49

Richard und Schwester Verna saßen auf ihren Pferden, warfen lange Schatten und blickten von dem grasbewachsenen Vorsprung hinunter in die Tiefe. Bäume säumten die tiefer liegenden Stellen zwischen einigen der Hügel und bedeckten andere mit einem dunklen Grün. Die ausgedehnte Stadt unten lag eingebettet in einen strohfarbenen Dunst, der die Farben zu pastelliger Einförmigkeit dämpfte. Die fernen Schindel- oder Ziegeldächer glitzerten im Licht der untergehenden Sonne wie Lichtpunkte auf einem Teich.

Noch nie hatte Richard so viele Gebäude in solch geordneter Aufreihung gesehen. Draußen an den Rändern waren sie kleiner, doch zur Mitte hin schienen sie sowohl an Größe als an Pracht zuzunehmen. Die fernen Geräusche von Zehntausenden von Menschen, Pferden und Wagen wehten bis hinauf zu ihnen auf den Hügel, getragen von der sanften, salzigen Brise.

Ein Fluß wand sich durch die Ansammlung zahlloser Gebäude und teilte die Stadt, wobei die Hälfte auf der anderen Seite doppelt so groß wie die hiesige sein mochte. Am Stadtrand säumten Hafenanlagen die Ufer längst der Mündung des majestätischen Flusses. Schiffe in allen Größen lagen dort nicht nur vor Anker, sondern sprenkelten den Fluß, die weißen Segel vom Wind gebläht. Einige der Schiffe, das konnte er gerade eben so erkennen, besaßen drei Masten. Richard hätte niemals gedacht, daß es so große Schiffe gab.

Obwohl er gegen seinen Willen hier war, mußte Richard feststellen, wie sehr ihn diese Stadt mit all den Menschen und den Sehenswürdigkeiten, die sie sicher barg, faszinierte. Einen solchen Ort hatte er noch nie gesehen. Vermutlich konnte man hier tagelang umherlaufen und hätte bei weitem noch nicht alles besichtigt.

Dahinter lag glitzernd voller goldener Funken und Spiegelungen das Meer, das sich bis zu einer messerscharfen Linie am Horizont erstreckte.

Die Stadt beherrschend, erhob sich in der Nähe ihres Mittelpunktes auf einer Insel im Fluß ein weitläufiger Palast, dessen mit Zinnen besetzte Westmauer ins goldene Licht der Sonne getaucht war. Innenhöfe, Festungswälle, Türme, Gebäudegruppen und Dächer, alle von prächtiger Machart, verschmolzen zu einem vielschichtigen Ganzen mit Höfen voller Bäume oder Rasen oder Teichen. Der Palast schien seine steinernen Arme in dem eifersüchtigen Versuch auszustrecken, die gesamte Insel zu umfassen, auf der er stand.

Aus der Ferne betrachtet, mit den fadendünnen Straßen, die strahlenförmig von der Insel im Mittelpunkt der Stadt ausgingen, und den schmalen Brücken, die den Fluß nach allen Seiten hin überspannten, erinnerte der Palast Richard an nichts so sehr wie an eine fette Spinne inmitten ihres Netzes.

»Der Palast der Propheten«, sagte Schwester Verna.

»Mein Gefängnis«, meinte Richard ohne sie anzusehen.

Sie überging seine Bemerkung. »Das ist Tanimura, und der Fluß, der mitten hindurchfließt, ist der Kern. Der Palast selbst steht auf Drahle, das ist die Insel.«

»Drahle.« Ihm sträubten sich die Nackenhaare. »Da hat sich aber jemand einen bitterbösen Scherz erlaubt.«

»Wieso? Ich habe keine Ahnung, was Drahle bedeutet.«

Richard zog eine Braue hoch. »Eine Drahle benutzt man bei der Falkenjagd. Es ist ein Ring, an dem man die sogenannte Lockschnur festmacht, damit der Falke nur ein Stücke weit fliegen kann, wenn er noch nicht zahm ist und zur Jagd abgerichtet wird.«

Sie tat dies mit einem Achselzucken ab. »Du liest zuviel in die Dinge hinein.«

»Tatsächlich? Wir werden sehen.«

Sie stieß einen leisen Seufzer aus, während sie die Hüften vorschob, und ihr Pferd hügelabwärts in Bewegung setzte. Sie wechselte das Thema. »Es ist viele Jahre her, daß ich zu Hause war, aber es sieht noch so aus wie immer.«

Die beiden Baka-Ban-Mana-Männer, die sie während der letzten beiden Tage durch das sumpfige, weglose Waldgebiet geführt hatten, hatten sich am Morgen von ihnen getrennt, als Schwester Verna sich endlich auf vertrautem Gebiet befand. Er hatte zwar nie das Gefühl für die Richtung verloren, trotzdem verstand Richard, wieso Menschen hier leicht die Orientierung verlieren konnten. Er dagegen war an Orten derart endloser Verlassenheit zu Hause und verlief sich eher in einem Gebäude als im dichten Wald.

Während dieser zwei Tage hatten die Männer nur wenig gesprochen. Zwar waren es Schwertkämpfer, die ebenso wild waren wie jene, gegen die Richard gekämpft hatte, doch hatten sie vor ihm eine ehrfürchtige Scheu gehabt. Richard mußte laut werden, bevor sie die ewigen Verbeugungen einstellten. Wie laut er auch wurde, nichts konnte sie davon abbringen, ihn Caharin zu nennen.

