Kahlan saß nackt im Kreis mit acht nackten Männern. Richard saß zu ihrer Linken, wie sie und die Ältesten bis auf einen kleinen Kreis mitten auf der Brust mit schwarzem und weißem Schlamm bemalt. Im schwachen Schein des kleinen Feuers hinter ihr konnte sie das wilde Durcheinander von Linien und Kreisen erkennen, das sich diagonal über sein Gesicht erstreckte. Alle trugen die gleiche Maske, damit die Seelen der Ahnen sie erkennen konnten. Sie fragte sich, ob sie ihm genauso wild vorkam wie er ihr. Der unvertraute, beißende Geruch des Feuers stach ihr in die Nase. Keiner der Ältesten kratzte sich. Sie schienen nur ins Nichts zu starren und sprachen heilige, an ihre Ahnen gerichtete Worte.
Die Tür schloß sich von selbst mit lautem Krachen. Kahlan erschrak.
Der Vogelmann hob den Kopf und sah sie mit kühlen Augen an. »Von jetzt an, bis wir fertig sind, darf niemand herein und niemand hinaus. Die Seelen haben die Tür versperrt.«
Die Vorstellung, dies könnte, wie Richard behauptet hatte, eine Falle sein, behagte Kahlan überhaupt nicht. Sie drückte seine Hand noch fester. Er erwiderte den Händedruck. Wenigstens konnte sie bei ihm sein. Hoffentlich konnte sie ihn beschützen. Hoffentlich konnte sie den Blitz herbeirufen, wenn es nötig war.
Der Vogelmann fischte einen Frosch heraus und reichte den geflochtenen Korb dann weiter an den nächsten Ältesten. Kahlan starrte die Schädel an, die man im Kreis um den Mittelpunkt angeordnet hatte, während jeder der Ältesten einen Frosch herausnahm und dessen Rücken über die nackte Stelle auf seiner Brust rieb. Dabei warfen sie den Kopf in den Nacken und stimmten einen Sprechgesang an — jeder einen anderen. Savidlin reichte ihr den Korb, ohne sie anzusehen.
Sie schloß die Augen, griff hinein und hatte schließlich einen zappelnden Seelenfrosch in der Hand. Seine glatte, schleimige Haut war ekelhaft. Sie schluckte, riß ihre Konfessorenkraft in Gedanken zusammen, um sie nicht unbeabsichtigt freizusetzen, dann preßte sie sich den Froschrücken zwischen ihre Brüste und reichte den Korb weiter zu Richard.
Ein kribbelndes Ziehen spannte ihre Haut. Sie ließ den Frosch los und griff wieder nach Richards Hand, als die Wände zu schwanken begannen, so als sähe man sie durch Hitze und Rauch. Ihr Verstand mühte sich vergeblich, die Bilder des Seelenhauses ringsum festzuhalten. Sie schwebten davon, gleichzeitig spürte sie, wie sie selbst um die Schädel zu kreisen begann.
Ein Gefühl von Sanftheit umschmeichelte ihre Haut. Licht sprang tanzend aus den Schädeln in der Mitte und füllte ihre Augen. Das Geräusch von Boldas, Trommeln und Gesang drang an ihre Ohren. Der beißende Geruch des Feuers füllte ihre Lunge. Wie schon einmal wurde das Licht aus der Mitte heller, sog sie in sich auf, in seine seidene Leere, und wirbelte sie herum.
Und plötzlich waren sie von Gestalten umgeben. Kahlan kannte sie ebenfalls vom letzten Mal: es waren die Seelen der Vorfahren. Sie spürte eine hauchzarte Berührung an der Schulter: eine Hand, die Hand einer Seele.
Der Mund des Vogelmannes bewegte sich, doch es war nicht seine Stimme, die sprach. Es waren die vereinten Stimmen der Ahnenseelen, tonlos, hohl. Tot.
»Wer beruft diese Versammlung ein?«
Kahlan beugte sich zu Richard hinüber und sagte leise: »Sie wollen wissen, wer die Versammlung einberufen hat.«
Er nickte. »Ich. Ich habe diese Versammlung einberufen.«
Die Berührung löste sich von ihrer Schulter, und die Seelen schwebten von hinten in die Mitte des Kreises.
»Sag deinen Namen.« Beim Echo ihrer Stimmen kräuselte sich die Haut ihrer Arme schmerzhaft. »Deinen vollen und wahrhaftigen Namen. Wenn du ganz sicher bist, daß du diese Versammlung trotz aller Gefahr willst, dann äußere nach deinem Namen deine Bitte. Du erhältst nur diese eine Warnung.«
Richard lauschte ihrer Übersetzung starren Blicks. »Richard, bitte…«
»Ich muß.« Er richtete seinen Blick wieder auf die Seelen in der Mitte und atmete tief durch. »Ich heiße Richard…« Er mußte schlucken und schloß kurz die Augen. »Ich heiße Richard Rahl, und ich bitte um diese Versammlung.«
»So sei es denn«, war ein hohles Flüstern zu vernehmen.
Die Tür zum Seelenhaus öffnete sich mit einem lauten Krachen.
Kahlan fuhr mit einem leisen Schrei hoch. Sie spürte, wie auch Richards Hand zuckte. Die Tür stand offen, ein schwarzer Schlund im weichen Licht, das sie umgab. Alle Ältesten hatten den Kopf gehoben, ihre Augen hatten nicht mehr diesen glasigen, fernen Blick. Sie schienen verwirrt, wie benommen.
Dann kamen die Stimmen der Seelen zurück, diesmal nicht durch die Ältesten, sondern aus der Mitte, von den Seelen selbst. Ihr Klang war noch schmerzhafter als zuvor.
»Alle bis auf den, der die Seelen der Verstorbenen ruft, dürfen gehen. Geht, solange ihr noch könnt. Hört auf unsere Warnung. Wer bleibt, riskiert, seine Seele zu verlieren.« Sie drehten sich wie ein Mann zu Richard um. Ihre Stimmen waren ein Zischen. »Du darfst nicht gehen.«
Verängstigt wechselten die Ältesten hektische Blicke, während Kahlan für Richard übersetzte. Sie wußte: So etwas war noch nie vorgekommen.
»Alles raus«, zischte Richard leise. »Sorge dafür, daß alle verschwinden. Ich will nicht, daß jemandem etwas zustößt.«
Kahlan sah die sorgenvolle Blicke des Vogelmannes. »Bitte, ihr müßt alle sofort gehen. Solange ihr noch könnt. Wir möchten nicht, daß einem von euch etwas zustößt.«
Die Ältesten musterten den Vogelmann. Er starrte Kahlan einen Augenblick lang an, warf einen knappen Blick auf Richard, dann wieder auf sie.
