Im Näherkommen bemerkte Richard ein aufgeregtes Durcheinander auf der steinernen Brücke. Eine Menschenmenge drängte sich auf der einen Seite und blickte hinunter in den Fluß. In der Mitte angekommen, bahnte er sich einen Weg durch die Leute bis zum niedrigen, gemauerten Geländer. Dabei entdeckte er auf dem höchsten Punkt der Brücke Pasha, die sich ebenfalls über das Steingeländer beugte und nach unten sah.
»Was ist denn los?« fragte er, als er sich von hinten näherte.
Pasha fuhr herum, als sie seine Stimme hörte, zuckte zusammen, als sie ihn sah. »Richard! Ich dachte…« Sie blickte nach hinten über das Geländer, hinunter zum Fluß, dann wieder zurück zu ihm.
»Was dachtest du?«
Sie schlang die Arme um seine Taille. »Oh, Richard! Ich dachte, du wärst tot! Dem Schöpfer sei Dank!«
Richard riß ihre Arme los, dann beugte er sich hinüber und blickte hinunter auf den dunklen Fluß. Mehrere kleine Boote, jedes mit einer Laterne, hatten eine Leiche im Schlepptau, die sich in ihren Wurfnetzen verfangen hatte.
Richard rannte über die Brücke, die Böschung hinunter und erreichte das Ufer, als die Männer gerade anlegten. Im flackernden, gelblichen Licht erkannte er die rote Jacke. Er riß einem Mann die Netze aus der Hand und zog sie mitsamt ihrer Ladung auf die grasbewachsene Böschung.
Im unteren Rückenteil der roten Jacke war ein kleines rundes Loch. Er rollte die Leiche herum und blickte in die toten Augen von Perry. Richard stöhnte auf.
Das Zweite Gesetz der Magie. Perry war gestorben, weil Richard es verletzt hatte. Er hatte etwas Gutes tun wollen, mit allerbesten Absichten, und hatte damit Schaden angerichtet. Richard war es, für den der Dacra bestimmt gewesen war.
Pasha stand auf der Uferböschung hinter ihm. »Richard, ich hatte solche Angst. Ich dachte, das wärst du.« Sie fing an zu weinen. »Warum hat er deine rote Jacke getragen?«
»Ich habe sie ihm geliehen.« Er nahm sie kurz in den Arm. »Ich muß fort, Pasha.«
»Du meinst doch nicht, fort vom Palast. Das war doch nicht dem Ernst, als du gemeint hast, du müßtest fort. Ich weiß, daß du es nicht so meinst. Du kannst nicht von hier fort, Richard.«
»Mir ist jedes Wort ernst. Gute Nacht, Pasha.«
Er überließ die Männer ihrer schauerlichen Arbeit und ging auf sein Zimmer. Irgend jemand hatte ihn umbringen wollen, und Liliana war es nicht gewesen. Irgend jemand anders versuchte ihn umzubringen.
Er war gerade dabei, seine Sachen in seinen Rucksack zu stopfen, als er hörte, wie es an der Tür klopfte. Er erstarrte, ein Hemd halb gefaltet in den Händen. Dann hörte er auf der anderen Seite der Tür die Stimme von Schwester Verna, die wissen wollte, ob sie hereinkommen dürfe.
Richard riß die Tür auf, bereit, eine Tirade vom Stapel zu lassen, doch als er den Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, blieben ihm die Worte in der Kehle stecken. Sie stand hölzern da, den Blick ins Leere gerichtet.
»Schwester Verna, was ist passiert?« Er faßte sie am Arm und führte sie ins Zimmer. »Hier bitte, setzt Euch.«
Sie sank auf die Stuhlkante. Richard kniete vor ihr nieder und ergriff ihre Hände.
»Was ist, Schwester Verna?«
»Ich habe darauf gewartet, daß du zurückkommst.« Endlich suchte sie mit ihren verschwollenen, roten Augen seinen Blick. »Richard«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, »ich kann jetzt wirklich einen Freund gebrauchen. Du bist der einzige, der mir in den Sinn gekommen ist.«
Richard zögerte. Sie wußte, wie es um ihn stand, obwohl er mittlerweile sicher war, daß sie ihm den Halsring nicht abnehmen konnte.
»Richard, als die Schwestern Grace und Elizabeth starben, haben sie ihre Gabe an mich weitergegeben. Ich besitze mehr Macht als jede andere Schwester im Palast, jede andere normale Schwester. Du wirst es bestimmt nicht glauben, aber ich bezweifele, ob selbst die genügen wird, deinen Halsring abzunehmen. Aber ich möchte es versuchen.«
Richard wußte, sie würde ihn nicht entfernen können. So zumindest hatte man es ihm erklärt. Vielleicht irrte sich Nathan.
»Also gut. Dann versucht es.«
»Es wird weh tun…«
Richard runzelte die Stirn und wurde mißtrauisch. »Wieso überrascht mich das nicht?«
»Nicht dir, Richard. Mir.«
»Wie meint Ihr das?«
»Ich bin dahintergekommen, daß du subtraktive Magie besitzt.«
»Und was hat das damit zu tun?«
»Du hast dir den Rada’Han selbst umgelegt. Er schließt sich, indem er die Magie dessen benutzt, an dem er befestigt ist. Ich besitze nur additive Magie. Ich glaube nicht, daß das genügt, um diese Verbindung zu brechen.
Ich habe keinen Einfluß auf deine subtraktive Magie. Sie wird sich meinen Bemühungen widersetzen, und das wird schmerzen. Doch hab keine Angst. Dir wird es nicht weh tun.«
Richard wußte nicht, was er tun, was er glauben sollte. Sie legte ihre Hände an seinen Hals, neben den Ring. Bevor sie die Augen schloß, sah er den vertrauten, glasigen Blick. Sie berührte ihr Han.
Die Muskeln angespannt, die Hand am Heft seines Schwertes, wartete er ab, bereit zu reagieren, sollte sie versuchen, ihm irgend etwas anzutun. Er wollte nicht glauben, daß Schwester Verna ihm etwas antun würde, aber schließlich hatte er auch nicht glauben wollen, daß Liliana ihm jemals weh tun könnte.
Sie runzelte die Stirn. Richard spürte ein warmes, angenehmes Kribbeln. Der Raum begann dumpf surrend zu vibrieren. Die Ecken der Teppiche rollten sich ein. Fenster schepperten in ihrem Rahmen. Schwester Verna zitterte vor Anstrengung.
