63

Richard blickte von der Stelle auf, wo er am Boden saß, und sah Warren in der Tür stehen. Er hatte das Klopfen nicht gehört. Als er nichts sagte, kam Warren herbeigeeilt und hockte sich neben ihn.

»Hör mal, Richard, du hast etwas gesagt, das mich nachdenklich gemacht hat. Du hast gesagt, du würdest die Mutter Konfessor heiraten.«

Richards Gedanken lösten sich aus der Benommenheit, und er hob plötzlich die Augen. »In der Prophezeiung ist von ihr die Rede, hab’ ich recht? Die Prophezeiung, die, wie du gesagt hast, sich zur Wintersonnenwende erfüllen wird.«

»Das wäre möglich. Aber ich weiß nicht genug über sie, über Konfessoren, um es mit Sicherheit zu sagen. Trägt die Mutter Konfessor Weiß?«

»Ja. Konfessoren werden geboren, um die Wahrheit zu finden. Sie ist die letzte ihrer Art.«

»Ich glaube, das sind gute Neuigkeiten, Richard. Ich glaube, zur Wintersonnenwende wird sie das Glück finden und ihrem Volk bringen.«

Richard mußte an die Vision denken, die er im Turm der Verdammnis gehabt hatte. Er erinnerte sich, welches Entsetzen er dabei empfunden hatte. Kahlans Worte hatten sich in seine Erinnerung eingebrannt. Er zitierte sie für Warren.

»Nur eine einzige von allen, die aus der Magie geboren sind, wird übrigbleiben, um die Wahrheit zu verkünden, wenn die Bedrohung des Schattens aufgehoben ist. Aus diesem Grunde kommt die größere Finsternis der Toten. Damit es eine Chance auf die Bande des Lebens gibt, muß diejenige in Weiß ihrem Volk geopfert werden, zu dessen Freude und unter seinem Jubel

»Ja! Das ist es! Ich glaube, mit der ›größeren Finsternis‹ ist sowohl der Hüter als auch die Wintersonnenwende gemeint. Ich denke, es bedeutet … Richard, wo hast du diese Prophezeiung gelesen?«

»Ich habe sie nirgendwo gelesen. Sie wurde mir in einer Vision von ihr überbracht.«

Warren bekam große Augen, so wie oft, wenn ihn etwas zum Staunen brachte. »Du hattest eine Vision von einer Prophezeiung?«

»Ja. Sie brachte mir den Wortlaut und auch eine Vision dessen, was sie bedeutet.«

»Und was bedeutet sie?«

Richard strich sich über sein Hosenbein. »Das darf ich dir nicht sagen. Sie meinte, ich dürfte die Worte aussprechen, aber nichts von der Vision erwähnen. Tut mir leid, Warren, aber ohne die Folgen zu kennen, traue ich mich nicht, diese Warnung zu mißachten. Aber ich kann dir nur verraten, wenn diese Prophezeiung sich erfüllt, hat das weder für sie noch für mich erfreuliche Folgen.«

Warren überlegte einen Augenblick. »Ja, du hast recht.« Er sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Ich denke, ich muß dir etwas über die Prophezeiungen verraten. Kaum jemand weiß das, aber oft geben ihre Worte nicht ihre wahre Absicht zu erkennen.«

»Wie meinst du das?«

»Nun, ein paarmal schon hatte ich beim Lesen einer Prophezeiung eine Vision. Diese Vision hat sich denn als wahr herausgestellt, und mit der Prophezeiung war es ebenso, aber anders, als man es nach dem Lesen vermuten würde. Ich glaube, in Wahrheit soll man Prophezeiungen mit Hilfe der Gabe verstehen, durch die Visionen.«

»Wissen die Schwestern das?«

»Nein. Vermutlich macht genau dies den Propheten aus. Richard, wenn du diese Vision hattest und diese Worte gehört und die Bedeutung erkannt hast, bedeutet das vielleicht, daß du ein Prophet bist.«

»Nach Ansicht der Prälatin habe ich ein anderes Talent. Wenn sie recht hat, dann stellen diese Visionen nur einen Teil meiner eigentlichen Begabung dar.«

»Und die wäre?«

»Die Prälatin meinte, ich sei ein Kriegszauberer.«

Er bekam wieder große Augen. »Richard, Kriegszauberer haben die Gabe für beide Arten von Magie. Seit … Tausenden von Jahren wurde niemand mehr mit der Gabe für das Subtraktive geboren. Vielleicht irrt sich die Prälatin.«

»Hoffentlich. Trotzdem würde das einiges erklären. Nachdem, was einer meiner Freunde mir erzählt hat, bedeutet additive Magie, das zu benutzen, was existiert, und dann etwas hinzuzufügen, es zu vermehren, zu verändern. Subtraktive Magie ist das Gegenteil, das Vernichten und Ungeschehenmachen von Dingen.

Sämtlich Schilde wurden von den Schwestern errichtet. Sie haben nur additive Magie. Selbst wer die Gabe hat, kommt nicht so ohne weiteres hindurch, kann sie nicht brechen, denn auch diese Leute haben nur additive Magie. Kraft gegen Kraft. Ich jedoch kann durch die Schilde hier einfach hindurchmarschieren und brauche mich nicht einmal anzustrengen.

Eine Erklärung dafür wäre subtraktive Magie. Subtraktive Magie würde die additive Magie der Schilde aufheben, sie zunichte machen.«

»Aber du hast doch gesagt, du hättest versucht, die Barriere zu durchbrechen, die uns daran hindert, von hier fortzugehen. Das ist doch auch ein Schild. Warum kannst du diesen Schild nicht durchbrechen, wenn du tatsächlich über subtraktive Magie verfügst?«

Richard zog eine Braue hoch und beugte sich vor. »Warren, wer hat diese Schilde eingerichtet?«

»Na ja, die, die auch die übrige Magie des Palastes eingerichtet haben, die Zauberer aus alter Zeit…«

»Die, wie du gesagt hast, subtraktive Magie besaßen. Dieser Schild ist der einzige, der von ihnen eingerichtet wurde. Es ist der einzige, den ich nicht durchbrechen kann. Es ist der einzige, den meine subtraktive Magie, wenn ich sie denn tatsächlich habe, nicht aufheben kann. Verstehst du, was ich meine?«

