Naßkalte, schwere Luft schlug Kahlan aus der Grube entgegen, als sie Nadine auf der Leiter nach unten folgte. Da sie die Hand mit der Fackel außerdem dazu benutzte, sich an der Leiterstange festzuhalten, blieb ihr nichts übrig, als die Hitze der Flamme neben ihrem Gesicht auszuhalten. Aber sie war fast dankbar für den Geruch des Pechs, denn er überdeckte den Gestank der Grubenluft. Weiter unter beleuchteten die Fackeln mit ihrem flackernden Licht die Steinmauern und die dunkle Gestalt in der Mitte des Raumes.
Kahlan stieg von der Leiter herunter. Cara rammte gerade ihre Fackel in eine Halterung an der feuchten Mauer. Kahlan stellte ihre Fackel in einen Halter an der Wand gegenüber. Nadine stand da wie gelähmt und betrachtete den gebeugten Mann, der über und über mit verkrustetem Blut bedeckt war.
Cara richtete den Blick auf Marlin und runzelte die Stirn.
Sein Kopf hing vornüber, und er hatte die Augen geschlossen. Sein Atem ging tief und langsam, gleichmäßig.
»Er schläft«, flüsterte Cara.
»Er schläft?« flüsterte Kahlan zurück. »Wie kann er schlafen, wenn er so dasteht?«
»Ich … weiß es nicht. Wir zwingen neue Gefangene immer zu stehen, manchmal tagelang. Wenn sie mit niemandem sprechen können und gezwungen sind, nur über ihr eigenes düsteres Schicksal nachzudenken, verlieren sie ihre Entschlossenheit – es nimmt ihnen geradezu jeden Kampfeswillen. Es ist eine heimtückische Form der Folter. Ich hatte Männer, die gebettelt haben, daß sie lieber geschlagen werden wollten, als Stunde um Stunde alleine stehen zu müssen.«
Marlin schnarchte leise. »Wie oft kommt es vor, daß sie – einfach einschlafen?«
Cara stemmte eine Hand in die Hüfte und wischte sich mit der anderen nachdenklich über den Mund. »Es ist mir schon passiert, daß sie einschlafen, aber das weckt sie sicher auf. Wenn sie sich von der Stelle entfernen, auf der wir ihnen befohlen haben stehenzubleiben, löst die Verbindung den Schmerz aus. Wir brauchen gar nicht dabeizusein. Die Verbindung funktioniert, ganz gleich, wo wir uns befinden. Aber von einem Mann, der im Stehen eingeschlafen wäre, habe ich noch nie gehört.«
Kahlan warf einen Blick über die Schulter, vorbei an Nadine und die lange Leiter hinauf zu dem Licht, das durch die Tür hereinfiel. Sie konnte die Köpfe der Soldaten erkennen, doch keiner von ihnen hatte den Mumm, hinunter in die Grube zu blicken. Schließlich gingen dort womöglich magische Dinge vor sich.
Nadine schob ihren Kopf zwischen die beiden. »Vielleicht ist es ein Bann. Irgendeine Art von Magie.«
Sie wich zurück, da sie zur Antwort nur zornige Blicke erntete.
Eher aus Neugier denn als Versuch, ihn aufzuwecken, versetzte Cara Marlin einen leichten Stoß an der Schulter. Sie bohrte ihm den Finger in die Brust, in seinen Bauch.
»Steinhart. Seine Muskeln sind vollkommen starr.«
»Das muß der Grund sein, daß er so aufrecht stehen kann. Vielleicht ist es irgendein Zaubertrick, den er gelernt hat.«
Cara schien das nicht recht zu überzeugen. Mit einer ruckartigen, knappen Bewegung ihrer Hand, die Kahlan kaum mitbekam, ließ sie den Strafer in ihre Hand schnellen. Kahlan wußte, wie schmerzhaft es für sie war, den Strafer festzuhalten, ihrem Gesicht war davon aber nichts anzumerken. Das war es nie.
