Sie tauchte in eine Leere ein, eine Ödnis aus brutaler Schwärze, in der jedes Gefühl für Zeit und Raum verlorenging. Sie nahm nichts mehr wahr, was um sie herum geschah. Das schwarze Nichts war jenseits allen Begreifens, allen Trostes.
Während sie durch die Tiefen jener Leere trieb, spürte sie etwas. Daß es etwas zu spüren gab, entfachte neue Hoffnung in ihr, die Hoffnung, aus diesem gottverlassenen Nichts zu entkommen. Mit diesem kribbelnden Erwachen einer Empfindung klammerte sie sich verzweifelt an Materie, so, als greife sie nach einem Fels in einem weiten, dunklen Strom. Der Versuch, sich aus der erstickenden Dunkelheit zurückzukämpfen, brachte das Gefühl zurück in ihren Körper.
Sie trieb zurück, ihr Kopf pochte vor dumpfem Schmerz, und benommen versuchte sie zu verstehen, was mit ihr geschah. Irgend jemand rief nach ihr. Mutter Konfessor, riefen sie. Nein, das war nicht ihr Name.
Dann dämmerte es ihr. Kahlan. Das war ihr Name. Hände rüttelten sie. Irgend jemand rief nach ihr und schüttelte sie.
Sie kam von ganz weither zurück.
Kahlan öffnete die Augen, und die Welt drehte sich. Hauptmann Ryan hielt sie an den Schultern gepackt, schüttelte sie, rief ihr etwas zu.
Sie sog kalte Lüfte tief in ihre Lungen. Sie schob seine Arme fort, mußte sich dann aber wieder auf dem Boden abstützen. Sein Gesicht war sorgenzerfurcht.
»Mutter Konfessor, geht es Euch gut?«
»Ich … ich…« Sie sah sich um. Tossidin war ebenfalls da. Sie setzte sich ganz auf und legte ihre kalten Finger an die Stirn. »Mein Kopf … wie spät ist es?«
»Es wird bald hell.« Mit besorgter Miene sah er über die Schulter zu Tossidin. »Wir sind gekommen, um Euch zu wecken, wie Ihr mir aufgetragen habt. Die Schwertkämpfer sind bereit zum Aufbruch.«
Kahlan schob ihren Umhang zurück. »Ich bin gleich fertig, dann können wir…«
Ihr fiel ein, daß sie sich entschlossen hatte, nach Aydindril zu gehen. Sie mußte zu Zedd. Sie mußte Hilfe für Richard beschaffen. Wenn es stimmte, daß der Schleier eingerissen war…
»Mutter Konfessor, Ihr seht nicht gut aus. Ihr habt eine Menge durchgemacht, seit Tagen nicht geschlafen, und auch jetzt hattet Ihr nur ein paar Stunden Schlaf. Ich denke, Ihr braucht mehr.«
Ja, das stimmte. Zwar spürte sie, wie ihre Kraft zurückgekehrt war, aber sie fühlte sich ganz sicher nicht erholt. Sie legte ihm die Hand auf den Arm.
»Hauptmann, ich muß nach Aydindril aufbrechen. Ich muß…«
Er lächelte sie zaghaft an. »Ruht Euch aus. Ihr seid noch zu erschöpft, um zu reisen. Bleibt hier und ruht Euch aus. Wenn wir zurückkommen, seid Ihr ausgeruht und könnt aufbrechen.«
Sie nickte, sich immer noch an seinem Ärmel als Stütze klammernd. »Ja. Und dann muß ich aufbrechen. Ich habe gestern abend darüber nachgedacht. Ich muß nach Aydindril. Ich werde mich ausruhen, bis Ihr wieder zurück seid, aber dann muß ich aufbrechen.« Sie sah sich um. Nur Tossidin war da, zusammen mit dem Hauptmann. »Wo steckt Chandalen — und wo ist Prindin?«
»Mein Bruder ist gegangen, um zu sehen, ob der Feind Wachposten aufgestellt hat oder nicht«, meinte Tossidin, »damit unser Angriff ohne Vorwarnung erfolgt.«
»Chandalen greift mit den Hellebardenträgern an«, sagte Hauptmann Ryan. »Ich soll bei unserem nächsten Angriff mit den Schwertkämpfern zu ihm stoßen.«
Kahlan kümmerte sich um ihre wunde Lippe. »Tossidin, sag Chandalen, daß wir sofort nach eurem Angriff aufbrechen müssen. Seid vorsichtig, ihr drei. Ihr müßt mich noch nach Aydindril bringen.« Sie konnte kaum die Augen offenhalten. Sie brachte kaum die Energie zum Sprechen auf. Sie wußte, daß sie zum Reisen noch zu schwach war. »Bis ihr zurück seid, ruhe ich mich aus.«