Eines Abends, bevor er wie üblich seinen Wachposten bezog, hatte Schwester Verna ihm in ruhigem Ton erklärt, es tue ihr leid, daß er die dreißig Menschen hatte töten müssen. Ein wenig überrascht von ihrem Ernst und dem offenkundigen Fehlen jeder Bedeutung, die über das Gesagte hinausging, und weil ihn die Erinnerung noch verfolgte, hatte er sich für ihr Verständnis bedankt.

Richard ließ den Blick über die fruchtbaren Hügel und Täler schweifen. »Wieso wird auf diesem Land nichts angebaut? Bei diesen vielen Menschen müssen sie doch Nahrungsmittel anpflanzen.«

Schwester Verna hob die Hand, mit der sie die Zügel hielt, und deutete auf das Land jenseits der anderen Seite der Stadt. »Farmen überziehen das Land auf jener Seite des Flusses. Auf dieser Seite ist es für Mensch und Tier nicht sicher.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf das Land hinter ihnen. »Die Baka Ban Mana sind eine ständige Bedrohung.«

»Hier wird also nichts angebaut, weil man Angst vor den Baka Ban Mana hat?«

Sie warf einen Blick nach links. »Siehst du den dunklen Wald?« Sie beobachtete ihn, während er den Rand des verflochtenen Dickichts im nächsten Tal betrachtete. Riesige, alte, knorrige Bäume standen, überwuchert von Moos und Kletterpflanzen, eng beieinander, zwischen ihnen düstere Schatten. »Dieser Waldrand erstreckt sich meilenweit bis hin zur Stadt. Es ist der Hagenwald. Halte dich von ihm fern. Wer sich nach Sonnenuntergang im Hagenwald aufhält, der stirbt. Und viele, die dort einen Fuß hineinsetzen, sterben selbst dann, wenn die Sonne noch hoch am Himmel steht. Es ist ein Ort dunkelster Magie.«

Im Weiterreiten sah er immer wieder hinüber zum Hagenwald. Irgend etwas zog ihn zu diesem unheimlichen Ort hin, so als ergänze er seine düstere Stimmung, als sei er ein Teil davon. Er hatte Mühe, die Augen von ihm abzuwenden.

Aus der Nähe waren die Straßen Tanimuras nicht so wohlgeordnet, wie es aus der Ferne schien. In den äußeren Stadtbezirken herrschte ein Durcheinander voller Elend. Männer, die mit Reissäcken, Teppichen oder Feuerholz, Fellen oder sogar mit Müll beladene Karren zogen oder schoben, schlängelten sich im Zickzack aneinander vorbei und verstopften gelegentlich die Wege. Händler jeder Art säumten die Straßen, verkauften alles, angefangen von Obst und Gemüse und an kleinen Spießen über winzigen, qualmenden Feuern in behelfsmäßigen Steinöfen gebratenen Fleischstreifen, bis hin zu Kräutern und Weissagungen, Stiefeln und Perlen. Wenigstens überdeckte der Duft gebratenen Fleisches stellenweise den atemberaubenden Gestank der Gerbereien.

Aus dichten Trauben von Männern in abgetragenen, schmutzigen Kleidern wurden aufgeregte Rufe laut, rings um Karten- oder Würfelspiele erhob sich Gelächter. In Seitenstraßen und engen Gassen zwischen baufälligen Hütten aus Blech und Planen drängten sich die Menschen. Nackte Kinder liefen zwischen diesen armseligen Behausungen umher, planschten in schlammig trüben Pfützen, jagten einander beim ›Fangt-den-Fuchs‹. Frauen schwatzen miteinander, während sie in Eimern Wäsche wuschen.

Schwester Verna murmelte, sie könne sich nicht an das Elend und die unzähligen Obdachlosen erinnern. Richard fand, daß sie trotz ihrer Lage glücklicher aussahen, als ihnen zustand.

Obwohl sie unter freiem Himmel gelebt hatten und ein wenig schmutzig und heruntergekommen waren, sah Schwester Verna im Vergleich mit diesen Menschen aus wie ein Mitglied des Königshauses. Wer immer in ihre Nähe kam, neigte vor der Schwester ehrfurchtsvoll den Kopf, und als Gegenleistung erbat sie den Segen des Schöpfers für die Menschen.

Die vom Zahn der Zeit angenagten Gebäude waren ebenso voller Menschen wie die Straßen. Bunte Wäsche hing an den rostigen Geländern fast jedes winzigen Balkons. Auf einigen standen Töpfe mit Blumen oder Kräutern. Aus Kneipen und Gasthäusern drangen Gelächter und das Summen von Gesprächen. Im Fenster eines Metzgers hingen fliegenumschwärmte Tiere. In anderen Geschäften wurde getrockneter Fisch, Getreide oder Öl feilgeboten.

