19

Er öffnete die Augen. Die Sonne stieg gerade über den Horizont. Als er sich aufsetzte, nahm ihm der Schmerz seiner Brandwunde den Atem. Er legte die Hand auf sein Hemd, dort, wo der Verband saß, und ließ sie dort ruhen, bis die Schmerzen nachließen. Am ganzen Körper spürte er die Nachwirkungen des Strafers, als wäre er mit einem Prügel geschlagen worden. Alles tat ihm weh. Von damals, als Denna ihn mit dem Strafer ›ausgebildet‹ hatte, wußte er noch, daß er sich beim Aufwachen viel schlimmer gefühlt hatte — bis sie dann schließlich aufs neue mit dem Strafer auf ihn losgegangen war.

Schwester Verna saß im Schneidersitz auf ihrer Decke und beobachtete ihn kauend. Sie hatte sich ihren Umhang mit heruntergelassener Kapuze um die Schultern gelegt. Ihr lockiges, braunes Haar sah frisch gebürstet aus.

Sie hatte Richards Decke säuberlich gefaltet und neben seinen Schlafplatz gelegt. Sie erwähnte sie mit keinem Wort. Richard stemmte sich hoch. Er brauchte einen Augenblick, um sein Gleichgewicht zu finden, und streckte dann seine verkrampften Muskeln. Der wolkenlose Himmel hatte eine kalte, tiefblaue Farbe. Das Gras duftete süß und feucht vom Morgentau. Richards sichtbarer Atem wehte träge in der stillen, schneidend kalten Luft davon.

»Ich gehe die Pferde satteln, dann können wir aufbrechen.«

»Willst du nichts essen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger.«

»Was ist mit deinem Arm passiert?« fragte sie, ohne aufzusehen.

Überall auf seinem Arm und auf seiner Hand klebte dunkles, getrocknetes Blut. »Ich habe mein Schwert poliert. Es war dunkel. Ich habe mich geschnitten. Es ist weiter nichts.«

»Verstehe.« Sie hob kurz den Kopf, als er sich die Stoppeln an seinem Kinn kratzte. »Hoffentlich bist du beim Rasieren vorsichtiger.«

In diesem Augenblick beschloß Richard, sich so lange nicht zu rasieren, wie er mit Hilfe des Halsrings gefangengehalten wurde. Es sollte seine Art sein, ihnen zu erklären, daß ein Halsring eine Ungerechtigkeit darstellte und daß er sich im klaren darüber war, daß er nichts weiter war als ihr Gefangener und er ihren falschen, gegenteiligen Beteuerungen keinen Glauben schenkte. Ein Halsring war durch nichts zu rechtfertigen, und an dieser grundlegenden Wahrheit gab es nichts zu rütteln — nichts, niemals.

Richard sah die Schwester finster an. »Gefangene rasieren sich nicht.« Er wandte sich den Pferden zu.

»Richard.« Er blickte über seine Schulter. »Setz dich.« Ihre Stimme klang sanft, trotzdem sah er sie wegen ihres Befehls wütend an. Sie zeigte auf seinen Platz direkt vor ihr. »Setz dich. Ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast. Du bist hier, ich bin hier. Setz dich, und ich werde anfangen, dich in der Beherrschung der Gabe zu unterrichten.«

Das überraschte ihn. »Jetzt? Hier?«

»Ja. Komm her und setz dich.«

Im Grunde war er gar nicht darauf aus, die Gabe anzuwenden. Er konnte Magie nicht ausstehen. Er hatte vorher nur danach gefragt, weil er der Situation ein wenig ihre Spannung hatte nehmen wollen. Sein Blick schweifte hektisch umher, dann schließlich setzte er sich und schlug wie sie die Beine unter.

»Was soll ich tun?«

»Über die Anwendung der Gabe gibt es viel zu lernen. Du wirst etwas über die Ausgewogenheit der Dinge, vor allem der Magie, erfahren. Du mußt alle unsere Warnungen beachten und tun, was wir sagen. Die Anwendung von Magie birgt Gefahren. Vielleicht ist dir das schon vom Gebrauch des Schwertes der Wahrheit bekannt?« Richard rührte sich nicht. Sie fuhr fort. »Die Gefahren bei der Anwendung der Gabe sind größer. Sie kann zu unerwarteten Ergebnissen führen. Ergebnisse, die in einer Katastrophe enden können.«

»Ich habe die Gabe bereits angewendet. Ihr habt selbst gesagt, ich hätte sie auf dreierlei Art angewendet.«

Sie beugte sich ein wenig vor. »Und sieh doch, was passiert ist. Es hat zu einem unerwarteten Ergebnis geführt. Dem Ergebnis, daß du einen Halsring trägst.«

Richard sah sie überrascht an. »Das war doch nicht die Folge davon, daß ich die Gabe angewendet habe. Ihr wart bereits auf der Suche nach mir, das habt Ihr selbst gesagt. Hätte ich die Gabe nicht angewendet, wäre das Ergebnis das gleiche gewesen.«

Schwester Verna schüttelte den Kopf, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Wir waren schon seit Jahren auf der Suche nach dir. Irgend etwas hat dich vor uns verborgen. Hättest du die Gabe nicht so angewendet, wie du es getan hast, bezweifle ich, ob wir dich überhaupt je gefunden hätten. Der Anwendung der Gabe hast du es zu verdanken, daß du diesen Ring um den Hals trägst.«

Seit Jahren. Sie waren schon jahrelang auf der Suche nach ihm. All die Zeit, die er friedlich in Westland gelebt hatte, anfangs mit seinem Bruder, seinem Vater und Zedd und dann allein als Waldführer, hatten sie nach ihm gesucht, und er hatte nichts davon geahnt. Der Gedanke machte ihn frösteln. Er hatte es sich selbst eingebrockt — durch die Anwendung von Magie. Er haßte Magie.