Hauptmann Ryan seufzte erleichtert. Hier wäre sie in Sicherheit. »Ich lasse ein paar Männer Wache stehen, während Ihr Euch ausruht.«
Sie winkte ab. »Dieses Lager ist gut versteckt. Hier oben bin ich sicher.«
Er beugte sich eindringlich vor. »Zehn oder zwölf Männer machen für uns keinen großen Unterschied, und ich könnte meine Gedanken besser auf unsere Aufgabe konzentrieren, wenn ich mich nicht darum sorgen muß, daß Ihr hier oben ganz alleine seid.«
Sie hatte nicht die Kraft zu widersprechen. »Also gut…«
Sie ließ sich zurückfallen. Mit sorgenvoller Miene zog Tossidin den Fellumhang über sie. Sie sank bereits zurück in die Schwärze, als die beiden durch die Öffnung nach draußen krabbelten. Sie versuchte zu verhindern, an diesen Ort bar jeder Empfindungen zurückzukehren, wurde aber hilflos fortgerissen.
Das erdrückende Gewicht der Leere brach über sie herein. Sie versuchte sich seinem Zugriff zu entziehen, versuchte wieder nach oben zu kommen, doch die Dunkelheit war zu zäh — es war, als wäre man in Schlamm eingeschlossen. Sie saß in der Falle, wurde immer tiefer eingesogen. Eine Woge von Panik überkam sie.
Sie versuchte zu denken, konnte ihre Gedanken aber nicht zu zusammenhängenden Begriffen ordnen. Sie hatte den Eindruck, daß irgend etwas nicht stimmte, konnte ihren Verstand aber nicht zwingen, auf die Lösung hinzuarbeiten.
Anstatt sich aufzugeben, konzentrierte sie sich diesmal mit aller Kraft auf Richard, darauf, daß sie ihm unbedingt helfen mußte, und schon war die Dunkelheit keine völlige Leere mehr. Sie bekam eine vage Vorstellung von Zeit, spürte immer deutlicher, wie sie verstrich. Sie kam sich vor, als verschliefe sie ihr ganzes Leben, während sie sich in ihren Gedanken hartnäckig an Richard klammerte.
Ihre Sorge um ihn und ihre Angst vor der Fremdheit dieses tiefelosen Schlafs ermöglichten ihr, sich langsam und methodisch den Weg zurück zu bahnen. Und doch kam es ihr vor, als dauerte es stundenlang.
Mit einem verzweifelten Japsen nach Luft wurde sie wach. Ihr drehte sich der Kopf, er pochte und tat weh. Am ganzen Körper verspürte sie ein stechendes, schmerzhaftes Prickeln. Mühevoll drückte sie sich hoch und sah sich starren Blicks in ihrem Unterschlupf um. Die Kerze war fast völlig heruntergebrannt. Die Stille klang ihr in den Ohren.
Vielleicht brauchte sie frische Luft, um wach zu werden. Arme und Beine fühlten sich dick und schwer an, als sie durch die Öffnung nach draußen kroch. Draußen wurde es gerade dunkel. Sie blickte zu den ersten Sternen hinauf, die durch die Bäume blinkten. Ihr Atem dampfte vor ihrem Gesicht, während sie auf wackeligen Beinen stand.
Kahlan machte einen Schritt, stolperte prompt über irgend etwas und landete auf ihrem Gesicht im Schnee. Die Wange noch immer an den Boden gepreßt, öffnete sie die Augen. Wenige Zentimeter entfernt starrten glasige Augen sie an. Ein junger Mann lag mit dem Gesicht seitlich im Schnee, ganz dicht neben ihr. Sie war über sein Bein gestolpert. Es war, als wollten ihre Knochen aus der Haut fahren und davonlaufen.
Seine Kehle klaffte auf, sein Hals war säuberlich durchtrennt, wodurch sein Kopf in einem unmöglichen Winkel zum Körper nach hinten gebogen war. Sie konnte die Öffnung seiner durchschnittenen Luftröhre erkennen. Verklumptes Blut bedeckte den Schnee. Galliger Schaum stieg ihr die Kehle hoch. Schluckend zwang sie ihn zurück nach unten.