Je weiter er und die Schwester kamen, desto sauberer wurde die Stadt. Die Straße öffnete sich, sogar die Seitenstraßen, in denen keine Hütten mehr an den Gebäuden lehnten, wurden breiter. Die Geschäfte hatten größere Fenster mit bemalten Jalousien, die Wagen auf der Straße sahen besser aus. In den Schaufenstern wurden oftmals die bunten Teppiche der Gegend ausgestellt. Als die breite Straße schließlich zum Boulevard wurde, konnte man die Häuser nur noch als prachtvoll bezeichnen. Die Gasthäuser wirkten elegant, die Türsteher davor trugen rote Uniformen.

Auf der steinernen Brücke über den Kern wurden an Pfählen aufgehängte Lampen entzündet, die in der zunehmenden Dunkelheit den Weg erhellten. Unten auf dem Fluß ruderten Fischer in kleinen Booten mit Laternen durch das dunkle Wasser. Soldaten in schmuckvollen Uniformen mit goldbesetzten, weißen Hemden und rotem Wams patrouillierten zu beiden Seiten des Flusses. Als die Pferdehufe über das Pflaster klapperten, brach Schwester Verna endlich das Schweigen.

»Im Palast ist es ein großer Tag, wenn ein Neuer mit der Gabe eintrifft.« Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. »Ein seltenes und freudiges Ereignis. Man wird froh sein, dich zu sehen, Richard, bitte vergiß das nicht. Für die Menschen dort ist dies ein Ereignis von höchstem Rang. Auch wenn du anders empfindest, ihnen wird bei deinem Anblick das Herz aufgehen. Sie werden wollen, daß du dich willkommen fühlst.«

Richard dachte anders darüber. »Kommt zur Sache.«

»Das habe ich gerade getan. Sie werden begeistert sein.«

»Das heißt mit anderen Worten, ich soll sie nicht gleich am Anfang vor den Kopf stoßen.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Mit einem leichten Stirnrunzeln betrachtete sie die Posten, die die Brücke bewachten. Schließlich blickte sie ihn wieder an. »Ich bitte dich lediglich anzuerkennen, daß diese Frauen lange auf eben dieses Ereignis hingelebt haben.«

Den Blick starr nach vorn gerichtet, ritt Richard an weiteren Posten in Paradeuniform vorbei. »Ein weiser Mensch, ein Mensch, den ich liebe, hat mir einmal erklärt, wir könnten immer nur derjenige sein, der wir sind, nicht mehr und nicht weniger.« Sein Blick schweifte über den oberen Rand der Mauer vor ihnen hinweg, registrierte die Soldaten dort und wie sie bewaffnet waren. »Ich bin der Bringer des Todes, und ich habe nichts, für das zu leben es sich lohnt.«

»Das stimmt nicht, Richard«, widersprach sie ruhig. »Du bist noch jung, und dich erwartet noch so viel. Du hast ein langes Leben vor dir. Du hast dir vielleicht selbst den Namen ›Bringer des Todes‹ gegeben, ich aber habe dich nichts anderes tun sehen, als dich zu bemühen, dem Töten ein Ende zu machen.«

»Da Ihr Lügen verabscheut, Schwester, werdet Ihr doch sicher nicht wollen, daß ich Euch etwas vorspiele.«

Sie seufzte, derweil sie ein riesiges Tor in der äußeren Mauer durchquerten. Die Hufe der Pferde hallten in der langen, bogenförmigen Öffnung wider. Dahinter wand sich die Straße zwischen geduckten, ausladenden Bäumen dahin. Aus allen Fenstern der Gebäude ringsum strahlte ein sanftes, gelbes Licht. Viele der Gebäude waren durch überdachte Säulengänge oder geschlossene Korridore, deren Bogenfenster mit Gitterwerk überdeckt waren, miteinander verbunden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofes stand eine Vielzahl Bänke vor einer Mauer mit einem Fries, das Reiter darstellte.

Durch Bogengänge mit weiß gestrichenen Toren erreichten sie die Stallungen. Dahinter grasten Pferde auf einer Weide. Burschen in sauberer Livree, mit schwarzen Westen über braunen Hemden, kamen herbei, um die Pferde zu halten, während er und Schwester Verna abstiegen. Richard kraulte Bonnie am Hals und machte sich daran, seine Siebensachen abzuladen.

Schwester Verna strich die Falten ihres Hosenrocks und ihren leichten Umhang glatt. Dann machte sie sich an ihren Locken zu schaffen. »Das ist nicht nötig, Richard. Jemand wird dir deine Sachen bringen.«

»Außer mir faßt niemand meine Sachen an«, meinte er.

Sie seufzte und schüttelte den Kopf, dann befahl sie dem Burschen, ihr Gepäck nach drinnen bringen zu lassen. Der Junge verneigte sich vor ihr, dann hakte er eine Führungsleine bei Jessup ein. Daraufhin riß er kurz und heftig an der Leine. Jessup scheute.

Der Bursche schlug Jessup mit der Peitsche aufs Hinterteil. »Beweg dich, du dummes Vieh!«

Jessup wieherte und versuchte seinen Kopf loszureißen.

Das nächste, was Richard mitbekam, war, wie der Bursche über den Weg geschleudert wurde. Krachend schlug er gegen eine wackelige Holzwand und landete auf dem Hosenboden, während Schwester Verna ihn wütenden Blicks anstarrte.