»Ich kann euch keine Hilfe bieten, Kind. Das ist noch nie vorgekommen. Ich weiß nicht, was es bedeutet.«
Kahlan nickte. »Ich verstehe. Geht jetzt, bevor es zu spät ist.«
Savidlin legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, dann verschwanden die Ältesten durch das schwarze Nichts der Türöffnung. Sie saß mit Richard und den Seelen allein in der Stille.
»Kahlan, ich will, daß du auch nach draußen gehst. Geh. Sofort.« Seine Stimme klang ruhig, fast kalt. Angst tanzte in seinen Augen. Und Magie.
Sie betrachtete sein Gesicht, während er die Seelen anstarrte.
»Nein«, meinte sie leise. Sie wandte sich wieder der Mitte zu. »Ich werde dich nicht verlassen. Aus welchem Grund auch immer. Auch wenn die Worte noch nicht über uns gesprochen sind, so sind wir durch meine Magie in unseren Herzen miteinander vereint. Wir sind eins. Was dem einen passiert, passiert beiden. Ich bleibe.«
Richard sah nicht herüber. Er starrte weiter die Seelen an, die in der Mitte des Raumes kreisten, über den Schädeln. Sie hatte erwartet, er würde sie anschreien, damit sie ging. Er tat es nicht. Seine Stimme war sanft und gütig.
»Danke. Ich liebe dich, Kahlan Amnell. Also zusammen.«
Die Tür schloß sich mit einem Knall.
Kahlan fuhr hoch, und ein leiser Schreckenslaut entwich ihrer Kehle, bevor sie es verhindern konnte. Sie konnte ihren Puls in den Ohren hören. Der Versuch, ihren Atem zu beruhigen, mißlang. Statt dessen mußte sie schlucken.
Das Bild der Seelen verblaßte. »Wir können nicht Zeuge dessen werden, was du herbeigerufen hast, Richard Rahl. Es tut uns leid.«
Ihre Gestalten schienen vor ihren Augen zu verdampfen. Mit ihrem Verschwinden erlosch auch das Licht, und die beiden blieben in völliger Dunkelheit zurück. Sie hörte das leise Knistern des Feuers weit hinter dieser Finsternis, Richards schnellen Atem — und sonst nichts. Richards Hand fand ihre. Sie saßen zusammen in völliger Dunkelheit, alleine, nackt.
Kahlan wollte gerade anfangen zu denken — zu hoffen –, daß nichts passieren würde, als sie ein leichtes Glimmen vor sich bemerkte. Ein Licht begann zu glühen.
Ein grünes Licht.
Ein grüner Lichtschein von einer Farbe, wie sie ihn erst an einem einzigen Ort gesehen hatte.
In der Unterwelt.
Ihr Atem ging in unregelmäßigen Zügen. Das grüne Licht wurde heller, und mit ihm wurde ein entferntes Klagen laut.
Aus der Luft ringsum erhob sich ein ohrenbetäubendes Krachen, wie von einem Donnerschlag, unvermittelt, hart und schmerzhaft. Der Boden erzitterte unter dem Aufprall.
Mitten aus dem grünen Licht quoll ein weißlicher Schein, um sich dann zu einer Gestalt zu formen, die vor ihnen stehenblieb. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf und erstarrten.
Die weiße Gestalt kam einen Schritt näher. Nur von ferne spürte Kahlan, wie schmerzhaft Richards Händedruck geworden war. Kahlan erkannte das weiße Gewand, das lange Blondhaar, das schmerzhaft schöne Gesicht, das vor ihnen stand und dieses kleine, grauenhafte Lächeln lächelte.
»Die guten Seelen mögen uns beschützen«, hauchte sie.
Es war Darken Rahl.
Genau gleichzeitig erhoben sich Richard und Kahlan langsam auf die Beine. Die leuchtenden blauen Augen verfolgten, wie sie sich erhoben. Entspannt, ohne Eile, hob Darken Rahl eine Hand und leckte sich die Fingerspitzen.
»Vielen Dank, Richard, daß du mich zurückgerufen hast.« Sein grausames Lächeln wurde breiter. »Wie umsichtig von dir.«
»Ich … ich habe dich nicht zurückgerufen«, brachte Richard leise hervor.
Darken Rahl lachte leise in sich hinein. »Und wieder machst du einen Fehler. Natürlich hast du mich zurückgerufen. Du hast eine Versammlung einberufen. Eine Versammlung der Ahnenseelen. Ich bin dein Ahne. Nur du hast mich zurückrufen können, durch den Schleier hindurch. Du allein.«
»Ich brandmarke dich.«
»Brandmarke mich, soviel du willst.« Er breitete die Arme aus, im weißen Licht, das ihn umgab. »Ich bin noch immer hier.«
»Aber ich habe dich getötet.«
Die leuchtende, strahlende, weiß gewandete Gestalt lachte erneut. »Mich umgebracht? Das hast du allerdings. Und du hast Magie benutzt, um mich an einen anderen Ort zu schicken. An einen Ort, wo ich bekannt bin. Einen Ort, wo ich … Freunde habe. Und nun hast du mich zurückgerufen. Wiederum mit Hilfe von Magie. Nicht einfach nur zurückgerufen, Richard, sondern du hast dafür den Schleier weiter aufgerissen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Nimmt deine Dummheit denn überhaupt kein Ende?«
Darken Rahl kam auf Richard zu, er schien gleichzeitig zu schweben und zu laufen. Richard ließ Kahlans Hand los, während er zurückwich. Sie schaffte es nicht, ihre Beine in Bewegung zu setzen und ihm zu folgen.
Richard hatte die Augen weit aufgerissen. »Ich habe dich umgebracht. Ich habe dich besiegt. Ich habe gewonnen und du verloren.«
Der blonde Kopf nickte langsam. »Du hast eine kleine Schlacht in einem immerwährenden Krieg gewonnen, indem du die Gabe und das Erste Gesetz der Magie angewandt hast. In deiner Unwissenheit jedoch hast du das Zweite Gesetz der Magie verletzt und dadurch alles verloren.« Sein boshaft bedächtiges Lächeln kam zurück. »Wie überaus schade. Hat dir das denn nie jemand erklärt? Magie ist gefährlich. Ich hätte es dir beibringen können. Hätte alles mit dir teilen können.« Er zuckte mit den Achseln. »Aber das spielt keine Rolle. Du hast mir geholfen zu gewinnen, dabei hat dir nicht mal jemand gezeigt, wie. Ich könnte nicht stolzer auf dich sein.«
»Was ist das Zweite Gesetz der Magie? Was habe ich nur getan!«
Rahl zog die Augenbrauen hoch und trat einen Schritt näher.