Die Mutter Konfessor packte Cara am Handgelenk. »Das ist wirklich nicht nötig. Weckt ihn einfach. Und benutzt Eure Verbindung zu seinem Verstand nicht dazu, um ihm Schmerzen zuzufügen, es sei denn, es ist absolut erforderlich. Es sei denn, ich gebe Euch den Befehl dazu.«
Auf Caras Gesicht machte sich Unwillen breit. »Meiner Meinung nach ist es erforderlich. Ich darf das nicht zulassen. Ich darf nicht zögern, meine Kontrolle auszuüben.«
»Cara, zwischen kluger Vorsicht und Zögern liegen Welten. Die ganze Geschichte mit Marlin war von Anfang an mehr als eigenartig. Gehen wir einfach Schritt für Schritt vor. Ihr sagtet, Ihr hättet ihn unter Kontrolle. Wir sollten also nichts überstürzen. Ihr habt ihn doch unter Kontrolle, oder?«
Ganz langsam verzog ein Lächeln Caras Lippen. »Oh, daran besteht kein Zweifel. Wenn Ihr jedoch darauf besteht, werde ich ihn so wecken, wie wir es manchmal bei unseren lieben Spielgefährten tun.«
Cara beugte sich vor, legte ihm den linken Arm um den Hals, neigte den Kopf zur Seite und gab Marlin einen Kuß auf den Mund. Kahlan merkte, daß sie rot wurde. Sie wußte, Denna hatte manchmal Richard auf diese Weise geweckt, bevor sie ihn weiterfolterte.
Mit einem zufrieden-spöttischen Grinsen ließ Cara von ihm ab.
Wie bei einer Katze, die aus einem Schlummer erwacht, öffneten sich Marlins Lider.
In seinen Augen war wieder dieses Etwas – dieses Etwas, das in Kahlan den Wunsch erzeugte, sich bis auf den Grund ihrer Seele zu verkriechen.
Diesmal sah sie mehr als beim letzten Mal. Die Augen waren nicht einfach die eines sehr alten Menschen. Es waren Augen, denen Angst vollkommen fremd war.
Während er die drei mit kalter, ungerührter Berechnung musterte, knickte er seine Hände nach hinten ab, krümmte den Rücken und streckte sich wie eine Katze. Ein perverses Grinsen zog auf sein Gesicht, eine Verdorbenheit, die sich ausbreitete wie ein Blutfleck, der durch weißes Leinen sickert.
»Sieh an. Meine beiden Schätzchen sind zurück.« Seine beunruhigenden Augen schienen mehr wahrzunehmen, als sie sollten, mehr zu wissen, als sie durften. »Und sie haben noch so ein Weibsstück mitgebracht.«
Zuvor hatte Marlins Stimme fast wie die eines Jungen geklungen. Jetzt war sie tief und kehlig und schien dem Munde eines muskelbepackten Kerls von doppeltem Gewicht zu entstammen – eine Stimme, durchtränkt von unumstrittener Macht und Autorität. Sie strahlte Unbesiegbarkeit aus. Kahlan hatte noch nie eine so bedrohliche Stimme gehört.
Sie trat einen Schritt zurück, nahm Caras Arm und zog sie mit nach hinten.
Obwohl Marlin sich nicht bewegte, spürte sie, wie die Bedrohung wuchs.
»Cara« – Kahlan schob Nadine mit der Hand nach hinten, während sie einen weiteren Schritt zurückwich – »Cara, sagt mir, daß Ihr ihn im Griff habt. Daß Ihr die Kontrolle habt.«
Cara starrte Marlin offenen Mundes an. »Was …?«
Unvermittelt ließ sie einen mächtigen Schlag los. Ihre gepanzerte Faust stieß seinen Schädel nur wenige Zoll zur Seite. Der Schlag hätte ihn von den Füßen werfen müssen.
Marlin betrachtete sie mit einem blutverschmierten Lächeln. Er spuckte gebrochene Zähne aus.
»Gar nicht mal übel, Schätzchen«, sagte er rauh. »Aber jetzt habe ich die Gewalt über deine Verbindung mit Marlin.«
Cara rammte ihm den Strafer in den Unterleib. Sein Körper zuckte zusammen, seine Arme schlugen nutzlos um sich. Seine Augen verloren nicht einen Moment lang ihren tödlichen Ausdruck. Das Lächeln schwankte nicht, während er sie musterte.
Jetzt war es an Cara, zwei Schritte zurückzutreten.