»Wage es nicht, das Pferd zu schlagen! Was ist nur mit dir los? Wie würde es dir gefallen, wenn ich mit dir das gleiche machte?« Der Bursche schüttelte schockiert den Kopf. »Sollte mir jemals zu Ohren kommen, daß du wieder ein Pferd schlägst, bist du deine Stellung los. Aber zuvor werde ich dir dann deinen mageren Hintern versohlen.«

Der Junge riß die Augen auf, nickte rasch und entschuldigte sich. Schwester Verna sah ihn noch einen Augenblick lang strafend an, dann machte sie kehrt und pfiff ihr Pferd herbei. Als Jessup angetrabt kam, kraulte sie ihn unterm Kinn, tröstete und beruhigte ihn. Sie führte ihn in einen Stall und versorgte ihn mit Wasser und Heu. Richard achtete darauf, daß sie nicht sah, wie er schmunzelte.

Während sie über den Hof gingen, meinte sie: »Vergiß nicht, Richard, hier gibt es keine einzige Schwester, selbst keine Novizin, die dich nicht mit ihrem Han durch den Raum schleudern könnte.«

In einem holzgetäfelten Raum mit langen gelb-blauen Teppichen, die unter verzierten Buffettischen verliefen, warteten drei Frauen. Als sie Schwester Verna erblickten, fingen sie aufgeregt an zu schnattern. Schwester Verna war einen Kopf kleiner als er, und keine dieser drei Frauen war so groß wie sie. Sie strichen ihre voluminösen, pastelligen Röcke glatt und zupften ihre weißen Leibchen zurecht.

»Schwester Verna!« stieß eine hervor, indes die drei angerauscht kamen.

»Oh, liebe Schwester Verna, wie schön, Euch endlich wiederzusehen!«

Tränen kullerten über ihre rosigen Gesichter. Die Frauen strahlten über das ganze Gesicht. Jede einzelne von ihnen schien ein gutes Stück jünger zu sein als Schwester Verna. Diese blickte ihnen musternd in die großen, glänzenden Augen.

Zärtlich streichelte Schwester Verna das verheulte Gesicht vor ihr. »Schwester Phoebe.« Sie drückte die Hand einer anderen. »Und Schwester Amelia und Schwester Janet. Wie schön, Euch wiederzusehen. Es ist wahrlich lange her.«

Die drei kicherten vor Aufregung und fanden schließlich die Fassung wieder. Schwester Phoebe sah sich mit ihrem rundlichen Gesicht suchend um, vorbei an Richard.

»Wo steckt er? Warum habt Ihr ihn nicht mit hereingebracht?«

Schwester Verna hob die Hand und zeigte auf Richard. »Das ist er. Richard, das sind Freundinnen von mir. Die Schwestern Phoebe, Amelia und Janet.«

Das Lächeln auf den Gesichtern verwandelte sich in einen Ausdruck des Erstaunens. Seine Größe und sein Alter brachten sie aus der Fassung. Sie starrten ihn in unverhohlener Verwunderung an, bis sie sich schließlich gegenseitig mit Beteuerungen überschlugen, wie froh sie seien, ihn kennenzulernen. Schließlich rissen sie ihre Blicke von ihm los und wandten ihre Aufmerksamkeit wieder Schwester Verna zu.

»Der halbe Palast wartet, um Euch beide zu begrüßen«, sagte Schwester Phoebe. »Alle waren so aufgeregt, seit wir die Nachricht erhielten, daß ihr heute eintrefft.«

Schwester Amelia strich ihr glattes, kaum schulterlanges braunes Haar zurück. »Seit Ihr Euch auf die Suche nach Richard gemacht habt, ist kein anderer mehr hergebracht worden. All die Jahre, und nicht ein einziger wurde hergebracht. Sie können es alle kaum erwarten, ihn kennenzulernen. Ihnen steht wohl eine ›große‹ Überraschung bevor«, meinte sie errötend mit einem Seitenblick auf ihn. »Besonders einigen der Jüngeren. Eine angenehme Überraschung, möchte ich meinen. Wie groß er ist.«

Richard erinnerte sich an einen Tag seiner Kindheit, als er wegen eines strömenden Regens nicht aus dem Haus konnte. Seine Mutter hatte Besuch von einigen ihrer Freundinnen, die ihr dabei helfen sollten, eine Steppdekke zu nähen, und während der Arbeit wollte sie sich mit ihnen die Zeit vertreiben. Sie saßen da und nähten, derweil Richard auf dem Fußboden spielte. Sie sprachen über ihn, als sei er gar nicht vorhanden, und unterhielten sich darüber, wie er immer größer wurde. Seine Mutter erzählte, wieviel er aß, und wie gut er im Lesen war. Ähnlich peinlich berührt, rückte Richard jetzt seinen Rucksack auf der Schulter zurecht.

