»Es ist meine Pflicht, auf dich aufzupassen«, sagte Pasha. Sie benutzte ihr Han, löste seinen Griff an ihrem Handgelenk, schleuderte ihn wie mit unsichtbarer Hand zur Seite und stürmte durch die Tür. Richard rollte ab, landete auf den Füßen, zog sein Schwert und stürzte ihr hinterher. Einzig die kleinen Flammen aus dem Kamin erhellten das ansonsten dunkle Zimmer. Die beiden kamen stolpernd in fast völliger Dunkelheit zum Stehen.
Aus einem Sessel neben dem Feuer kam eine Stimme. »Erwartest du einen Mriswith, Richard?«
»Schwester Verna!« Richard ließ sein Schwert zurück in die Scheide gleiten. »Was tut Ihr hier?«
Sie erhob sich, machte eine Handbewegung Richtung Lampe und brachte den Docht zum Brennen. »Ich wußte nicht, ob du es schon gehört hast.« Ihrem Gesicht war nichts zu entnehmen. »Ich bin wieder eine Schwester des Lichts.«
»Wirklich?« sagte Richard. »Das sind ja gute Neuigkeiten.«
Schwester Verna faltete die Hand. »Da ich wieder eine Schwester bin, wollte ich dich einen Augenblick lang unter vier Augen sprechen.« Sie sah zu Pasha hinüber. »Über eine unerledigte Angelegenheit zwischen Richard und mir.«
Pasha blickte von der Schwester zu Richard. »Nun, ich denke, dieses Kleid ist, nun ja, vielleicht nicht gerade das bequemste, um darin Unterricht zu geben. Vielleicht sollte ich mich umziehen.« Sie machte einen Knicks vor Schwester Verna. »Gute Nacht, Schwester. Ich freue mich so für Euch. Ihr solltet wirklich Schwester sein. Und Richard, vielen Dank, daß du heute ein solcher Gentleman warst. Wenn ich mich umgezogen habe, komme ich zurück.«
Richard stand mit dem Gesicht zur Tür, nachdem sie sich hinter Pasha geschlossen hatte.
»Gentleman«, meinte Schwester Verna. »Ich bin entzückt, das zu hören, Richard. Außerdem möchte ich mich bei dir bedanken, weil man mich wieder zur Schwester gemacht hat. Schwester Maren hat mir erzählt, was passiert ist.«
Richard drehte sich lachend zu ihr um. »Ihr wart zu lange in meiner Gegenwart, Schwester. Trotzdem braucht Ihr noch mehr Übung im Lügen. Ihr seid noch nicht ganz überzeugend.«
Sie konnte nicht verhindern, daß ein Lächeln über ihre Lippen huschte. »Nun, Schwester Maren erzählte mir, sie habe für Unterweisung gebetet und sei zu dem Entschluß gekommen, ich könne dem Schöpfer angesichts meiner Erfahrung am besten als Schwester dienen.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Arme Schwester Maren. Seit deiner Ankunft scheint das Lügen zu einer ansteckenden Krankheit geworden zu sein.«
Er zuckte mit den Achseln. »Schwester Maren hat das Richtige getan. Ich glaube, Euer Schöpfer wäre mit dem Ergebnis zufrieden.«
»Wie ich gehört habe, hast du einen Mriswith getötet. Neuigkeiten breiten sich im Palast aus wie ein Feuersturm im trockenen Gras.«
Richard ging zum Kamin. Er lehnte sich an den dunklen, granitenen Sims und starrte in die Flammen. »Ich hatte keine Wahl.«
Schwester Verna strich ihm zärtlich übers Haar. »Ist alles in Ordnung mit dir, Richard? Wie geht es dir?«