»Was, du kennst es nicht, Richard? Solltest du aber«, fügte er leise hinzu. »Du hast es heute ein zweites Mal gebrochen. Und dadurch, daß du es ein zweites Mal gebrochen hast, hast du den Schleier erneut eingerissen und mich hergeholt, damit ich ihn ganz aufreißen und den Hüter befreien kann.« Sein spöttisches Grinsen kehrte zurück. »Und alles ganz allein.« Er lachte höhnisch. »Mein Sohn. Du hättest dich niemals in Dinge einmischen sollen, die du nicht begreifst.«
»Was willst du!«
Rahl schwebte noch näher heran. »Dich, mein Sohn. Dich.« Seine Hand kam auf Richard zu. »Du hast mich in eine andere Welt geschickt, und nun werde ich dich dorthin schicken. Du bist dem Hüter versprochen. Er will dich. Du gehörst ihm.«
Ohne es zu bemerken, hatte Kahlan die Faust gehoben und in ihrem tiefsten Innern den Con Dar ausgelöst. Wut machte sich explosionsartig in ihrem Innern breit, und ein blauer Blitz schoß aus ihrer Faust. Die dunkle Leere ringsum wurde von einer Raserei aus Licht und Lärm fortgerissen, die den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ. Das Haus der Seelen war wieder da, hell erleuchtet von dem bläulichen Lichtbogen, der bis zu Darken Rahl hinüberreichte.
Mühelos hob er die Hand und wehrte den Angriff ab. Der Lichtblitz spaltete sich. Ein Strahl barst krachend durch das Dach, schoß in den schwarzen Himmel und hinterließ einen Regen aus Ziegelsplittern. Der zweite Teilstrahl schlug im Boden ein, und Staub spritzte in alle Richtungen auf.
Darken Rahls und ihr Blick trafen sich. Seine Augen brannten sich ihr in die Seele. Er hatte das boshafteste Grinsen im Gesicht, das sie je gesehen hatte. Es schien jede Faser ihres Seins zu quälen. Sie versuchte noch einmal, ihre Kraft herbeizurufen, doch nichts geschah. Er hatte irgend etwas getan. Kahlan versuchte es, konnte aber keinen Muskel rühren. Richard schien ebenso gelähmt zu sein wie sie.
Ihre Welt brach mit beängstigender Geschwindigkeit zusammen. Richard, heulte sie in Gedanken auf. Mein Richard. Geliebte Seelen, laßt das nicht zu.
Wutentbrannten Blicks gelang es Richard, einen Schritt nach vorn zu machen, Darken Rahl jedoch legte ihm die Hand auf die linke Seite seiner Brust, über dem Herzen, und ließ ihn zu Stein erstarren.
»Ich zeichne dich, Richard. Für den Hüter. Mit dem Zeichen des Hüters. Du gehörst ihm.«
Richard warf den Kopf nach hinten. Sein Schrei schien das Gefüge der Luft zu sprengen, war so voller Verzweiflung, daß es ihr Herz und Seele auseinanderriß. Kahlan fühlte sich, als müßte sie in diesem Augenblick tausend Tode sterben.
Als Darken Rahl Richard die Hand auf die Brust legte, kräuselten ein paar Rauchfetzen davon. Der Gestank verbrannten Fleisches stieg Kahlan in die Nase.
Darken Rahl zog seine Hand zurück. »Das ist der Preis der Dummheit, Richard. Du bist gezeichnet. Jetzt gehörst du dem Hüter. Jetzt und für immer. Die Reise beginnt.«
Richard brach zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte. Kahlan wußte nicht, ob er bewußtlos war oder tot. Irgend etwas hielt sie aufrecht, aber ihre Beine waren es nicht. Es waren die Fäden, die Darken Rahl in Händen hielt.
Er schwebte zu ihr herüber. Er beugte sich bedrohlich über sie, erdrückte sie mit seinem blendenden Glanz. Kahlan wollte im Boden versinken, die Augen schließen, konnte aber nicht.
Schließlich fand sie ihre Stimme wieder. »Töte mich auch«, sagte sie leise. »Schicke mich dorthin, wo du ihn hingeschickt hast. Bitte.«
Er griff mit seiner glühenden Hand nach ihr. Der Schmerz in ihrem Herzen riß allen Sinn aus ihrem Verstand. Er spreizte die Finger. Die Berührung auf ihrer Haut jagte eine Schockwelle aus Feuer und Eis durch ihren Körper.
Er zog die Hand zurück.
»Nein.« Wieder machte sich das unbarmherzige Lächeln auf Darken Rahls Gesicht breit. »Nein. Das wäre zu einfach. Er soll sehen, was mit dir geschieht. Er soll hilflos zusehen.« Zum ersten Mal lächelte er so, daß man seine Zähne sehen konnte. »Er soll leiden.« In seinen Augen war dasselbe furchteinflößend wütende Funkeln, das Richard geerbt hatte.
»Du wirst für’s erste weiterleben. Du wirst dich noch früh genug unter anderen Qualen winden, sowohl lebendig als auch tot«, sagte er leise mit einem wohlbedachten gnadenlosen Unterton. »Und er wird dabei zusehen. Bis in alle Ewigkeit. Ich werde zusehen. Bis in alle Ewigkeit. Der Hüter wird zusehen. Bis in alle Ewigkeit.«
»Bitte«, jammerte sie, »laß mich mit ihm gehen.«
Er streckte einen Finger vor und berührte eine ihrer Tränen. Die Berührung war so schmerzhaft, daß sie zurückschreckte. »Da du ihn so sehr liebst, werde ich dir etwas schenken.« Er drehte sich um und reckte seinen Arm geschmeidig in Richards Richtung. Seine beängstigenden blauen Augen kehrten zu ihr zurück. »Ich werde ihn noch ein Weilchen leben lassen. So lange, daß du mitansehen kannst, wie das Zeichen des Hüters ihn ausbluten läßt. Ihm die Seele aus dem Leibe zieht. Zeit ist nichts. Der Hüter wird ihn bekommen. Ich schenke dir dieses Fünkchen Zeit der Ewigkeit, damit du zusehen kannst, wie dein Geliebter stirbt.«
Er beugte sich zu ihr vor. Sie mühte sich ab, wollte zurückweichen, doch es gelang ihr nicht. Seine Lippen hinterließen einen Kuß auf ihrer Wange. Der Schmerz fuhr wie ein stummer Schrei durch ihren Körper und füllte ihren Verstand mit den Bildern einer Vergewaltigung. Sein Mund war dicht an ihrem Ohr.