Der hohe Spiegel im Schlaf gemach zersprang. Glasscheiben in den Türen zerbrachen, als die Türen zum Balkon mit lautem Knall aufflogen. Die Vorhänge blähten sich nach außen, als hätte sie ein Wind erfaßt. Putz fiel von der Decke, und ein hoher Schrank stürzte krachend um.
Ein leises Stöhnen entwich ihrer Kehle, während die Muskeln in ihrem Gesicht vor Anspannung zitterten.
Richard packte ihre Handgelenke und löste ihre Hände von seinem Halsring. Sie sackte nach vorn.
»Oh, Richard«, sagte sie mit betrübter Stimme. »Es tut mir so leid, ich kann es nicht.«
Richard nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Schon gut, ich glaube Euch. Ich weiß, Ihr habt es versucht. Ihr habt einen Freund gewonnen.«
Sie hielt ihn fest im Arm. »Richard, du mußt fort von hier.«
Er schob sie zurück, während sie sich mit den Fingern über die unteren Lider ihrer Augen strich. Richard ließ sich nach hinten auf die Fersen sinken. »Erzählt mir, was geschehen ist.«
»Im Palast gibt es Schwestern der Finsternis.«
»Schwestern der Finsternis? Was heißt das?«
»Die Schwestern des Lichts arbeiten dafür, den Lebenden das Licht des Schöpfers Herrlichkeit zu bringen. Die Schwestern der Finsternis dienen dem Hüter. Es wurde nie bewiesen, daß es sie überhaupt gibt. Ohne Beweis ist die Behauptung ein Verbrechen. Ich weiß, du wirst mir nicht glauben, Richard. Es klingt wirklich, als sei ich nur –«
»Ich habe heute abend Schwester Liliana getötet.«
Sie sah ihn verständnislos an. »Du hast was getan?«
»Sie wollte mir den Halsring abnehmen, hat sie jedenfalls gesagt. Ich mußte mich mit ihr im Hagenwald treffen. Sie hat versucht, mir die Gabe fortzunehmen, Schwester Verna, für sich selbst.«
»Das kann sie nicht. Eine Frau kann sich nicht die Gabe eines Mannes zu eigen machen, ebensowenig umgekehrt. Das ist nicht möglich.«
»Sie behauptete, sie hätte es schon oft getan. Als sie es dann versuchte, schien es zu funktionieren. Ich konnte fühlen, wie sie die Gabe, das Leben glatt aus mir herauszog. Fast wäre es ihr gelungen. Ich war kurz davor zu sterben.«
Sie strich das lockige Haar zurück. »Aber ich verstehe nicht, wie…«
Richard zog die Statuette hervor. »Das hier hat sie dabei benutzt. Der Kristall fing an orange zu glühen, als sie es tat. Wißt Ihr, was das ist?«
Schwester Verna schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe es irgendwo schon einmal gesehen, aber ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Es ist so lange her. Das war noch, bevor ich den Palast verlassen habe. Was geschah dann?«
»Als das nicht funktionierte, weil ich meine Kraft benutzte, um sie daran zu hindern, rief sie ein Schwert aus den Schatten herbei. Sie wollte mich verwunden. Sie sagte, sie wolle mir bei lebendigem Leib die Haut abziehen und dann meine Gabe für ihre eigenen Zwecke stehlen. Sie versuchte mir die Beine abzuhacken. Irgendwie habe ich sie dann zuerst getroffen.
Schwester Verna, sie besaß subtraktive Magie. Ich habe gesehen, wie sie sie angewendet hat. Und nicht nur das, da ist noch jemand, der mich töten will. Ich habe heute Perry meine rote Jacke geliehen. Gerade eben wurde seine Leiche aus dem Fluß gezogen. Jemand hat ihn mit einem Dacra hinterrücks erstochen.«
Sie verzog das Gesicht. »Oh, mein Schöpfer.« Sie schlang die Finger in ihrem Schoß umeinander. »Im Palast weiß man, daß du subtraktive Magie besitzt. Man benutzt dich, um die Jünger des Hüters aus dem Palast zu treiben.« Sie nahm seine Hand. »Ich war auch in die Sache verwickelt, Richard. Ich hätte mich längst fragen sollen, was alles hier nicht stimmt, doch das habe ich nicht getan. Statt dessen habe ich so getan, als wäre ich im Recht.«
»Was hättet Ihr Euch fragen sollen?«
»Vergib mir, Richard. Man hätte dir niemals einen Rada’Han um den Hals legen dürfen. Es war nicht nötig. Man hat mir erzählt, in der Neuen Welt gäbe es keine Zauberer mehr, die Jungen helfen könnten. Ich war überzeugt, du würdest ohne unsere Hilfe sterben. Dein Freund Zedd hätte verhindern können, daß dir die Gabe Leid zufügt. Die Prälatin wußte, daß es Zauberer gibt, die dir helfen konnten. Sie hat dich aus egoistischen Gründen von deinen Freunden, deinen Lieben wegzerren lassen. Du brauchtest keinen Rada’Han, um dein Leben zu retten.«
»Ich weiß. Ich habe mit Nathan gesprochen. Er hat es mir erzählt.«
»Du warst bei dem Propheten? Was hat er dir sonst noch erzählt?«
»Daß ich mehr Kraft besitze als jeder Zauberer, der in den letzten dreitausend Jahren geboren wurde. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich sie einsetzen soll. Und daß ich subtraktive Magie besitze. Er meinte, die Schwestern könnten den Halsring überhaupt nicht abnehmen.«
»Es tut mir leid für das, was ich dir da eingebrockt habe, Richard.«
»Man hat Euch ebenso getäuscht wie mich, Schwester Verna. Ihr seid auch ein Opfer. Sie haben uns beide mißbraucht.
Es kommt noch schlimmer. Es gibt eine Prophezeiung, demzufolge Kahlan am Tag der Wintersonnenwende sterben wird. Das muß ich verhindern. Außerdem befindet sich Darken Rahl, der mein Vater und ein Agent des Hüters ist, in dieser Welt. Ihr habt das Zeichen gesehen, daß er mir eingebrannt hat. Er ist ein Agent, der den Schleier zerreißen kann, vorausgesetzt, er hat alle Elemente an ihrem Platz. Ich bezweifle allerdings, ob dies der Fall ist.