Warren ließ sich auf seine Fersen nieder. »Ja…« Er rieb sich das Kinn und dachte nach. »Das gäbe Sinn. Das stimmt möglicherweise mit einigen der Prophezeiungen überein, die dich betreffen. Vorausgesetzt, du bist tatsächlich ein Kriegszauberer und derjenige, der aus der Wahrheit geboren wurde.«

»Und heißt es in diesen Prophezeiungen, daß ich obsiegen werde?«

Warren zögerte. Er blickte kurz zum Schwert der Wahrheit hinüber, das in der Nähe auf dem Boden lag. »Die ›weiße Klinge‹, sagt dir das irgend etwas!«

Richard stieß einen schweren Seufzer aus, als er sich daran erinnerte. »Ich kann die Klinge meines Schwertes weiß färben, mit Hilfe von Magie.«

Warren wischte sich mit der Hand durchs Gesicht. »Dann stecken wir möglicherweise in Schwierigkeiten. Es gibt eine Prophezeiung, in der es heißt: Werden die Kräfte der Bestrafung freigelassen, so fällt ein noch viel düsterer Schatten durch das Zerrissene auf die Welt. Die Hoffnung auf Erlösung wird dann so schmal wie die weiße Klinge des aus der Wahrheit Geborenen

»Das Zerrissene. Das offene Tor«, sagte Richard.

»Damit wäre der ›düstere Schatten‹ der Hüter.«

»Warren, ich muß wegen dieser Prophezeiung irgend etwas unternehmen. Wegen der Prophezeiung über ›die in Weiß‹. Hast du irgendeine Idee?«

Warren sah ihn an, als versuchte er, sich zu irgend etwas durchzuringen. »Ich weiß nicht, ob uns das weiterhilft.« Er rieb sich verlegen die Schenkel. »Es gibt da einen Propheten, hier im Palast. Ich habe ihn noch nie gesehen. Ich würde gern, aber sie lassen mich nicht. Sie behaupten, es wäre zu gefährlich für mich, mit ihm zu sprechen, bevor ich nicht mehr gelernt hätte. Sie haben mir versprochen, wenn ich genug gelernt habe, lassen sie mich mit ihm sprechen.«

»Hier im Palast? Wo?«

Warren zog eine Falte seines Gewandes unter dem Knie hervor. »Das weiß ich nicht. Es befindet sich bestimmt in einer der verbotenen Zonen, ich weiß aber nicht in welcher, und ich weiß auch nicht, wie wir es herausfinden können.«

Richard stand auf. »Aber ich.«

Als der Schwertmann Kevin Andellmere bleich wie ein Gespenst wurde, wußte Richard, daß er zum richtigen Posten gegangen war. Anfangs war er widerwillig, tat, als wisse er nichts, doch als Richard ihn vorsichtig an all die Gefälligkeiten erinnerte, verriet ihm Kevin flüsternd den Ort.

Der Gebäudekomplex, den Kevin ihm verraten hatte, gehörte zu den bestbewachten. Richard wußte, wo sämtliche Wachen postiert waren, da er hier weiße Rosen gepflückt hatte und oben auf der Mauer gewesen war, ›um hinaus auf das Meer zu blicken‹. Außerdem kannte er alle Wachen. Sie waren häufige Besucher bei den Huren, die er bezahlte.

Am äußeren Tor verlangsamte er nicht einmal seinen Schritt, sondern nickte den Wachen als Antwort auf ihr Zwinkern lediglich zu. Die Wachen auf dem Festungswall zeigten sich erheblich zurückhaltender, stammelten etwas und streckten die Hand aus, um ihn aufzuhalten. Er schüttelte ihnen einfach die Hand und tat, als hätte er ihre Geste so verstanden. Schließlich nahmen sie seufzend wieder ihren Posten ein, während er mit wehendem Mriswith-Cape davonmarschierte.

Am Ende des Festungswalls gab es einen kleinen Säulengang, und an dessen Ende wiederum eine Wendeltreppe, die in die Gemächer des Propheten hinunterführte. Die Wachen an der Tür, auf die er es abgesehen hatte, waren jene beiden, die auf seine Seite zu ziehen ihm zunächst schwergefallen war, die aber dann als erste durch ihn in die Gunst weiblicher Gesellschaft gekommen waren. Sie nahmen Haltung an, als sie ihn sahen.

Richard hielt wie selbstverständlich auf die Tür zwischen ihnen zu. »Walsh, Bollesdun, wie geht es euch?«

Sie kreuzten ihre Hellebarden vor der Tür. »Richard, was tust du hier unten? Die Rosen wachsen oben.«

»Hör zu, Walsh, ich muß den Propheten sprechen.«

»Richard, tu uns das nicht an. Du weißt genau, daß wir dich nicht reinlassen dürfen. Die Schwestern würden uns bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren ziehen.«

Richard zuckte mit den Achseln. »Ich werde ihnen nicht sagen, daß ihr mich reingelassen habt. Ich werde sagen, ich hätte euch überlistet. Wenn jemand etwas merkt, was nicht passieren wird, erzählt ihnen einfach, ich hätte mich vorbeigeschlichen, und das sei euch erst aufgefallen, als ich schon wieder auf dem Weg nach draußen war. Ich werde eure Geschichte bestätigen.«

»Richard, du kannst wirklich nicht…«

»Habe ich jemals Ärger bereitet? Habe ich je etwas anderes getan, als euch allen zu helfen? Ich halte euch aus, ich leihe euch Geld, wenn ihr es braucht, ich bezahle die Mädchen für euch. Habe ich dafür jemals eine Gegenleistung verlangt?«

Richard hatte die Hand am Heft seines Schwertes. So oder so, er würde durch diese Tür gehen.