»Gut.« Richard zog den Schwertgurt über seinen Kopf und legte ihn und das Schwert zur Seite. Die rote Jacke warf er über einen Stuhl. »Es ginge mir besser, wenn ich nicht diese albernen Kleider tragen müßte. Aber vermutlich ist das ein geringer Preis für den Frieden. Im Augenblick. Worüber wolltet Ihr mit mir sprechen, Schwester?«
»Ich weiß nicht, was du getan und wie du es angestellt hast, daß ich wieder als Schwester eingesetzt wurde, trotzdem danke, Richard. Ist das ein Freundschaftsangebot?«
»Nur, wenn Ihr diesen Halsring abnehmt.« Sie wich seinem Blick aus. »Eines fernen Tages, Schwester, werdet Ihr euch entscheiden müssen. Wenn es soweit ist, hoffe ich, Euch auf meiner Seite wissen zu dürfen. Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, wäre es mir äußerst unangenehm, Euch töten zu müssen, aber Ihr wißt, wozu ich fähig bin. Ihr kanntet meine Antwort. Gewiß seid Ihr nicht allein deshalb hergekommen.«
»Ich habe dir einmal gesagt, du würdest dein Han benutzen, ohne zu wissen, was du tust, erinnerst du dich noch?«
»Ja. Aber ich glaube nicht, ich benutze mein Han gar nicht.«
Sie runzelte die Stirn. »Richard, du hast einen Mriswith getötet. Soweit ich weiß, hat das in den letzten dreitausend Jahren niemand geschafft. Um das zu schaffen, mußt du dein Han benutzt haben.«
»Nein, Schwester, ich habe die Magie des Schwertes benutzt, um ihn zu töten.«
»Richard, ich habe dich beobachtet und ein wenig herausgefunden über dich und dein Schwert. Der Grund, aus dem niemand je einen Mriswith töten konnte, ist der, weil niemand merkt, wenn er kommt. Selbst das Han der Schwestern und Zauberer spürt das nicht. Vielleicht hat dein Schwert den Mriswith getötet, aber dein Han hat dir gesagt, daß er sich nähert. Du greifst auf deine Gabe zurück, aber unkontrolliert.«
Richard war müde. Ihm war nicht nach Widersprechen zumute. Er ließ sich in einen gepolsterten Sessel fallen. Er mußte daran denken, wie er den Mriswith im Geiste kommen gesehen hatte. »Ich begreife nicht, was ich tue, Schwester. Der Mriswith kam, und ich habe mich eben verteidigt.«
Sie setzte sich in den Sessel ihm gegenüber. »Betrachte es einmal von dieser Seite, Richard. Du hast eine Bestie getötet, die so gefährlich ist wie kaum eine andere, die diesen Landstrich unsicher macht, doch dieses kleine Mädchen mit den großen, braunen Augen und vielleicht ebensoviel Kraft im Vergleich zu dir wie ein Spatz verglichen mit einem Habicht, hat dich gerade mit seinem Han durch den Flur geschleudert. Ich hoffe nur, daß du fleißig studierst, damit du lernst, dem Han zu kontrollieren. Du mußt lernen, es zu beherrschen.«
Sie sah ihn aufmerksam an. »Wieso bist du in den Hagenwald gegangen, obwohl ich dir erklärt habe, daß es dort gefährlich ist? Den wahren Grund. Nicht die Rechtfertigung. Bitte sag mir die Wahrheit, Richard.«
Richard lehnte sich weit zurück und starrte an die Decke. Schließlich gab er mit einem Nicken nach. »Es war, als hätte mich irgend etwas dorthingezogen. Es war ein Bedürfnis. Eine Art Hunger. Es war, als müßte ich mit der Faust gegen eine Wand schlagen, und dies wäre genau die Möglichkeit, es zu tun.«
Er befürchtete, sie könnte eine Strafpredigt vom Stapel lassen, doch das tat sie nicht. Ihr Ton verriet Mitgefühl.
