr überhaupt noch etwas bedeutete.
Der Mond wanderte langsam über den Himmel und blickte auf ihn herab. Was sollte er bloß tun? fragte sich Richard. Er fühlte sich verloren.
Er stellte sich Kahlans Gesicht vor. Er hätte die Welt erobert, nur um noch einmal zu sehen, wie sie ihn anlächelte. Um sich in der Wärme ihrer Liebe zu sonnen. Richard betrachtete das Gesicht vor seinem inneren Auge. Er stellte sich ihre grünen Augen vor, ihr langes Haar. Ihr wundervolles Haar.
Bei diesem Bild fiel ihm die Haarlocke ein, die sie ihm in die Tasche gesteckt hatte. Er zog sie hervor und betrachtete sie im Mondschein. Es war ein Kreis, den sie zusammengezogen und mit dem Band von ihrem Hochzeitskleid umwickelt hatte, so daß er ihn an eine seitlich verdrehte Acht erinnerte. Man konnte auch das Symbol für Unendlichkeit daraus lesen.
Richard drehte die Locke zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete sie. Kahlan hatte sie ihm geschenkt, damit er sich an sie erinnerte. Damit er etwas hatte, das ihn an sie erinnerte. Weil er sie nie wiedersehen würde. Quälender Kummer raubte ihm den Atem.
Er packte den Strafer, so fest er konnte, bis seine Faust vor Anstrengung zu zittern begann. Der Schmerz des Strafers und der seines Herzens verbanden sich zu einer brennenden Tortur. Seine Wahrnehmung verzerrte sich, bis er es nicht mehr auszuhalten glaubte, doch er wartete noch länger, hielt durch, bis er, kaum noch bei Bewußtsein, am Fuß des Erdhügels zusammenbrach.
Er keuchte, rang um Luft. Der Schmerz hatte seinen Kopf frei gemacht. Wenn auch nur für ein paar Minuten, aber er brauchte nicht mehr an diese quälenden Dinge zu denken. Er mußte lange liegenbleiben, bis er sich erholt hatte.
Als er schließlich wieder in der Lage war, sich aufzurichten, stellte er fest, daß er die Haarlocke noch immer in der Hand hielt. Er betrachtete sie im Mondschein und dachte daran, was Schwester Verna zu ihm gesagt hatte — daß er den Bantak eine Lüge erzählt hätte. Eine dreckige Lüge. Genau das waren Kahlans Worte gewesen. Sie hatte gesagt, die Liebe, die er für sie empfand, sei ›eine dreckige Lüge‹. Diese Worte schmerzten mehr als der Strafer.
»Das ist keine Lüge«, sagte er leise. »Ich würde alles für dich tun, Kahlan.«
Doch es reichte nicht. Es reichte nicht, den Halsring anzulegen. Er selbst war unzureichend. Der Sohn eines Ungeheuers. Jetzt wußte er, was sie wollte. Was sie wirklich wollte.
Sie wollte ihn los sein.
Sie wollte, daß er den Halsring anlegte, damit man ihn fortschaffte. Damit sie frei wäre.
»Ich würde alles für dich tun, Kahlan«, weinte er.
Er rappelte sich auf und blickte über die leere Steppe. Der dunkle Horizont verschwamm zu einem wässrig nebelhaften Schleier.
»Alles. Sogar das hier. Ich lasse dich frei, meine Liebe.«
Richard schleuderte Kahlans Haarlocke hinaus in die Nacht, so weit er konnte.
Er sank auf die Knie und fiel schluchzend zu Boden, mit dem Gesicht nach unten. Er weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Dann blieb er weiter auf dem Boden liegen und stöhnte schmerzgequält, bis er merkte, daß er den Strafer wieder umklammert hielt. Er ließ ihn los, setzte sich endlich auf und ließ sich rücklings vor Erschöpfung gegen den Erdhügel fallen.
Es war aus, vorbei. Er fühlte sich leer. Tot.
Nach einer Weile stand er auf. Er blieb einen Augenblick lang stehen, dann zog er langsam das Schwert der Wahrheit blank.
Dessen Sirren klang in der kalten Luft wie ein leises Lied. Mit dem Stahl kam auch sein Zorn zum Vorschein, er ließ seine innere Leere von ihm füllen, ließ zu, daß er ungehemmt durch seinen Körper tobte. Er lud den Zorn geradezu ein, begrüßte ihn, überließ ihm die Herrschaft über sich selbst. Seine Brust hob und senkte sich in dem Verlangen zu töten.
Sein Blick glitt zu der Stelle, wo die Schwester lag und schlief.