Sie hob langsam den Kopf und bemerkte die dunklen Umrisse anderer Leichen. Es waren alles Galeaner. Die Schwerter steckten sämtlich noch in den Scheiden. Sie waren ohne eine Chance auf Gegenwehr gestorben.
Kahlans Beine versteiften sich, wollten fortlaufen, doch sie zwang sich unter Mühen, ruhig zu bleiben. Sie versuchte nachzudenken, trotz des dumpfen Nebels des Halbschlafs, von dem sie sich noch immer nicht befreien konnte. Ihr Verstand schien in einer traumähnlichen Benommenheit festzukleben, unfähig, sich zu konzentrieren. Irgend jemand hatte diese Männer umgebracht und war womöglich noch in der Nähe. Sie mußte sich zwingen nachzudenken.
Sie berührte die Hand des toten Soldaten mit dem Finger. Sie war noch warm. Es mußte gerade eben erst passiert sein. Vielleicht war sie davon aufgewacht.
Sie blickte hoch, zwischen die Bäume. Männer huschten durch die Schatten. Sie hatten sie entdeckt und drangen auf die Lichtung vor, auf der sie lag. Lachend und johlend kamen sie näher, und sie erkannte, wer sie waren — nahezu ein Dutzend D’Haraner sowie eine Gruppe Keltonier. Soldaten aus dem Heer der Imperialen Ordnung. Kahlan japste und sprang auf.
Ein Mann, der ihr am nächsten war, hatte eine aufgedunsene, rote Wunde auf der linken Gesichtshälfte, von der Schläfe bis zum Kiefer, dort wo Nick ihn mit dem Huf erwischt hatte. Eine derbe Naht hielt das schwarzrote Fleisch zusammen. Er verzog seine gesunde Gesichtshälfte zu einem höhnischen Grinsen. Es war General Riggs.
»Sieh an, sieh an, hab’ ich Euch endlich gefunden, Mutter Konfessor.«
Kahlan wie auch die übrigen Soldaten zuckten erschrocken zusammen, als eine düstere Gestalt mit einem Schlachtruf krachend durch das Unterholz gebrochen kam. Als die Männer sich umdrehten, rannte Kahlan in der entgegengesetzten Richtung davon.
Vor dem Umdrehen hatte sie noch gesehen, wie das schwächer werdende Licht auf einer riesigen Streitaxt blitzte. Die halbmondförmige Schneide streckte zwei Männer mit einem einzigen Schwung nieder. Es war Orsk. Offenbar hatte er ebenfalls nach ihr gesucht, damit er sie beschützen konnte. Wer von einem Konfessor berührt war, gab niemals auf.
Ihre Beine fühlten sich plump an, und sie kribbelten, als hätte sie auf ihnen geschlafen, trotzdem rannte sie, so schnell sie konnte. Hinter ihr brach gellendes Gekreische aus. Stahl traf klirrend auf Stahl. Brüllend fiel Orsk über die Männer her, die sie verfolgten.
Tannenzweige schlugen ihr ins Gesicht, als sie zwischen den Bäumen hindurchtaumelte. Abgestorbene Äste und Unterholz rissen an ihrer Hose, ihrem Hemd. Benommen stolperte sie durch die Schneeverwehungen. Schnee klatschte ihr ins Gesicht, sobald sie durch herabhängende Äste brach. Sie konnte ihre Beine nicht dazu bringen, schnell genug zu laufen.
Mit einem Ächzen stürzte sich der Mann, der ihr auf den Fersen war, auf sie. Mit den Armen umschlang er ihre Beine, und sie fiel der Länge nach zu Boden. Schnee spuckend trat sie um sich. Der Mann bekam ihren Gürtel zu fassen und warf sich auf sie.
Das rote Gesicht mit der bösartigen Wunde an der linken Seite schwebte direkt über ihr. Er grinste sie höhnisch triumphierend an. Hinten zwischen den Bäumen hörte sie den Lärm einer wüsten Keilerei. Sie war allein mit Riggs.
Eine Faust packte sie am Haar und hielt ihren Kopf am Boden fest. Mit der anderen Faust schlug er ihr in die Seite, prügelte ihr den Atem aus den Lungen. Er schlug sie noch einmal. Eine heiße Woge von Übelkeit überkam sie, als sie verzweifelt versuchte, Luft zu holen.