»Richard, ich habe mit ein paar Freunden gesprochen. Keiner von uns weiß alles über die Magie des Palastes und ganz besonders nicht über den Hagenwald, trotzdem gibt es Grund zu der Annahme, daß man den Hagenwald speziell für ganz bestimmte Zauberer an dieser Stelle angelegt hat.«
Richard betrachtete ihren ruhigen Gesichtsausdruck, ihre ernsten Augen. »Wollt Ihr damit sagen, Schwester, wenn ich mit der Faust gegen eine Wand schlagen muß, dann soll ich es vielleicht einfach tun?«
»Der Schöpfer hat uns den Hunger gegeben, damit wir essen, weil Essen notwendig ist.«
»Und was wäre der Zweck eines Hungers wie des meinen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Zum zweiten Mal in ebenso vielen Tagen hat es die Prälatin abgelehnt, mir eine Audienz zu gewähren. Doch ich werde trotzdem versuchen, Antworten zu finden. Laß es inzwischen bitte auf keinen Fall so weit kommen, daß die Sonne im Hagenwald über dir untergeht.«
»War es das, was Ihr mir mitteilen wolltet, Schwester?«
Sie wandte den Blick ab und hielt inne, rieb sich mit zwei Fingern die Stirn. Sie wirkte unsicher. So hatte er sie noch nie gesehen. »Richard, es geschehen Dinge, die ich nicht begreife, und sie stehen im Zusammenhang mit dir. Die Dinge geschehen nicht so, wie sie sollten.« Sie bemerkte seinen fragenden Blick. »Ich kann im Augenblick noch nicht darüber sprechen.«
Sie räusperte sich. »Richard, du darfst nicht jeder Schwester vertrauen.«
Richard machte ein erstauntes Gesicht. »Schwester, ich traue keiner einzigen von euch.«
Das lockte ihr ganz kurz ein Lächeln auf die Lippen. »Im Augenblick ist das wohl am besten. Das war es, was ich dir sagen wollte. Ich werde die Antworten finden, doch im Augenblick, nun, sagen wir einfach, ich weiß, daß du tun wirst, was du mußt, um in Sicherheit zu bleiben.«
Nachdem Schwester Verna gegangen war, dachte Richard über das nach, was sie und was Warren ihm erzählt hatte. Am meisten beschäftigte ihn der Stein der Tränen.
Es gab ihm zu denken, daß ihm die Magie im Tal der Verlorenen eine Vision von einem Gegenstand eingegeben hatte, den er noch nie gesehen hatte und ihn um Rachels Hals hängte. Die anderen Visionen schienen auf seine Sehnsüchte und Ängste zurückzugehen. Vielleicht sah er auch deshalb eine Vision von Rachel, weil er seinen Freund Chase vermißte. Rachel war bestimmt bei Chase. Doch warum trug sie in der Vision einen Gegenstand um den Hals, den er noch nie gesehen hatte, und der, wie sich herausstellte, aussah wie eine Zeichnung in einem Buch?
Vielleicht war es nicht derselbe Gegenstand. Er versuchte sich einzureden, daß es unmöglich derselbe sein konnte, doch ein beklemmendes Gefühl in seinem Innern sagte ihm etwas anderes.
So sehr er Chase und Rachel vermißte, es war der Stein um Rachels Hals, der seine Aufmerksamkeit erregte. Es war, als brächte Rachel ihn für Zedd zu ihm, und Zedd wäre mit ihm zusammen dort gewesen und hätte ihn gedrängt, den Stein anzunehmen.
Pashas Klopfen an der Tür riß ihn aus seinen Grübeleien. Sie trug ein schlichtes, bräunlich-graues Kleid mit kleinen rosa Stoffknöpfen auf der Vorderseite bis hoch zum Kragen. Es ließ zwar nicht so viel Haut erkennen wie das grüne Kleid, doch war es so geschnitten, daß man praktisch jede Einzelheit ihres Körpers erahnen konnte. Da es alles bedeckte, wurde das, was es bedeckte, nur noch verlockender. Die Farbe unterstrich irgendwie die Samtheit ihrer braunen Haare.
Pasha saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, auf dem blaugelben Teppich vor dem Kamm. Sie drapierte ihr Kleid sorgsam über ihre Knie und hob dann den Kopf.
»Hier. Setz dich genauso hin wie ich, mir gegenüber.«
Richard setzte sich auf den Boden und schlug die Beine übereinander. Sie machte ihm ein Zeichen, er solle näher kommen, bis ihre Knie sich berührten. Sie nahm seine Hände und hielt sie locker fest, während sie auf ihrer beider Knien ruhten.
»Schwester Verna hat das nicht gemacht, wenn ich geübt habe.«
»Und zwar deswegen, weil sich der Rada’Han im Einflußkreis der Magie des Palastes befinden muß, bevor wir auf diese Weise üben können. Bis jetzt hast du allein geübt, wenn du versucht hast, dein Han zu berühren. Die meiste Zeit von jetzt an werden ich oder eine Schwester ihr Han benutzen, um dich zu unterstützen.« Sie lächelte. »Das wird dir helfen, schnellere Fortschritte zu machen, Richard.«
»Also schön. Was soll ich tun?«
»Sie hat dir erzählt, wie man versucht, sein Han zu erreichen? Wie man sich konzentriert, um diesen Ort in seinem Innern zu finden?« Richard nickte. »Dann möchte ich, daß du genau das tust. Während du nach diesem Ort suchst, werde ich mein Han benutzen, durch den Rada’Han hindurch, und versuchen, dich zu lenken.«
Richard rutschte ein wenig hin und her, setzte sich bequemer hin. Pasha nahm eine Hand zurück und fächelte sich das Gesicht.