»Was geht hier vor sich?« fragte Nadine tonlos. »Da stimmt doch etwas nicht! Hattet Ihr nicht gesagt, er sei hilflos?«
»Ihr müßt verschwinden«, raunte Cara Kahlan dringlich zu. »Sofort.« Sie sah die Leiter hinauf. »Ich werde ihn aufhalten. Verschließt die Tür.«
»Ihr wollt schon wieder fort?« fragte Marlin mit seiner nervenzerreißenden Stimme, als sie sich der Leiter näherten. »So schnell? Dabei haben wir uns überhaupt noch nicht unterhalten. Es hat mir Spaß gemacht, Euren Gesprächen zuzuhören. Dabei habe ich sehr viel gelernt. Ich wußte gar nichts von den Mord-Sith. Jetzt allerdings schon.«
Kahlan zögerte. »Wovon redest du?«
Sein Raubtierblick wanderte von Cara zu Kahlan. »Ich habe von Eurer anrührenden Liebe zu Richard Rahl erfahren. Wie aufmerksam von Euch, mir die Grenzen seiner Gabe zu offenbaren. Ich hatte vieles schon vermutet, Ihr habt es mir bestätigt. Ihr habt mir außerdem verraten, daß er andere mit der Gabe erkennen kann und daß diese seinen Verdacht erregen. Selbst Ihr habt bemerkt, daß mit Marlins Augen etwas nicht in Ordnung ist.«
»Wer seid Ihr?« fragte Kahlan, während sie Nadine mit zurück zur Leiter schob.
Marlin schüttelte sich vor Lachen. »Nun, niemand anderes als Euer schlimmster Alptraum, meine kleinen Schätzchen.«
»Jagang?« fragte Kahlan leise und ungläubig. »Ist es das? Seid Ihr Jagang?«
Das kehlige Lachen hallte an den steinernen Mauern der Grube entlang. »Ihr habt mich entlarvt. Ja, ich gestehe. Ich bin es, der Traumwandler höchstpersönlich. Ich habe mir die Seele dieses armen Kerls geborgt, damit ich euch einen kleinen Besuch abstatten kann.«
Cara schmetterte ihm den Strafer seitlich gegen den Hals. Ein Arm wie der von einer Marionette schlug sie zur Seite.
Fast augenblicklich war sie wieder zurück, prügelte ihm hart auf die Nieren ein und versuchte, ihn zu Boden zu werfen. Er rührte sich nicht von der Stelle. Mit ruckenden Bewegungen griff er nach unten, erwischte sie am Zopf und schleuderte sie gegen die Wand hinter sich, als sei sie eine Stockpuppe. Kahlan zuckte innerlich zusammen, als Cara gegen die Mauer klatschte. Sie blieb mit dem Gesicht zum Boden liegen. Blut sickerte in ihr blondes Haar.
Kahlan stieß Nadine zur Leiter. »Raus hier!«
Nadine ergriff eine Leitersprosse. »Was wollt Ihr tun?«
»Ich habe genug gesehen. Jetzt ist hier Schluß.«
Kahlan ging auf Marlin oder Jagang oder wer immer es war los. Sie mußte dem Kerl mit ihrer Kraft ein Ende machen.
Mit einem Aufschrei schoß Nadine an Kahlan vorbei und rutschte über den Boden, als gleite sie über Eis. Der Mann schnappte sich die um sich schlagende Frau, riß sie herum und packte sie mit einer Hand am Hals. Nadine, die Augen aufgerissen, rang würgend nach Atem.
Kahlan blieb abrupt stehen, da Marlin sie mit erhobenem Zeigefinger warnte. »Nichts da. Ich zerquetsche ihr die Kehle.«
Die Mutter Konfessor wich einen Schritt zurück. Nadine schnappte japsend nach Luft, als er den Griff ein wenig lockerte.
»Ein einziges Leben für all die anderen, die du sonst töten würdest? Glaubt Ihr, die Mutter Konfessor wäre nicht bereit, eine solche Entscheidung zu treffen?«
Nach Kahlans Worten erwachte in Nadine erneut Panik, und sie versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Sie schlug ihm ungestüm die Krallen in die Hände. Selbst wenn Marlin ihr nicht die Kehle zerquetschte, er berührte sie, und wenn Kahlan ihn mit ihrer Kraft überwältigte, wäre auch das Mädchen verloren.