»Genieße mein Geschenk«, flüsterte er ihr plump vertraulich ein. »Beizeiten werde ich auch dich bekommen. Für immer. Zwischen Leben und Tod. Für immer. Ich würde dir gern erzählen, wie sehr du leiden wirst, aber ich fürchte, du wärst nicht in der Lage, es zu verstehen. Ich werde es dir schon bald zeigen.« Er hauchte ihr sein Lachen ins Ohr. »Sobald ich den Schleier ganz zerrissen und den Hüter befreit habe.«
Sie stand hilflos da, während er ihr einen zweiten Kuß auf die Wange drückte. Die grauenerregenden Bilder, die er in ihren Verstand einbrannte, hinterließen ein Gefühl der Schande, das alles überstieg, was sie für möglich gehalten hatte. »Nur ein winziger Vorgeschmack. Bis bald, Mutter Konfessor.«
Nachdem er von ihr abgelassen hatte, konnte sie sich wieder bewegen. Verzweifelt versuchte sie, ihre Kraft zu sammeln. Sie ließ sich nicht packen. Sie schüttelte sich unter Tränen, als sie sah, wie er durch die Tür des Seelenhauses glitt und verschwand.
Dann sackte sie mit einem gequälten Jammerlaut zu Boden. Von heftigem Schluchzen geschüttelt, kroch sie durch den Staub zu Richard.
Er lag auf der Seite, ihr abgewandt. Sie zerrte ihn auf den Rücken. Sein Arm fiel kraftlos neben seinen Körper. Sein Kopf rollte in ihre Richtung. Er war aschfahl, wie tot. Auf seiner Brust war ein Handabdruck eingebrannt — das Zeichen des Hüters. Die verkohlte Haut war gerissen und blutig. Sein Leben, seine Seele, wich aus seinem Körper.
Sie warf sich über ihn, klammerte sich an ihn, weinte und schluchzte, ohne sich beherrschen zu können.
Kahlan krallte die geballte Faust in seine Haare und preßte ihr Gesicht an seine kalte Wange. »Bitte, Richard«, weinte sie und erstickte fast vor Schluchzen, »bitte verlaß mich nicht. Ich tue alles für dich. Ich sterbe an deiner Stelle. Nur verlaß mich nicht. Bitte, Richard, stirb nicht.«
Sie kauerte da, schmiegte sich an ihn, während ihre Welt über ihnen zusammenbrach. Verging. Ihr fiel nichts anderes ein, als ihm unter Tränen ihre Liebe zu gestehen. Er lag im Sterben, und sie konnte nichts dagegen tun. Sie fühlte, wie sein Atem flacher wurde.
Sie wollte mit ihm sterben, doch der Tod wollte sich nicht einstellen. Sie verlor jedes Zeitgefühl. Sie wußte nicht, ob sie ein paar Minuten hier gelegen hatte oder ein paar Stunden. Sie wußte nicht mehr, was wirklich war. Alles kam ihr wie ein Alptraum vor. Mit zitternden Fingern streichelte sie sein Gesicht. Seine Haut war kalt wie der Tod.
»Du bist vermutlich Kahlan.«
Sie wirbelte herum und setzte sich auf, als sie hinter sich die Frauenstimme hörte. Die Tür zum Haus der Seelen war mittlerweile wieder geschlossen. Ein weißes Leuchten, den Seelen ähnlich, strahlte in der Dunkelheit auf sie herab. Es schien eine Seele zu sein, eine Frau, die die Hände vor dem Körper gefaltet hielt. Ihr Haar, nach allem, was Kahlan erkennen konnte, war zu einem Zopf geflochten.
»Wer bist du?«
Die Gestalt ließ sich vor ihr nieder. Soweit Kahlan erkennen konnte, trug die Seele keine Kleider, schien aber auch nicht völlig nackt zu sein. Die Frau betrachtete Richard. Ein glasiger Blick, der sowohl Sehnsucht als auch Angst verhieß, huschte über ihr Gesicht. Die Seele wandte sich zu Kahlan um.
»Ich bin Denna.«
Kahlan erschrak, als sie den Namen hörte, als sie sah, wie nah sie bei Richard hockte, und hob mit einem Ruck die Faust. Der Blitz schrie danach, freigesetzt zu werden. Bevor Kahlan ihn loslassen konnte, fuhr Denna fort.
»Er stirbt. Er braucht uns. Uns beide.«
Kahlan zögerte. »Kannst du ihm helfen?«
»Wir beide können es, vielleicht. Wenn du ihn genug liebst.«
Kahlans Hoffnung flackerte auf. »Ich würde alles tun. Alles.«
Denna nickte. »Das hoffe ich.«
Dann sah sie sich nach Richard um und strich ihm zärtlich über die Brust. Kahlan stand ganz kurz davor, ihre Kraft freizusetzen. Sie wußte nicht, ob Denna ihm weh tun oder helfen wollte. Sie hoffte wider alle Vernunft. Dies war ihre einzige Chance, Richard zu retten. Richard atmete tief durch. Ihr Herz machte einen Sprung.
Denna zog ihre Hand zurück und lächelte. »Er ist immer noch bei dir.«
Kahlan senkte die Faust ein wenig und wischte sich die Tränen mit der anderen Hand aus dem Gesicht. Der sehnsüchtige Blick, mit dem Denna Richard musterte, gefiel ihr nicht. Kein bißchen. »Wie bist du hierhergekommen? Richard kann dich nicht gerufen haben, du bist kein Ahn von ihm.«
Denna drehte sich um. Ihr zartes, verträumtes Lächeln schwand. »Ich kann es dir unmöglich bis in alle Einzelheiten erklären, aber vielleicht verstehst du es ja in groben Zügen. Ich befand mich an einem Ort der Finsternis und des Friedens. Bei Darken Rahls Durchreise wurde dieser Ort gestört. Seine Durchreise ist etwas, das eigentlich nicht geschehen dürfte. Als er näher kam, spürte ich, daß Richard ihn irgendwie gerufen und es ihm ermöglicht hatte, von dem Ort, wo er sich, gehalten von einem Schleier, befand, hierherzukommen.
Ich kenne Darken Rahl nur allzugut und wußte, was er mit Richard machen würde. Deshalb bin ich ihm gefolgt. Meinen eigenen Schleier hätte ich niemals durchdringen können, doch dadurch, daß ich mich ihm angeschlossen habe, kam ich in seinem Schlepptau ebenfalls hindurch. Ich bin gekommen, weil ich wußte, was Darken Rahl Richard antun würde. Ich weiß nicht, wie ich es besser erklären soll.«
Kahlan nickte. Sie hatte keine Seele vor sich, sie hatte eine Frau vor sich, die Richard zum Gatten genommen hatte. Die Kraft des Konfessors brodelte vor Wut in ihrem Innern. Sie hatte Mühe, sie zu beherrschen, und redete sich ein, sie würde Richard damit helfen. Sie wußte keinen anderen Weg; sie mußte Denna helfen lassen, wenn diese es konnte. Sie hatte gesagt, sie würde alles tun, und das war ernst gemeint. Selbst wenn sie versuchen mußte, jemanden nicht zu töten, der bereits tot war. Jemand, den sie tausend Mal töten wollte und dann weitere tausend Mal.