Schwester Phoebe drehte sich zu ihm um und strahlte einfach nur. Sie streckte die Hand aus und berührte ihn am Arm. »Da hör sich einer unser Geschwätz an! Wir sollten nicht über dich reden, als seist du gar nicht da. Willkommen, Richard. Willkommen im Palast der Propheten.«

Richard verfolgte schweigend, wie die drei Schwestern zu ihm hinaufblinzelten. Schwester Amelia kicherte und meinte zu Schwester Verna: »Er ist wohl nicht sehr gesprächig, wie?«

»Er redet genug«, antwortete Schwester Verna. Kaum hörbar fügte sie hinzu: »Dem Schöpfer sei Dank, daß er jetzt den Mund hält.«

»Also«, meinte Schwester Phoebe mit heiterer Stimme. »Gehen wir?«

Schwester Verna sah sie stirnrunzelnd an. »Schwester Phoebe, was sind das für Truppen, die ich gesehen habe, die in den fremden Uniformen?«

Schwester Phoebe legte einen Augenblick lang die Stirn nachdenklich in Falten, dann hellte sich ihre Miene auf. »Ach, diese Truppen.« Sie tat sie mit einer Handbewegung ab. »Vor ein paar Jahren wurde die Regierung gestürzt. Das muß wohl in Eurer Abwesenheit passiert sein. Die Alte Welt hat eine neue Regierung, wieder einmal. Jetzt haben wir einen Kaiser statt all der Könige.« Sie blickte zu Schwester Janet hinüber. »Wie nennen sie sich doch gleich?«

Die Stirn nachdenklich in Falten gelegt, richtete Schwester Janet ihre Augen an die Decke. »Ach, richtig«, meinte sie geziert. »Die Imperiale Ordnung. Und Ihr habt ganz recht, Schwester Phoebe, sie haben tatsächlich einen Kaiser.« Sie nickte. »Genau, die Imperiale Ordnung, geführt von einem Kaiser.«

Schwester Phoebe schüttelte verwundert den Kopf. »Wie töricht. Regierungen kommen und gehen, doch der Palast der Propheten bleibt ewig. Der Schöpfer legt schützend seine Hand über uns. Sollen wir die anderen begrüßen gehen?«

Den dreien folgend, gingen sie durch angenehm dekorierte Korridore und Flure. Soweit es Richard anbetraf, befand er sich auf feindlichem Gebiet. Eine bedrohliche Situation hatte stets zur Folge, daß die Magie des Schwertes der Wahrheit versuchte, sich seiner zu bemächtigen, ihn zu beschützen. Richard ließ es zum Teil zu, hielt den Zorn jedoch auf kleiner Flamme. Schwester Verna warf ihm gelegentlich einen Seitenblick zu, so als wollte sie abschätzen, ob sein Gesicht noch mürrischer geworden war.

Schließlich passierten sie zwei mächtige Türen aus Walnußholz, die sich in einen riesengroßen Empfangssaal öffneten. Sie mußten unter einer niedrigen Decke und zwischen weißen Säulen mit goldenen Großbuchstaben hindurch, bevor sie unter ein gewaltiges Kuppelgewölbe traten, das mit riesigen Szenen von Menschen in Roben bemalt war, die eine Lichtgestalt umringten. Auf zwei Ebenen umringten Balkone mit verzierten Steingeländern den kreisrunden Saal. Fenster mit bunten Scheiben erhellten den obersten Balkon von hinten. Der Boden des Raumes bestand aus kleinen hellen und dunklen Holzquadraten, die man zu einem Rautenmuster ausgelegt hatte. Das Zischeln von weit über einhundert Stimmen hallte durch den Saal.

Frauen standen in Grüppchen auf dem Parkett beisammen, weitere säumten die Balkone. Unter den Frauen auf der zweiten Ebene fanden sich vereinzelt auch einige Männer und Jungen. Die Frauen, die Schwestern des Lichts, wie er vermutete, hatten alle ihre prächtigsten Kleider angelegt. Eine Kleiderordnung schien es nicht zu geben. Alle Farben waren zu sehen, die Schnitte variierten von konservativ bis gewagt. Die Jungen und Mannen trugen alle mögliche Kleidung, angefangen von schlichten Roben bis hin zu eleganten Röcken, die eines Fürsten oder Prinzen würdig gewesen wären.

Das Stimmengewirr verstummte, und alle drehten sich zu den Neuankömmlingen um. Als es still im Saal geworden war, setzte Applaus ein, der zu donnerndem Beifall anschwoll.

Schwester Phoebe ging ein paar Schritte in die Mitte des Saales, hob ihre Hand und bat um Ruhe. Der Applaus flackerte noch ein paarmal auf und verstummte schließlich.

»Schwestern«, hob Schwester Phoebe mit vor Aufregung bebender Stimme an, »bitte heißt Schwester Verna zu Hause willkommen.« Wieder donnerte der Applaus, und wieder brachte ihre Hand ihn nach wenigen Augenblicken zum Verstummen. »Außerdem möchte ich Euch unseren neuesten Schüler vorstellen, unser jüngstes Kind des Schöpfers, unseren neuesten Schützling.« Sie drehte sich um, streckte eine Hand aus, zappelte ungeduldig mit den Fingern und gab damit zu erkennen, daß Richard vortreten solle. Er ging drei Schritte auf sie zu. Schwester Verna blieb an seiner Seite.

Schwester Phoebe beugte sich zu ihm und flüsterte: »Richard …? Ist das dem ganzer Name?«

Richard zögerte einen Augenblick. »Cypher.«

Sie wandte sich wieder an die Menge. »Bitte heißt Richard Cypher im Palast der Propheten willkommen.«

Wieder hob das Klatschen an. Richard funkelte jedes Gesicht wütend an, das ihn betrachtete. Frauen, die in der Nähe standen, drängten weiter nach vorn, um ihn besser sehen zu können. Frauen jeder Art und Altersgruppe hatten sich versammelt, angefangen bei solchen, die alt genug aussahen, um freundliche Großmütter zu sein, bis hin zu denen, die kaum alt genug waren, um als Frauen bezeichnet zu werden. Sie reichten von mollig bis dürr, trugen Frisuren, die so unterschiedlich waren wie ihre Kleider, in jeder Haarfarbe von blond bis schwarz. Auch ihre Augen wiesen alle nur erdenklichen Farben auf.