»Zugegeben, die Folgen sind katastrophal — für mich –, aber für Euch? Genau das habt Ihr doch gewollt.«

»Es ist das, was wir tun mußten. Du dagegen hast mein Leben bedroht. Du hast das Leben aller anderen bedroht, die dafür sorgen, daß du den Halsring trägst. Also alle Schwestern des Lichts. Ich nehme die Warnungen von Zauberern, auch von unausgebildeten Zauberern, niemals auf die leichte Schulter. Deine Anwendung der Gabe hat es uns ermöglicht, dich zu finden, aber sie könnte für uns alle katastrophale Folgen haben.«

Er empfand keine Befriedigung darüber, daß seine Drohungen nicht unbemerkt geblieben waren. Er empfand überhaupt nichts. »Warum tut Ihr das dann?« fragte er leise. »Wieso zwingt Ihr mich, ihn zu tragen?«

»Um dir zu helfen. Du wärst sonst gestorben.«

»Ihr habt mir bereits geholfen. Die Kopfschmerzen sind verschwunden. Meinen Dank dafür. Wieso könnt Ihr mich jetzt nicht laufenlassen?«

»Wenn der Halsring zu früh abgenommen wird, bevor du genug gelernt hast, um die Gabe zu beherrschen, werden sie wiederkommen. Und du wirst sterben.«

»Dann bringt es mir bei, damit man ihn mir abnehmen kann.«

»Wir müssen bei der Unterrichtung in Magie Vorsicht walten lassen. Du mußt Geduld bei deinen Studien haben. Wir sind bei der Ausbildung vorsichtig, weil wir mehr über die Gefahren der Magie wissen als du und nicht wollen, daß du durch deine Unwissenheit zu Schaden kommst. Doch das ist im Augenblick noch kein Problem, weil es dauern wird, bis du fortgeschritten genug bist, um die Gabe tatsächlich einzusetzen und diese Dinge zu riskieren — du mußt dich nur an das halten, was wir dir sagen. Du hast doch Geduld, oder?«

»Ich habe nicht das Bedürfnis, Magie anzuwenden. Vermutlich könnte man das als Geduld auslegen.«

»Gut, das soll im Augenblick genügen. Fangen wir also an.« Sie rutschte ein wenig hin und her. »In unserem Innern ruht eine Kraft. Die Kraft des Lebens. Wir nennen sie Han.« Richard runzelte die Stirn. »Heb deinen Arm.« Er tat es. »Das ist die Kraft des Lebens, die uns vom Schöpfer gegeben wurde. Sie ist in deinem Innern eingeschlossen. Du hast gerade Han angewendet. Wer die Gabe besitzt, kann diese Kraft auch über seinen Körper hinaus einsetzen. Eine solche externe Kraft wird Netz genannt. Wer wie du die Gabe hat, hat auch die Fähigkeit, ein Netz auszuwerfen. Mit Hilfe dieses Netzes kannst du Dinge außerhalb deines Körpers tun, ganz so, wie es die Lebenskraft im Innern deines Körpers vermag.«

»Wie ist das möglich?«

Schwester Verna ergriff mit ihren Fingern einen kleinen Stein. »Hier: mein Verstand benutzt Han, um meiner Hand zu sagen, daß sie diesen Stein heben soll. Meine Hand tut dies nicht von selbst, sondern mein Verstand lenkt die Lebenskraft in meine Hand, damit sie tut, was mein Verstand will.« Sie legte den Stein auf den Boden zurück und faltete die Hände im Schoß. Der Stein erhob sich in die Luft und schwebte zwischen ihnen. »Gerade habe ich das gleiche getan, nur diesmal, indem ich die Lebenskraft aus meinem Körper projiziert habe. Das ist die Gabe.«

»Du kannst das tun, was ein Zauberer kann?«

»Nein. Nur einen Teil davon. Auf diese Weise können wir ihre Anwendung lehren. Wir wissen, wie es ist, sie zu besitzen. Die Schwestern verfügen über eine gewisse Beherrschung der Lebenskraft und auch der Gabe, doch längst nicht so wie ein Zauberer, der sein Han vollständig kontrollieren kann.«

»Und wie bringt Ihr diese Lebenskraft dazu, Euren Körper zu verlassen?«

»Mit einer Erklärung dessen kann man erst beginnen, wenn du gelernt hast, die Kraft in deinem Innern zu erkennen, wenn du gelernt hast, dein Han zu berühren.«

»Warum?«

»Weil jeder Mensch anders ist. Jeder setzt diese Kraft anders ein. Sie ist bei keinen zwei Menschen gleich. Liebe ist eine Form des Han, die aus dem eigenen Selbst auf einen anderen projiziert wird. Es ist jedoch eine milde, schwache Form. Auch wenn Liebe allumfassend ist, so wird sie doch von jedem anders eingesetzt und empfunden. Manche benutzen sie, um in einem anderen das Beste seines Han zu wecken. Andere wiederum, um in sich selbst das Beste hervorzubringen. Manche wiederum benutzen sie, um andere zu kontrollieren, zu beherrschen. Die Kraft kann heilen oder Wunden schlagen.

Wenn wir erst einmal verstanden haben, wie die Gabe in dir wirkt, wie du sie benutzt, können wir dich durch die Übungen führen, die Formen genannt werden. Die Formen sind eine Übungsmethode, die dir dabei helfen wird zu lernen, wie du die Kraft kontrollieren kannst, hat sie erst einmal deinen Körper verlassen. Doch im Augenblick ist das nicht wichtig. Zuerst mußt du lernen, dein Han in dir zu fühlen, bevor du es irgendwo nach außerhalb deines Körpers projizieren kannst.