»Kannst du ihm helfen? Kannst du ihn retten?«
»Man hat ihm das Zeichen des Hüters eingebrannt. Das Zeichen wird seinen Träger zum Hüter bringen. Wird die Hand eines anderen über das Zeichen gelegt, so geht es auf ihn über, und dieser wird an seiner Stelle genommen. Richard wird dann nicht mehr zum Hüter gezogen werden. Er wird leben.«
Kahlan wußte sofort, was sie zu tun hatte. Ohne Zögern beugte sie sich über Richard und streckte die Hand aus. »Dann werde ich das Zeichen übernehmen. Ich werde an seiner Stelle gehen, damit er weiterlebt.« Sie spreizte die Finger, damit sie auf das schwarze Brandmal paßten. Ihre Hand befand sich kaum noch einen Zentimeter darüber.
»Tu es nicht, Kahlan.«
Sie sah über ihre Schulter. »Warum nicht? Wenn er dadurch gerettet wird, bin ich bereit, an seiner Statt zu gehen.«
»Das weiß ich, aber so einfach ist das nicht. Wir müssen erst miteinander reden. Das wird nicht einfach sein, für keine von uns. Ihm wirklich zu helfen, wird für uns beide sehr schmerzhaft sein.«
Kahlan setzte sich widerstrebend hin und nickte. Sie wäre mit allem einverstanden gewesen, hätte jeden Preis bezahlt, wäre sogar bereit, mit dieser … Frau zu sprechen. Sie legte die Hand schützend auf Richards Brust und nahm Denna gegenüber Platz. »Woher weißt du, wer ich bin?«
Denna grinste, hätte fast gelacht. »Wer Richard kennt, der kennt auch Kahlan.«
»Er hat dir von mir erzählt?«
Dennas Lächeln schwand dahin. »In gewisser Weise. Ich habe deinen Namen unzählige Male gehört. Er hat deinen Namen gerufen, wenn ich ihm bis zum Wahnsinn Schmerzen zugefügt hatte. Niemals einen anderen. Weder den seiner Mutter noch den seines Vaters. Immer nur deinen. Ich habe ihm Schmerzen zugefügt, bis er seinen eigenen Namen nicht mehr wußte, aber deinen wußte er noch immer. Ich wußte, daß er einen Weg finden würde, bei dir zu bleiben — trotz deiner Konfessorenkraft.« Ihr Lächeln kehrte zögernd zurück. »Ich glaube, Richard würde einen Weg finden, der die Sonne zwingt, um Mitternacht aufzugehen.«
»Warum erzählst du mir das alles?«
»Weil ich dich bitten werde, ihm zu helfen. Und weil ich möchte, daß du, bevor du einwilligst, begreifst, wie sehr du ihm damit weh tun wirst. Du mußt begreifen, was du tun mußt, wenn du ihm helfen willst. Ich werde dich nicht mit einer List dazu bringen, es zu tun. Es muß mit deinem vollsten Einverständnis geschehen. Nur so wirst du wissen, wie du ihn retten kannst. Begreifst du das nicht, könntest du versagen.
Ihm droht nicht nur von diesem Zeichen Gefahr. Er ist von einem Wahn befallen, einem Wahn, den ich ihm eingepflanzt habe. Ich sehe diesen Wahn in ihm, erkenne seine Aura. Ich weiß, daß dieser Wahn ihn töten wird, und ich weiß, daß ihm nur noch kurze Zeit bleibt. Wie lange, weiß ich nicht, weiß nur, daß es nicht mehr lange dauern wird. Wir können ihn schlecht vor dem Hüter retten, nur damit er danach an seiner Gabe stirbt.«
Kahlan nickte und wischte sich die Nase am Handrücken ab. »Die Schwestern des Lichts behaupten, sie könnten ihn retten. Sie meinen, er müsse einen Halsring anlegen, um sich selbst zu retten. Richard weigert sich, ihn anzulegen. Er hat mir erzählt, was du ihm angetan hast und weshalb er keinen Halsring tragen wird. Aber Richard ist nicht wahnsinnig. Am Ende wird er erkennen, was getan werden muß, und es tun. So ist er. Er wird die Wahrheit erkennen.«
Denna schüttelte den Kopf. »Was er dir erzählt hat, ist kaum ein Bruchteil der ganzen Geschichte. Du kannst dir nicht vorstellen, was er dir alles nicht erzählt hat. Ich kenne seinen Wahn. Er wird dir das übrige nicht erzählen. Ich muß es tun.«
Kahlan kochte vor Wut. »Ich glaube, das wäre nicht klug von dir. Wenn er es mir nicht erzählen will, dann soll ich es wohl auch nicht erfahren.«
»Du mußt. Du mußt ihn verstehen, wenn du ihm helfen willst. In manchen Dingen verstehe ich ihn besser als du. Ich habe ihn an den Rand des Wahnsinns geführt und darüber hinaus. Ich habe ihn in der Ödnis des Irrsinns gesehen. Ich stand über ihn gebeugt und habe ihn gezwungen, dort zu bleiben.«
Kahlans Augen funkelten vor Wut. Sie sah, wie Denna Richard anblickte. Sie traute ihr nicht. »Du liebst ihn.«
Denna starrte sie an. »Er liebt dich. Ich habe diese Liebe dazu benutzt, ihm weh zu tun. Ich habe ihn an die Schwelle des Todes geführt und ihn dort gehalten, am Scheidepunkt. Andere hätten einen Mann schneller an diese Schwelle herangeführt, aber sie hätten ihn nicht dort halten können. Immer sind sie zu schnell einen Schritt zu weit gegangen, haben die Männer umgebracht und es beendet, bevor sie ihnen die allererlesensten Qualen entlocken, ihnen die grausamsten Wahnvorstellungen eingeben konnten. Darken Rahl hat mich ausgewählt, weil ich ein Talent dafür hatte, die Männer am Leben zu lassen und ihnen diese Schmerzen zuzufügen. Und dann noch mehr und immer mehr und immer mehr. Darken Rahl hat es mir selbst beigebracht. Manchmal mußte ich stundenlang dasitzen und warten, weil ich wußte, die nächste Berührung mit dem Strafer wäre eine Berührung zuviel — sie würde ihn töten. Während ich so dasaß und darauf wartete, daß er sich erholt, damit ich ihn weiter quälen konnte, hat er oft deinen Namen geflüstert, wieder und wieder, stundenlang. Er hat es nicht einmal selbst gemerkt.