Ich muß fort von hier, Schwester Verna. Ich muß die Barriere durchbrechen.«
»Ich helfe dir. Irgendwie werde ich dir helfen, durch die Barriere zu gelangen. Schwierig wird es für dich im Tal der Verlorenen. Ich glaube, du wirst nicht noch einmal durch das Tal hindurchkommen. Jetzt, nachdem dir der Ring geholfen hat, deine subtraktive Magie anwachsen zu lassen, wird sie die Banne auf dich ziehen. Diesmal wird die Magie dich finden.«
»Vielleicht weiß ich einen Weg. Ich muß es versuchen.«
Schwester Verna dachte einen Augenblick lang nach. »Der Hüter wird dich aufhalten wollen, wenn die Möglichkeit besteht, daß diese Prophezeiung durch seinen Agenten Wirklichkeit wird. Die Schwestern der Finsternis werden alles daran setzen, dich aufzuhalten. Bestimmt war Schwester Liliana nicht die einzige.«
»Wer hat sie als meine Lehrerin eingesetzt?«
»Lehrerinnen werden vom Büro der Prälatin berufen. Aber wahrscheinlich hat die Prälatin das nicht persönlich getan. Solche Angelegenheiten werden gewöhnlich von ihren Verwalterinnen bearbeitet.«
»Ihren Verwalterinnen?«
»Den Schwestern Ulicia und Finella.«
»Ich dachte, das wären ihre Wächterinnen?«
»Wächterinnen? Nein. Die Prälatin hat mehr Macht als sie. Sie braucht keine Wächterinnen. Einige der Jungen halten sie für Wächterinnen, weil sie von den beiden Schwestern immer vor der Tür der Prälatin abgewiesen werden. Einen Teil ihrer Arbeit machen sie im Büro der Prälatin, darüber hinaus haben sie ihre eigenen Büros, wo sie eine Vielzahl administrativer Aufgaben erledigen.«
»Vielleicht waren die Schwestern der Finsternis hinter mir her und haben beschlossen, sofort zu handeln, weil man sie entdeckt hatte.«
»Nein. Die Prälatin meinte zu mir, niemand außer ihr wüßte davon.«
»Hätte jemand sie belauschen können?«
»Nein. Sie hatte den Raum abgeschirmt.«
Richard beugte sich vor. »Schwester Verna, Liliana hatte subtraktive Magie. Dagegen wäre der Schild der Prälatin machtlos gewesen. Eine der beiden Verwalterinnen hat mir Schwester Liliana zugeteilt.«
Sie atmete erschrocken ein. »Und die anderen fünf auch. Wenn eine oder sogar alle beide im Vorzimmer mitangehört haben, was die Prälatin weiß, dann hat die Prälatin … Schwester Ulicias Büro — dort habe ich die kleine Statue gesehen!«
Richard packte sie am Handgelenk und riß sie aus ihrem Stuhl.
»Kommt! Wenn sie versucht haben, mich zu töten, dann versuchen sie vielleicht auch die Prälatin umzubringen, bevor sie jemanden warnen kann!«
Die beiden rannten die Treppen hinunter und verließen das GuillaumeHaus. Sie überquerten die Rasenflächen im Dunkeln, liefen durch Korridore und Passagen. Kevin war nicht da. Ein anderer Wachmann hatte Dienst, doch der hielt sie nicht auf, da auch er Richard kannte, und Schwestern keinen Einschränkungen unterlagen.
Richard wußte, daß sie zu spät gekommen waren, als sie die rußgeschwärzte Tür zum Büro der Prälatin sahen, die aus den Angeln gebrochen war. Er kam auf dem glatten Marmorboden des Ganges rutschend zum Stehen. Papiere und Hauptbücher lagen bis hinaus auf den Gang verstreut.
Schwester Verna war ein Stück hinter ihm, als er schon das Vorzimmer mit blankgezogenem Schwert betrat. Drinnen sah es aus, als hätte sich dort ein Wirbelsturm verausgabt. Was von Schwester Finella übrig war, lag auf dem Fußboden hinter dem Schreibtisch. Der Rest war quer über die Wand gespritzt. Er hörte, wie Schwester Verna der Atem stockte, als er die Tür zum Zimmer der Prälatin eintrat.
Richard warf sich gegen die Tür, die aufschwang. Er rollte sich ab und landete, das Schwert in beiden Händen haltend, auf den Füßen. Im Zimmer der Prälatin herrschte ein noch größeres Chaos als im Vorzimmer. Papiere bedeckten fast einen Fuß hoch den größten Teil des Fußbodens. Es sah aus, als wären sämtliche Bücher in den Regalen explodiert und hätten ihre Seiten überall verstreut. Der schwere Tisch aus Walnußholz lag in Trümmern an der gegenüberliegenden Wand. Der Raum lag fast völlig im Dunkeln. Lediglich die Tür hinter ihm und die offenen Türen zum mondsbeschienenen Garten hinaus ließen Licht herein.
Schwester Verna entzündete eine helle Flamme in ihrer Hand. In der plötzlichen Helligkeit sah er hinten im Zimmer, in der Nähe des umgestürzten Tisches, eine Gestalt. Langsam hob sie ihren Kopf. Ihr Blick fand seine Augen. Es war Schwester Ulicia.
Richard warf sich auf die Seite, als ein blauer Lichtblitz durch den Raum geschossen kam und hinter ihm die Wand aufriß. Schwester Verna erwiderte den Angriff mit einem sengenden Feuerstoß aus gelben Flammen. Schwester Ulicia sprang durch die Tür in den Innenhof, um dem Feuer auszuweichen. Richard verfolgte sie. Schwester Verna eilte zu dem umgekippten, zertrümmerten Tisch und fegte irgendwelche Fetzen zur Seite.
»Duckt Euch!« schrie Richard ihr zu.
Ein sich windendes Band aus schwarzen Blitzen durchschnitt die Wand genau über seinem Kopf, als er sich flach auf den Boden warf. Mehrere Regale brachen krachend zusammen. Durch das Nichts, das der schwarze Blitz hinterließ, konnte er ins nächste Zimmer sehen und in die dahinterliegenden. Putz und Täfelung stürzten herab, wirbelten quellende Staubwolken auf.
Als der schwarze Blitz vorüber war, sprang Richard wie rasend wieder auf die Füße und rannte nach draußen. Er sah eine dunkle Gestalt den Pfad entlanglaufen.