»Dieses Kleid kommt mir so warm vor, nachdem ich das andere getragen habe.«
Sie öffnete die obersten fünf Knöpfe ihres Kleides und ergriff erneut seine Hand. Richard warf einen Blick in das Kaminfeuer und sah nach den Scheiten, damit er hinterher feststellen konnte — wenn er die Augen wieder öffnete –, wie lange die Übung gedauert hatte. Er schien die Zeit nie einschätzen zu können, wenn er nach seinem Han suchte. Es kam ihm immer vor, als wären es bloß Minuten, doch gewöhnlich dauerte es wenigstens eine Stunde.
Richard schloß die Augen. Er rief das Bild des Schwertes der Wahrheit vor einem farblosen Hintergrund hervor. Als ihn die Stille überkam, als er nach dem Frieden in seinem Innern forschte, wurde sein Atem langsamer. Er holte einmal tief Luft, dann ließ er sich in das ruhige Zentrum sinken.
Er war sich Pashas Hände bewußt, die seine hielten, ihrer Knie, die an seine stießen, und ihres gleichmäßigen Atems, der allmählich mit seinem in Einklang kam. Es war angenehm, sich von ihr die Hände halten zu lassen. Er fühlte sich nicht so isoliert wie sonst. Er wußte nicht, ob sie tatsächlich die Magie des Halsrings nutzte, um ihn zu begleiten, doch er spürte, wie er in Spiralen tiefer versank als je zuvor.
Er trieb durch den zeitlosen Raum, ohne zu denken, ohne Mühe oder Sorge. Was immer sein Han war, er sah oder fühlte nichts, was er nicht schon früher gesehen oder gefühlt hatte. Abgesehen davon, daß er sich entspannter fühlte als zuvor und daß er das ermutigende Gefühl von Pashas Gegenwart verspürte, war es nicht anders als sonst. Schwach war er sich seines Körpers, der allmählich steifer wurde, und der Wärme des Feuers bewußt. Der kalte Stahl des Schwertes war in dieser Hitze wie ein Kern aus Eis.
Schließlich öffnete er die Augen. Pasha schlug die Augen zugleich mit ihm auf. Richard warf einen kurzen Blick ins Feuer. Die Scheite waren zu glühenden Kohlen heruntergebrannt. Zwei Stunden, schätzte er.
Ein Rinnsal Schweiß lief Pashas Hals hinunter. »Oh je, heute abend ist es aber warm.«
Sie machte Knöpfe auf. Viele Knöpfe. Jetzt war von ihr schon mehr zu sehen als in dem grünen Kleid. Richard zwang sich, ihr in die sanften Augen zu blicken. Pasha bedachte ihn mit einem kleinen, selbstbewußten Lächeln.
»Ich habe nichts gefühlt«, sagte Richard. »Ich habe mein Han nicht gespürt. Ich weiß allerdings auch nicht, was ich spüren soll.«
»Ich auch nicht, und ich hätte etwas spüren müssen. Seltsam.« seufzte sie wie zu sich selbst und zog ein verwirrtes Gesicht. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Aber das braucht Übung. Hast du mein Han gespürt? Hat es dir geholfen?«
»Nein«, gestand er. »Ich habe gar nichts gespürt.«
Ihr Mund verzog sich kurz, und sie legte die Stirn in Falten. »Du hast überhaupt nichts von mir gespürt?« Er schüttelte den Kopf. »Nun, dann mach die Augen zu und versuch es noch einmal.«
Es war schon spät, und Richard wollte nicht mehr üben, es war ermüdend. Doch er beschloß zu tun, was sie verlangte. Er schloß die Augen. Er konzentrierte sich darauf, das Schwert zurückzuholen.