Walsh trat mit dem Stiefel gegen einen kleinen Stein. Mit einem schweren Seufzer nahm erst der eine, dann der andere seine Hellebarde hoch. »Bollesdun, geh und mach deine Runde. Ich verschwinde inzwischen mal kurz auf dem Abort.«

Richard nahm die Hand von seinem Schwert und gab dem Mann einen Klaps auf die Schulter. »Danke, Walsh. Ich weiß das zu schätzen.«

Nachdem er die Hälfte des Gangs zurückgelegt hatte, spürte Richard Schichten des Widerstandes, Schilde wie die vor der Tür der Prälatin, doch sie hielten ihn nur geringfügig auf. Er betrat den Raum, der so geräumig war wie sein eigener, vielleicht ein wenig eleganter eingerichtet. Eine Wand war mit riesigen Wandteppichen bedeckt, an einer anderen standen große Bücherregale. Die meisten Bücher jedoch lagen im Zimmer verstreut auf Stühlen und Sofas und überall auf den gelbblauen Teppichen, die den Boden bedeckten.

Im Sessel neben dem erkalteten Kamin erblickte Richard den Rücken eines Mannes.

»Du mußt mir erklären, wie du das machst«, meinte der Mann mit tiefer, kraftvoller Stimme. »Ich wäre sehr daran interessiert, den Trick zu lernen.«

»Machen? Was denn?« fragte Richard.

»Durch die Schilde hindurchzumarschieren, als wären sie nicht vorhanden. Wenn ich es versuchte, würde es mir glatt das Fleisch von den Knochen schmoren.«

»Wenn ich jemals selbst dahinterkomme, verrate ich es dir. Mein Name ist Richard. Ich würde mich gern mit dir unterhalten, wenn du nicht zu beschäftigt bist.«

»Beschäftigt!« Der Mann mußte herzhaft lachen. Als er sich erhob, war Richard ein wenig überrascht, wie groß er war. Sein langes, weißes Haar hatte Richard vermuten lassen, er sei alt und verschrumpelt. Alt war er tatsächlich, verschrumpelt jedoch nicht. Er wirkte kräftig und voller Lebensenergie. Sein Lächeln war gleichzeitig einladend und bedrohlich. Er trug einen Rada’Han genau wie Richard.

»Ich heiße Nathan, Richard. Ich habe mich darauf gefreut, dich kennenzulernen. Ich hatte nicht erwartet, daß du den Weg hierher allein finden würdest.«

»Ich wollte allein kommen, damit wir uns ungestört unterhalten können.«

»Und, weißt du, daß ich ein Prophet bin?«

»Ich bin nicht gekommen, um zu lernen, wie man Brot backt.«

Nathans Lächeln wurde breiter, doch er lachte nicht. Seine Brauen zogen sich zusammen wie die eines Habichts. Seine Stimme bekam etwas Zischendes. »Möchtest du, daß ich dir von deinem Tod erzähle, Richard? Wie du sterben wirst?«

Richard ließ sich auf das Sofa fallen und knallte seine Füße auf den Tisch. Er erwiderte das habichtähnliche, wütende Funkeln und zahlte ihm das bedrohliche Lächeln mit gleicher Münze heim. »Klar. Ich würde gern alles darüber wissen. Und wenn du damit fertig bist, erzähle ich dir, wie du sterben wirst.«

Nathan zog die Augenbrauen hoch. »Du bist auch ein Prophet?«

»Prophet genug, um dir zu sagen, wie du sterben wirst.«

Der finstere Blick bekam etwas Neugieriges. »Wirklich. Dann erzähl es mir.«

Richard nahm eine Birne aus einer Schale auf dem Tisch, polierte sie an seinem Hosenbein und biß davon ab. Kauend meinte er: »Du wirst genau hier sterben, in diesen Räumen, und zwar an Altersschwäche und ohne die Außenwelt jemals wiederzusehen.«

Die Falten in Nathans Gesicht wurden tiefer, sein Gesichtsausdruck erschlaffte. »Du scheinst tatsächlich ein Prophet zu sein, Junge.«

»Es sei denn, du hilfst mir. Wenn du mir hilfst, vielleicht kann ich dann wiederkommen und dir helfen, ebenfalls hier rauszukommen.«

»Und was möchtest du?«

»Ich will diesen Halsring loswerden.«

Nathans Gesicht verzog sich zu einem verschmitzten Grinsen. »Es scheint, als hätten wir ein gemeinsames Interesse, Richard.«

»Aber die Schwestern behaupten, ohne ihn würde ich sterben.«

Das verschmitzte Grinsen wurde breiter. »Von anderen verlangen sie die Wahrheit, doch sie selbst belasten sich nur selten damit. Die Schwestern haben ihre eigenen Pläne, Richard. Es gibt mehr als einen Pfad, der durch die Wälder führt.«

»Die Schwestern sagen, ich müsse lernen, mein Han zu gebrauchen, um den Ring loszuwerden. Sie scheinen dabei keine große Hilfe zu sein.«

»Es wäre einfacher, einem Baumstumpf das Singen beizubringen, als daß eine einfache Schwester dir beibringt, dein Han zu gebrauchen. Sie können dir nicht helfen.«

»Kannst du mir helfen, Nathan?«

»Vielleicht.« Nathan setzte sich auf seinen Stuhl und beugte sich entschlossen vor. »Sag mal, Richard, hast du je Die Abenteuer von Bonnie Day gelesen?«

»Gelesen? Es ist mein Lieblingsbuch. Ich habe es so oft gelesen, daß meine Augen fast die Buchstaben von den Seiten abgetragen haben. Ich würde gern den kennenlernen, der es geschrieben hat, und ihm sagen, wie sehr es mir gefallen hat.«

Ein breites, kindliches Grinsen stahl sich auf Nathans Gesicht. »Das hast du gerade, Junge. Das hast du gerade getan.«

Richard schnellte von der Sofalehne nach vorn. »Du! Du hast Die Abenteuer von Bonnie Day geschrieben?«

Nathan zitierte einige Passagen, um seine genaue Kenntnis zu beweisen. »Ich habe das Buch deinem Vater gegeben. Er sollte es dir schenken, sobald du alt genug zum Lesen warst. Du warst damals gerade geboren.«

»Du warst zusammen mit der Prälatin dort? Davon hat sie mir nichts erzählt.«

»Ich bezweifele, daß ihr die Wahrheit klar gewesen ist. Du mußt wissen, Ann verfügt nicht über die Macht, um in die Burg der Zauberer in Aydindril zu gelangen. Ich half George hineinzukommen, damit er das Buch der Gezählten Schatten besorgen konnte. Es gibt dort eine Reihe sehr interessanter Bücher mit Prophezeiungen.«

Richard sah ihn erstaunt an. »Wie es aussieht, sind wir dann alte Bekannte.«

»Mehr als das, Richard Rahl.« Nathan sah ihn vielsagend an. »Mein Name ist Nathan Rahl.«

Richard fiel die Kinnlade herunter. »Du bist mein … Ur-Ur-Urirgendwas?«

»Es wären zu viele >Urs‹, als daß man sie zählen könnte. Ich bin fast eintausend Jahre alt, mein Junge.« Er drohte scherzend mit dem Finger. »Ich interessiere mich schon sehr lange für dich. In den Prophezeiungen ist von dir die Rede.