Wieder schoß ein schwarzer, bogenförmiger Blitz aus den Schatten heran. Das peitschende Vakuum fegte über den Innenhof hinweg. Bäume stürzten um, Äste knickten ab und brachen, als die Bäume umstürzten. Der Lärm war ohrenbetäubend.
Als es vorbei war, sprang Richard wieder auf die Füße. Er stand gerade im Begriff, den Pfad entlangzurennen, um sie zu suchen, als ihn eine unsichtbare Hand packte und nach hinten riß.
»Richard!« Er hatte Schwester Verna noch nie so wütend grollen hören. »Komm sofort hier rein!«
Er kehrte ins Zimmer der Prälatin zurück und beugte sich keuchend über Schwester Verna. »Ich muß…«
Sie sprang auf die Füße und packte ihn mit ihrer rechten Hand am Hemd. »Was mußt du! Dich umbringen lassen? Was soll das? Wie soll das Kahlan nützen? Schwester Ulicia beherrscht meisterhaft Kräfte, die du dir nicht einmal vorstellen kannst!«
»Aber sie könnte entkommen!«
»Wenn ihr das gelingen sollte, lebst du wenigstens noch. Jetzt komm und hilf mir mit diesem Tisch. Ich glaube, die Prälatin lebt noch.«
Plötzlich keimte wieder Hoffnung in ihm auf. »Seid Ihr sicher?«
Richard ging daran, die zerbrochenen Einzelteile fortzuzerren und sie hinter sich zu werfen. Ganz unten unter den Trümmern fand er den reglosen Körper. Schwester Verna hatte recht gehabt. Die Prälatin lebte noch, schien aber ernsthaft verletzt zu sein.
Schwester Verna benutzte ihre Kraft, um die schweren Tischteile und Regale anzuheben, während Richard vorsichtig kleinere Trümmerstücke von der zierlichen Frau herunterzog. Sie war zwischen dem unteren Regal und der Wand eingeklemmt und voller Blut.
Sie stöhnte, als Richard behutsam seine Hände um sie legte und sie herauszog. Er glaubte nicht, daß ihr noch viel Zeit in diesem Leben blieb.
»Wir müssen Hilfe holen«, sagte er.
Schwester Verna tastete den Körper der Prälatin ab. »Es sieht sehr übel aus, Richard. Ich kann einige ihrer Verletzungen erfühlen. Es ist so schlimm, daß ich ihr nicht helfen kann. Ich weiß nicht, ob ihr überhaupt noch jemand helfen kann.«
Richard hob Ann in seinen Armen hoch. »Sie darf nicht sterben. Wenn ihr irgend jemand helfen kann, dann Nathan. Kommt.«
Wachen und Schwestern hatten das ohrenbetäubende Donnern der Kraft gehört, die Schwester Ulicia freigesetzt hatte, und kamen herbeigeeilt. Richard hatte auf dem Weg zu Nathans Trakt keine Zeit für Erklärungen. Er versuchte, Ann im Laufen vorsichtig zu tragen, ihr Stöhnen verriet ihm jedoch, wie sehr er ihr weh tat.
Nathan kam aus dem Garten, als er sie rufen hörte. »Was war das für ein Lärm? Was ist los? Was ist passiert?«
»Es geht um Ann. Sie ist verletzt.«
Nathan führte ihn ins Schlafzimmer. »Ich wußte ja, das dickköpfige Frauenzimmer wollte es nicht anders.«
Richard legte Ann sachte auf das Bett und blieb in der Nähe, während Nathan seine Finger der Länge nach über ihren Körper breitete. Schwester Verna blieb abwartend stehen und sah von der Tür aus zu.
Nathan schob seine Ärmel hoch. »Es ist ernst. Ich weiß nicht, ob ich ihr helfen kann.«
»Du mußt es versuchen, Nathan!«
»Das werde ich selbstverständlich tun, Junge.« Er verscheuchte sie mit einer Geste. »Ihr beide geht und wartet dort draußen. Es wird eine Weile dauern — wenigstens ein oder zwei Stunden, bevor ich weiß, ob ich ihr mit meinen Mitteln helfen kann. Laßt mich dabei allein. Ihr könnt mir sowieso nicht helfen.«
Schwester Verna saß mit steifem Rücken da, Richard dagegen lief nervös auf und ab.
»Warum machst du dir solche Sorgen, was mit der Prälatin geschieht? Sie hat dich holen lassen, obwohl sie es nicht hätte tun sollen.«
Richard kämmte sich die Haare mit den Fingern nach hinten. »Wahrscheinlich, weil sie die Gelegenheit hatte, mich mitzunehmen, als ich klein war, und sie es nicht getan hat. Sie hat mich bei meinen Eltern aufwachsen lassen. Sie hat mir die Liebe meiner Eltern gelassen. Was hat das Leben sonst für einen Sinn, wenn man nicht die Chance bekommt, in Liebe aufzuwachsen. Sie hätte mir auch das nehmen können, sie hat es aber nicht getan.«
»Wenigstens bist du nicht verbittert.«
Richard ging auf und ab und dachte nach. Lange hielt er es nicht aus.
»Schwester, ich kann hier nicht einfach untätig herumsitzen. Ich werde mit den Wachen sprechen. Wir müssen wissen, wo sich meine Lehrerinnen aufhalten und was sie tun. Die Wachen werden es für mich herausfinden.«
»Schaden kann es vermutlich nicht. Geh und sprich mit den Wachen. Dann vergeht die Zeit schneller.«
Richard schritt durch die dunklen, steinernen Korridore, tief in Gedanken versunken. Er mußte herausfinden, wo sich die Schwestern Tovi, Cecilia, Merissa, Nicci und Armina befanden. Jede von ihnen — vielleicht auch alle — waren möglicherweise Schwestern der Finsternis. Wer wußte schon, was sie als nächstes planten. Vielleicht suchten sie nach ihm. Vielleicht wollten sie…
Ein lähmender Schmerz warf ihn nach hinten. Es war, als hätte man ihm mit einem Knüppel ins Gesicht geschlagen.
Taumelnd kam er wieder auf die Beine, die Welt drehte sich und kippte weg. Benommen tastete er sich nach Blut ab, fand aber keins.
Der nächste Schlag traf ihn am Hinterkopf. Er stemmte sich hoch, stützte sich auf seine Hände und versuchte zu enträtseln, wo er sich befand. Seine Gedanken bewegten sich schwerfällig und langsam. Er versuchte zu begreifen, was vor sich ging.