Plötzlich spürte er Pashas volle Lippen auf seinem Mund. Er öffnete die Augen, als sie sich an ihn schmiegte. Sie hatte die Augen geschlossen, die Stirn in Falten gelegt. Sie packte sein Gesicht mit beiden Händen.
Richard faßte sie an den Schultern und stieß sie fort. Sie öffnete die Augen und leckte sich die Lippen.
Sie lächelte scheu. »Hast du das gespürt?«
»Ja, habe ich.«
Sie schlang ihm einen Arm um den Hals. »Offenbar nicht genug.«
Richard wehrte sie sachte mit einer Hand ab, als sie versuchte, sich vorzubeugen. Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, also versuchte er auch weiterhin freundlich zu bleiben. »Pasha, nicht.«
Sie strich ihm mit ihrer freien Hand über den Bauch. »Es ist schon spät. Bestimmt ist niemand in der Nähe. Wenn du dich dabei wohler fühlst, schirme ich die Tür ab. Sei ganz unbesorgt.«
»Ich bin nicht besorgt. Ich … ich will bloß nicht.«
Sie wirkte etwas gekränkt. »Findest du, ich bin nicht hübsch genug?«
Richard wollte sie nicht beleidigen, und er wollte sie nicht verärgern. Aber ermutigen wollte er sie auch nicht.
»Das ist es nicht, Pasha. Du bist sehr attraktiv. Es ist nur so, daß…«
Sie knöpfte einen weiteren kleinen Knopf auf. Richard langte hoch und packte ihre Hand, um sie daran zu hindern. Er merkte, wie die Situation brenzlig wurde. Sie war seine Lehrerin. Wenn er sie verärgerte oder demütigte, konnten die Dinge gefährlich kompliziert werden. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen und konnte es sich nicht leisten, sie gegen sich aufzubringen.
Sie zog ihr Kleid hoch und legte seine Hand auf ihren Schenkel. »Gefällt dir das besser?« hauchte sie.
Richard erschrak, als er ihren festen, sinnlichen Körper spürte. Er mußte daran denken, was Schwester Verna gesagt hatte, daß er schon bald ein anderes Paar schöner Beine finden würde. Das waren sie zweifellos, und Pasha überließ reichlich wenig der Phantasie. Er zog seine Hand zurück. »Pasha, du verstehst nicht. Ich finde, du bist eine wunderhübsche junge Frau…«
Sie heftete den Blick auf sein Gesicht, während sie ihm mit den Fingern durch den Bart strich. »Ich finde, du bist der bestaussehende Mann, den ich je gesehen habe.«
»Nein, das ist nicht wahr…«
»Ich mag deinen Bart. Schneide ihn bloß niemals ab. Ich finde, ein Zauberer muß einen Bart haben.«
Richard erinnerte sich, wie Zedd sich mit Hilfe von additiver Magie einen Bart hatte wachsen lassen, um ihm eine Lehre zu erteilen, und ihn dann mit der Erklärung abrasiert hatte, er könne ihn nicht mit Magie verschwinden lassen, denn dazu sei subtraktive Magie erforderlich, und die besäßen Zauberer nicht. Subtraktive Magie stamme aus der Unterwelt.
Er packte sie am Handgelenk und zog ihre Hand von seinem Gesicht. Für Richard war der Bart ein Symbol seiner Gefangenschaft. Gefangene rasierten sich nicht, so hatte er es Schwester Verna erklärt. Doch jetzt war nicht der rechte Augenblick, dies Pasha zu erklären.
Sie gab ihm einen Kuß auf den Hals. Irgendwie war es ihm unmöglich, sie aufzuhalten. Ihre Lippen waren so weich, und er hörte ihren beharrlichen Atem ganz nah an seinem Ohr. Es war, als ginge ihm der Kuß durch und durch, bis hinunter in die Zehenspitzen, ganz ähnlich dem Gefühl, als sie ihre Hände auf den Rada’Han gelegt hatte. Das Kribbeln betäubte seinen Verstand. Er stöhnte innerlich auf. Sein Widerstand schmolz unter ihren Küssen dahin…
Als er von Denna in einem Halsring gehalten worden war, hatte er keine Wahl gehabt — nicht einmal der Tod hätte ihn vor Dennas Wünschen retten können –, trotzdem spürte er noch immer Scham über das, was er getan hatte.