»Vielleicht würdet Ihr es tun, aber wollt Ihr nicht wissen, was ich hier mache, Schätzchen? Wollt Ihr nicht wissen, was ich mit Eurem Geliebten vorhabe, dem großen Lord Rahl?«
Kahlan drehte sich um und schrie nach oben: »Collins! Schließt die Tür. Verriegelt sie!«
Sofort fiel die Tür mit lautem Knall zu. Nur die fauchenden Fackeln erhellten die Grube noch. Das hallende Echo der Tür verschmolz mit dem Zischen der Fackeln.
Kahlan wandte sich wieder zu Marlin um. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, begann sie ihn langsam zu umkreisen. »Was seid Ihr? Und wer?«
»Nun, um ehrlich zu sein, ist das eine schwierige philosophische Frage, wenn man sie mit Worten erklären will, die Ihr begreift. Ein Traumwandler ist in der Lage, sich in die grenzenlosen Zeiträume zwischen den Gedanken einzuschleichen, in denen ein Mensch in seiner Persönlichkeit, in seinem ureigenen Selbst nicht existiert, und dort den Verstand des Menschen zu besetzen. Was Ihr vor Euch seht, ist Marlin, ein ergebenes, kleines Schoßhündchen von mir. Ich bin die Zecke auf seinem Rücken, die er mit in dieses Haus geschleppt hat. Er ist ein Wirt, dessen ich mich für … bestimmte Zwecke bediene.«
Nadine schlug nach dem Mann, der sie festhielt, und zwang ihn dadurch, fester zuzudrücken, damit sie ihm nicht entwischte. Kahlan schürzte die Lippen und bat sie flehentlich, still zu sein. Wenn sie sich weiter gegen ihn wehrte, würde sie noch stranguliert werden. Das Mädchen griff nach Kahlans Bitte wie nach einer Rettungsleine, beruhigte sich und konnte wenigstens wieder atmen.
»Euer Wirt wird bald ein toter Wirt sein«, erwiderte Kahlan.
»Er ist unverzichtbar. Unglücklicherweise – für Euch – ist der Schaden, Marlin sei Dank, bereits angerichtet.«
Mit einem verstohlenen Seitenblick überzeugte sich Kahlan, daß sie sich der mit dem Gesicht auf dem Boden liegenden Cara ganz langsam immer weiter näherte. »Wieso? Was hat er getan?«
»Nun, Marlin hat Euch und Richard in meinem Namen die Flügel gestutzt. Natürlich steht euch beiden noch einiges durch mich bevor, aber vollbracht hat er es. Ich hatte das Privileg, Zeuge dieser prachtvollen Tat zu sein.«
»Was habt Ihr getan? Was tut Ihr hier in Aydindril?«
Jagang lachte stillvergnügt in sich hinein. »Nun, ich habe mich amüsiert. Gestern habe ich mir sogar ein Ja'La-Spiel angesehen. Ihr wart dort. Richard Rahl war dort. Ich habe Euch beide gesehen. Nun, allerdings hat es mir nicht gefallen, daß er den Broc gegen einen leichteren ausgetauscht hat. Er hat es zu einem Spiel für Schwächlinge gemacht. Es muß mit einem schweren Ball gespielt werden und von den kräftigsten, aggressivsten und brutalsten Spielern – von denen, die am meisten nach dem Sieg gieren.
Wißt Ihr eigentlich, was Ja'La bedeutet, Kleines?«
Kahlan schüttelte den Kopf und stellte dabei eine Liste auf, welche Möglichkeiten ihr blieben und was sie am dringendsten tun mußte. Ganz oben auf der Liste stand, daß sie diesen Mann mit Hilfe ihrer Kraft aufzuhalten hatte, bevor er aus der Grube entkam, aber zuerst mußte sie soviel wie möglich in Erfahrung bringen, wenn sie seine Pläne vereiteln wollten. Einmal hatte sie bereits versagt. Ein zweites Mal konnte sie sich das nicht erlauben.