Ein dunkler Schatten überragte ihn. Schwerfällig und mit zögernden Bewegungen rappelte er sich wieder auf. Er tastete nach seinem Schwert, konnte sich aber nicht mehr erinnern, welche Hand er nehmen mußte. Es gelang ihm nicht, sich schnell genug zu bewegen.
»Spaziergang, Bauernbursche?«
Richard hob den Kopf und sah den feixenden Jedidiah, der hochaufgerichtet dastand, die Hände jeweils in den anderen Ärmel gesteckt. Richard bekam das Heft seines Schwertes zu fassen. Schwerfällig mühte er sich ab, es zu ziehen. Mit letzter Kraft versuchte er, seine Magie herbeizurufen und taumelte zurück.
Als der Zorn sein umnebeltes Hirn flutete, zog Jedidiah seine Hände heraus. Er hatte einen Dacra. Er hob den Arm, das silberne Messer in der Hand. Richard überlegte, was er machen solle und ob dies wirklich sei. Vielleicht wachte er ja auf und stellte fest, daß alles nur ein Traum war.
Auf dem höchsten Punkt seiner ausholenden Bewegung schienen Jedidiahs Augen plötzlich von innen aufzuleuchten. Langsam erst, dann mit wachsender Geschwindigkeit, kippte Jedidiah nach vorn und schlug mit dem Gesicht zuerst auf den Steinfußboden.
Ein Kräuseln schwärzester Finsternis fegte durch den Korridor.
Als die Fackel wieder aufleuchtete, stand plötzlich Schwester Verna da, wo kurz zuvor noch Jedidiah gestanden hatte. Sie hielt einen Dacra in der Hand. Richard sackte auf die Knie, immer noch bemüht, wieder zur Besinnung zu kommen.
Schwester Verna eilte herbei und legte ihm die Hände seitlich an den Kopf. Als er wieder auf die Füße kam, starrte er auf die Leiche und entdeckte ein kleines rundes Loch im Rücken.
»Ich hielt es für besser, mit einigen der Schwestern zu sprechen«, erklärte sie. »Mir wurde klar, je mehr Menschen von den Schwestern der Finsternis wissen, desto besser.«
»Er war es, hab’ ich recht? Ihr habt ihn geliebt.«
Sie schob den Dacra wieder in ihren Ärmel zurück. »Er war nicht mehr der Jedidiah, den ich gekannt habe. Der Jedidiah, den ich gekannt habe, war ein guter Mensch.«
»Es tut mir leid, Schwester Verna.«
Sie nickte abwesend. »Geh du und sprich mit den Wachen. Ich werde mit den Schwestern reden. Wenn du fertig bist, treffen wir uns wieder bei Nathan. Ich denke, am besten versuchen wir dort, ein paar Stunden zu schlafen, und nicht in unseren Zimmern.«
»Ihr habt wahrscheinlich recht. Wir können unsere Sachen holen, sobald es hell ist, und dann gleich aufbrechen.«
Als er Nathan ins Zimmer kommen hörte, setzte Richard sich in seinem Sessel auf und rieb sich die Augen. Schwester Verna auf der Couch kam schneller hoch. Richard blinzelte und versuchte, seine schläfrige Benommenheit loszuwerden.
Sie waren beide lange wach gewesen. Der gesamte Palast war in Aufruhr. Was im Büro der Prälatin geschehen war, genügte als Beweis für die Existenz der sagenumwobenen Schwestern der Finsternis. Wer Zweifel hegte, brauchte nur einen einzigen Blick auf die scharfkantigen leeren Stellen zu werfen, die sich durch Dutzende von Wänden zogen, oder auf die säuberlich durchtrennten Bäume und Steine, um zu wissen: Hier war nichts geringeres als subtraktive Magie angewendet worden.
Richard hatte Wachen ausgeschickt, die sich diskret auf die Suche nach den sechs Schwestern machen sollten: Schwester Ulicia und seine fünf Lehrerinnen. Auch die Schwestern waren auf der Suche. Er war außerdem zu Warren gegangen, um mit ihm zu sprechen und ihm zu berichten, was geschehen war.
Richard stand auf und vertrat sich die Beine. »Wie geht es ihr? Wird sie sich erholen?«
Nathan wirkte erschöpft. »Sie schläft jetzt, aber es ist zu früh, um etwas Genaueres zu sagen. Wenn sie ausgeruht ist, kann ich mehr für sie tun.«
»Danke, Nathan. Ich weiß, daß Ann bei dir in besten Händen ist.«
Er brummte und setzte dazu noch eine säuerliche Miene auf. »Du bittest mich, meine Gefängniswärterin gesund zu machen.«
»Ann wird es dir sicher danken. Vielleicht überdenkt sie deine Gefangenschaft noch einmal. Wenn nicht, komme ich zurück und sehe, was ich tun kann.«
»Zurück? Willst du etwa fort, Junge?«
»Ja. Und dazu brauche ich deine Hilfe, Nathan.«
»Wenn ich dir helfe, ziehst du womöglich los und setzt dir in deinen Dickschädel, die ganze Welt zu vernichten.«
»Ist in den Prophezeiungen vielleicht die Rede davon, daß du mich daran hindern sollst?«
Nathan stieß einen matten Seufzer aus. »Was willst du?«
»Wie komme ich durch die Barriere? Der Halsring hält mich zurück.«
»Wieso sollte ich das wissen?«
Richard ging wütend einen Schritt auf den hochaufragenden, alten Zauberer zu. »Nathan, spiel keine Spiele mit mir. Ich bin nicht in der Stimmung, außerdem ist die Angelegenheit zu wichtig. Du hast sie doch durchquert. Du hast Ann begleitet, um das Buch aus der Burg der Zauberer in Aydindril zu holen. Hast du das schon vergessen?«
Er schob seine Ärmel herunter. »Man braucht nur den Rada’Han abzuschirmen. Mir hat Ann hindurchgeholfen, Schwester Verna kann das gleiche für dich tun. Ich werde ihr sagen, wie es funktioniert.«
»Und was ist mit dem Tal der Verlorenen? Komme ich auch dort ein weiteres Mal hindurch?«
Nathans Augen nahmen plötzlich einen gespannten, finsteren Ausdruck an. Er schüttelte den Kopf. »Du hast zuviel Kraft in dir vereint. Der Ring hat dazu beigetragen, daß sie wuchs. Außerdem wirst du die Banne auf dich ziehen. Schwester Verna kann nicht mehr hindurch, sie hat das Tal bereits zweimal durchquert. Hinzu kommt, daß sie mittlerweile zuviel Kraft besitzt. Sie hat es zweimal durchquert und die Gabe zweier anderer Schwestern übernommen, jetzt sitzt sie hier fest.«
»Und wie bist du dann dreimal hindurchgekommen? Du stammst aus D’Hara, das war das erste Mal. Du bist mit Ann in die Neue Welt gegangen und wieder zurückgekommen. Das wären drei. Wie hast du das geschafft, wenn es unmöglich ist?«
Ein verschmitztes Lächeln huschte über seine Lippen. »Ich bin nicht dreimal durch das Tal gegangen. Sondern nur einmal.« Er hob die Hand und wehrte damit Richards Einwand ab. »Ann und ich haben das Tal gar nicht durchquert. Wir haben das Hindernis umgangen. Wir haben den Einflußbereich der Banne umsegelt, weit draußen auf dem Meer, und sind schließlich in den südlichsten Gefilden Westlands an Land gegangen. Die Reise ist lang und beschwerlich, aber wir haben die Überfahrt geschafft. Das gelingt nicht vielen.«
»Übers Meer!« Richard sah nach hinten zu Schwester Verna. »Soviel Zeit habe ich nicht. Die Wintersonnenwende ist in einer Woche. Ich muß durch das Tal.«
»Richard«, sagte Schwester Verna mit sanfter Stimme, »ich kann verstehen, was du fühlst, aber so lange dauert es fast schon, das Tal der Verlorenen zu erreichen. Selbst wenn du einen Weg hindurch finden solltest, bleibt dir keine Zeit mehr, dein Ziel zu erreichen.«
Richard hielt seinen Zorn im Zaum. »Als Zauberer habe ich keine Erfahrung. Auf meine Gabe kann ich mich nicht verlassen. Was das anbelangt, ist es mir ziemlich egal, ob ich je lerne, sie zu beherrschen.