Bist du erst in der Lage, dein Han zu berühren, dann müssen wir herausfinden, was du damit tun kannst. Jeder Zauberer ist anders, jeder benutzt sein Han auf andere Art. Manche benutzen es nur über ihren Verstand, wie jene Zauberer, die die Prophezeiungen studieren. Bei ihnen zeigt sich ihr Han im wesentlichen, wenn sie mit seiner Hilfe die Prophezeiungen zu verstehen suchen. Genau dies ist ihr einzigartiges Talent. Manche können ihr Han nur dazu benutzen, wunderschöne, anregende Gegenstände zu schaffen. Manche benutzen ihr Han, um mit Magie ausgestattete Dinge herzustellen. Das ist ihr besonderes Talent, die Art, wie sie ihrem Han Ausdruck verleihen. Manche sind in der Lage, kraft ihrer Gedanken ihre Umwelt zu beeinflussen, wie ich es dir beim Anheben des Steines gezeigt habe. Andere wiederum können mit ihrem Han andere Dinge tun. Manche auch von allem etwas.«

Ihr besorgter Gesichtsausdruck kehrte zurück. »Die Wahrheit ist in dieser Angelegenheit von allergrößter Wichtigkeit, Richard. Du mußt vollkommen aufrichtig sein, wenn du uns sagst, wie dein Han sich in dir anfühlt. Jede Unaufrichtigkeit würde schwerwiegende Folgen haben.« Sie entspannte sich ein wenig. »Zuerst jedoch mußt du fähig sein, dein Han herbeizurufen, bevor wir herausfinden können, was für eine Art Zauberer du bist.«

»Ich habe es schon gesagt: ich will kein Zauberer sein. Ich will nur lernen, wie man die Gabe beherrscht, damit ich die Kopfschmerzen stoppen und mir diesen Ring vom Hals schaffen kann. Ihr habt selbst gesagt, ich muß kein Zauberer sein.«

»Das Beherrschen des Han mit Hilfe der Gabe ist es, was einen Zauberer ausmacht. Wenn du gelernt hast, es zu kontrollieren, bist du ein Zauberer. Das ist das Wesen eines Zauberers. Aber Zauberer ist bloß ein Wort. Du solltest dich nicht vor einem Wort fürchten. Wenn du dich entscheidest, die Gabe nicht anzuwenden, dann ist das deine Sache — wir können dich nicht dazu zwingen. Ein Zauberer bist du trotzdem.«

»Bringt mir bei, was ich wissen muß, aber ich werde kein Zauberer sein.«

»Das ist doch nichts Böses, Richard. Es bedeutet einfach, daß man sich selbst kennenlernt, daß man weiß, zu was man imstande ist, daß man seine Fähigkeiten kennt.«

Richard seufzte. »Also schön. Und wie beherrsche ich sie?«

»Das Lehren der Beherrschung der Gabe ist ein Prozeß, der stufenweise vor sich geht. Ich kann dir nicht alles auf einmal erklären, weil du weiter vorn liegende Schritte nicht verstehen würdest. Jeder einzelne Schritt für sich muß gemeistert werden, bevor man zum nächsten übergehen kann. Bevor wir dir zeigen können, wie man sein Han nach außen projiziert, mußt du es erst erkennen. Dann mußt du es berühren können und dich mit ihm in deinem Innern vereinigen. Du mußt wissen, was es ist. Du mußt in der Lage sein, es zu fühlen. Du mußt nach Belieben danach greifen und es berühren können. Du verstehst doch, was ich sage, oder?«

Richard nickte. »Ein wenig schon, denke ich. Also, wie ist das? Wie werde ich es finden? Wie ist es, wenn man es kennt, es berührt?«

Der Blick in Schwester Vernas Augen bekam etwas Entrücktes, schien zu brechen. »Du wirst es wissen«, sagte sie leise. »Es ist, als ob man das Licht des Schöpfers selbst sieht. Fast ist es, als ob man sich mit Ihm vereinigt.«

Richard betrachtete ihren glasigen Blick. Sie schien wie gebannt von dem, was sie in ihrem Innern sah.

»Also, wie finde ich es?« fragte er schließlich.

Ihr Blick richtete sich auf Richard. »Du mußt in deinem Innern danach suchen.«

»Und wie?«

»Du sitzt einfach da und suchst in deinem Innern. Du schiebst alle anderen Gedanken beiseite und suchst die Stille, die Ruhe in deinem Innern. Anfangs ist es hilfreich, wenn man die Augen schließt, langsam und gleichmäßig atmet und zuläßt, daß man den Frieden der Leere entdeckt. Am Anfang hilft es, sich auf ein einziges Ding zu konzentrieren, um alle Gedanken auszuschließen, die einen ablenken können.«

»Ein einziges Ding? Was zum Beispiel?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Was immer du möchtest. Es ist nur ein Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selbst. Manche benutzen ein einzelnes Wort, das sie ständig wiederholen, um alles andere auszuschließen. Manche benutzen das geistige Bild eines einfachen Gegenstandes, um ihre Gedanken darauf zu richten. Wenn du dann schließlich gelernt hast, die Kraft zu erkennen, sie zu berühren und eins mit ihr zu werden, bedarfst du dieser Hilfsmittel nicht mehr. Du wirst die Natur des Han erkennen und in der Lage sein, direkt danach zu greifen. Es wird dir zur zweiten Natur werden. Ich weiß, jetzt kommt dir das alles seltsam und schwierig vor, Richard, aber nach einer Weile wird es dir ebenso leicht erscheinen wie das Hervorrufen der Magie des Schwerts.«

Richard hatte das unangenehme Gefühl, bereits zu wissen, wovon sie sprach. Fast verstand er sogar, was sie sagte. Die Worte klangen vielleicht seltsam, doch sie beschrieben etwas Vertrautes und doch irgendwie anderes.

»Ihr wollt also, daß ich mich einfach hinsetze, die Augen schließe und die Ruhe in meinem Innern suche?«

Sie nickte. »Ja.« Schwester Verna zog den schweren braunen Umhang fester um ihre Schultern. »Bitte fang an.«

Richard atmete hörbar aus. »Also gut.«

Er schloß die Augen. Seine Gedanken schienen sich in alle Richtungen gleichzeitig zerstreuen zu wollen. Er versuchte, sie zu verscheuchen. Er versuchte, an ein Wort oder an ein Bild zu denken, auf das er sich konzentrieren könnte. Als erstes fiel ihm Kahlans Name ein. Er ließ ihn wie eine Flüssigkeit durch seinen Geist fließen. Kahlan. Dann verwarf er die Idee. Er haßte seine Magie, und er wollte sie nicht mit etwas in Verbindung bringen, das er liebte. Außerdem war der Gedanke an sie nur schmerzhaft — schmerzhaft, weil er sie so sehr liebte, weil er ihr gegeben hatte, was sie wollte, weil er sie freigelassen hatte.