Jetzt hatte man ihm wieder einen Halsring angelegt, und Pasha wandte irgendeine Art Magie bei ihm an, doch diesmal wußte er, daß er eine Wahl hatte. Er zwang sich, den Kopf einzuziehen und ihre Lippen von sich zu lösen. Sanft stieß er sie zurück.
»Pasha, bitte…«
Sie richtete sich ein wenig auf. »Wie heißt sie noch, dieses Mädchen, das du liebst?«
Richard wollte ihr Kahlans Namen nicht verraten. Es war sein Leben. Es ging niemanden etwas an. Diese Leute waren seine Häscher, nicht seine Freunde. »Das ist nicht wichtig. Darum geht es nicht.«
»Was hat sie, das ich nicht habe? Ist sie hübscher als ich?«
Du bist ein Mädchen, dachte Richard, und sie ist eine Frau. Doch das konnte er nicht sagen. Du bist wie eine hübsche Kerze, dachte er, und bei Kahlan geht die Sonne auf. Doch auch das konnte er nicht sagen.
Wenn er Pasha reizte, hatte er einen Krieg am Hals. Er mußte diese Situation beenden, ohne sie zu verstimmen oder ihr das Gefühl zu geben, sie werde zurückgewiesen.
»Pasha ich fühle mich geehrt, geschmeichelt, wirklich, aber wir haben uns gerade erst kennengelernt.«
»Richard, der Schöpfer gibt uns das Verlangen — und das Vergnügen, wenn wir ihm nachgeben, damit wir Seine Herrlichkeit durch Seine Schöpfung begreifen. Daran ist nichts verkehrt. Es ist etwas Wunderbares.«
»Er hat uns auch einen Verstand gegeben, damit wir unterscheiden können, was richtig und was falsch ist.«
Sie hob ihr Kinn ein ganz kleines Stück. »Richtig und falsch? Wenn sie dich liebte, wäre sie bei dir und hätte dich nicht gehen lassen. Das ist es, was nicht stimmt. Sie glaubt, du bist nicht gut genug für sie. Offenbar hat sie den Wunsch, dich los zu sein. Wärst du ihr nicht egal, hätte sie dafür gesorgt, daß du bei ihr bleibst. Sie ist fort. Ich bin hier, und mir bist du nicht egal. Ich würde darum kämpfen, dich zu behalten. Hat sie vielleicht gekämpft?«
Richard öffnete den Mund, brachte vor Schmerz jedoch kein Wort hervor. Ihm war, als sei der Wille, alles durchzustehen, aufgebraucht und hätte nichts zurückgelassen als eine hohle, abgestorbene Schale.
Pasha streckte die Hand aus und berührte seine Wange. »Du wirst sehen, du bist mir nicht egal, Richard. Ich mag dich mehr, als sie es je getan hat. Du wirst es sehen. Es ist richtig, wenn ein Mensch sich sorgt wie ich.« Sie legte ihre Stirn in sorgenvolle Falten. »Es sei denn, du findest mich unattraktiv. Ist es das? Du hast so viele Frauen gesehen und glaubst, ich bin häßlich im Vergleich zu ihnen?«
Richard legte ihr die Hand auf die Wange. »Pasha … du bist hinreißend. Das ist es nicht.« Er schluckte die Trockenheit hinunter, versuchte seinen Worten einen ernsten Unterton zu geben. »Pasha, könntest du mir vielleicht noch etwas Zeit lassen? Es ist einfach noch zu früh. Kannst du das nicht verstehen? Könntest du einen Mann wirklich mögen, der seine Gefühle so schnell vergißt? Könntest du mir einfach noch etwas Zeit lassen?«
Sie schlang die Arme um ihn und legte ihren Kopf an seine Brust. »Ich wußte gestern schon, als du mich so sanft im Arm gehalten hast, daß dies ein weiteres Zeichen dafür war, daß der Schöpfer dich mir schickt. Da wußte ich, daß ich nie einen anderen haben will. Da ich auf ewig dir gehöre, kann ich warten. Zeit haben wir im Überfluß. Du wirst sehen, ich bin die Richtige für dich. Du brauchst mir nur zu sagen, wann du soweit bist, und ich werde dir gehören.«
Richard schloß seufzend die Tür hinter ihr und lehnte sich mit dem Rükken daran. Er dachte nach. Es gefiel ihm nicht, Pasha etwas vorzumachen, sie in dem Glauben zu lassen, er werde mit der Zeit anders für sie empfinden, doch irgend etwas mußte er tun. Wie gering war Pashas Menschenkenntnis, wenn sie tatsächlich glaubte, man könne die Liebe eines Menschen gewinnen, indem man an die Lust appelliert!