Ganz in der Nähe fiel ihm eine Frau auf. Sie hatte ein warmes Lächeln auf den schuf dünnen Lippen und seltsam blaßblaue Augen, die mit violetten Sprenkeln durchsetzt waren. Sie sah ihn an, als sei er ein alter, guter Freund, den sie liebte und seit Jahren nicht gesehen hatte. Sie applaudierte begeistert und ermunterte eine überhebliche Frau neben ihr mit einem Ellenbogenstoß, sich dem Beifall anzuschließen, was diese daraufhin schließlich tat.

Richard stand da, ließ die Arme hängen und studierte den Grundriß des Saales, merkte sich Ausgänge, Durchgänge und die Aufstellung der Posten. Als der Beifall verstummte, bahnte sich eine junge Frau in einem Kleid, welches den gleichen Blauton hatte wie Kahlans Hochzeitskleid, ihren Weg durch die Menge. Das blaue Kleid hatte einen runden Halsausschnitt, der mit weißer Spitze verziert war, die bis zur schmalen Taille hinabreichte und die sich auch an den Ärmelaufschlägen fand.

Sie kam näher und blieb genau vor ihm stehen. Sie war vielleicht fünf Jahre jünger als er und einen Kopf kleiner, hatte volles, weiches braunes Haar, das ihr bis auf die Schultern reichte, und große braune Augen.

Sie starrte ihn offenen Mundes an. Mit jedem tiefen Atemzug schwoll ihr Busen unter den Spitzen an. Sie hob langsam ihre Hand. Mit ihren zarten Fingern berührte sie seine Wange und strich ungläubig über seinen Bart.

»Der Schöpfer hat meine Gebete tatsächlich erhört«, sagte sie leise zu sich selbst.

Plötzlich schien ihr wieder einzufallen, wo sie war. Sie riß ihre Hand zurück. Ihr Gesicht errötete.

»Ich … ich bin…«, stammelte sie. Sie fand ihre Haltung wieder, ihr Gesicht nahm wieder eine sanfte Farbe an. Sie verschränkte die Hände vor dem Körper und wandte sich an Schwester Verna, als wäre nichts geschehen. »Ich bin Pasha Maes, Novizin dritten Ranges. Ich bin als nächste an der Reihe, ernannt zu werden. Man hat mir die Verantwortung für Richard übertragen.«

Schwester Verna lächelte sie mit zusammengepreßten Lippen an. »Ich glaube, ich erinnere mich an dich, Pasha. Es freut mich zu sehen, daß du fleißig gelernt und dich gut entwickelt hast. Richard wird mir jetzt aus den Händen genommen und geht in deine über. Möge der Schöpfer seine Hand über euch beide halten.«

Pasha lächelte stolz, dann wandte sie sich an Richard. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Dann hob sie den Kopf, sah mit ihren Wimpern flatternd zu ihm hoch und lächelte ihn freundlich an.

»Wie schön, dich kennenzulernen, junger Mann. Mein Name ist Pasha. Du bist mir zugeteilt. Ich soll helfen, dich zu unterrichten, und dir bei allem helfen, was du während deiner Studien benötigst. Ich bin eine Art Führerin für dich. Alle Fragen oder Probleme, die du hast, werden mir vorgetragen, und ich werde mein Bestes tun, um dir zu helfen. Du scheinst ein heller Junge zu sein. Ich bin sicher, wir werden sehr gut miteinander auskommen.«

Ihr Lächeln wurde leicht unsicher, als sie bemerkte, wie wütend er sie anfunkelte. Sie lächelte erneut und fuhr fort. »Nun, zuallererst, Richard, erlauben wir nicht, daß die Jungen hier im Palast der Propheten Waffen tragen.« Sie streckte die Hand aus, mit der Handfläche nach oben. »Ich werde dein Schwert an mich nehmen.«

Das Rinnsal aus magischem Zorn hatte sich in einen Sturzbach verwandelt. »Du kannst mein Schwert gern haben — wenn ich nicht mehr atme.«

Pashas Blick zuckte zu Schwester Verna hinüber. Die Schwester schüttelte in einer ernsten Warnung langsam und kaum merklich den Kopf. Pashas Blick kehrte zu Richard zurück, und ihr mißbilligender Blick verwandelte sich in ein Lächeln.

»Nun gut, wir können später darüber sprechen.« Sie zog die Brauen hoch. »Aber du mußt dringend ein paar Manieren lernen, junger Mann.«

Richards Tonfall ließ Pasha ein gutes Stück erblassen. »Welche dieser Frauen ist die Prälatin?«

Pasha lachte überrascht und erschrocken auf. »Die Prälatin ist nicht hier. Sie ist viel zu beschäftigt, um…«

»Bring mich zu ihr.«

»Man kann die Prälatin nicht einfach aufsuchen, wann man will. Sie empfängt einen nur, wenn sie persönlich es für notwendig erachtet. Hat Schwester Verna dir nicht beigebracht, daß wir unseren Jungen nicht erlauben…«

Richard schob sie mit der Hand zur Seite, trat einen weiteren Schritt nach vorn in den Saal und richtete seinen wütenden Blick wieder auf die Hunderte von Augenpaaren, die ihm entgegenstarrten.