Er überlegte sich einfache Worte, einfache Gegenstände, doch nichts davon war für ihn von Bedeutung. Dann ließ er seine Gedanken zur Ruhe kommen und atmete regelmäßig. Er suchte den Frieden in sich selbst, eine ruhige Mitte, so wie er es immer getan hatte, wenn er die Lösung eines Problems herausfinden wollte. In dieser Ruhe versuchte er an ein Bild zu denken, das sich verwenden ließ. Plötzlich schoß es ihm durch den Kopf — fast wie von selbst.

Das Schwert der Wahrheit.

Es war bereits magisch, daher konnte er es nicht mehr schänden. Es war ein einfaches Bild. Es schien die Anforderungen zu erfüllen. Die Sache war entschieden. Das Schwert der Wahrheit sollte es sein.

Richard stellte es sich vor, wie es vor einem schwarzen Hintergrund schwebte. Er betrachtete die Einzelheiten, die er so gut kannte: die polierte Klinge mit der Blutrinne über die gesamte Länge, der aggressive, nach unten gebogene Handschutz, das mit feinem, gedrehtem Silberdraht umwickelte Heft mit dem eingeflochtenen Goldfaden, der in erhabenen Buchstaben das Wort WAHRHEIT bildete.

Als er es sich vor einem schwarzen Hintergrund schwebend vorstellte, es in Gedanken fixierte, spürte er einen Widerstand. Es war der Hintergrund, nicht das Schwert. Rings um das Schwarz gab es einen weißen Rand, der das Schwarz zu einem Quadrat formte. Richard kannte es von früher.

Es war eine der Anleitungen aus dem Buch der Gezählten Schatten, jenem Buch, das er als kleiner Junge auswendig gelernt hatte. Befreie deinen Geist von allen Gedanken, und setze an deren Stelle nichts als das Bild einer weißen Fläche mit einem schwarzen Quadrat in ihrer Mitte. Es war ein Teil der Anleitung für das Entfernen der Deckel von den Kästchen der Ordnung und die Anwendung der Magie des Buches. Er hatte eben diese Magie benutzt, um Darken Rahl zu zeigen, wie man den Deckel eines Kästchens entfernte, um ihm damit zu beweisen, daß er das Buch tatsächlich kannte. Aber wieso tauchte es gerade jetzt in seinen Gedanken auf? Eine zufällige Erinnerung, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnte, entschied er.

Der Hintergrund war so gut wie jeder andere, um das Schwert darauf zu projizieren. Schließlich versuchte er sich in der Anwendung von Magie. Wenn sein Verstand es so wollte, dann sollte es ihm recht sein. Bei diesem Gedanken verfestigte sich das Bild des Schwertes und des quadratischen, schwarzen Hintergrundes mit dem weißen Rahmen drumherum und stand still.

Richard konzentrierte sich auf das geistige Bild des Schwertes vor dem schwarzen Quadrat mit dem weißen Rand. Er konzentrierte sich so stark wie möglich. Dann geschah etwas.

Das Schwert, das schwarze Quadrat und der weiße Rahmen begannen zu flimmern, als ob man sie durch Hitzeschlieren beobachtete. Die festen Umrisse des Schwertes begannen sich aufzulösen. Es wurde durchsichtig, dann war es verschwunden. Der Hintergrund löste sich auf. Richard blickte auf einen Ort, den er kannte.

Den Garten des Lebens im Palast des Volkes.

Richard fand es seltsam und etwas störend, daß er seine Konzentration nicht lange genug aufrechterhalten konnte, um das Bild des Schwertes in seinem Geist festzuhalten. Die Erinnerung an jenen Ort, wo er Darken Rahl getötet hatte, war offenbar so übermächtig, daß sie sich in seine Gedanken gedrängt hatte, als er entspannt gewesen war.

Er wollte gerade das Bild des Schwertes zwingen zurückzukehren, als er etwas roch. Verbranntes Fleisch. Fast wäre ihm die Luft weggeblieben. Ihm drehte sich der Magen um.

Er suchte das Bild des Gartens des Lebens ab. Es war, als schaute man durch eine schmutzige Fensterscheibe. Über den niedrigen Mauern hingen Leichen, gefallen, halb verborgen im Gebüsch und hingestreckt im Gras. Alle waren durch häßliche Brandwunden entstellt. Einige hielten Waffen in den verkohlten Händen, Schwerter oder Streitäxte. Andere lagen mit offenen Händen da, die Waffen neben sich. Eine lähmende Ahnung machte sich in Richards Brust breit.

Richard sah den Rücken einer weißen, leuchtenden Gestalt, die vor einem steinernen Altar stand — vor den drei Kästchen der Ordnung. Eines der Kästchen stand offen, wie Richard sich erinnerte.

Die weiße Gestalt mit dem langen, blonden Haar richtete sich über den Kästchen auf.

Darken Rahl drehte sich um und sah Richard genau in die Augen. Seine blauen Augen waren voller Glut. Ein Lächeln breitete sich langsam auf seinen Lippen aus. Es war, als würde Richard hilflos angezogen. Angezogen von dem grinsenden Gesicht.

Darken Rahl hob eine Hand an seinen Mund und leckte sich die Fingerspitzen. »Richard«, zischelte er. »Ich warte auf dich. Komm und sieh zu, wie ich den Schleier zerreiße.«

Unfähig zu atmen, holte Richard das Bild des Schwertes mit aller Kraft zurück in seine Gedanken — so wie man eine Tür zuwuchtet. Dort hielt er es unverrückbar fest, während er sich zwang, gleichmäßig zu atmen.

Es waren nur eine verirrte Erinnerung und die Angst, die das Bild hervorgerufen hatten, redete er sich ein. Er konzentrierte sich auf das Schwert; das, was er gesehen hatte, existierte doch nicht wirklich, war nur ein Trugbild, ausgelöst durch die Kopfschmerzen, den Verlust von Kahlan, den Mangel an Schlaf.

Das mußte es sein. Es konnte unmöglich echt gewesen sein. Das war einfach ausgeschlossen. Er hätte verrückt sein müssen, um es für wirklich zu halten.

Er öffnete die Augen. Schwester Verna saß ruhig da und beobachtete ihn. Sie seufzte tief — vermutlich aus Mißfallen.