»Das Wort stammt aus meiner Muttersprache. Der volle, eigentliche Name lautet Ja'La dh Jin – Das Spiel des Lebens. Es gefällt mir nicht, wie Richard es verfälscht und verdorben hat.«
Kahlan hatte Cara fast erreicht. »Ihr habt Euch also in die Seele dieses Mannes eingeschlichen, damit Ihr herkommen und Kindern bei einem Spiel zusehen konntet? Ich dachte, der große und mächtige Kaiser Jagang hätte Wichtigeres zu tun.«
»Oh, ich habe Wichtigeres getan. Viel Wichtigeres.« Er grinste. »Seht doch, Ihr dachtet, ich sei tot. Daher wollte ich Euch nur zur Kenntnis bringen, daß es Euch nicht gelungen ist, mich im Palast der Propheten umzubringen. Ich war nicht einmal dort. Um genau zu sein, habe ich mich zu dieser Zeit mit den Reizen einer jungen Dame vergnügt. Einer meiner frisch gefangenen Sklavinnen.«
»Na schön, Ihr seid nicht tot. Ihr hättet uns einen Brief schicken können, dann hättet Ihr Euch nicht all die Mühe machen müssen. Ihr seid aus einem anderen Grund hier. Außerdem seid Ihr mit einer Schwester der Finsternis hierhergekommen.«
»Schwester Amelia hatte eine Besorgung zu erledigen, aber ich fürchte, sie ist keine Schwester der Finsternis mehr. Sie hat ihren Eid an den Hüter der Unterwelt verraten, damit ich Richard Rahl vernichten konnte.«
Kahlan stieß Cara mit dem Fuß an. »Warum habt Ihr uns das nicht alles vorher schon erzählt, als wir Marlin gefangengenommen haben? Warum habt Ihr bis jetzt gewartet?«
»Nun, ich mußte warten, bis Amelia mit dem zurückkam, was ich sie holen geschickt hatte. Es ist nicht meine Art, Risiken einzugehen, müßt Ihr wissen. Das ist vorbei.«
»Und was hat sie für Euch in Aydindril gestohlen?«
Jagang lachte voller Spott. »Oh, nicht in Aydindril, Kleines.«
Kahlan ging neben Cara in die Hocke. »Warum sollte sie nicht mehr auf den Hüter eingeschworen sein? Nicht, daß ich unglücklich darüber wäre, aber warum sollte sie ihren Eid verraten haben?«
»Weil sie dank mir in einer Zwickmühle saß. Ich ließ ihr die Wahl, entweder zu ihrem Herrn geschickt zu werden, wo sie bis in alle Ewigkeit wegen ihres vorherigen Versagens bei Eurem Geliebten durch seine Hand zu leiden hätte, oder ihn zu verraten und fürs erste seinem Zugriff zu entgehen, nur um seinen Zorn später noch zu vergrößern.
Und Ihr, Kleines, solltet traurig darüber sein, sehr traurig, denn das wird Richard Rahls Untergang sein.«
Kahlan mußte sich zwingen, etwas zu erwidern. »Eine leere Drohung.«
»Ich mache keine leeren Drohungen.« Sein Feixen wurde breiter. »Warum, glaubt Ihr wohl, habe ich mir all die Mühe gemacht? Um an Ort und Stelle zu sein, wenn es passiert, und um Euch wissen zu lassen, daß ich es bin, Jagang, der Euch das alles angetan hat. Die Vorstellung, Ihr könntet glauben, das sei alles Zufall, würde mir gar nicht gefallen.«
Kahlan war im Nu auf den Beinen und ging wütend einen Schritt auf ihn zu. »Raus damit, Bastard. Was habt Ihr getan?«
Marlins Hand schnellte hoch. Er hob warnend den Zeigefinger. Nadine machte ein Geräusch, als würde sie ersticken. »Vorsicht, Mutter Konfessor, oder Ihr werdet den Rest nicht mehr zu hören bekommen.« Kahlan trat einen Schritt zurück. »So ist es besser, Kleines.
Ihr müßt wissen, Richard dachte, mit der Zerstörung des Palastes der Propheten könnte er mir den Zugang zu dem dort aufbewahrten Wissen verwehren.« Marlins Marionettenfinger bewegte sich hin und her. »Dem ist nicht so. Prophezeiungen gab es nicht nur im Palast der Propheten. Auch an anderen Orten gab es Propheten und Prophezeiungen. Hier zum Beispiel in der Burg der Zauberer. Und auch in der Alten Welt. Eine ganze Reihe Prophezeiungen fand ich bei der Ausgrabung einer alten Stadt, die zur Zeit des Großen Krieges in voller Blüte stand.