Die Abenteuer von Bonnie Day habe ich für die wenigen geschrieben, die über das Potential verfügen. In gewisser Weise ist es ein Buch der Prophezeiungen. Eine Fibel der Prophezeiungen, eine, die du in der Lage wärst zu verstehen, damit sie dir helfen kann. Das Buch hat dir doch geholfen, oder?«

»Mehr als einmal«, sagte Richard, der immer noch Mühe hatte, seinen Mund zu schließen.

»Gut. Dann bin ich zufrieden. Wir haben das Buch an ein paar ausgesuchte Jungen weitergegeben. Du bist der einzige, der noch lebt. Die übrigen sind bei ›unerklärlichen Unfällen‹ ums Leben gekommen.«

Richard aß die Birne zu Ende und dachte nach. »Und, kannst du mir nun helfen, meine Kraft zu benutzen?«

»Denk doch einmal nach, Richard. Die Schwestern haben dir mit Hilfe des Halsrings doch noch keine Schmerzen zugefügt, oder?«

»Nein. Aber das werden sie noch.«

»Den letzten Krieg kämpfen. Was hat Bonnie Day den Truppen Warwicks gesagt, die die Moore bewachten? Daß der Feind nicht angreifen werde wie zuvor. Daß sie töricht ihre Zeit vergeuden würden, wenn sie versuchten, den letzten Krieg zu kämpfen.« Nathan zog eine Braue hoch. »Offenbar hast du die Lehre nicht begriffen. Daß dir schon einmal etwas geschehen ist, bedeutet keineswegs, daß es dir wieder geschehen wird. Denk nach vorn, Richard, nicht zurück.«

Richard zögerte. »Ich … ich hatte eine Vision, in einem der Türme. Eine Vision, daß Schwester Verna mir mit dem Halsring Schmerz bereiten würde.«

»Und das rief deinen Zorn auf den Plan.«

Richard nickte. »Ich rief den Zorn herbei und tötete sie.«

Nathan schüttelte kurz enttäuscht den Kopf. »Diese Vision, das war dein Verstand, der dir etwas sagen wollte, der dir zeigen wollte, wie du dich selbst schützen kannst, wenn sie das tun — wie du sie besiegen kannst. Deine Gabe und dem Verstand haben Hand in Hand gearbeitet und versucht, dir zu helfen. Du warst zu sehr mit dem letzten Krieg beschäftig, um die Botschaft zu beachten.«

Richard schwieg verärgert. Er hatte sich so lange mit der Vorstellung herumgeschlagen, daß sie ihm weh tun könnten, bis er nichts anderes mehr gesehen hatte. Er hatte die wahre Bedeutung dessen, was Kahlan getan hatte, übersehen, weil er Angst gehabt hatte, die Vergangenheit könnte wieder aufleben. Denk an die Lösung, nicht an das Problem — das war es, was Zedd ihm beigebracht hatte. Er hatte sich von der Vergangenheit für die Zukunft blenden lassen.

»Ich verstehe, was du meinst, Nathan«, gestand er ein. »Wie war das gemeint, die Schwestern würden mir mit dem Halsring keine Schmerzen zufügen?«

»Ann weiß, daß du ein Kriegszauberer bist, das habe ich ihr bereits vor deiner Geburt gesagt. Vor fast fünfhundert Jahren. Sie hätte die Schwestern entsprechend angewiesen. Einem Kriegszauberer Schmerzen zuzufügen ist dasselbe, als wollte man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.«

»Du meinst, der Schmerz ist irgendwie das Geheimnis meiner Kraft?«

»Nein. Sie ist die Folge der Schmerzen. Der Zorn.« Er deutete auf Richards Hüfte. »Auf diese Weise gebrauchst du dein Schwert. Der Zorn beschwört die Magie. Genaugenommen beschwörst du die Magie, sie bringt dir den Zorn, und so funktioniert die Magie. Soll ich dir zeigen, wie man sein Han berührt?«

Richard rutschte nach vorn. »Ja. Ich hätte nicht gedacht, daß ich das sagen würde, trotzdem: ja. Ich muß in der Lage sein, von hier fortzukommen.«

»Dreh deine Handfläche nach oben. Gut.« Er schien eine Aura der Autorität um sich zusammenzuziehen. »Und nun sieh mir tief in die Augen.«

Richard starrte in die halbgeöffneten, tiefen, dunklen, himmelblauen Augen. Der Blick sog seinen auf. Richard fühlte sich, als fiele er in den klaren, blauen Himmel. Sein Atem ging stoßweise, folgte nicht mehr seinem Willen. Nathans Befehle spürte er mehr, als daß er sie hörte.

»Beschwöre die Wut herauf, Richard. Den Zorn. Beschwöre den Haß und die Raserei herauf.« Richard spürte es. Es war, als zöge er das Schwert. Als er spürte, wie der Atem in ihn hineingesogen wurde, spürte er auch, wie der Zorn ihn erfüllte. »Und nun spüre die Hitze dieses Zorns. Spüre seine Flammen. Gut. Und jetzt richte diese Gefühle in der Fläche deiner Hand.«

Richard bündelte den Zorn der Magie in seiner Hand, lenkte seinen Fluß, spürte seine Kraft. Sie war so stark, daß er die Zähne zusammenbeißen mußte.