Richard schluckte. »Tut mir leid — nichts passiert.«

»Laß dich nicht entmutigen, Richard. Ich hatte nicht erwartet, daß etwas geschieht. Es dauert lange, bis man lernt, sein Han zu berühren. Es wird passieren, wenn die Zeit gekommen ist. Man kann es nicht beschleunigen. Es bringt auch nichts, es zu sehr zu wollen — es geschieht nur, wenn man den inneren Frieden gefunden hat, man kann es nicht erzwingen. Das langt für heute.«

»Ein paar Minuten. Länger soll ich es nicht versuchen?«

Sie zog eine Braue hoch. »Du hattest deine Augen über eine Stunde lang geschlossen.«

Er starrte sie an, dann blickte er zur Sonne. Sie schien einen Sprung am Himmel gemacht zu haben. Über eine Stunde. Wie war das möglich? Plötzlich kribbelte sein ganzer Körper.

Sie legte den Kopf zur Seite. »Dir kommt es nur wie ein paar Minuten vor?«

Richard stand auf. Der besorgte Ausdruck auf ihrem Gesicht gefiel ihm nicht. »Ich weiß nicht. Ich habe nicht darauf geachtet. Wahrscheinlich hat es sich doch wie eine Stunde angefühlt.«


Er machte sich daran, die paar Dinge wieder einzupacken, die er herausgeholt hatte. Je mehr er darüber nachdachte, was er gesehen hatte, desto unwirklicher kam es ihm vor. Das Gefühl glich zunehmend dem eines Traumes nach dem Aufwachen: die Angst, die scharfen Umrisse, die Unmittelbarkeit ließen immer mehr nach. Er kam sich töricht vor, weil er sich von einem Traum so hatte ängstigen lassen.

Von einem Traum? Er hatte nicht geschlafen. Wie hätte er träumen sollen, wenn er wach gewesen war.

Vielleicht war er gar nicht wach gewesen. Er war todmüde gewesen. Vielleicht war er eingeschlafen, als er dagesessen und sich auf das Schwert konzentriert hatte. So schlief er manchmal ein: indem er sich auf etwas konzentrierte, bis er wegdämmerte. Das war die einzige Erklärung dafür, daß die Zeit so schnell verstrichen war. Er hatte geschlafen, und alles andere war ein Traum gewesen.

Er seufzte. Er kam sich dumm vor, weil er sich so gefürchtet hatte, gleichzeitig war er aber auch erleichtert. Als er sich umdrehte, sah Schwester Verna ihn noch immer an.

»Möchtest du dich jetzt rasieren? Jetzt, wo ich dir gezeigt habe, daß ich dir nur helfen will?«

Richard richtete sich auf. »Ich hab’ es schon gesagt: Gefangene rasieren sich nicht.«

»Du bist kein Gefangener, Richard.«

Er verstaute seine Decke. »Werdet Ihr mir den Halsring abnehmen?«

Ihre Antwort kam bedächtig, aber entschlossen. »Nein. Erst wenn es an der Zeit ist.«

»Kann ich fort — und gehen, wohin ich will?«

Sie stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. »Nein. Du mußt mit mir kommen.«

»Und wenn ich es nicht tue und versuche, Euch zu verlassen?«

Sie kniff die Augen ein wenig zusammen. »Dann wäre ich gezwungen, es zu verhindern. Du würdest feststellen, daß dir das nicht gefällt.«

Richard nickte ernst. »Das entspricht genau meiner Definition eines Gefangenen. Solange ich Gefangener bin, werde ich mich nicht rasieren.«

Die Pferde wieherten, als er sich ihnen näherte, und stellten die Ohren in seine Richtung. Schwester Verna musterte sie voller Argwohn. Er erwiderte die Begrüßung der Tiere mit ein paar sanften Worten und kraulte sie am Hals. Er holte die Bürsten hervor und striegelte die beiden kurz, wobei er ihrem Rücken besondere Beachtung schenkte.

Schwester Verna verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum tust du das? Du hast sie erst gestern abend gestriegelt.«

»Weil Pferde sich gern im Staub wälzen. Möglicherweise bleibt an der Stelle, wo sie gesattelt waren, etwas hängen. Das fühlt sich in etwa so an, als würde man mit einem Stein im Schuh herumlaufen, nur schlimmer. Sie könnten davon eine wunde Stelle bekommen, und wir könnten sie nicht mehr reiten. Deshalb sehe ich sie mir genau an, bevor ich sie sattle.«

Als er fertig war, reinigte er die Bürsten aneinander. »Wie heißen sie eigentlich?«

Schwester Verna warf ihm einen finster säuerlichen Blick zu. »Sie haben keine Namen. Es sind doch nur Pferde. Wir geben dummen Tieren keine Namen.«

Er deutete mit dem Striegel auf den kastanienbraunen Wallach. »Nicht einmal Eurem eigenen?«

»Das ist nicht mein eigenes. Sie alle gehören den Schwestern des Lichts. Ich reite das, das gerade frei ist. Den Rotbraunen, den du gestern geritten hast, habe ich geritten, bevor du mich begleitet hast, aber das macht keinen Unterschied. Ich reite einfach das Tier, welches gerade frei ist.«

»Nun, von jetzt an werden sie jedenfalls Namen haben. Um sie nicht zu verwechseln. Eures ist der Kastanienbraune — und er wird Jessup heißen, meinen Rotbraunen werde ich Bonnie nennen, und der andere Rotbraune ist Geraldine.«

»Jessup, Bonnie, Geraldine«, meinte sie verächtlich. »Ohne Zweifel aus Die Abenteuer der Bonnie Day

»Freut mich zu hören, daß Ihr außer Prophezeiungen auch noch etwas anderes lest, Schwester Verna.«

»Wie ich dir bereits gesagt habe, wer mit der Gabe in den Palast gebracht wird, ist gewöhnlich jung. Ein Knabe hat Die Abenteuer der Bonnie Day mitgebracht. Ich habe es gelesen, um festzustellen, ob es für junge Leser geeignet ist und ob es gute moralische Lehren enthält. Ich stellte fest, daß es die lächerliche Geschichte dreier Leute war, die keinerlei Schwierigkeiten gehabt hätten, wäre auch nur einer von ihnen mit Verstand gesegnet gewesen.«

Richard lächelte verhalten. »Dann sind die Namen für ›dumme Tiere‹ ja genau passend.«