»Endlich hab’ ich Euch, Konfessor. Ihr entwischt mir nicht noch mal!«
Er war allein. Was dachte er bloß? Sie schlug ihm die Hand vor die Brust. Es war ihr ein Rätsel, daß ein einzelner Mann glaubte, einen Konfessor überwältigen zu können.
»Du bist ganz allein, Riggs«, gelang es ihr unter seinem Gewicht hervorzupressen. »Du bist verloren. Du gehörst mir.«
»Das glaube ich nicht.« Er feixte höhnisch. »Er hat gesagt, Ihr könntet Eure Kraft im Augenblick nicht einsetzen.«
Er hob ihren Kopf hoch und schlug ihn auf den Boden. Ihr Blick verschwamm. Sie versuchte sich auf das zu konzentrieren, was sie jetzt tun mußte. Er hob ihren Kopf erneut hoch, um ihn auf die Erde zu schlagen. Seine Worte hatten sie zwar stutzig gemacht, trotzdem mußte sie es jetzt tun, bevor er sie bewußtlos schlug, bevor es zu spät war. Jetzt, solange sie noch die Zeit dazu hatte.
In der Stille ihres Geistes, während er gerade ihren Kopf anhob, ließ sie ihre Konfessorenkraft durch ihren Körper fließen. Sie ließ ihre Schranken fallen.
Es gab einen Donner ohne Hall. Der Aufprall der Kraft, der Magie, ließ Riggs zusammenfahren. Sämtliche Äste ringsum schüttelten sich mit einem Ruck. Schnee fiel herab, klatschte schwer auf seinen Rücken und ihr Gesicht.
Er riß die Augen auf, sein Kiefer wurde schlaff. »Herrin! Befehligt mich!«
Mit allerletzter Kraft gelang es ihr zu fragen: »Wer hat dir gesagt, meine Kraft könnte dir nichts anhaben?«
»Herrin, das war…«
Die blutige Spitze eines Pfeiles bohrte sich durch die Vorderseite seines Adamsapfels. Die breite Stahlspitze blieb kaum einen Zentimeter von ihrem Kinn stecken. Seine Augen füllten sich mit Tränen, sein Mund bewegte sich, und Blut schäumte hervor, doch Worte kamen keine. Sein Atem entwich rasselnd seinen Lungen, während er allmählich über ihr zusammenbrach.
Eine Faust packte die Schulter seiner Uniform und zog Riggs fort. Zuerst dachte sie, es wäre Orsk, doch er war es nicht.
»Mutter Konfessor!« Besorgt blickte Prindin auf sie herab. »Bist du verletzt? Hat er dir weh getan?«
Hastig wälzte er den General von ihr herunter und hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen, während er sie von oben bis unten musterte, wie sie im Schnee dalag. Sie starrte zu ihm hoch, ergriff seine Hand jedoch nicht. Der Einsatz ihrer Kraft hatte sie erschöpft wie nie zuvor.
Das übliche Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, als er seinen Bogen schulterte. »Wie ich sehe, bist du unverletzt. Du siehst sehr gut aus.«
»Du hättest ihn nicht töten müssen. Ich hatte ihn bereits mit meiner Kraft berührt. Er gehörte bereits mir. Er wollte mir gerade verraten, wer behauptet hat, ich könnte ihm nichts anhaben…«
Ihr gesamter Körper kribbelte vor Spannung, als sie sah, mit welchem Blick er sie betrachtete. Sein vertrautes Feixen ließ es ihr kalt die Arme und den Nacken hinauflaufen. Ihre feinen Härchen sträubten sich.
Orsk brach zwischen den Bäumen hervor. »Herrin! Seid Ihr in Sicherheit?«
Sie hörte, daß hinter ihm noch andere durch den Wald kamen. Sie hörte Chandalens Stimme. Rasch hatte Prindin einen Pfeil eingelegt. Orsk hob seine Axt mit einer einzigen, riesigen Faust.
»Prindin! Nein! Tu ihm nichts!« Prindin spannte seinen Bogen. »Orsk! Lauf!«
Der große Kerl wirbelte herum, ohne Fragen zu stellen, und sprang zurück ins Unterholz. Ein Pfeil folgte ihm. Sie hörte, wie der Pfeil sich in etwas Festes bohrte. Sie hörte, wie Orsk durch das kahle Unterholz stolperte und dabei Äste und junge Bäume niedertrat. Dann knackten immer weniger Zweige und Äste, und sie hörte, wie er auf dem Boden aufschlug.