»Sieh in deine Hand, Richard. Sieh es dort. Sieh dort, was du fühlst.«

Richards Blick wanderte langsam zu seiner Hand. Ein Ball aus blaugelbem Feuer wälzte sich über seine Handfläche. Er spürte, wie die Energie aus ihm herausströmte, hinein ms Feuer. Er verstärkte den Strom des Zorns, und der wütende Feuerball wurde größer.

»Und nun schleudere den Zorn, den Haß, die Wut, das Feuer in den Kamin.«

Richard warf die Hand nach vorn. Der sich langsam drehende Flammenball blieb bei seiner Hand. Er blickte zum Kamin, richtete den Zorn nach außen, schleuderte ihn von sich.

Heulend schoß das flüssige Feuer in den Kamin und explodierte dort krachend wie ein Blitz.

Nathan lächelte stolz. »So wird das gemacht, mein Junge. Ich glaube kaum, daß dir die Schwestern das in hundert Jahren beibringen könnten. Du bist ein Naturtalent. Kein Zweifel. Du bist ein Kriegszauberer.«

»Aber ich habe mein Han gar nicht gespürt, Nathan. Ich habe überhaupt nichts Besonderes gespürt. Nur, daß ich zornig war, so, als hätte ich das Schwert benutzt. Oder, von mir aus, als hätte ich mir den Finger in einer Tür geklemmt.«

Nathan nickte weise. »Natürlich nicht. Du bist ein Kriegszauberer. Andere besitzen nur eine Seite der Gabe. Sie benutzen, was in ihrer Nähe ist: die Luft, die Wärme, Kälte, Feuer, Wasser, was immer sie brauchen.

Kriegszauberer sind anders. Sie zapfen den Kern der Kraft in ihrem Innern an. Du lenkst nicht dein Han, du lenkst deine Gefühle. Die Schwestern zeigen dir immer nur das ›Wie‹, wie man etwas tut. Für deine Kraft ist das bedeutungslos. Für dich zählen immer nur die Folgen, denn du ziehst deine Kraft aus deinem Innern. Deswegen können die Schwestern dich auch nicht ausbilden.«

»Wie meinst du das, deshalb können sie mich auch nicht ausbilden?«

»Hast du jemals gesehen, daß eine Näherin ein Nadelkissen verfehlt? Die Schwestern wollen, daß du deine Hand beobachtest, die Nadel und das Nadelkissen. Auf diese Weise benutzen andere Zauberer ihre Magie. Kriegszauberer beobachten nicht, sie handeln einfach. Ihr Han reagiert instinktiv.«

»War das eben … Zaubererfeuer?«

Nathan lachte in sich hinein. »Verglichen mit Zaubererfeuer war das eine zornige Motte, die einem rasenden Bullen gegenübersteht.«

Richard versuchte es erneut, doch das Feuer wollte nicht entstehen. Der Zorn wollte nicht kommen. Er konnte den Zorn des Schwertes auf den Plan rufen, doch das funktionierte nicht so, wie das, was er mit Nathan getan hatte — aus seinem Innern heraus.

»Es funktioniert nicht. Wieso kann ich es nicht wiederholen?«

»Weil ich dir geholfen und mit meiner eigenen Kraft gezeigt habe, wie es sich anfühlt. Allein schaffst du es noch nicht.«

»Warum nicht?«

Nathan streckte die Hand aus und tippte gegen Richards Kopf. »Weil es von hier drinnen kommen muß. Du mußt dich selbst akzeptieren, akzeptieren, wer du bist. Du kämpfst immer noch gegen dich selbst an. Solange du dich nicht akzeptierst, solange du nicht überzeugt bist, solange kannst du dein Han nicht benutzen, es sei denn, du bist in großer Gefahr.«

»Und was ist mit den Kopfschmerzen, die durch meine Gabe hervorgerufen werden? Die Schwestern meinten, ohne den Halsring würden sie mich töten.«

»Die Schwestern nagen um die Wahrheit herum, als sei sie der Knorpel in einem Stück Fleisch. Sie essen sie nur dann, wenn sie auch hungrig sind. Sie wollen uns als Gefangene, damit sie uns ihren Willen aufzwingen können.

Was sie versuchen, wenn sie dich ausbilden, ist genau das, was ich gerade getan habe. Die Kopfschmerzen sind gefährlich, aber nur dann, wenn man einen jungen Zauberer mit seiner Kraft allein läßt. Als du die Kopfschmerzen hattest, konntest du sie jemals zwingen, zu verschwinden?«

»Ja. Manchmal, wenn ich mich auf das Bogenschießen konzentriert habe, oder wenn irgend etwas in meinem Innern mich vor etwas gewarnt hat, oder wenn ich wütend war und die Magie des Schwertes benutzt habe, dann sind sie für eine Weile verschwunden.«

»Sie taten es, weil du die Gabe mit deinem Geist in Übereinstimmung gebracht hast. Das einzige, was du brauchst, um zu verhindern, daß dir die Gabe Schaden zufügt, ist ein wenig Unterricht — so wie ich ihn dir gerade erteilt habe.

Zauberer auszubilden sollte die Angelegenheit von Zauberern sein. Für einen Zauberer ist es einfach, deinen Geist mit deiner Gabe in Übereinstimmung zu bringen, denn in diesem Fall bildet die männliche Gabe die männliche Gabe aus. Was ich gerade mit dir angestellt habe, genügt, um eine ganze Weile zu verhindern, daß dir die Gabe Schaden zufügt — und zwar ohne den Rada’Han.

In Zukunft wird dich jedes Zusammentreffen mit einem Zauberer an die nächste Stufe heranführen und so lange beschützen, bis du die darauffolgende Ebene erreicht hast. Diese Hilfe muß dir zur Verfügung stehen, wenn du ihrer tatsächlich bedarfst. Die Schwestern hätten hundert Jahre gebraucht, um dir zu zeigen, was ich gerade getan habe.