Du warst der Faden, der ihn mit dem Leben verbunden hat. Ebendieser Faden hat es mir ermöglicht, ihm diese zusätzlichen Schmerzen zuzufügen. Er hat es mir ermöglicht, ihn immer näher an den Tod heranzuführen, immer tiefer in den Wahn. Ich habe seine Liebe für dich dazu benutzt, ihn weit über das sonst mögliche Maß hinaus zu strafen. Während ich so dasaß und hörte, wie er leise deinen Namen sprach, habe ich mir oft gewünscht, es wäre einmal, nur ein einziges Mal, mein Name, den er ruft. Er hat es nie getan. Mehr als für alles andere habe ich ihm deshalb weh getan.«
Kahlan liefen die Tranen über die Wangen, tropften ihr vom Gesicht. »Bitte, Denna, ich will nichts weiter hören. Ich kann es nicht länger ertragen — daß ich es war, die dir all das ermöglicht hat.«
»Du mußt. Ich habe noch nicht einmal angefangen, dir zu erzählen, was du wissen mußt, um ihm zu helfen. Du mußt begreifen, wie ich die Magie gegen ihn benutzt habe, wieso er die Magie haßt, die in ihm steckt. Ich verstehe das. Denn was ich ihm angetan habe, wurde auch mir angetan — von Darken Rahl.«
Während Kahlan zitternd dasaß und mit leerem Blick ins Leere starrte, fast wie in Trance, begann Denna, ihr zu erzählen, was sie Richard angetan hatte. Wie sie den Strafer benutzt hatte. Bei jeder Beschreibung einer Berührung, bei allem, zu was dieses Ding imstande war, zuckte Kahlan zusammen. Sie erinnerte sich nur zu gut an die Berührung, an diese wahnsinnigen Schmerzen. Sie erfuhr, daß das, was sie gespürt hatte, noch das Geringste war.
Sie weinte, als Denna ihr erzählte, wie Richard in Ketten dagehangen hatte, sie ihm den Kopf an den Haaren nach hinten gerissen und ihn gezwungen hatte, vollkommen reglos zu verharren, während sie ihm den Strafer ins Ohr gestoßen und einen bleibenden Schaden in seinem Kopf riskiert hatte. Und daß sie es hatte tun können, weil er Kahlan liebte. Sie schüttelte sich, als sie die entsetzliche Beschreibung dessen hörte, was dies bei ihm ausgelöst, was die Magie, und seine eigene Magie, bei ihm angerichtet hatte. Sie konnte Denna nicht ansehen, während diese erzählte. Konnte ihr nicht in die Augen blicken. Und das war erst der Anfang.
Sie hielt sich den Bauch und schlug sich ihre zitternde Hand vor den Mund, um sich nicht zu übergeben, während ihr Denna eine unsägliche Handlung nach der anderen beschrieb. Kahlan konnte nicht aufhören zu weinen. Sie würgte und schloß die Augen.
Während sie zuhörte, flehte sie die guten Seelen an, Denna möge ihr nicht das eine erzählen, das sie unmöglich ertragen konnte.
Dann erzählte es ihr Denna doch. Erzählte ihr, was eine Mord-Sith mit ihrem Gatten machte und warum ihre Gatten niemals lange lebten. Jede intime Einzelheit. Und daß sie das, was sie Richard angetan hatte, noch keinem anderen Gatten angetan hatte.
Mit einem Aufschrei drehte sich Kahlan zur Seite, kroch ein kurzes Stück fort und übergab sich. Auf eine Hand gestützt, die andere auf den Unterleib gelegt, weinte sie, würgte und erbrach sich. Dennas Hände waren bei ihr und hielten ihr Haar zurück, während Kahlan den Inhalt ihres Magens in den Staub spuckte. Sie kotzte, bis ihr Innerstes nach außen gekehrt war.
Sie spürte Dennas warme, kribbelnde Berührung auf ihrem Rücken. Sie wollte den Blitz herbeirufen, doch ihr war zu übel, um die Kraft dafür zu finden. Sie war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, sich auf Richard zu werfen und ihn zu trösten und diese Frau mit der Magie des Con Dar, des Blutrauschs, in Stücke zu reißen.
Unter Würgen, Keuchen und unter Tränen gelang es Kahlan, die Worte hervorzustoßen. »Nimm … deine Hände … weg.« Die Hand, die ihre Haare hielt, verschwand. Die Hand auf ihrem Rücken entfernte sich. Ihr Magen stülpte sich in einem trockenen Würgen um. »Wie oft hast du ihm das angetan?«
»Oft genug. Es spielt keine Rolle.«
Kahlan drehte sich wütend um, ballte die Fäuste und schrie. »Wie oft?«
Dennas Stimme war sanft und ruhig. »Tut mir leid, Kahlan, ich weiß es nicht. Ich habe keine Strichliste geführt. Aber er war lange Zeit bei mir. Länger als jeder andere Gatte. Ich habe es fast jeden Abend getan. Was ich ihm angetan habe, habe ich keinem anderen angetan, denn kein anderer hatte Richards Kraft, die Kraft der Liebe, die er für dich empfand. Die anderen wären schon beim ersten Mal gestorben. Er hat lange gegen mich gekämpft. Ich habe es oft genug getan, das ist alles. Oft genug.«
»Oft genug! Oft genug für was?«
»Oft genug, um einen Teil von ihm in den Wahnsinn zu treiben.«
»Er ist nicht wahnsinnig! Das ist er nicht! Niemals!«
Denna betrachtete Kahlan, die sich vor Qual und Wut schüttelte. »Kahlan, hör mich an. Jeder andere wäre an dem zerbrochen, was ich getan habe. Richard hat sich gerettet, indem er seinen Verstand abgeteilt hat. Er hat sein Innerstes weggeschlossen, dorthin, wo ich nicht drankam, wo die Magie nicht hinreichte. Er hat dafür seine Gabe benutzt. Das hat sein Innerstes vor dem Wahnsinn gerettet. Doch in den dunkelsten Winkeln seines Verstandes lauert der Wahn. Ich habe seine eigene Magie gegen ihn benutzt, um ihn in den Wahn zu treiben. Er konnte sich nicht völlig vor dem schützen, was ich ihm angetan habe. Ich habe dir erzählt, was ich getan habe, damit du die Wahrheit seines Wahns erkennen kannst. Diesen Teil von sich mußte er aufgeben, um den Rest zu retten. Ich wünschte, ich hätte dasselbe tun können, als man es mir antat.«
Kahlan nahm Richards Hand und drückte sie an ihr Herz. »Wie konntest du das tun?« weinte sie. »Mein armer Richard. Wie konntest du? Wie konntest du das irgend jemandem antun?«
»Wir alle sind zu einem gewissen Grad wahnsinnig. Manche mehr als andere. Mein ganzes Leben war überschattet davon.«
»Wie konntest du es dann tun? Wie konntest du, wo du doch wußtest, wie es ist!«
Denna sah sie unter ihren Brauen hervor an. »Du hast selber schreckliche Dinge getan. Du hast deine Kraft dazu benutzt, Menschen weh zu tun.«