Sie versuchte aufzustehen, sank aber matt zurück. Es war, als hätte sie keine Knochen, als lösten sich ihre Muskeln auf. Ihre Kraft war verbraucht. Die Schwärze versuchte sie wieder in sich aufzusaugen.
Prindin wandte sich ihr grinsend wieder zu und schulterte erneut seinen Bogen.
Kahlan hatte Mühe, die Kraft zum Sprechen aufzubringen. Ihre Worte kamen nur als Flüstern heraus. »Prindin, warum hast du das getan?«
Er zuckte mit den Achseln. »Damit wir allein sein können.« Sein Grinsen wurde breiter. »Bevor man dir den Kopf abhackt.«
Prindin. Prindin hatte Riggs erzählt, ihre Kraft könne ihm nichts anhaben, damit sie sich bei ihm verausgabte und keine Kraft mehr übrig hatte. Ihre Beine zitterten vor Anstrengung, als sie versuchte, sich hochzustemmen. Sie sank vor Prindins Augen zurück.
Eine Stimme drang durch die Bäume. Es war Chandalen, der völlig außer Atem nach ihr rief. Aus einer anderen Richtung hörte sie Tossidin rufen. Sie versuchte, ihnen etwas zuzuschreien. Nur ein heiserer, schwacher Klagelaut drang aus ihrer Kehle hervor. Dunkelheit drohte sie zu überwältigen.
Vielleicht schlief sie noch. Sie konnte kaum sprechen, sich kaum bewegen, genau wie in einem Alptraum. Wenn es nur einer wäre.
Aber sie wußte, daß dies kein Traum war.
Prindin drehte sich nach den hartnäckigen Rufen um. Kahlan stemmte ihre Fersen in den Schnee und mit einer mächtigen Anstrengung gelang es ihr, sich nach hinten zu schieben. Ihre Hand fiel auf einen dicken Ahornast, der auf dem Boden lag.
Prindin stürzte sich auf sie. Kahlan konzentrierte all ihre Angst, ihre Furcht und das Entsetzen über das, was hier geschah, auf diese eine Handlung. Es kostete sie alles, was sie hatte. Prindin streckte die Hand nach ihr aus.
Kahlan richtete sich auf und holte mit dem dicken Ast aus. Prindin duckte sich, bekam den Prügel zu fassen und entwand ihn ihrem Griff. Er riß sie herum, riß sie an sich, schlang ihr den Arm um den Kopf und legte ihr die Hand vor den Mund, als sie versuchte, Chandalen zu warnen. Er war zwar nicht groß, aber sie wußte, daß Prindin unglaublich kräftig war. In ihrem gegenwärtigen Zustand hätte allerdings schon ein Kind alles mit ihr machen können.
Chandalen kam von hinten angerannt, ein Messer in der Hand. Kahlan biß Prindin in die Hand. Sie schrie auf, als Prindin mit unglaublicher Kraft und Schnelligkeit herumwirbelte und Chandalen mit dem Ast seitlich am Kopf erwischte. Ihr wurde schlecht, als sie den hohlen Aufprall hörte. Durch den Schlag wurde Chandalen in das Geäst einer Fichte gestoßen. Während sie sich aus Prindins Griff herauswand, sah sie, daß der Schnee rings um Chandalen voller Blut war.
Tossidin brach schwer atmend durch die Bäume. »Was ist hier los? Prindin!«
Er sah sie und erstarrte mitten im Schritt. Sein Blick wanderte zu Chandalen und dann zu Prindin.
Prindin linste über seine Schulter zu seinem Bruder und sagte in seiner Muttersprache: »Chandalen hat versucht, um umzubringen! Als ich kam, versuchte er gerade, die Mutter Konfessor zu töten. Hilf mir. Sie ist verletzt.«
Kahlan sackte auf die Knie und stieß einen Schrei aus. »Nein … Tossidin … nein…«
Tossidin kam auf die beiden zugerannt. »Was ist das für ein Ärger, von dem Chandalen mir erzählt hat? Was ist mit dir, Bruder? Was hast du getan?«
»Hilf mir! Die Mutter Konfessor ist verletzt!«
Tossidin packte seinen Bruder an der Schulter und zerrte ihn herum. »Prindin! Was hast du…«
Prindin rammte seinem Bruder ein Messer in die Brust. Tossidin riß überrascht die Augen auf. Sein Mund ging auf, doch es kamen keine Worte heraus. Er machte ein pfeifendes Geräusch, dann gaben seine Beine nach, und er sackte zu einem Häufchen auf dem Boden zusammen. Der Stoß hatte ihn ms Herz getroffen.