Sie benutzen den Halsring als Vorwand, um uns für ihre eigenen Zwecke als Gefangene zu halten. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen von der Ausbildung von Zauberern. Ihre Vorstellung ist es, die Zauberer zu kontrollieren.«

»Warum?«

»Sie glauben, die Zauberer seien verantwortlich für alles Übel, das die Menschheit heimgesucht hat, sie glauben, wenn sie die Kraft mit einem Halsring bändigen, sie kontrollieren und sie in ihrem Sinne unterweisen, könnten sie das Licht ihrer Theologie unter die Menschen bringen. Sie sind Fanatikerinnen, die sich für die einzigen halten, die den wahren Weg zum gerechten Lohn im Licht des Schöpfers kennen. Sie glauben, es sei ihr Recht, für die Erreichung dieses Ziels jedes Mittel einzusetzen.«

»Willst du damit sagen, daß das, was du mir gerade gezeigt hast, mit meiner Kraft, genügt, um zu verhindern, daß die Gabe mich tötet — auch ohne den Halsring?«

»Es reicht, um zu verhindern, daß die Gabe dich tötet, doch es wären weitere Lektionen nötig, um dir beizubringen, wie man ein wahrer Zauberer ist. Ich habe nichts weiter getan, als die Trense des Hengstes festzuhalten, damit er dich nicht abwirft. Es wäre viel mehr Arbeit nötig, dir beizubringen, wie man voller Anmut reitet.«

Richard fühlte, wie sich die Muskeln in seinem Gesicht anspannten. »Wenn das stimmt, dann versuchen sie tatsächlich, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Danke für deine Hilfe.« Richard rieb sich die Hände. »Nathan, uns steht großer Ärger ins Haus.

Schon sehr bald. Ich muß ein paar Dinge wissen. Kennst du das Zweite Gesetz der Magie?«

»Natürlich. Doch bevor du das Zweite benutzen kannst, mußt du das Erste lernen.«

»Das erste kenne ich bereits. Mit seiner Hilfe habe ich Darken Rahl getötet. Es besagt, daß man Menschen dazu bringen kann, jede Lüge zu glauben, entweder weil sie sie glauben wollen oder weil sie Angst haben, sie könnte wahr sein.«

»Und das Gegenmittel?«

»Das Geheimnis ist, daß es kein Gegenmittel gibt. Ich muß immer wachsam sein, denn auch ich bin dafür anfällig. Ich darf niemals so arrogant sein zu glauben, ich sei immun. Ich muß stets darauf gefaßt sein, zum Opfer zu werden.«

»Sehr gut.«

»Und das Zweite Gesetz?«

Nathans weiße Lider schlossen sich halb über seinen himmelblauen Augen. »Das Zweite Gesetz hat mit unbeabsichtigten Ergebnissen zu tun.«

»Und wie lautet es?«

»Das Zweite Gesetz besagt, daß aus den besten Absichten der größte Schaden entstehen kann. Es klingt paradox, doch Freundlichkeit und gute Absichten können ein heimtückischer Pfad in den Untergang sein. Manchmal ist es verkehrt, das scheinbar Richtige zu tun, und man richtet Schaden damit an. Das einzige Mittel dagegen ist Wissen, Weisheit, Voraussicht und das Begreifen des ersten Gesetzes. Selbst das genügt nicht immer.«

»Man kann Schaden anrichten, wenn man gute Absichten hat oder das Richtige tut? Zum Beispiel?«

Nathan zuckte mit den Achseln. »Man sollte meinen, es sei nett, einem kleinen Kind Süßigkeiten zu schenken, weil es die so gern mag. Wissen, Weisheit und Voraussicht sagen uns, daß es das Kind krank machen würde, wenn wir diese ›Nettigkeit‹ auf Kosten gesunder Ernährung fortführten.«

»Das versteht sich doch von selbst. Jeder weiß das.«

»Angenommen, jemand bricht sich das Bein, und du bringst diesem Jemand etwas zu essen, während er wieder gesund wird. Doch nach einer Weile will er immer noch nicht wieder aufstehen, weil es anfangs noch schmerzt. Also bist du weiterhin freundlich und bringst ihm weiter das Essen. Mit der Zeit verkümmert das Bein, und es wird noch schmerzhafter, aufzustehen. Also bist du so nett und bringst ihm weiter zu essen. Am Ende wird er wegen deiner Freundlichkeit ans Bett gefesselt sein und nie wieder laufen können. Du hast mit deinen guten Absichten Schaden angerichtet.«

»Ich glaube, so etwas kommt nicht so oft vor, als daß es ein Problem wäre.«

»Ich versuche dir einfache Beispiele zu geben, damit du von ihnen auf schwierigere Probleme schließen kannst und das verborgene Prinzip verstehst.

Mit guten Absichten und Freundlichkeit ermutigt man möglicherweise die Trägen und hält die Vernünftigen dazu an, faul zu werden. Je mehr man sie unterstützt, desto mehr Unterstützung brauchen sie. Solange deine Freundlichkeit unbegrenzt ist, erlangen sie niemals Disziplin, Würde oder Selbstvertrauen. Deine Freundlichkeit läßt ihre Menschlichkeit verkümmern.

Wenn du einem Bettler eine Münze gibst, weil er behauptet, seine Familie sei hungrig, und er benutzt sie dazu, sich zu betrinken und tötet dann jemanden, ist das dann dein Fehler? Nein. Er war es, der jemanden getötet hat, doch hättest du ihm statt dessen etwas zu essen gegeben oder wärst hingegangen und hättest seiner Familie etwas zu essen gegeben, wäre es nicht zu dem Mord gekommen. Deine Absicht war gut, und doch hat sie Schaden angerichtet.

Das Zweite Gesetz der Magie: Die besten Absichten können den größten Schaden zur Folge haben. Zuwiderhandlung kann alles mögliche hervorrufen: angefangen von Unbehagen bis hin zu Katastrophe oder Tod.

So manche Herrscher haben Frieden gepredigt und behauptet, es sei bereits falsch, sich selbst zu verteidigen. Mit den besten Absichten, wie es schien, Gewalt zu vermeiden. Am Ende hat dies oft zu einem Gemetzel geführt, wo doch die Androhung von Gewalt gleich zu Beginn einen Konflikt vermieden hätte. Diese Leute haben ihre guten Absichten über die Realitäten des Lebens gestellt. Sie beschuldigten Krieger, blutrünstig zu sein, wo doch die Krieger tatsächlich Blutvergießen hätten verhindern können.«

»Willst du damit sagen, daß ich mich nicht schämen soll, ein Kriegszauberer zu sein?«

»Es nützt dem Schaf wenig, den Nutzen einer Diät aus Gras zu predigen, wenn die Wölfe anderer Ansicht sind.«

Richard kam sich vor, als unterhalte er sich mit Zedd. »Aber Freundlichkeit kann doch nicht immer falsch sein.«

»Natürlich nicht. An dieser Stelle nun kommt die Weisheit ins Spiel. Du mußt weise genug sein, die Folgen deines Tuns vorauszusehen.