Aber ich bin auf der Suche. Darin, Schwester Verna, bin ich nicht so unerfahren. Nichts wird mich aufhalten. Nichts. Ich habe Kahlan mein Versprechen gegeben, selbst in die Unterwelt zu gehen und höchstpersönlich mit dem Hüter zu kämpfen, wenn ich sie nicht anders retten kann.«
Nathans Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Ich habe dich gewarnt, Richard. Wenn man verhindert, daß diese Prophezeiung sich bewahrheitet, wird der Hüter uns alle bekommen. Du darfst nicht versuchen, sie zu verhindern. Es steht in deiner Macht, die gesamte Welt der Lebenden dem Hüter in die Hand zu geben.«
»Das ist doch bloß ein bedeutungsloses Rätsel«, brummte Richard verzweifelt, obwohl er es besser wußte.
Nathans finsterer Blick war der Blick eines Rahl, jener finstere Blick, den auch Richard geerbt hatte. »Richard, allem Leben wohnt der Tod inne. Der Schöpfer hat auch ihn geschaffen. Wenn du die falsche Wahl triffst, werden alle Lebenden für deine Dickköpfigkeit bezahlen.
Und, Richard, vergiß nicht, was ich dir über den Stein der Tränen erzählt habe. Mißbrauchst du ihn, um eine Seele in die Tiefen der Unterwelt zu verbannen, zerstörst du damit jedes Gleichgewicht.«
»Der Stein der Tränen?« fragte Schwester Verna mißtrauisch. »Was hat denn Richard mit dem Stein der Tränen zu schaffen?«
Richard drehte sich wieder zu Schwester Verna um. »Wir verlieren bloß Zeit. Ich gehe in mein Zimmer und hole meine Sachen. Wir müssen aufbrechen.«
»Richard«, sagte Nathan. »Ann hat all ihre Hoffnungen in dich gesetzt. Sie hat dafür gesorgt, daß du die Liebe deiner Familie bekommst, vielleicht damit du die wahre Bedeutung des Lebens begreifst. Bitte denke daran, wenn der Zeitpunkt kommt, dich zu entscheiden.«
Richard blickte Nathan lange an. »Danke, für deine Hilfe, Nathan. Aber ich werde die eine, die ich liebe, nicht wegen eines Rätsels aus einem Buch sterben lassen. Hoffentlich sehen wir uns wieder. Wir haben noch viel zu besprechen.«
Richard schüttelte die Schale voller Goldmünzen ganz unten in seinen Rucksack, bevor er seine übrigen Sachen hineinstopfte. Wenn die Münzen ihm dabei halfen, Kahlan zu retten, so überlegte er, dann war dies das mindeste, was der Palast tun konnte, nach allem, was man ihm hier angetan hatte.
Das Gold war eine Aufmerksamkeit, die die übrigen jungen Männer im Palast zu Trägheit animierte. Es verletzte ihre Menschenwürde, wie Nathan es ausgedrückt hatte. Vielleicht hatte Jedidiah sich deshalb den Versprechungen des Hüters zugewandt.
Richard bezweifelte, daß außer Warren einer der jungen Männer hier seit ihrem Eintreffen im Palast und bei freiem Zugang zu unbegrenzten Mengen von Gold — ohne um seinen Wert zu wissen — auch nur einen einzigen Tag gearbeitet hatte. Auch auf diese Weise zerstörte der Palast die Leben von Menschen. Richard fragte sich, wie viele Kinder junge Zauberer wohl mit Hilfe dieses Goldes gezeugt hatten.
Richard trat hinaus auf den Balkon, um sich vor seiner Abreise noch einmal einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Wachen patrouillierten auf dem Gelände. Auch Schwestern suchten eifrig jedes Gebäude, jeden überdachten Gang ab. Irgendwie würden sich die Schwestern dieser sechs annehmen müssen. Er selbst hatte jedenfalls keine Ahnung, wie er ihre Kraft bändigen konnte.
Als er die Tür im vorderen Zimmer hörte, nahm er an, es sei Schwester Verna. Sie mußten los. Als er sich umdrehte, blieb ihm jedoch keine Zeit zu reagieren.
Pasha kam durch die Tür auf ihn zugestürmt. Sie warf die Hände in die Höhe. Die Türen flogen aus den Angeln, wirbelten über das Balkongeländer und stürzten zehn Meter hinab bis auf den gepflasterten Innenhof.
Die Wucht einer festen Wand aus Luft warf ihn zurück. Lediglich das Geländer verhinderte, daß er zusammen mit den zersplitterten Türen hinübergeschleudert wurde. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, und ein bohrender Schmerz in seiner Seite machte jeden Atemzug unmöglich.