Chandalen richtete sich benommen und stöhnend auf. Mit den Händen betastete er seine blutende Kopfhaut. Den Verwundeten im Auge behaltend, zog Prindin ein Knochenkästchen aus seinem Hüftbeutel. Er war im Besitz einer vollen Schachtel bandu. Er hatte ihr nicht all sein Gift gegeben.
Unfähig, ihn aufzuhalten, mußte Kahlan mitansehen, wie Prindin einen großzügigen Klumpen des Giftes auf der Pfeilspitze verteilte. Chandalen hielt benommen den Kopf in den Händen und versuchte wieder klar zu werden. Prindin zog die Bogensehne an seine Wange. Sie wußte, daß er auf Chandalens Kehle zielte. Im selben Augenblick, als Prindin den Pfeil abschoß, gelang es ihr, sich gegen seine Beine zu werfen, wodurch der Pfeil von seinem Ziel abgelenkt wurde. Trotzdem traf er Chandalen noch in die Schulter.
Ein Schlag mit der Rückseite seiner Faust in ihr Gesicht streckte sie nieder. Von blankem Entsetzen getrieben, begann Kahlan auf Händen und Knien fortzukrabbeln. Der Schnee fror ihr die Finger. Die Knie ihrer Hose waren durchgeweicht und eisig-naß. Sie konzentrierte sich auf die Kälte, um ihre Benommenheit abzuschütteln. Während sie sich mühsam davonschleppte, sah sie über die Schulter.
Prindin zog einen weiteren Pfeil aus seinem Köcher und wischte ihn durch das Gift, während er zusah, wie sie sich abmühte. Genau wie er Chandalen zugesehen hatte. Ein Schrei entwich ihrer Kehle, als sie torkelnd auf die Beine kam und zu laufen begann. Ein Alptraum. Dies mußte ein Alptraum sein.
Als sie der Pfeil in der linken Wade traf, fühlte es sich an wie ein Schlag. Sie schrie auf und fiel aufs Gesicht. Ihr Bein brannte heiß vor Schmerzen. Ein kribbelndes, prickelndes Gefühl breitete sich in dem Muskel aus. Der Schmerz stach bis hoch in die Hüfte.
Plötzlich war Prindin über ihr. Er kniete nieder und packte den Pfeil, der hinten aus ihrem Bein ragte. Seine andere Hand auf ihr Hinterteil stützend, um sie festzuhalten, riß er den Pfeil heraus. Kahlan spürte, wie das Kribbeln des Gifts ihr Bein hinaufkroch.
»Keine Sorge, Mutter Konfessor, ich habe für deinen Pfeil nicht so viel Gift genommen wie für Chandalens. Nur so viel, daß du mir keinen Ärger machen kannst. Noch eine Minute, dann ist er tot. Du wirst lange genug leben, daß man dir den Kopf abschlagen kann.« Er strich ihr mit der Hand über den Hintern. »Wenn sie nicht zu lange warten.« Prindin beugte sich über sie. »Hier draußen ist es zu kalt. Gehen wir zurück.«
Er packte sie am Handgelenk und begann, sie durch den Schnee zu schleifen. In Gedanken wehrte Kahlan sich gegen ihn: Sie mühte sich ab, sie kreischte, sie schlug um sich, doch sie konnte ihren Körper nicht zwingen, ihr zu gehorchen. Sie war so schlaff wie eine Lumpenpuppe, die durch den Schnee geschleift wurde. Sie spürte, wie das Gift auf ihren Brustkorb übergriff.
Tränen strömten ihr über die Wangen. Orsk. Tossidin. Chandalen. Sie. Wie konnte Prindin so etwas tun? Sie schluchzte, während ihr Gesicht über den Schnee glitt. Wie konnte er nur? Seinen eigenen Bruder. Er hatte seinen eigenen Bruder erstochen, als bedeutete ihm das nichts. Wer war zu so etwas fähig? Wie konnte irgend jemand so etwas tun? Wie konnte irgend jemand außer einem…
Verderbten.