Doch das Problem beim Zweiten Gesetz liegt darin, daß man niemals mit Sicherheit ausschließen kann, ob man es verletzt oder ob man schlicht das Richtige tut. Schlimmer noch, Magie ist gefährlich. Fügt man den guten Absichten Magie hinzu, kann ein Verletzen des Zweiten Gesetzes in die Katastrophe führen.

Magie anzuwenden ist nicht schwer. Zu wissen, wann man Magie anwenden soll, das macht es schwierig. Jedesmal, wenn du sie einsetzt, kannst du unerwartete Zerstörung heraufbeschwören.

Wußtest du, Richard, daß es das Gewicht einer einzigen Schneeflocke ist, welches die Lawine auslöst? Ohne diese eine letzte Schneeflocke käme es nicht zur Katastrophe. Wenn du Magie einsetzt, mußt du wissen, welches diese eine überzählige Schneeflocke ist, bevor du ihr Gewicht hinzufügst. Die Lawine wird in keinerlei Verhältnis stehen zu dem, was deiner Ansicht nach das Gewicht dieser Schneeflocke bewirken kann.«

Richard strich mit dem Daumen über das Heft des Schwertes. »Nathan, ich glaube, ich habe den Schleier eingerissen, weil ich das Zweite Gesetz der Magie gebrochen habe.«

»So ist es.«

»Was habe ich getan?«

»Du hast deine Magie mit Hilfe des Ersten Gesetzes eingesetzt, um zu gewinnen. Dabei hast du die Kästchen, das Tor, mit Magie gefüttert und den Schleier eingerissen. Du hast es aus Unwissenheit getan. Du kanntest die Folgen dessen nicht, was du für richtig hieltest, das jedoch die Zerstörung allen Lebens zur Folge haben könnte. Eine Schneeflocke, fürwahr. Magie ist gefährlich.«

»Wie kann ich das wieder richten?«

»Der Stein der Tränen muß dem Hüter wieder auferlegt werden. Der Stein der Tränen muß an seinen rechtmäßigen Platz zurückgeschickt werden, in die Unterwelt, wo er dazu beitragen wird, die Macht des Hüters in dieser Welt einzuschränken. Das erfordert beide Arten von Magie.

Dann muß der Schlüssel im Schloß gedreht werden, sozusagen, indem man das Tor schließt. Auch dazu benötigt man beide Arten von Magie. Mit nur einer Seite der Magie würde dies den Schleier zerreißen. Daher wäre ein Zauberer keine Hilfe, der nur mit additiver Magie begabt ist. Nur jemand wie du kann dies vollbringen.

Bis es soweit ist, schweben wir in schrecklicher Gefahr. Handelst du falsch und gebrauchst den Stein für deine eigenen Zwecke, dann hast du die Macht, das Gleichgewicht zu zerstören, den Schleier ganz aufzureißen und uns alle in die ewige Nacht zu schicken.«

Richard starrte auf den Tisch und dachte nach. »Weißt du, was ein ›Agent‹ ist?«

»Ah. Du sprichst bestimmt von dem bevorstehenden Ärger zur Wintersonnenwende. Ein Agent ist jemand, der mit dem Hüter Gefälligkeiten austauscht. Gefälligkeiten wie zum Beispiel die unschuldige Seele von Kindern als Gegenleistung für das Wissen um den Gebrauch von Subtraktiver Magie.«

Er warf Richard einen finsteren Blick zu. »Doch das wäre kein Problem, denn du hast Darken Rahl in die Unterwelt geschickt, von wo aus er im Diesseits keine Macht mehr hat. Darken Rahl befindet sich doch in der Unterwelt, oder?«

Richard verspürte einen bohrenden Schmerz in seiner Magengrube. Er hatte nicht nur den Schleier eingerissen, sondern dadurch, daß er das Zweite Gesetz erneut gebrochen hatte, weil er mit einer Versammlung hatte helfen wollen, hatte er einen Agenten, Darken Rahl, in diese Welt gebracht, wo dieser daran arbeiten konnte, den Schleier zu zerstören. Richard war an allem schuld. Ihm war heiß, sein Kopf drehte sich. Er glaubte, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen.

»Nathan, ich muß diesen Halsring loswerden.«

Nathan zuckte mit den Achseln. »Dabei kann ich dir nicht helfen.«

Richard war aus einem bestimmten Grund hergekommen. Er wollte versuchen, die Antwort zu bekommen. Er räusperte sich.

»Nathan, da ist jemand, der mir sehr viel bedeutet. Sie schwebt in Gefahr, und ich muß ihr helfen. Es existiert eine Prophezeiung über sie, die mir auch in einer Vision erschienen ist.«

»Welche ist das?«

»Nur eine einzige von allen, die aus der Magie geboren sind, wird übrigbleiben, um die Wahrheit zu verkünden, wenn die Bedrohung des Schattens aufgehoben ist…«

Nathan beendete die Prophezeiung mit seiner tiefen, kraftvollen Stimme. »Aus diesem Grunde kommt die größere Finsternis der Toten. Damit es eine Chance auf die Bande des Lebens gibt, muß diejenige in Weiß ihrem Volk geopfert werden, zu dessen Freude und unter seinem Jubel

»Dann hast du von ihr gehört. Nathan, ich habe die Bedeutung der Prophezeiung gesehen. Man hat mir gesagt, ich dürfe nicht von der Vision sprechen, doch soweit ich es beurteilen kann, ist das kein freudiges Ende.«

»Sie wird enthauptet werden«, sagte Nathan ruhig. »Das ist die eigentliche Bedeutung dieser Prophezeiung.«

Richard verschränkte die Arme über seinem aufgewühlten Bauch. Genau das hatte er in der Vision gesehen. Die Welt begann sich erneut um ihn herum zu drehen.