Er holte die Locke von Kahlans Haar hervor, drehte sie in seinen Fingern und betrachtete sie. Es ärgerte ihn, daß Pasha behauptet hatte, Kahlan hätte nicht um ihn gekämpft. Pasha konnte unmöglich wissen, welche Kämpfe er und Kahlan durchgestanden hatten. Welches Elend sie hatten überwinden müssen, welche Angst sie zusammen durchlitten, welche Schlachten sie zusammen geschlagen hatten. Eine Frau von Kahlans Intelligenz, Stärke und Mut war für Pasha wahrscheinlich unvorstellbar.
Kahlan hatte durchaus um ihn gekämpft. Mehr als einmal hatte sie selbstlos ihr Leben für ihn aufs Spiel gesetzt. Was wußte Pasha von den Schrecken, denen Kahlan tapfer ins Gesicht gesehen und die sie besiegt hatte? Pasha konnte Kahlan nicht im mindesten das Wasser reichen.
Er steckte die Haarlocke zurück in seine Tasche. Den Gedanken an Kahlan verbannte er aus seinem Kopf. Der Schmerz war unerträglich. Er hatte anderes zu tun.
Er ging ins Schlafzimmer, stellte den großen Spiegel mit dem Rahmen aus Eschenholz auf, dann holte er seinen Rucksack aus der Ecke. Er zog das schwarze Cape des Mriswith hervor, warf es sich über die Schultern und betrachtete sein Bild im Spiegel.
Es sah aus wie ein ganz normales Cape. Er fand es eigentlich recht edel. Der Schnitt und die Länge stimmten, denn der Mriswith hatte in etwa seine Größe gehabt. Der schwere Stoff war tintenschwarz, fast so schwarz wie der Stein der Nacht, den Adie ihm geschenkt hatte, um ihm über den Paß zu helfen, fast so schwarz, wie die Kästchen der Ordnung. Fast so schwarz wie der ewige Tod.
Doch es war nicht der ansprechende Schnitt des Capes, der ihn so faszinierte.
Richard trat zurück und stellte sich vor die helle, bräunliche Wand. Er zog die Kapuze hoch, warf sie über seinen Kopf und schloß das Cape mit dem Band. Während er sein Abbild im Spiegel betrachtete, konzentrierte er sich auf die Wand, vor der er stand.
Im Zeitraum eines Atemzugs erlosch sein Bild.
Das Cape hatte die Farbe der Wand angenommen, vor der er stand, auf eine Weise, daß er genau hinsehen und sich auf den Rand des Capes konzentrieren mußte, um sich von der Wand abzuheben. Obwohl sein Gesicht frei geblieben war, schaffte es die Magie des Capes oder möglicherweise auch die Magie des Capes zusammen mit seiner eigenen, auch dieses zu maskieren, es irgendwie in die alles verbergende Farbe einzubinden.
Das erklärte, weshalb der Mriswith in verschiedenen Farben aufgetreten war.
Richard schob Gegenstände hinter sich, um festzustellen, was sie bewirkten. Er stand teils vor der Wand und teils vor einem Stuhl, über dem seine rote Jacke hing. Das Cape erzeugte einen roten Farbtupfer, der die Farbe und Gestalt des Hintergrundes recht gut nachahmte. Es war zwar nicht ganz so makellos wie vor der glatten Wand, doch war er noch immer leicht zu übersehen, wenn er sich nicht bewegte.
Bewegung verzerrte die Bilder, während das Cape die Farbe wechselte, um sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, auch wenn es das Auge noch immer so weit täuschte, daß man ihn übersehen konnte. Doch wenn er stillstand, war er praktisch vor jedem Hintergrund unsichtbar. Gelegentlich erzeugte der Effekt beim Hinschauen ein Schwindelgefühl. Sobald er aufhörte, sich zu konzentrieren, wurde das Cape wieder schwarz.
Dieses Ding, dachte er, während er sich im schlichten, schwarzen Cape im Spiegel betrachtete, könnte sich als nützlich erweisen.