Als er sich taumelnd von Balkongeländer löste, warf ihn der nächste Schlag wieder zurück, diesmal schlug sein Kopf gegen das steinerne Geländer. Zu seinem Entsetzen sah er, wie ein Schwall Blut auf den Stein klatschte, bevor der Schieferboden ihm entgegenkam.
Pasha schrie vor Wut. Anfangs waren ihre Worte nichts als ein unverständliches Tosen. Er stemmte sich mit den Händen hoch. Blut rann aus seinem Kopf. Es sammelte sich unter ihm in einer immer größeren Pfütze. Kreisend kippte er zur Seite.
Es gelang ihm, sich aufzusetzen und sich rücklings gegen das Geländer kippen zu lassen. »Pasha, was…«
»Halt dein dreckiges Schandmaul. Ich will nichts davon hören!«
Sie stand in der Tür, die Fäuste in die Hüften gestemmt. In einer Hand hielt sie einen Dacra. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
»Du bist eine Ausgeburt des Hüters! Ein widerlicher Jünger dieses Unholds! Du tust nichts anderes, als anständigen Menschen weh zu tun!«
Richard betastete seinen Kopf. Seine Hände waren blutverschmiert. Ihm war schwindelig, und er mußte gegen den Drang ankämpfen, sich zu übergeben.
»Wovon redest du?« brachte er undeutlich hervor.
»Schwester Ulicia hat mir alles erzählt! Sie hat mir gesagt, daß du dich dem Hüter verschrieben hast! Sie hat mir erzählt, wie du Schwester Liliana getötet hast!«
»Pasha, Schwester Ulicia ist eine Schwester der Finsternis…«
»Sie hat mir vorausgesagt, du würdest genau das sagen! Sie hat mir auch erzählt, wie du deine abscheuliche Magie dazu benutzt hast, Schwester Finella und die Prälatin umzubringen! Deswegen wolltest du auch immer in das Zimmer der Prälatin! Damit du unsere Führerin ins Licht töten konntest! Du bist Abschaum!«
Die Welt verschwamm vor seinen Augen. Er sah sie doppelt, zwei Bilder, die ständig umeinander kreisten. »Das … das ist nicht wahr, Pasha.«
»Nur die Tricks des Hüters haben dich gestern gerettet. Du hast meine geliebte Jacke einem anderen gegeben, weil du mich demütigen wolltest. Schwester Ulicia hat mir erzählt, wie dir der Hüter alles einflüstert!
Ich hätte dich gleich auf der Brücke töten sollen, dann wäre das alles nicht passiert. Aber törichterweise glaubte ich, dich aus den Fängen des Hüters retten zu können! Die beiden Schwestern und die Prälatin könnten noch leben, hätte ich meine Arbeit getan. Als du mich verleitet hast, Perry zu töten, da habe ich den Schöpfer im Stich gelassen, aber so wirst du dich nicht noch einmal retten können. Deine abscheulichen Unterwelttricks werden dich nicht noch einmal retten!«
»Pasha, bitte, hör mir zu. Man hat dich angelogen. Hör bitte zu. Die Prälatin ist nicht tot. Ich kann dich zu ihr bringen.«
»Mich willst du auch umbringen! Von nichts anderem redest du — nur vom Töten! Du entweihst uns alle! Wenn ich mir vorstelle, daß ich einmal geglaubt habe, dich zu lieben!«
Sie hob den Dacra und stürzte sich mit einem Schrei auf ihn. Irgendwie gelang es Richard, das Schwert zu ziehen, während er benommen überlegte, welches Bild von ihr er bekämpfen sollte. Die Wut, die Magie seines Schwertes, verlieh seinen Armen Kraft. Er riß das Schwert hoch, als sie sich, Dacra voran, auf ihn warf. Die beiden Bilder von ihr verschmolzen miteinander.
Das Schwert berührte sie nicht einmal. Mit einem Aufschrei wurde sie über ihn hinweg und über das Geländer geschleudert. Sie schrie den ganzen Weg, bis nach unten. Richard fuhr zusammen und schloß die Augen, als der Schrei mit ihrem Aufprall auf dem Pflaster endete.
Als er die Augen aufmachte, sah er Warren erstarrt in der Tür stehen. Er mußte an Jedidiahs Sturz auf der Treppe denken.
»Bei den guten Seelen, nein«, hauchte Richard.
Er stemmte sich auf seine Beine hoch und warf einen kurzen Blick über den Rand. Menschen kamen aus allen Richtungen auf die Leiche zugerannt.
Warren schlurfte hölzern zum Geländer. Richard hielt ihn auf halbem Weg dorthin zurück.
»Nein, sieh nicht hm, Warren.«
Warren kamen die Tränen. Richard legte den Arm um seinen Freund. Warum hast du das getan, dachte er, ich hätte es selbst tun können. Ich war kurz davor. Du mußtest es nicht tun.
Über Warrens Schulter hinweg sah Richard, daß Schwester Verna im Zimmer stand.
»Sie hat Perry umgebracht«, erklärte Warren. »Ich habe gehört, wie sie es selbst zugegeben hat. Eigentlich wollte sie dich töten.«
Ich hätte es selbst tun können, dachte Richard, du hättest es nicht zu tun brauchen. Doch statt dessen sagte er: »Danke, Warren. Du hast mir das Leben gerettet.«
»Sie wollte dich umbringen«, weinte er an Richards Schulter. »Warum wollte sie so etwas tun?«
Schwester Verna legte Warren eine Hand auf den Rücken, um ihn zu trösten. »Die Schwestern der Finsternis haben sie belogen. Der Hüter hat ihr Falschheiten eingeflüstert. Und sie hat darauf gehört. Dem Hüter gelingt es sogar, daß die Guten auf seine Einflüsterungen hören. Du warst sehr tapfer, Warren.«
»Aber warum schäme ich mich dann so? Ich habe sie geliebt, und jetzt habe ich sie umgebracht.«
Richard nahm ihn einfach in die Arme, als er weinte.
Schwester Verna zog die beiden ins Zimmer zurück. Richard mußte sich vorbeugen, und sie untersuchte die Wunde an seinem Kopf. Blut tropfte überall auf den Fußboden.