Ihr stockte der Atem, als es ihr dämmerte. Sie hatte nie recht an Verderbte geglaubt. Zauberer hatten ihr erklärt, es gäbe sie wirklich, doch war sie nie so recht von deren Wissen überzeugt gewesen. Sie hatte immer gedacht, es handele sich um einen abergläubischen Unfug, der die Menschen dazu veranlaßte, Wesen im Dunkeln zu jagen, Wesen aus der Unterwelt, Wesen, gerufen vom düsteren Geflüster des Hüters höchstpersönlich.
Doch jetzt wußte sie es. Sie befand sich im Griff eines Verderbten.
Bei den guten Seelen, wie war es möglich, daß niemand es bemerkt hatte? Er hatte ihr so oft geholfen. War zu ihrem Freund geworden.
Damit er ganz in ihrer Nähe bleiben und ihre Spur für den Hüter verfolgen konnte. Er war ein Verderbter. Darken Rahl hatte sie ausgelacht. Weil sie so dumm war.
Jetzt wußte sie es ohne den geringsten Zweifel — der Schleier war eingerissen. Darken Rahl hatte es ihr versprochen. Er war gekommen, um den Schleier gänzlich zu zerreißen, und sie hatte törichterweise geglaubt, sie wäre Herrin ihres Tuns: Dabei hatten Darken Rahl und der Hüter sie die ganze Zeit über durch Prindins Augen beobachtet.
Aber warum hatten sie bis jetzt gewartet? Warum ließ er sie diesen Krieg führen, all diese Menschen sterben, bevor er sie gefangennahm?
Kahlan wußte, warum. Der Hüter stammte aus der Welt der Toten. Der Welt der Lebenden den Tod zu bringen war genau das, was er wollte. Er verabscheute die Lebenden. Deswegen wollte er, daß der Schleier zerrissen wurde — damit er den Tod in die Welt der Lebenden tragen konnte.
Es gelüstete ihn nach dem Lebenshauch dieser Welt. Er genoß es, Menschen sterben zu sehen. Er wollte dem nicht allzu rasch ein Ende bereiten, dem Leid, der Angst, den Schmerzen.
Es war, als würde ihr Arm aus dem Gelenk gerissen, als Prindin sie durch das Unterholz und über einen halb von Schnee verdeckten Baumstamm schleppte. Das Kribbeln des Giftes hatte sich über ihre Brust ausgebreitet.
Ihr linkes Bein war taub geworden. Wenigstens hatte damit auch der Schmerz der Pfeilwunde nachgelassen. Die runde Eisenspitze war auf den Knochen geprallt, und Prindin war beim Herausziehen nicht gerade zimperlich gewesen.
Als sie die kleine Hütte erreichten, konnte sie überall Leichen herumliegen sehen, nicht nur die galeanischen Soldaten, sondern auch die Männer aus der Armee der Imperialen Ordnung, die Orsk getötet hatte. Bald, wenn Prindin mit ihr fertig war, würde er sie an die Imperiale Ordnung ausliefern, und man würde sie enthaupten. Es wäre vorbei, und es gab nichts, was sie tun konnte, um es zu verhindern. Sie war nicht einmal in der Lage, sich zu wehren. Richard würde sie niemals wiedersehen. Bei den Guten Seelen, er würde nie erfahren, wie sehr sie ihn liebte.
Prindin zerrte sie durch die Öffnung in die Tannenhütte und hob sie auf die Matte aus Zweigen. Während er zwei weitere Kerzen an der einen entzündete, welche fast heruntergebrannt war, rang sie nach Atem, um bei Bewußtsein zu bleiben.
»Ich will dich sehen können«, erklärte er lüstern feixend. »Du bist sehr schön anzusehen. Ich will dich ganz sehen.«
Sein Lächeln hatte sie immer sehr gemocht. Jetzt war das nicht mehr der Fall.
Prindin zog seinen Fellumhang aus und schleuderte ihn zur Seite. Sein Lächeln verschwand. Sein Blick war wild. Er sprach nicht mehr in ihrer Sprache, sondern ausschließlich in seiner eigenen.