Sie blickte ihn finster an. »Das Buch hatte keinen geistigen Wert. Es hatte überhaupt keinen Wert. Ich habe es verbrannt.«

Richards Lächeln wollte sich verflüchtigen, doch das ließ er nicht zu. »Mein Vater … jedenfalls der Mann, der mich großgezogen hat und der für mich mein Vater ist, George Cypher — nun, er war viel unterwegs. Einmal kam er nach Hause und brachte mir die Abenteuer der Bonnie Day mit — als Geschenk, damit ich lesen lernte. Es war mein allererstes Buch. Ich habe es viele Male gelesen. Es hat mir Freude gemacht und mich zum Nachdenken gebracht — jedesmal, wenn ich es gelesen habe. Ich fand auch, daß die drei Helden tollkühne Dinge taten, und schwor jedesmal, nicht die gleichen Fehler zu machen wie sie. Vielleicht habt Ihr keinen Wert darin entdecken können, ich habe aber einige Dinge daraus gelernt. Wertvolle Dinge. Es hat mir zu denken gegeben. Vielleicht wollt Ihr nicht, Schwester Verna, daß Eure Studenten das tun?«

Er wandte ihr den Rücken zu und machte sich daran, das Zaumzeug auseinanderzunehmen. »Mein richtiger Vater, Darken Rahl, kam zu meinem Haus, erst in diesem Herbst, und hat nach mir gesucht. Er wollte mir den Leib aufschlitzen, um in meinen Eingeweiden zu lesen — um mich zu töten. Genau wie er George Cypher getötet hat.« Er warf einen raschen, verstohlenen Blick über die Schulter. »Jedenfalls war ich nicht zu Hause, und während er auf mich wartete, hat er dieses Buch in Stücke gerissen und überall mit den Seiten um sich geworfen. Vielleicht wollte er nicht, daß ich irgend etwas daraus lerne oder es mich zum Nachdenken bringt.«

Schwester Verna sagte nichts, doch er spürte, wie sie ihn beim Auseinandernehmen des Zaumzeugs beobachtete, beim Lösen des Kopfgeschirrs und der Zügel von den Kandaren. Nachdem er alles zerlegt hatte, packte er das Kopfgeschirr fort und warf die Zügel über seine Schulter.

Er hörte, wie sie leise, aber hörbar verärgert ausatmete. »Ich werde keine Pferde beim Namen nennen.«

Richard stapelte die drei Breitkandaren aufeinander in den Staub, wo die Pferde den Boden kahlgescharrt hatten.

»Vielleicht wollt Ihr die Weisheit dieses Entschlusses noch einmal überdenken, Schwester Verna.«

Sie stellte sich neben ihn, wo er sie sehen konnte, und zeigte auf den Boden. »Was tust du da? Wieso hast du das Zaumzeug auseinandergenommen? Was hast du mit diesen Kandaren vor?«

Richard zog das Schwert. Sein unverkennbares Klirren füllte die kalte, klare Luft. Der Zorn der Magie strömte augenblicklich in seinen Körper. »Ich zerstöre sie, Schwester.«

Mit einem wütenden Aufschrei und bevor sie eine Bewegung machen konnte, brachte er das Schwert mit mächtigem Hieb nach unten. Die Spitze senkte sich pfeifend durch die Luft. Die Klinge zertrümmerte die drei Kandaren und ließ heiße Metallsplitter herumfliegen.

Sie kam mit wehendem Gewand herangestürmt. »Was ist los mit dir! Hast du den Verstand verloren? Wir brauchen die Kandaren, sonst haben wir die Pferde nicht in der Gewalt!«

»Breitkandaren sind grausam. Ich lasse nicht zu, daß Ihr sie benutzt.«

»Grausam! Das sind doch nur dumme, wilde Tiere! Wilde Tiere, die man in der Gewalt haben muß!«

»Wilde Tiere«, murmelte er und schüttelte den Kopf, während er das Schwert in die Scheide zurückgleiten ließ. Er lockerte das Halfter bei Bonnie und begann, die Zügel an den Seitenringen zu befestigen. »Man braucht keine Kandare, um sein Pferd in der Gewalt zu haben. Ich werde Euch zeigen, wie es geht. Außerdem können sie mit einer Kandare im Maul nicht fressen, solange wir unterwegs sind. So werden sie sich wohler fühlen.«

»Aber das ist gefährlich! Eine Kandare gibt einem die Gewalt über ein störrisches Tier.«

Er zog eine Braue hoch und blickte sie an. »Bei Pferden, wie in vielen anderen Situationen auch, bekommt man oft genau das, was man erwartet, Schwester.«

»Ohne Kandare hat man sie nicht in der Gewalt.«

»Unsinn. Wenn man vernünftig reitet, kann man sie mit dem Körper und den Beinen lenken. Man braucht den Pferden bloß beizubringen, darauf zu achten und einem zu vertrauen.«

Sie trat ganz dicht an ihn heran. »Das ist Unsinn! Und gefährlich! Hier draußen lauern Gefahren. Wenn man in eine gefährliche Situation gerät und das Pferd bekommt Angst, kann es durchgehen. Ohne eine Breitkandare kann man ein durchgehendes Pferd nicht zurückhalten.«

Er zögerte und blickte in ihre stechend braunen Augen. »Manchmal, Schwester, erzielen wir das Gegenteil von dem, was wir beabsichtigen. Wenn wir in eine gefährliche Situation geraten und Ihr reißt aus Übereifer zu fest an einer Breitkandare, könnt Ihr dem Pferd das Maul aufreißen. Dabei können der Schmerz, der Schrecken und der Zorn so gewaltig werden, daß es auf keine Eurer Anweisungen mehr reagiert. Es wird das nicht verstehen. Es wird nur noch wissen, daß Ihr ihm weh getan habt und mit jedem Ziehen am Zügel noch mehr weh tut. Dann seid Ihr die Bedrohung. Es wird Euch im Nu abwerfen.