»Ich habe etwas zu sagen.«

Stille breitete sich in dem riesigen Saal aus. Ein Gedanke formte sich in seinem Kopf, von zwei verschiedenen Quellen inspiriert. Eine war Die Abenteuer von Bonnie Day, das Buch, welches sein Vater ihm geschenkt hatte, und die andere war die Magie des Schwertes, das Wissen des Schwertes, mit dem die Seelen getanzt hatten.

Erinnerung und Botschaft lauteten gleich: Wenn du in der Unterzahl bist und die Situation ausweglos ist, bleibt dir keine Wahl — du mußt angreifen.

Er wußte, wozu der Halsring diente. Seine Lage war aussichtslos. Er hatte keine Alternativen. Er wartete, bis die Stille im Saal beklemmend wurde.

Er tippte mit den Fingern an seinen Rada’Han. »Solange Ihr mich diesen Halsring tragen laßt, seid Ihr meine Häscher, und ich bin Euer Gefangener.« Gemurmel erfüllte den Raum. Richard wartete, bis es verstummt war, bevor er fortfuhr. »Da ich mich keines Angriffs auf Euch schuldig gemacht habe, betrachte ich Euch als Feinde. Wir befinden uns im Krieg.

Schwester Verna hat mir geschworen, daß man mir beibringen wird, die Gabe zu beherrschen, und daß ich, sobald ich alles Nötige gelernt habe, freigelassen werde. Solange Ihr Euch an dieses Versprechen haltet, befinden wir uns im Waffenstillstand. Aber ich habe Bedingungen.«

Richard nahm den roten Lederstab, den Strafer, in die Hand. Über den Zorn der Magie hinaus rief der Strafer nur ein leicht schmerzhaftes Kribbeln hervor. »Man hat mir schon einmal einen Halsring angelegt. Die Person, die mir damals den Halsring anlegte, hat mir weh getan — um mich zu bestrafen, um mich auszubilden, mich zu zähmen.

Das ist der einzige Zweck eines Halsrings. Einem wilden Tier legt man einen Halsring um. Seinem Feind legt man einen Halsring um.

Ich habe meiner ersten Lehrerin dasselbe Angebot gemacht, daß ich auch Euch jetzt mache. Ich habe sie gebeten, mich freizulassen. Sie wollte es nicht tun. Ich war gezwungen, sie zu töten.

Nicht eine von Euch darf jemals hoffen, gut genug zu sein, um ihr das Wasser reichen zu können. Was sie tat, tat sie, weil man sie gefoltert und gebrochen und verrückt genug gemacht hatte, einen Halsring zu benutzen, um Menschen Schmerzen zuzufügen. Sie tat es gegen ihre innere Natur.

Ihr«, damit blickte er von Augenpaar zu Augenpaar. »Ihr tut es, weil Ihr glaubt, es sei Euer Recht. Ihr macht Menschen im Namen des Schöpfers zu Sklaven. Ich kenne Euren Schöpfer nicht. Ich kenne nur einen einzigen, der sich ebenso verhalten würde wie Ihr, und das ist der Hüter.« Die Menge holte erschrocken Luft. »Was mich anbelangt, könnt Ihr durchaus die Anhänger des Hüters sein.

Wenn Ihr dasselbe tut wie sie und diesen Halsring dazu benutzt, mir Schmerzen zu bereiten, endet die Waffenruhe. Ihr glaubt vielleicht, Ihr haltet die Leine für diesen Halsring in der Hand, doch ich verspreche Euch, wenn der Waffenstillstand endet, werdet Ihr feststellen, daß ihr einen Blitz in Händen haltet.«

Im Saal war es totenstill geworden. Richard rollte sich den Ärmel hoch. Er zog das Schwert der Wahrheit blank. Das unverwechselbare Klirren von Stahl hallte durch die Stille.

»Die Baka Ban Mana sind mein Volk. Sie haben sich einverstanden erklärt, von jetzt an mit allen Völkern in Frieden zu leben. Jeder, der einem von ihnen etwas antut, wird sich vor mir verantworten müssen. Akzeptiert Ihr dies nicht und laßt Ihr die Baka Ban Mana nicht in Frieden leben, endet unsere Waffenruhe.«

Er zeigte mit dem Schwert hinter sich. »Schwester Verna hat mich gefangengenommen. Ich habe auf jedem Schritt dieser Reise gegen sie gekämpft. Um mich herzuschaffen, hätte sie mich fast umgebracht und auf ein Pferd gebunden. Doch obwohl auch sie meine Häscherin und Feindin ist, bin ich ihr in mancher Hinsicht etwas schuldig. Sollte irgend jemand ihr wegen mir ein Härchen krümmen, werde ich den Betreffenden töten und unsere Waffenruhe ist beendet.«

Aus den Augenwinkeln konnte Richard sehen, wie Schwester Verna die Augen schloß. Sie bedeckte ihr bleiches Gesicht mit der Hand.