Unter ihnen entdeckte ich eine, die Richard Rahls Untergang sein wird. Es handelt sich um eine äußerst seltene Art von Prophezeiung, die man bindende Gabelung nennt. Sie zwingt ihrem Opfer ein Dilemma auf.
Diese Prophezeiung habe ich heraufbeschworen.«
Kahlan hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach. Sie ging rasch in die Hocke und hob Caras Kopf an. Cara funkelte sie wütend an.
»Idiotin«, flüsterte Cara kaum hörbar. »Es geht mir gut. Laßt mich. Holt Euch die Antworten. Dann gebt das Zeichen, und ich werde meine Verbindung benutzen, um ihn zu töten.«
Kahlan ließ Caras Kopf sinken und erhob sich. Sie begann, Zoll um Zoll zur Leiter zurückzuweichen.
»Ihr redet dummes Zeug, Jagang.« Sie bewegte sich schneller, in der Hoffnung, Jagang würde glauben, sie habe Cara tot vorgefunden. Auf halbem Weg zur Leiter hatte sie gar nicht die Absicht zu fliehen. Sie wollte ihn mit ihrer Kraft berühren. Ob nun mit Nadine oder ohne. »Ich weiß nichts von Prophezeiungen. Was Ihr sagt, ergibt keinen Sinn.«
»Nun, Kleines, die Sache verhält sich so. Entweder Richard Rahl läßt den Feuersturm dessen, was ich geschaffen habe, unkontrolliert wüten und erfüllt damit den einen Zweig der Prophezeiung, was seinen Tod bedeuten wird, oder er versucht, aufzuhalten, was ich begonnen habe, und erfüllt damit den anderen Zweig der Prophezeiung. Auf diesem Zweig wird er vernichtet. Versteht Ihr jetzt? Er kann nicht gewinnen, ganz gleich, wofür er sich entscheidet. Nur eines der beiden Ereignisse kann sich jetzt noch entwickeln, nur einer der beiden Zweige. Er hat die Macht, zu entscheiden, welcher, aber beide werden sein Verderben sein.«
»Ihr seid ein Narr. Richard wird sich für keinen der beiden entscheiden.«
Jagang röhrte vor Lachen. »O doch, das wird er. Ich habe die Prophezeiung bereits heraufbeschworen, durch Marlin. Einmal heraufbeschworen, gibt es kein Zurück mehr aus einer Prophezeiung der bindenden Gabelungen. Aber gebt Euch ruhig Euren Selbsttäuschungen hin, wenn es Euch gefällt. Das wird Euren Fall um so schmerzhafter gestalten.«
Kahlan hielt im Gehen inne. »Ich glaube Euch nicht.«
»Das werdet Ihr. O ja, das werdet Ihr.«
»Leere Drohungen! Was für Beweise habt Ihr?«
»Die Beweise werden mit dem Roten Mond kommen.«
»So etwas gibt es nicht. Eure Worte sind leere Drohungen.«
Während ihre Angst in der Hitze des Zorns verflog, drohte Kahlan plötzlich ihm. »Aber hört meine Warnung, Jagang. Ich habe die Leichen der Frauen und Kinder gesehen, die Ihr in Ebinissia abgeschlachtet habt, und ich habe Eurer Imperialen Ordnung unsterbliche Rache geschworen. Selbst Prophezeiungen werden uns nicht daran hindern, Euch zu besiegen.«
Wenn sie schon sonst nichts tun konnte, mußte sie ihn wenigstens so sehr reizen, daß er die Prophezeiung preisgab. Wenn sie diese kannten, konnten sie vielleicht noch etwas dagegen unternehmen. »So lautet also meine Prophezeiung für Euch, Jagang. Im Gegensatz zu Eurer habe ich sie Euch in deutlichen Worten sagen können.«
Sein tiefes Lachen hallte durch die Grube. »Angeblich? Also schön, dann erlaubt, daß ich Euch die Prophezeiung zeige.«
Eine von Marlins Händen wurde angehoben. In der Grube explodierte ein Blitz. Kahlan hielt sich die Ohren zu. Sie duckte sich und ging in die Hocke, um ihren Kopf zu schützen. Steinsplitter flogen pfeifend durch die Luft. Sie spürte einen scharfen Schmerz, als einer davon ihren Arm aufschlitzte und ein anderer sich ihr von der Seite in die Schulter bohrte. Dann bemerkte sie, wie warmes Blut ihren Ärmel durchtränkte. Ihr wurde übel.