Wenn das Pferd dann einfach nur verängstigt ist, wird es durchgehen. Wenn es schlimmer kommt, ist es wütend. Wütende Pferde sind gefährlich. Statt die Gefahr mit einer Breitkandare zu vermeiden, beschwört Ihr sie selbst herauf.« Er blickte ihr in die verblüfften Augen. »Wenn wir durch eine Ortschaft kommen und eine Gelenktrense finden, könnt Ihr die benutzen. Aber solange ich bei Euch bin, werde ich nicht zulassen, daß Ihr irgendeinem Pferd eine Breitkandare anlegt.«

Sie atmete tief durch, während sie erneut ihre Arme verschränkte. »Richard, ohne Kandare können wir sie nicht unter Kontrolle halten. So einfach ist das.«

Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Doch, das können wir. Ich werde es Euch beibringen. Das Schlimmste, was einem ohne Kandare passieren kann, ist, daß das Pferd mit einem durchgeht und es eine Weile dauert, bis man es zum Stehen bringt, früher oder später jedoch wird es gelingen. Auf Eure Art könntet Ihr oder das Pferd Euch verletzen — oder sogar töten.«

Er drehte sich um und kraulte Bonnies Hals. »Als erstes müßt Ihr Euch mit ihnen anfreunden. Sie müssen darauf vertrauen, daß Ihr ihnen nicht weh tut oder sie in Gefahr bringt, obwohl Ihr das Sagen habt. Seid Ihr erst mal ihr bester Freund, werden sie nicht mehr zulassen, daß Euch etwas zustößt. Sie werden tun, was Ihr verlangt. Es ist so einfach. Man braucht nichts weiter als ein wenig Respekt und Freundlichkeit — und eine starke Hand. Wenn sie Euer bester Freund werden sollen, dann brauchen sie einen Namen, damit man ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkt und sie wissen, daß man mit ihnen spricht.«

Er kraulte weiter und merkte, wie das Pferd es genoß. »Stimmt das etwa nicht, Bonnie? Du bist ein gutes Mädchen, was? Klar bist du das.« Er warf einen Blick über die Schulter auf die Schwester. »Jessup mag es, wenn Ihr ihn unter dem Kinn krault. Versucht es mal, zeigt ihm, daß Ihr Euch mit ihm anfreunden wollt.« Er grinste sie ohne Freude an. »Ob es Euch gefällt oder nicht, Schwester, die Kandaren sind kaputt. Ihr müßt eine andere Art des Reitens lernen.«

Schwester Verna warf ihm einen kalten Blick zu. Schließlich faltete sie die Arme auseinander und ging zu dem kastanienbraunen Wallach. Sie blieb einen Augenblick lang vor ihm stehen, dann streckte sie die Hand aus und streichelte ihn seitlich am Kopf, bis sie schließlich ihre Hand unter sein Kinn legte, um ihn zu kraulen. »So ein guter Junge«, meinte sie lustlos.

»Ihr denkt vielleicht, Pferde sind dumm, Schwester, weil sie die meisten Eurer Worte nicht verstehen. Aber sie verstehen den Klang Eurer Stimme. Wenn Ihr wollt, daß er Euch glaubt, dann tut wenigstens so, als ob Ihr es ernst meint.«

Sie schob ihre Hand nach oben und strich ihm über den Hals. »Du dummes Tier«, meinte sie in honigsüßem Ton. »Zufrieden?« fauchte sie über ihre Schulter.

»Solange Ihr nett zu ihm seid. Ihr müßt sein Vertrauen gewinnen. Pferde sind nicht so dumm, wie Ihr denkt. Seht doch, wie er steht. Er vertraut Euch nicht. Von jetzt an teile ich Euch Jessup zu. Ihr werdet Euch um all seine Belange kümmern. Er muß sich ganz auf Euch verlassen, Euch vertrauen. Ich kümmere mich um Bonnie und Geraldine. Ihr werdet die einzige sein, die Jessup striegelt, und Ihr werdet es nach dem Reiten tun und vor dem Reiten am nächsten Morgen.«

»Ich! Das werde ich ganz bestimmt nicht tun! Ich habe hier das Sagen. Du bist durchaus in der Lage, alle drei zu striegeln, und das wirst du auch tun!«

»Hier geht es nicht darum, wer das Sagen hat. Striegeln hilft unter anderem dabei, zwischen Euch und dem Pferd Vertrauen herzustellen. Ich habe es Euch schon erklärt: die Kandaren sind kaputt, Ihr müßt eine neue Art lernen, mit den Pferden umzugehen. Ich muß Euch zeigen, wie es geht, schon zu Eurer eigenen Sicherheit.« Er reichte ihr einen Satz Zügel. »Zieht das Halfter fest und befestigt das hier an diesem Ring.«

Während sie damit beschäftigt war, schnitt er die übriggebliebene Melonenrinde in kleine Stücke. »Redet mit ihm. Nennt ihn beim Namen und zeigt ihm, daß Ihr ihn mögt. Was Ihr sagt, ist ganz egal, aber achtet darauf, daß es klingt, als wäre er Euch wichtig. Verstellt Euch, wenn es nicht anders geht, behandelt ihn wie einen von Euren kleinen Knaben.«

Sie warf ihm einen wütenden Blick über die Schulter zu, dann machte sie sich wieder daran, die Zügel einzuhaken. Sie fing an zu sprechen, leise, damit Richard sie nicht hören konnte, aber er merkte, daß es liebevoll klang. Als sie fertig war, gab er ihr ein Stück Melonenrinde.

»Pferde sind verrückt danach. Gebt ihm ein Stück, sagt ihm, was für ein guter Junge er ist. Er soll ein anderes Gefühl für das Anlegen der Zügel bekommen. Zeigt ihm, daß jetzt etwas Angenehmes kommt — und nicht die Kandare, die er haßt.«

»Etwas Angenehmes«, wiederholte sie tonlos.