Der Menge stockte der Atem, als Richard sein Schwert über die Innenseite seines Armes zog. Er drehte es, zog beide Seiten durch das Blut, bis es von der Spitze tropfte.

Die Knöchel weiß um das Heft geschlossen, reckte er die Klinge in die Luft.

»Ich schwöre Euch einen Bluteid! Tut den Baka Ban Mana etwas an, tut Schwester Verna etwas an oder mir, und die Waffenruhe ist beendet, und ich verspreche Euch, dann sind wir im Krieg! Und wenn es zum Krieg kommt, werde ich den Palast der Propheten in Schutt und Asche legen!«

Vom gegenüberliegenden Balkon, wo Richard ihren Ursprung nicht ausmachen konnte, wehte eine spöttische Stimme über die Menge hinweg. »Du ganz allein?«

»Zweifelt an mir, Ihr tut es auf eigene Gefahr. Ich bin Gefangener, es gibt nichts, wofür ich leben könnte. Ich bin die fleischgewordene Prophezeiung. Ich bin der Bringer des Todes!«

Aus der Stille kam keine Antwort. Er rammte sein Schwert in die Scheide zurück.

Richard breitete die Arme aus und verbeugte sich elegant. Lächelnd kam er wieder hoch. »Jetzt, da wir uns alle gegenseitig verstehen und die Bedingungen der Waffenruhe kennen, dürfen die Damen sich wieder der Feier meiner Gefangennahme widmen.«

Er kehrte der verblüfften Menge den Rücken zu. Schwester Verna hielt den Kopf gesenkt, hielt sich die Hand vor das Gesicht. Pasha preßte die Lippen so fest aufeinander, das die bereits blau anliefen.

Eine beleibte Frau mit ernstem Gesicht ging an ihm vorbei und blieb vor Schwester Verna stehen. Die Frau reckte die Nase in die Luft, bis Schwester Verna den Kopf hob und den Rücken durchdrückte.

»Schwester Verna. Es ist offenkundig, daß Ihr weder über die Begabung noch das nötige Wissen verfügt, eine Schwester des Lichts zu sein. Euer Scheitern überschreitet alle Grenzen des Erlaubten. Mit sofortiger Wirkung seid Ihr zur Novizin ersten Ranges degradiert. Du wirst als Novizin dienen, und zwar solange, bis und falls der Schöpfer will, daß du den Titel einer Schwester des Lichts erneut verdienst.«

Schwester Verna hob ihr Kinn. »Ja, Schwester Maren.«

»Novizinnen sprechen nur dann mit einer Schwester, wenn sie dazu aufgefordert werden!« Sie streckte ihre Hand aus. »Gib den Dacra ab!«

Schwester Verna machte eine schnelle Handbewegung, und das silberne Messer schoß aus ihrem Ärmel. Sie drehte es herum, hielt der anderen Frau den Griff hin, dann stand sie schweigend da, die Augen starr geradeaus gerichtet.

»Morgen früh bei Tagesanbruch wirst du dich in der Küche melden. Du wirst Töpfe scheuern, bis man dich für würdig hält, etwas deiner Intelligenz Angemesseneres zu versuchen. Hast du verstanden?«

»Ja, Schwester Maren. Ich habe verstanden.«

»Und solltest du auch nur den Anschein erwecken, mir irgendwann zu widersprechen, wirst du in den Ställen landen, Pferdeboxen ausmisten und Dung schleppen!«

»In diesem Fall, Schwester Maren, will ich mich sofort in den Ställen statt in der Küche melden, um Euren Ohren zu ersparen, was ich Euch zu sagen hätte.«

Schwester Marens Gesicht färbte sich rot. »Also schön, Novizin. Dann also in die Ställe.«

Schwester Maren blieb vor Richard stehen und lächelte ihn verkniffen an. »Ich nehme an, das bricht deine Waffenruhe nicht.« Sie hob die Nase in die Luft und stürmte von dannen.

Im Saal war es still geworden. Richard sah zu Schwester Verna hinüber, die jedoch starrte stur geradeaus. Pasha, die eine finstere Miene aufgesetzt hatte, schob sich plötzlich zwischen die beiden.

»Verna muß uns nicht länger kümmern. Dein Arm blutet. Da du mein Schützling bist, werde ich mich darum kümmern.«

Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, während sie ihre Finger vor dem Bauch ineinanderschlang. »Im Speisesaal beginnt in diesem Augenblick zu deiner Begrüßung ein großes Festessen. Vielleicht hast du danach eine bessere Meinung von uns. Alle freuen sich darauf. Jeder möchte Gelegenheit haben, dich persönlich willkommen zu heißen.« Sie drohte ihm mit dem Finger. »Und du wirst deine besten Manieren zeigen, junger Mann!«

Mit dem Schwert hatte er auch den größten Teil seines Zornes weggesteckt. Den größten Teil, aber nicht alles. »Ich habe keinen Hunger. Bring mich in mein Verlies, Kind

Sie ballte die Fäuste vor ihrem blauen Rock. Sie betrachtete ihn einen Augenblick lang mit finsterer Miene. »Also schön. Ganz wie du willst. Du kannst ohne Abendessen zu Bett gehen, wie ein verwöhntes Kind.« Sie machte auf dem Absatz kehrt. »Folge mir.«

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