»Aber das waren Menschen, die sich grauenhafter Verbrechen schuldig gemacht hatten!«
»Alle?« fragte sie ruhig. »Jeder einzelne von ihnen?«
Kahlan stockte der Atem, als sie daran dachte, wie sie ihre Kraft gegen Brophy benutzt hatte. »Nein«, gestand sie leise. »Aber ich habe es nicht getan, weil ich es wollte. Es ist meine Aufgabe. Meine Rolle.«
»Aber du hast es getan. Und was ist mit Demmin Nass?«
Die Worte trafen sie wie ein Schwerthieb. Die Erinnerung, die süße Erinnerung, diese Bestie von einem Mann kastriert zu haben, durchflutete ihren Verstand. Sie sank mit einem klagenden Laut nach vorn. »Geliebte Seele, bin ich denn wirklich nicht besser als du?«
»Wir alle tun, was wir müssen. Aus welchem Grund auch immer.« Sie hob Kahlans Kinn mit ihren glühenden, durchsichtigen Fingern an. »Ich erzähle dir diese Dinge nicht, weil ich dir weh tun will, Kahlan. Das Erzählen verletzt mich mehr, als du dir vorstellen kannst. Ich erzähle sie dir, weil ich Richard retten will, damit er nicht vor seiner Zeit stirbt und damit der Hüter nicht entkommen kann.«
Kahlan preßte Richards Hand noch fester an ihr Herz und schluchzte. »Tut mir leid, Denna … aber es ist mir nicht gegeben, dir zu verzeihen. Daß Richard dir verziehen hat, weiß ich … aber ich kann es nicht. Ich hasse dich.«
»Ich hatte auch keine Vergebung erwartet. Du sollst nur begreifen, daß ich dir die Wahrheit sage, die Wahrheit über Richards Wahnsinn.«
»Warum? Aus welchem Grund?«
»Damit du begreifst, was du tun mußt. Das Tragen des Halsrings ist der Kern dieses Wahnsinns. Es versinnbildlicht alles, was ich ihm angetan habe. Seinem Verständnis nach bedeutet Magie Wahnsinn und Folter. Ein Halsring bedeutet ihm Wahnsinn, Folter. Irrsinn. Die Vorstellung, einen Ring um den Hals zu tragen, holt diesen Wahnsinn aus den tiefsten Winkeln seines Selbst hervor, enthüllt seine tiefsten Ängste. Er übertreibt nicht, wenn er sagt, er würde lieber sterben, als den Ring um seinen Hals zu legen. Er würde es nicht einmal tun, um sich zu retten. Wenn er es jedoch nicht tut, dann stirbt er. Nur eins auf der Welt könnte ihn dazu bringen, den Halsring anzulegen.«
Kahlans Kopf zuckte hoch. Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Du willst, daß ich ihn bitte, den Halsring anzulegen.« Ihr wurde schwach vor Angst. »Das soll ich ihm antun? Nach allem, was du mir erzählt hast?«
Denna nickte. »Er wird es tun, wenn du es von ihm verlangst. Aus keinem anderen Grund. Aus keinem.«
Richards kraftloser Arm glitt Kahlan aus den zitternden Händen. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Denna hatte recht. Nach allem, was sie jetzt wußte, was sie gehört hatte, wußte sie, daß Denna recht hatte.
Jetzt wurde ihr auch klar, was sie in Richards Augen gesehen hatte, als er den Halsring betrachtete, den die Schwestern ihm hinhielten. Den Wahnsinn. Richard würde sich nie aus freien Stücken einen Ring um den Hals legen. Niemals. Das war ihr jetzt klargeworden. Wirklich klargeworden.
Ein leiser Schrei entwich ihrer Kehle. »Wenn ich ihn zwinge, den Halsring anzulegen, wird er glauben, ich hätte ihn verraten. In seinem Wahn wird er annehmen, ich wollte ihn verletzen.« Der Schmerz wurde übermächtig, und sie fing wieder an zu weinen. »Er wird mich hassen.«
Dennas Stimme war ein leises Flüstern. »Tut mir leid, Kahlan. Das kann durchaus sein. Wir können es nicht sicher wissen, aber es ist sehr gut möglich, daß er es genau so sehen wird. Ich weiß nicht, in welchem Maß der Wahn von ihm Besitz ergreift, wenn er erfährt, daß er den Halsring anziehen muß — wenn du ihm erzählst, daß ihm nichts anderes übrigbleibt. Aber er liebt dich mehr als das Leben und würde ihn aus keinem anderen Grund anlegen.«
»Denna, ich weiß nicht, ob ich ihm das antun kann. Nicht nach dem, was du mir erzählt hast.«
»Du mußt, sonst stirbt er. Wenn du ihn genügend liebst, mußt du es tun. Du mußt in deiner Liebe zu ihm stark genug sein und ihn dazu zwingen — obwohl du die Schmerzen kennst, die ihm das zufügen wird. Vielleicht mußt du dich ebenso verhalten wie ich und ihm genügend angst machen, damit er tut, was du sagst. Vielleicht mußt du seinen Wahn zu voller Blüte bringen und ihn zwingen, so zu denken wie damals, als er bei mir war und er alles getan hätte, was man von ihm verlangte. Vielleicht verlierst du seine Liebe. Gut möglich, daß er dich für immer hassen wird. Aber wenn du ihn wirklich liebst, wirst du erkennen, daß du die einzige bist, die ihm helfen kann. Die einzige, die ihn retten kann.«
Kahlan klammerte sich verzweifelt an einen Strohhalm. »Aber wir wollten morgen früh zu Zedd, einem Zauberer, der ihm vielleicht helfen kann, die Gabe zu beherrschen. Richard glaubt, daß Zedd weiß, was zu tun ist, und daß er ihm helfen kann.«
»Das ist durchaus möglich. Tut mir leid, Kahlan, die Antwort darauf weiß ich nicht. Vielleicht gelingt es. Aber ich weiß, daß die Schwestern des Lichts über die Macht verfügen, ihn zu retten. Wenn sie kommen und er sie zum dritten Mal zurückweist, hat er für immer die Gelegenheit verspielt, ihre Hilfe zu bekommen. Stellt sich heraus, daß dieser Zauberer Richard nicht helfen kann, dann wird er sterben. Ihm bleibt dann nicht mehr viel Zeit, höchstens noch ein paar Tage. Begreifst du, was das bedeutet, Kahlan? Er wird nicht einfach sterben. Der Hüter wird ihn bekommen und mit ihm alle anderen. Richard ist der einzige, der den Schleier schließen kann.«
»Aber wie? Weißt du, wie er ihn schließen kann?«
»Nein, tut mir leid. Ich weiß nur, daß er von dieser Seite aus ganz aufgerissen werden muß. Deswegen hat der Hüter auch Agenten auf dieser Seite. Deswegen ist Darken Rahl hergekommen. Irgendwie ist Richard der einzige, der sie aufhalten kann, und er ist auch der einzige, der die Kraft besitzt, um zu schließen, was zerrissen wurde.