»Sicher. Ihr braucht ihm nicht zu zeigen, wie sehr Ihr ihm weh tun könnt, damit er tut, was Ihr wollt. Damit erreicht man nur das Gegenteil. Seid einfach entschlossen, aber sanft. Der Gedanke ist der, ihn mit Freundlichkeit und Verständnis zu gewinnen, selbst wenn das nicht ganz aufrichtig ist, und nicht nur Gewalt.«

Richards Lächeln verschwand, und er verzog das Gesicht zu einem wütenden Blick. Er beugte sich näher über sie, während sie dastand und zu ihm hinaufsah. »Das solltet Ihr eigentlich können, Schwester Verna — Ihr scheint recht gut darin zu sein. Behandelt ihn einfach so, wie Ihr mich behandelt.«

Ihr verblüffter Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Ich habe bei meinem Leben geschworen, dich in den Palast der Propheten zu bringen. Wenn du dort ankommst, fürchte ich, wird man mich dafür hängen, daß ich meine Pflicht getan habe.«

Damit drehte sie sich um und gab dem begeisterten Pferd seine Melonenrinde, streichelte ihm den Hals und munterte es mit einem mütterlichen Klaps auf. »So ein guter Junge. Guter Junge. Magst du das, Jessup? Guter Junge.«

Ihre Stimme troff von Mitgefühl und Zärtlichkeit. Dem Pferd gefiel’s. Richard wußte, daß es nicht aufrichtig war. Er mißtraute ihr und wollte, daß sie das wußte. Er mochte es nicht, wenn Menschen glaubten, sie könnten ihn leicht täuschen. Er fragte sich, ob ihre Haltung ihm gegenüber sich jetzt ändern würde, nachdem er ihr gezeigt hatte, daß er ihre Schauspielerei nicht einfach hinnahm.

Kahlan hatte ihm erklärt, Schwester Verna sei eine Magierin. Er hatte keine Ahnung, zu was sie fähig war, doch das Netz, das sie im Haus der Seelen über ihn geworfen hatte, das hatte er gespürt. Er hatte gesehen, wie sie das Feuer nur durch Gedankenkraft entzündet hatte. Sie hätte mit Leichtigkeit am Abend zuvor selbst ein Feuer anzünden können — ohne es von ihm zu verlangen. Er hatte den starken Verdacht, daß sie ihn mit ihrem Han in Stücke brechen konnte, wenn ihr danach war.

Sie versuchte nur, ihn auszubilden — ihn daran zu gewöhnen, ohne nachzudenken, das zu tun, was sie sagte. Wie man ein Pferd abrichtete. Oder ein ›wildes Tier‹, wie sie sich ausgedrückt hatte. Er bezweifelte, daß sie mehr Achtung von ihm hatte als vor ihren Pferden.

Doch statt der Breitkandare hatte sie den Rada’Han um seinen Hals, mit dem sie ihn kontrollieren konnte — und das war wesentlich schlimmer. Aber er würde ihn wieder loswerden, wenn die Zeit gekommen war. Selbst wenn Kahlan ihn nicht mehr wollte und ihn fortgeschickt hatte, er würde dieses Ding loswerden.

Während Schwester Verna damit beschäftigt war, sich mit Jessup anzufreunden, machte Richard sich daran, die Pferde zu satteln. »Wie weit ist es bis zum Palast der Propheten?«

»Es ist ein langer Ritt nach Südosten. Ein langer und schwieriger Ritt.«

»Nun, dann werdet Ihr reichlich Zeit haben, zu lernen, wie man Jessup ohne Kandare führt. Es wird Euch gar nicht so schwer fallen, wie Ihr denkt. Er wird sich Bonnie unterordnen und ihr folgen. Bonnie ist das Leittier.«

»Das Männchen ist immer das Leittier.«

Richard legte Bonnie den Sattel auf. »Eine Stute steht immer ganz oben in der Hierarchie. Die Muttertiere unterrichten und beschützen die Fohlen — ihr Einfluß währt ein ganzes Leben. Eine Stute kann jeden unwillkommenen Hengst verscheuchen. Ein Hengst vertreibt vielleicht ein Raubtier von der Herde, eine Stute dagegen wird es jagen und zu töten versuchen. Ein männliches Tier wird sich immer der Leitstute unterwerfen. Bonnie ist die Leitstute. Jessup und Geraldine werden ihr folgen und ihr alles nachmachen, daher werde ich die Führung übernehmen. Reitet mir einfach hinterher, dann werdet Ihr keine Schwierigkeiten bekommen.«

Sie schwang sich in den Sattel. »Am Balken in der Haupthalle. Das ist der höchste.«

»Wovon sprecht Ihr?«

Sie warf ihm einen ernsten Blick zu. »Der Balken in der Haupthalle. Dort werden sie mich wahrscheinlich aufhängen.«

Richard schwang sich in den Sattel. »Die Wahl liegt bei Euch, Schwester. Ihr braucht mich nicht dorthin zu bringen.«

Sie seufzte. »Doch, ich muß.« Sie warf ihm einen äußerst sanften und besorgten Blick zu. Er fand ihn recht überzeugend, wenn auch ein wenig angestrengt. »Richard, ich will nichts weiter als dir helfen. Ich will deine Freundin sein. Ich denke, du brauchst jetzt eine Freundin. Sehr sogar.«

Richard sträubte sich innerlich. »Ein freundliches Angebot, Schwester Verna. Aber ich lehne ab. Ihr habt es ein wenig zu eilig, das Messer, das Ihr in Eurem Ärmel versteckt, Euren Freunden in den Rücken zu jagen. Hat es Euch eigentlich überhaupt nichts ausgemacht, Schwester Elizabeth, einer Freundin und Gefährtin, das Leben zu nehmen? Es sah nicht so aus. Ich weigere mich, Euch meine Freundschaft anzubieten, Schwester — oder meinen Rücken.

Wenn Ihr es ernst meint und Ihr meine Freundin sein wollt, dann möchte ich Euch dringend raten, Euch ehrlich darum zu bemühen, und zwar, bevor ich Euch auffordere, es zu beweisen. Wenn die Zeit kommt, werdet Ihr nur eine einzige Chance bekommen. In dieser Sache gibt es nur ein Entweder — Oder. Nur Freund und Feind. Freunde halten einen Freund weder mit einem Halsring fest noch als Gefangenen. Ich habe die Absicht, diesen Halsring loszuwerden. Wenn ich beschließe, daß es an der Zeit ist, wird mir jeder Freund helfen. Wer sich mir in den Weg stellt, ist dann eben nicht mein Freund — sondern ein toter Feind.«

Schwester Verna schüttelte den Kopf und drängte Jessup hinter ihn, als er aufbrach. »Der Balken in der Haupthalle. Ganz sicher.«

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