»Jemand muß sich darum kümmern. Eine solche Verletzung kann ich nicht behandeln.«
»Aber ich«, sagte Warren. »Ich bin ein ganz guter Heiler. Laßt mich das machen.«
Als Warren fertig war, mußte Richard auf Schwester Vernas Geheiß den Kopf über das Becken halten, während sie ihm den Krug Wasser über den Kopf schüttete und das Blut abwusch. Warren saß auf einer Stuhlkante, den Kopf in seine Hände gestützt.
Warren hob den Kopf, als die Schwester fertig war. »Ich habe über das Gesetz nachgedacht, von dem du mir erzählt hast. Die Menschen glauben eine Lüge, weil sie wollen, daß sie wahr ist, oder weil sie befürchten, daß sie wahr sein könnte. Genau, wie Pasha die Lüge geglaubt hat. Habe ich recht?«
Richard mußte lächeln. »Hast du, Warren.«
»Schwester«, sagte Richard. »Was hat er Eurer Meinung nach gerade getan?«
»Was meinst du?«
»Die jungen Zauberer, die durch das Tal zurückgeschickt werden, können passieren, weil sie nicht genügend Kraft besitzen, um die Banne auf sich zu ziehen. Sie sind noch keine vollwertigen Zauberer. Zedd hat mir erklärt, Zauberer müßten eine Schmerzprüfung bestehen.
Im Laufe der Jahrtausende haben die Schwestern diese Prüfung darauf reduziert, daß sie körperliche Schmerzen aushalten müssen.
Ich glaube, sie irren sich. Ich glaube, die Prüfung, die Warren gerade bestanden hat, war schmerzhafter als alles, was ihm die Schwestern jemals zufügen könnten. Habe ich recht, Warren?«
Er nickte. Sein Gesicht wurde wieder blaß. »Nichts, was sie gemacht haben, hat jemals so weh getan.«
»Schwester, erinnert Ihr Euch noch, wie ich Euch erzählt habe, ich hätte die Klinge weiß gefärbt und diese Frau durch Liebe getötet? Vielleicht war das auch eine Art Schmerzprüfung. Ich weiß, wie schmerzhaft das war.«
Sie breitete verzweifelt die Hände aus. »Glaubst du wirklich, ein Mensch, der die Gabe besitzt, muß jemanden töten, den er liebt, um diese Prüfung zu bestehen? Das ist ausgeschlossen, Richard.«
»Nein, Schwester, er muß niemanden töten, den er liebt. Aber er muß beweisen, daß er die richtige Entscheidung fällen kann. Er muß beweisen, daß er sich für das größere Wohl entscheiden kann. Wäre jemand mit der Gabe ein guter Diener Eures Schöpfers, der Hoffnung auf das Leben, wenn er nur aus eigensüchtigen Motiven handeln könnte?
Jemandem Schmerzen zuzufügen, wie es die Schwestern tun, führt zu gar nichts.
Müßte nicht jemand, der dem Licht des Lebens dienen will, der das Leben liebt, sich aus freien Stücken für dieses Licht und für die Menschen entscheiden?«
»Gütiger Schöpfer«, hauchte sie, »sollten wir uns all die Zeit getäuscht haben?« Einen Augenblick lang legte sie die Hand vor den Mund. »Und wir haben geglaubt, wir brächten diesen Jungen das Licht des Schöpfers.«
Schwester Verna richtete sich entschlossen auf. Sie stellte sich vor Warren und legte die Hände seitlich an seinen Rada’Han. Als sie so dastand, mit geschlossenen Augen, die Hände am Halsring, entstand in der Luft eine summende Schwingung. Nach einer Weile breitete sich Stille in dem Raum aus, und dann hörte Richard ein Schnappen. Der Rada’Han zerbrach und fiel ab.
Warren war überglücklich, als er den zerbrochenen Halsring sah. Richard wünschte sich, es könnte auch für ihn so einfach sein.
»Was wirst du jetzt tun, Warren?« fragte Richard. »Wirst du den Palast verlassen?«
»Vielleicht. Aber zuerst möchte ich die Bücher noch ein wenig studieren, wenn die Schwestern es gestatten.«
»Sie gestatten es«, sagte Schwester Verna. »Dafür werde ich schon sorgen.«
»Dann werde ich vielleicht nach Aydindril gehen, zur Burg der Zauberer, und die Bücher und Prophezeiungen studieren, die dort aufbewahrt werden, wie du mir erzählt hast.«
»Das scheint ein weiser Plan zu sein, Warren. Schwester, ich muß aufbrechen.«
»Warren«, sagte sie, »warum begleitest du mich nicht bis zum Tal? Du bist jetzt frei.« Sie sah kurz zum Balkon hinüber. »Ich denke, es würde dir gut tun, eine Weile von hier fortzugehen und auf andere Gedanken zu kommen. Außerdem könnte ich ein wenig Hilfe gebrauchen, wenn wir das Tal erreichen.«
»Wirklich? Sehr gern.«
Als die drei ihre Sachen zu den Ställen schleppten, wurden sie von drei Wachen entdeckt — Kevin, Walsh und Bollesdun — die ihnen nachliefen, bis sie sie eingeholt hatten.
»Wir haben sie vielleicht gefunden, Richard«, sagte Kevin.
»Vielleicht? Was soll das heißen? Wo sind sie?«
»Nun, gestern abend hat die Lady Sefa die Segel gesetzt. Wir haben mit Leuten im Hafen gesprochen, die behaupten, sie hätten gesehen, wie sechs Frauen, möglicherweise die Schwestern, kurz vor dem Ablegen an Bord gegangen sind.«
»Vor dem Ablegen!« stöhnte Richard. »Was ist das, die Lady Sefa?«
»Ein Schiff. Ein großes Schiff. Es ist gestern spät abends mit der Flut ausgelaufen. Es hat einen guten Vorsprung, und, soweit ich gehört habe, liegt kein einziges Schiff im Hafen, daß die Lady Sefa einholen oder ebensoweit aufs Meer hinausfahren könnte.«
»Wir können sie nicht verfolgen und gleichzeitig der anderen Sache nachgehen«, meinte Schwester Verna.
Richard schob gereizt seinen Rucksack zurecht. »Ihr habt recht.
Wenn sie es tatsächlich sind, dann sind sie erst einmal fort. Aber zumindest weiß ich, wohin sie fahren. Wir werden uns später um sie kümmern müssen. Wenigstens ist der Palast der Propheten sicher. Im Augenblick müssen wir uns um wichtigere Dinge kümmern. Holen wir die Pferde, damit es endlich losgehen kann.«