Weist er die Schwestern zurück und sollte der Zauberer ihm nicht helfen können, dann stirbt er, und zwar schon bald — und es wird sein, als hätte das Zeichen selbst ihn zum Hüter gebracht. Kann er den Zauberer erreichen, bevor er die Schwestern zum dritten Mal zurückweist, wird er vielleicht in Erfahrung bringen, ob ihm ohne sie geholfen werden kann … und ohne den Halsring. Erscheinen sie aber, bevor er Zedd erreicht, dann mußt du mir versprechen, das Nötige zu tun, um ihn zu retten.«
»Wir haben noch Zeit. Die Schwestern kommen frühestens in ein paar Tagen zurück. Wir können Zedd vorher erreichen. Wir haben noch Zeit!«
»Hoffentlich hast du recht, ich hoffe es wirklich. Bestimmt glaubst du mir nicht. Aber ich möchte wirklich nicht, daß Richard jemals wieder einen Halsring anlegen und sich diesem Wahnsinn stellen muß. Wenn ihr Zedd jedoch nicht erreicht, mußt du mir versprechen, daß er die Chance zu überleben ergreift, wenn die Schwestern sie ihm bieten.«
Die Tränen liefen Kahlan aus den brennenden Augen. Richard würde sie hassen, wenn sie ihn zwang, den Halsring anzulegen, das wußte sie. Er würde glauben, sie hätte ihn verraten.
»Und was ist mit dem Zeichen? Er hat immer noch das Zeichen auf dem Herzen.«
Denna musterte sie eine ganze Weile. Ihre Stimme war so leise, daß Kahlan sie kaum hörte. »Ich werde das Zeichen übernehmen. Ich werde statt seiner zum Hüter gehen.« Eine glitzernde Träne rann ihr die Wange hinab. »Aber ich werde es nur dann tun, ich werde nur dann meine Seele opfern, wenn ich weiß, daß er dadurch eine Chance bekommt.«
Kahlan starrte sie ungläubig an. »Das würdest du für ihn tun?« hauchte sie. »Warum?«
»Weil ihm nach allem, was ich ihm angetan habe, meine Schmerzen nicht gleichgültig waren. Er ist der einzige, der je etwas gegen meine Schmerzen unternommen hat. Er hat geweint, als Darken Rahl mich geschlagen hat, und er hat einen Trank gebraut, der mir die Schmerzen nehmen sollte — obwohl ich nicht ein einziges Mal aufgehört habe, ihn zu quälen, wie sehr er mich auch darum bat. Nicht ein einziges Mal.
Und nach allem, was ich ihm angetan habe, hat er mir vergeben. Er wußte, was ich durchgemacht hatte. Er nahm meinen Strafer, um ihn um den Hals zu tragen, und versprach mir, immer an mich zu denken, daran zu denken, daß ich mehr war als eine Mord-Sith, daß ich früher einmal Denna war.«
Eine weitere glitzernde Träne kullerte über ihre Wange. »Und weil ich ihn liebe. Selbst im Tod liebe ich ihn. Auch wenn ich weiß, daß meine Liebe niemals erwidert werden wird, so liebe ich ihn dennoch.«
Kahlan betrachtete Richard, der bewußtlos, hilflos auf dem Rücken lag, mit dem schwarzen, blutenden Zeichen des Hüters auf der Brust. Der weiße und schwarze Schlamm, mit dem er überall bemalt war, verlieh ihm ein wildes, ungezähmtes Aussehen, doch so war er in Wirklichkeit gar nicht. Er war der sanftmütigste Mensch, dem sie je begegnet war. In diesem Augenblick erkannte sie, daß sie alles tun würde, ihn zu retten. Alles.
»Ich werde es tun«, sagte sie leise. »Versprochen. Wenn wir Zedd nicht finden können, bevor die Schwestern zum dritten Mal wiederkommen, werde ich ihn dazu bringen, den Halsring anzulegen, ganz gleich, was es kostet. Selbst wenn er mich deswegen haßt. Oder mich tötet.«
Denna hielt ihr die Hand hin. »Einen Eid darauf, zwischen den Lebenden und den Toten, daß wir tun, was getan werden muß, um ihn zu retten.«
Kahlan starrte auf die Hand vor ihr. »Ich kann dir noch immer nicht vergeben. Ich werde dir nicht vergeben.«
Die Hand blieb, wo sie war, und wartete. »Die einzige Vergebung, die ich brauche, wurde mir bereits gewährt.«
Kahlan starrte auf die Hand, dann hob sie den Arm und ergriff sie. »Einen Eid darauf, daß wir den retten, den wir lieben.«
Sie gaben sich die Hand und verharrten einen Augenblick lang schweigend.
Denna zog ihre Hand zurück. »Er hat nicht mehr viel Zeit. Es muß sofort geschehen.« Kahlan nickte. »Wenn es vorbei ist, mußt du Hilfe für ihn holen. Zwar wird der Sog des Zeichens fort sein, aber die Wunde ist noch da, und die ist schwer.«
Kahlan nickte. »Es gibt hier eine Heilerin. Sie wird ihm helfen.«
In Dennas Augen lag tiefes Mitgefühl. »Danke, Kahlan, daß du ihn genug liebst, um ihm zu helfen. Mögen die guten Seelen mit euch beiden sein.« Sie lächelte kurz und angsterfüllt. »Dort, wo ich hingehe, werde ich sie nicht mehr zu Gesicht bekommen, sonst würde ich sie zu euch schikken, damit sie euch helfen.«
Kahlan berührte den Rücken ihrer Hand und bat in einem stummen Gebet um Kraft für sie.
Denna erwiderte die Geste und berührte Kahlans Wange, dann kniete sie neben Richard nieder. Sie legte ihre Hand auf das Zeichen. Richards Brust hob sich.
Dennas Gesicht war schmerzverzerrt. Sie warf den Kopf in den Nacken und stieß einen durchdringenden Schrei aus, der Kahlan in alle Glieder fuhr.
Und dann war sie einfach verschwunden.
Richard stöhnte. Kahlan beugte sich über ihn und streichelte ihn unter Tränen.
»Kahlan?« stöhnte er. »Was ist passiert, Kahlan?«
»Lieg still, mein Liebster. Es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit, ich bin bei dir. Ich werde Hilfe holen.«
Er nickte, sie lief zur Tür und stieß sie auf. Draußen hockten die Ältesten in der Dunkelheit. Sie hoben erwartungsvoll den Kopf.
»Helft mir!« schrie sie. »Tragt ihn zu Nissel. Wir haben keine Zeit, sie herzuholen!«