Über ihren Köpfen sprang und hüpfte der Blitz kreuz und quer über die Wand und gravierte einen Schriftzug in das Mauerwerk, den sie durch die blendenden Lichtblitze hindurch so gerade eben erkennen konnte. Das krachende Geblitze endete wie abgeschnitten, und zurück blieben zackige Nachbilder auf ihrer Netzhaut, der Gestank von Staub und Rauch, der das Atmen fast unmöglich machte, und das Echo des grauenhaften Lärms, der ihr durch den Kopf hallte.
»Da – bitte, Kleines.«
Kahlan kam auf die Beine und schaute blinzelnd an der Mauer hoch. »Unverständliches Gekritzel. Sonst nichts. Es hat nichts zu bedeuten.«
»Es handelt sich um Hoch-D'Haran. Den Chroniken zufolge nahmen wir im letzten Krieg einen Zauberer gefangen, einen Propheten, und da er dem Haus Rahl selbstverständlich treu ergeben war, blieb meinen Traumwandlervorfahren der Zugang zu seinem Verstand verwehrt.
Also folterten sie ihn. In einem Zustand irrer Phantasien, der Hälfte seiner Innereien beraubt, gab er seine Prophezeiung preis. Laßt sie Euch von Richard übersetzen.« Er beugte sich mit einem gehässigen Grinsen vor. »Ich bezweifle allerdings, ob er Euch mitteilen möchte, was dort geschrieben steht.«
Gewaltsam drückte er Nadine einen Kuß auf die Wange. »Sie war mir ein großes Vergnügen, meine kleine Reise, aber ich fürchte, Marlin muß sich jetzt verabschieden. Wirklich schade für Euch, daß der Sucher mit seinem Schwert nicht hier war. Das Schwert wäre Marlins Ende gewesen.«
»Cara!« Kahlan stürzte sich auf ihn und flehte die Guten Seelen im stillen um Vergebung an für das, was sie gezwungen war, Nadine anzutun, wenn sie gegen Marlin ihre Kraft einsetzte.
Cara sprang auf. Jagang wuchtete Nadine mit ungeheurer Kraft durch die Luft. Die Frau stieß einen Schrei aus, als sie mit voller Wucht blindlings gegen Kahlan stolperte. Kahlan landete ächzend rücklings auf dem Steinfußboden.
Vor ihren Augen tanzten zahllose kleine, schwebende Lichtpunkte. Sie fühlte nichts mehr. Sie befürchtete, sich das Rückgrat gebrochen zu haben. Doch als sie sich auf die Seite wälzte, kehrte das Gefühl mit schmerzhaftem Kribbeln in ihre Glieder zurück. Sie holte keuchend Luft, um wieder zu Atem zu kommen und richtete sich mühsam auf.
Auf der anderen Seite des Raumes stieß Cara einen schrillen, durchdringenden Schrei aus. Sie sackte in sich zusammen, fiel auf die Knie und hielt sich beim Schreien die Ohren mit den Unterarmen zu.
Marlin war mit einem Satz auf der Leiter, während Kahlan und Nadine noch damit rangen, sich voneinander zu lösen.
Der Zauberer kletterte die Leiter wie eine Katze einen Baum hinauf.
Die Fackeln erloschen und tauchten den Kerker in Dunkelheit.
Jagang stieg lachend nach oben. Cara schrie, als würde sie in Stücke gerissen. Endlich gelang es Kahlan, Nadine zur Seite zu stoßen und auf Händen und Knien in die Richtung zu kriechen, aus der sie Jagangs spöttisches Gelächter hörte. Sie spürte, daß ihr das Blut den gesamten Ärmel durchtränkte.