Er konnte die dunkle Erhebung ihres Körpers sehen, als er sich leise näherte. Er war Waldführer, er wußte, wie man sich geräuschlos anschlich. Und er konnte es gut.
Den Boden sorgfältig im Auge behaltend, bewegte er sich voran und betrachtete die schlafende Gestalt von Schwester Verna. Er hatte keine Eile. Dazu bestand kein Grund. Er hatte alle Zeit, die er benötigte. Er versuchte, ruhiger zu atmen, um kein Geräusch zu machen. Sein alles verschlingender Zorn brachte ihn fast zum Keuchen.
Die Vorstellung, wieder einen Halsring zu tragen, goß Öl auf sein inneres Feuer, gab dem Inferno Nahrung.
Der Zorn der Magie des Schwertes fraß sich in ihn hinein wie geschmolzenes Metall. Richard kannte das Gefühl nur zu gut und gab sich ihm vollkommen hin. Er war jenseits von Vernunft, jenseits des Punktes, an dem man ihn hätte zurückhalten können. Nichts außer Blut konnte den Bringer des Todes jetzt noch befriedigen.
Seine Knöchel, das Heft fest im Griff, waren blutleer. Seine verkrampften Muskeln brannten darauf, zurückschlagen zu dürfen. Die Magie des Schwertes verlangte schreiend ihren Tribut.
Wie ein stummer Schatten stand Richard über Schwester Verna und blickte auf sie herab. Die Wut hämmerte in seinem Schädel. Er zog das Schwert über die Innenseite seines Unterarms, beschmierte beide Seiten mit Blut und gab dem Stahl einen Vorgeschmack. Der dunkle Fleck lief die Blutrinne hinab und löste sich tropfend von der Spitze. Feucht und warm lief es an seinem Arm hinunter. Seine Brust hob und senkte sich, als er das Heft erneut mit beiden Händen packte.
Er spürte das Gewicht des Rings um seinen Hals. Die Klinge stieg kalt im Mondlicht blinkend in die Luft.
Er betrachtete die schlafende Schwester zu seinen Füßen. Sie lag zusammengerollt da, fror und zitterte im Schlaf.
Er stand mit erhobener Klinge da und betrachtete sie, während er vor tobender Gier die Zähne aufeinanderbiß und bebte. Kahlan wollte ihn nicht. Den Sohn eines Ungeheuers.
Nicht Sohn eines Ungeheuers. Nur Ungeheuer. Er sah sich über der schlafenden Frau stehen, das Schwert in der Luft, bereit zu töten.
Das Ungeheuer war er.
Das war es, was Kahlan gesehen hatte. Und sie hatte ihn mit dem Halsring fortgeschickt, damit er gefoltert wurde. Weil er ein Ungeheuer war, dem man einen Halsring anlegen mußte, ein wildes Tier.
Tränen liefen ihm übers Gesicht. Langsam senkte sich das Schwert, bis seine Spitze den Boden berührte. Er stand da und starrte auf die schlafende Schwester herab, die vor Kälte zitterte. Er stand lange da und starrte.
Schließlich ließ Richard das Schwert zurück in die Scheide gleiten. Er holte seine Decke hervor und legte sie über Schwester Verna, steckte sie sorgsam um sie fest, ganz vorsichtig, damit sie nicht aufwachte. Er saß da und beobachtete sie, bis sie zu zittern aufhörte. Dann legte er sich hin und hüllte sich in seinen Umhang.
Er war erschöpft und hatte am ganzen Körper Schmerzen, aber schlafen konnte er nicht. Er wußte, daß man ihm weh tun würde. Dazu war der Halsring da. Sobald sie ihn zum Palast gebracht hatte, würde man ihm weh tun.
Was machte das noch für einen Unterschied?
Erinnerungen tanzten und schossen ihm durch den Kopf, Erinnerungen daran, was ihm Denna angetan hatte. Er erinnerte sich an die Schmerzen, die hilflose Quälerei, das Blut: sein Blut.
Die Visionen nahmen kein Ende. Solange er lebte, würde er sie nicht vergessen können. Gerade hatte es aufgehört, und jetzt sollte es von vorn anfangen. Es würde nie ein Ende finden.
In dem heillosen Durcheinander in seinem Kopf gab es nur einen tröstlichen Gedanken. Von Schwester Verna hatte er erfahren, daß er sich darin getäuscht hatte und daß der Hüter nicht auszubrechen drohte. Somit war Kahlan in Sicherheit. Und das war alles, was wirklich zählte. Alles andere versuchte er von sich fortzuhalten und nur noch daran zu denken. Der Gedanke erlaubte es ihm schließlich, ganz langsam in den Schlaf hinüberzugleiten.