»Nathan, ich muß fort von hier. Ich muß verhindern, daß das geschieht.«

»Sieh mich an, Richard.« Richard hob den Kopf, wobei es ihm gelang, seine Tränen zu unterdrücken. »Ich muß dir die Wahrheit sagen, Richard. Wenn diese Prophezeiung nicht Wahrheit wird, dann folgt darauf nichts mehr. Wir werden alle sterben. Es wird das Ende allen Lebens sein. Der Hüter wird uns alle bekommen.

Benutzt du deine Macht, um es zu verhindern, dann reißt du damit den Schleier entzwei und gestattest dem Hüter, die Welt der Lebenden zu verschlingen.«

Richard sprang auf. »Warum! Warum sollte sie sterben müssen, um die Lebenden zu retten! Das ergibt doch keinen Sinn!« Seine Faust ballte sich um das Heft des Schwertes. »Ich muß es verhindern! Das ist doch nur ein dummes Rätsel! Ich lasse sie doch nicht wegen eines Rätsels sterben!«

»Richard, es wird die Zeit kommen, wenn du eine Entscheidung treffen mußt. Ich habe lange, lange darauf gehofft, daß du, wenn diese Zeit kommt, klug genug bist, die richtige Wahl zu treffen. Es steht in deiner Macht, uns alle zu vernichten, wenn du dich falsch entscheidest.«

»Ich werde hier nicht einfach rumstehen, während du mir erklärst, daß ich sie sterben lassen soll. Die Guten Seelen haben nichts unternommen, um ihr zu helfen. Also muß ich es tun. Und ich werde es tun.«

Richard stürmte aus dem Zimmer. Risse liefen neben ihm die Wand entlang, als er den Gang entlangmarschierte. Brocken von Putz regneten hinter ihm herab, während er vorüberging. Richard bemerkte es kaum, und doch kam es ihm in dieser Stimmung gerade recht. Als er den Schild durchbrach, verkohlte die Farbe seitlich an den Wänden und rollte sich zusammen.

Richards Gedanken rasten. Jetzt wußte er mit Gewißheit, daß er eine Vision dessen gesehen hatte, was geschehen würde, wenn er es nicht verhinderte. Sie würde sich bewahrheiten, falls es ihm nicht gelang, aus dem Palast herauszukommen. Vielleicht war es das, was die Prophezeiung bedeutete: Wenn man ihn hier als Gefangenen hielt, könnte er nicht helfen, und Kahlan würde sterben.

Unten im Innenhof bemerkte er einen Tumult. Von allen Seiten kamen Wachen herbeigeeilt. Als er näher kam, erkannte er einen der Baka-BanMana-Schwertmeister. Es mußten wenigstens einhundert besorgt aussehende Wachen sein, die ihn in einem Ring umstellten und ihren Abstand wahrten. Der Mann in weiter Kleidung, in der Mitte des Ringes, wirkte unbekümmert.

Richard drängte sich durch die Menge. »Was ist hier los?«

Der Mann verneigte sich vor Richard. »Caharin. Ich bin Jiaan. Dein Weib, Du Chaillu, hat mich geschickt, um dir eine Botschaft zu überbringen.«

Richard beschloß, der Bemerkung, sie sei seine Frau, nicht zu widersprechen. »Worum handelt es sich?«

»Ich soll dir sagen, daß sie die Anweisungen ihres Mannes befolgt hat. Wir haben die Majendie dazu gebracht, Frieden mit uns zu schließen. Wir befinden uns nicht mehr im Krieg mit ihnen oder mit den Menschen hier.«

»Das sind wunderbare Neuigkeiten, Jiaan. Sag ihr, ich bin stolz auf sie und auf ihr Volk.«

»Dein Volk«, verbesserte Jiaan. »Sie läßt dir mitteilen, daß sie sich entschieden hat, das Kind auszutragen. Und daß wir bereit sind, in unsere Heimat zurückzukehren. Sie möchte wissen, wann du kommst, um uns dorthin zu führen.«

Richard drehte sich kurz zu den Menschen um. Nicht nur Wachen waren zusammengekommen, sondern auch Schwestern. Er erkannte einige seiner Lehrerinnen, die abwartend in der Nähe standen: die Schwestern Tovi, Nicci und Armina. Auch Pasha entdeckte er. Am gegenüberliegenden Rand der Menschenmenge sah er Schwester Verna. Auf einem Balkon in der Ferne stand die gedrungene Gestalt der Prälatin.

Richard wandte sich wieder an Jiaan. »Sag ihr, sie soll sich bereithalten, es wird nicht mehr lange dauern.«

Jiaan verneigte sich. »Danke, Caharin. Wir werden bereit sein.«

Richard wandte sich an die Wachen, die einen Kreis um sie bildeten. »Der Mann ist in friedlicher Absicht gekommen. Man soll ihn auch in Frieden ziehen lassen.«

Jiaan schlenderte von dannen, so unbesorgt, als befände er sich auf einem Spaziergang, doch der Ring aus Wachen folgte ihm — bis ein gutes Stück hinaus vor die Stadt, wie Richard wußte. Der Menschenauflauf begann sich aufzulösen.

Richard dröhnte der Kopf. Er hatte seinen Vater aus der Unterwelt zurückgeholt, indem er im Haus der Seelen das Zweite Gesetz der Magie ein zweites Mal verletzt hatte; er hatte versucht, das Richtige zu tun, und hatte statt dessen Unheil angerichtet. Warren hatte ihm erklärt, daß der Hüter einen Agenten brauchte, um aus der Unterwelt entkommen zu können, und genau den hatte Richard ihm geliefert.

Ihm drehte sich der Kopf. Gerade hatte er herausgefunden, daß Kahlan ihn liebte, und das Leben schien wieder lebenswert, nur um zu entdecken, daß er hier auf Hunderte von Jahren in der Falle saß, und Kahlan am Tag der Wintersonnenwende sterben würde, wenn es ihm nicht gelang zu fliehen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, verzweifelt und ohne Ausweg.

Er mußte etwas unternehmen. Die Zeit wurde knapp. Er beschloß, den einzigen Menschen aufzusuchen, der ihm vielleicht helfen konnte.

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