Die Eisentür flog explosionsartig auf und prallte scheppernd gegen die Wand auf der anderen Seite des Ganges. Jetzt, wo die Tür verschwunden war, wurde die Leiter wieder in Licht getaucht. Kahlan rappelte sich auf und stürzte auf sie zu.
Sie wollte gerade nach der Leiter greifen, als der Schmerz in ihrer Schulter sie mit einem Aufschrei zurückzucken ließ. Kahlan faßte sich an die Schulter und riß den spitzen Gesteinssplitter heraus. Das Blut, das sich dahinter angestaut hatte, spritzte aus der Wunde.
So schnell sie konnte, krabbelte Kahlan hinauf, Marlin hinterher. Sie mußte ihn aufhalten. Niemand sonst war dazu in der Lage. In Richards Abwesenheit war sie für all diese Menschen die Magie gegen die Magie. Ihr verletzter Arm zitterte vor Anstrengung, und sie konnte sich kaum an den Sprossen festhalten.
»Beeilt Euch!« rief Nadine unmittelbar hinter ihr. »Er entkommt uns noch!«
Caras Schreie von unten zerrten an Kahlans Nerven.
Kahlan hatte die furchtbare Qual eines Strafers für den Bruchteil einer Sekunde gespürt. Genau diesen Schmerz erlitten Mord-Sith, wann immer sie ihren Strafer in die Hand nahmen, niemals zuckten sie dabei jedoch auch nur mit der Wimper. Mord-Sith lebten in einer Welt der Schmerzen, jahrelanges Foltern hatte ihre Fähigkeit geschult, sie zu ignorieren.
Kahlan konnte sich nicht vorstellen, was eine Mord-Sith dazu bringen konnte, so zu schreien.
Was immer Cara zusetzte, es war kurz davor, sie umzubringen, daran bestand für Kahlan nicht der geringste Zweifel.
Ihr Fuß glitt von einer Sprosse ab. Ihr Schienbein schlug schmerzhaft gegen die darüber liegende Sprosse. Sie riß ihr Bein zurück. Sie hatte es eilig, zu Jagang zu kommen. Dabei schürfte sie sich die Haut ab und blieb an einem langen Splitter hängen, den sie sich schließlich in die Wade bohrte. Sie fluchte vor Schmerz und stürmte die Leiter hoch.
Als sie oben durch die Öffnung krabbelte, rutschte sie aus und stürzte in einem Chaos von Gedärm auf Hände und Knie. Unterkommandant Collins starrte sie aus toten Augen an. Die zersplitterten Enden weißer Rippenknochen ragten in die Höhe und drückten das aufgerissene Leder und den Kettenpanzer seiner Uniform auseinander. Sein gesamter Oberkörper war von der Kehle bis zur Leistengegend aufgeschlitzt.
Ungefähr ein Dutzend Männer wälzte sich in Todesqualen auf dem Boden. Andere lagen starr da. Schwerter steckten bis zum Heft in den Mauern. Auch Äxte steckten dort fest, als handele es sich bei dem Stein um weiches Holz.
Ein der Magie fähiger Gegner hatte wie mit einer Sichel unter diesen Männern gewütet, aber nicht ohne eigene Verluste. Ganz in der Nähe lag ein Arm, knapp oberhalb des Ellenbogens abgetrennt. Nach der Kleidung daran zu urteilen gehörte er Marlin. Die Finger seiner Hand öffneten und schlossen sich langsam und gleichmäßig.
Kahlan stemmte sich hoch und drehte sich zur Tür. Sie packte Nadine an den Handgelenken und half ihr herauf in den Gang.
»Vorsicht.«
Nadine stockte der Atem, als sie das viele Blut sah. Kahlan erwartete, daß sie in Ohnmacht fallen oder hysterisch schreien würde, aber das tat sie nicht.
Von links kamen mit Schwertern, Äxten, Spießen und Bogen schwerbewaffnete Soldaten herbeigeeilt. Nach rechts hin war der Gang leer und lag hinter einer einsamen Fackel still und dunkel da. Kahlan wandte sich nach rechts. Man mußte Nadine zugute halten, daß sie ihr ohne Zögern folgte.
Die Schreie, die aus der Grube nach oben drangen, jagten Kahlan einen Schauder über den Rücken.