»Zieh deine Kleider aus. Ich will dich zuerst anschauen. Damit dein Anblick mich erregt.«
Selbst wenn er ihr ein Messer an die Kehle gehalten hätte, sie wäre nicht imstande gewesen zu gehorchen. Sie konnte ihren Arm nicht bewegen. »Prindin«, gelang es ihr zu flüstern, »die Männer werden bald zurück sein. Sie werden dich hier finden.«
»Sie haben alle Hände voll zu tun. Sie kämpfen eine Schlacht, wie sie sie sich nicht haben träumen lassen.« Sein Lächeln kehrte zurück. »Sie werden so bald nicht zurückkommen, wenn überhaupt.« Von einem Augenblick zum nächsten verwandelte sich sein Lächeln in eine verzerrte Fratze heißer Wut. »Ich sagte, zieh deine Kleider aus.«
»Prindin, du bist doch mein Freund. Bitte, tu es nicht.«
Er krabbelte auf sie hinauf und zerrte an ihrem Gürtel. »Dann werde ich dich eben selbst ausziehen.«
Tränen über ihre Hilflosigkeit, über den Verlust eines Freundes an seinen Wahn, an den Hüter, strömten ihr über die Wangen. »Prindin, warum nur?«
Er setzte sich auf, als hätte ihn diese Frage überrascht. »Die Große Seele hat gesagt, daß ich dich haben darf, bevor sie deine Seele mit in die Unterwelt nimmt. Sie sagte, ich solle eine Belohnung bekommen für die Arbeit, die ich getan habe. Die Große Seele ist zufrieden mit mir, weil ich dich ihr übergebe.«
Der Biß an ihrem Hals versetzte ihr einen schmerzhaft prickelnden Stich. Sie fröstelte vor Trauer um Tossidin und Chandalen. Fröstelnd wurde ihr die eigene verzweifelt Lage bewußt. Das durch das Gift hervorgerufene Kribbeln hatte sich bis zu ihren Schultern ausgebreitet. Sie spürte ein erstes, leichtes Zwicken, als es ihre Kehle hinaufwanderte.
Er zerdrückte sie fast unter sich, als er die Stelle küßte, wo Darken Rahls Lippen sie berührt hatten, wo die Bißwunde saß. Der Schmerz und die Bilder jagten einen stummen Aufschrei durch ihren Körper.
»Prindin … bitte … nachdem du mich gehabt hast … läßt du mich dann gehen?« Sie hoffte, daß die Worte mehr für ihn bedeuten, wenn er sie in seiner eigenen Sprache hörte. »Bitte?«
Er hob seinen Kopf und sah ihr in die Augen. »Es würde nichts nützen, wenn ich dich gehen lasse. Du bist vergiftet — mit dem Tee und durch den Pfeil Du wirst in jedem Fall bald sterben. Du mußt enthauptet werden, bevor du an dem Gift stirbst. Das wird angenehmer sein. Dir bleibt das Ende durch das Gift erspart. Das ist die Gnade, die ich dir gewähre.«
Grinsend machte sich Prindin daran, sich erneut über sie zu beugen und sie auf den Hals zu küssen. Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Ich hasse dich«, weinte sie. »Dich und deine Große Seele.«
Er sprang hoch und richtete sich auf, soweit dies in der niedrigen Tannenhütte möglich war, stemmte die geballten Fäuste in die Seiten und starrte sie von oben an.
»Du wirst mir gehören! Das hat man mir versprochen! Ich werde dich bekommen! Deine Kraft kann mir nichts anhaben, dafür habe ich gesorgt. Sie ist im Augenblick verbraucht. Du wirst mir gehören! Wenn du dich mir nicht selber gibst, dann werde ich dich nehmen! Du hast meinem Volk diese verhaßte Magie gebracht! Du bist böse, und ich werde dich nehmen, um deine Bosheit zu besiegen! Die Große Seele hat gesagt, so soll es sein!«
Prindin zog sich das Wildlederhemd über den Kopf, riß es sich von seinem drahtigen Körper. Er sprang der Länge nach auf sie und landete mit einem Ächzen. Sein Gesicht war genau über ihrem.
Sie starrten sich überrascht an.
Er hatte keine Ahnung, was geschehen war. Sie wußte, was geschehen war, hatte aber keine Ahnung, wie.
Sie spürte das warme Blut, das über ihre Faust sprudelte. Seine Pupillen weiteten sich. Er hustete, kleine Blutstropfen kleckerten auf ihr Gesicht. Mit einem langgezogenen, gurgelnden Geräusch hauchte er seinen letzten Atemzug aus und erschlaffte.
Tränen strömten Kahlan über das Gesicht. Ihr fehlte die Kraft, ihn von sich herunterzuwälzen. Sie bekam unter seinem Gewicht kaum Luft.
Und so blieb sie still liegen, spürte, wie sein Blut über ihre Hand und zwischen ihren Brüsten entlangfloß und ihr Hemd durchtränkte. Das Kribbeln des Giftes hatte ihren Hals erreicht.