18

»Wie ich hörte, hast du Cara das Leben gerettet«, sagte Richard. »Ich möchte mich bei dir bedanken. Das kann dir nicht leichtgefallen sein, schließlich wußtest du, daß Cara eine meiner Leibwächterinnen ist, die dir am Ende vielleicht etwas antun würde … falls die Dinge sich für dich nicht gut entwickelten.«

»Ich bin ein Heiler. Das ist mein Beruf – Richard. Ich fürchte, es wird mir schwerfallen, dich beim Namen zu nennen und nicht ›Lord Rahl‹ – eine Weile jedenfalls. Ich spüre die Bande zu dir, zu dir als dem Herrscher Rahl.«

Richard zuckte verlegen die Achseln. »Ich kann mich noch immer nicht recht daran gewöhnen, daß die Menschen mich Lord Rahl nennen.« Er strich sich mit dem Finger über die Unterlippe. »Haben wir … weißt du, ob wir … noch weitere Halbgeschwister haben?«

»Da bin ich ganz sicher. Einige müssen überlebt haben. Einem Gerücht zufolge haben wir zumindest noch eine jüngere Schwester.«

»Eine Schwester?« Richard schmunzelte. »Wirklich? Eine Schwester. Was glaubst du, wo sie ist? Kennst du ihren Namen?«

»Tut mir leid, Lord … Richard; nun, wenigstens kenne ich ihren Namen: Lindie. In der Nachricht, die ich erhielt, hieß es, wenn sie noch lebte, müsse sie wenigstens vierzehn Jahre alt sein. Der Betreffende, der mir ihren Namen verriet, behauptete, er wisse nur ihren Vornamen und daß sie in D'Hara geboren sei, im Südwesten des Palastes des Volkes.«

»Sonst noch etwas?«

»Ich fürchte nein. Jetzt hast du alles gehört, was ich weiß.« Drefan wandte sich zu Kahlan. »Wie fühlt Ihr Euch? Hat diese Kräuterfrau, wie hieß sie doch gleich, Euch ordentlich zusammengeflickt?«

»Ja«, antwortete Kahlan. »Nadine hat ihre Sache gut gemacht. Es tut noch etwas weh, und mir dröhnt der Kopf ein wenig, wahrscheinlich wegen all der Dinge, die sich zugetragen haben. Vergangene Nacht habe ich wegen der Schmerzen in meiner Schulter nicht gut geschlafen, aber das war zu erwarten. Es geht mir gut.«

Er trat auf sie zu, und bevor sie wußte, wie ihr geschah, hatte er ihren Arm gepackt. Er hob ihn an, drehte ihn, zog daran, fragte jedesmal, ob es weh tue. Als er zufrieden war, stellte er sich hinter sie und umfaßte ihr Schlüsselbein mit den Fingern, während er ihr gleichzeitig die Daumen in den Halsansatz drückte. Ein Schmerz schoß ihre Wirbelsäule hoch. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen.

Er drückte unter ihrem Arm zu, dann hinten auf der Schulter. »So. Wie ist das?«

Kahlan ließ ihren Arm kreisen und stellte fest, daß der Schmerz stark nachgelassen hatte. »Viel besser. Vielen Dank.«

»Seid aber vorsichtig. Ich habe die Schmerzen teilweise betäubt, trotzdem muß der Arm in Ruhe verheilen, bevor Ihr ihn wieder richtig benutzen könnt. Habt Ihr noch Kopfschmerzen?« Kahlan nickte. »Mal sehen, was ich dagegen tun kann.«

An der Hand führte er sie zum Tisch und setzte sie auf einen Stuhl. Er ragte groß über ihr auf und versperrte ihr die Sicht auf Richard.

Drefan zog an ihren Armen, drückte und bearbeitete die Haut zwischen ihren Daumen und den Zeigefingern. Im Vergleich zu seinen Händen wirkten ihre so klein. Seine ähnelten denen von Richard. Groß und kräftig, wenn auch nicht so schwielig. Er preßte so stark, daß es schmerzte, aber sie beklagte sich nicht, denn sie fand, er müsse wissen, was er tue.

Da er unmittelbar vor ihr stand, mußte sie die Augen nach oben verdrehen, wenn sie nicht gezwungen sein wollte, auf seine enge Hose zu starren. Sie beobachtete, wie seine Hände die ihren kneteten – wie seine Finger sich über ihr Fleisch tasteten. Sie mußte daran denken, wie er Cara berührt hatte. Lebhaft erinnerte sie sich noch an die kräftigen Finger, die sich unter Caras rote Lederkleidung und zwischen ihre Beine geschoben hatten. Sich in sie hineingebohrt hatten.

Ohne Vorwarnung zog Kahlan ihre Hände zurück.

»Danke, es geht schon viel besser«, log sie.

Er sah lächelnd mit seinem stechenden, falkenartig blauäugigen Rahl-Blick auf sie herab. »So schnell habe ich Kopfschmerzen noch nie geheilt. Seid Ihr sicher, daß sie schon besser sind?«

»Ja. Es waren nur leichte Kopfschmerzen. Sie sind jetzt fort. Danke.«

»Gern geschehen«, antwortete er. Er betrachtete sie eine ganze Weile, das dünne Lächeln nach wie vor auf den Lippen. Endlich wandte er sich zu Richard um.

»Man sagte mir, du sollst der Mutter Konfessor hier angetraut werden. Du bist ein völlig anderer Lord Rahl als unser Vater. Darken Rahl hätte eine Heirat niemals in Betracht gezogen. Natürlich ist er wahrscheinlich nie von einer so wunderschönen Frau wie deiner Verlobten in die Ehe gelockt worden. Erlaubt, daß ich euch beiden meine Glückwünsche ausspreche. Wann ist die Hochzeit?«

»Bald«, warf Kahlan rasch ein und stellte sich neben Richard.

»Ganz recht«, stimmte Richard zu. »Bald. Das genaue Datum steht noch nicht fest. Wir … müssen zuvor noch einiges erledigen.

Hör zu, Drefan, ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Wir haben eine Anzahl Verwundeter, und einige von ihnen befinden sich in ernstem Zustand. Sie wurden von demselben Mann verwundet, der auch Cara verletzt hat. Ich wüßte es wirklich zu schätzen, wenn du sehen könntest, was du für sie tun kannst.«

Drefan nahm seine Messer wieder an sich und steckte sie ein, ohne hinzusehen. »Deswegen bin ich hier: um zu helfen.« Er wollte zur Tür.

Richard faßte ihn am Arm. »Laß mich besser vorgehen. Solange ich keinen anderen Befehl gebe, stirbst du, wenn du das Zimmer vor mir verläßt. Das wollen wir schließlich nicht.«

Als Richard Kahlans Arm nahm und sich zur Tür umdrehte, trafen sich für einen Augenblick ihrer und Caras Blick. Ihr Gehör habe keinen Schaden erlitten, hatte Drefan gesagt. Sie hatte alles mitbekommen, auch wenn sie nicht hatte reagieren können. Sie muß gehört haben, wie Kahlan ihn gewarnt hatte, sie nicht noch einmal dort unten zu berühren. Sie muß gewußt haben, was Drefan tat, war aber nicht in der Lage gewesen, ihn daran zu hindern. Kahlans Gesicht brannte, wenn sie daran dachte.

Sie drehte sich um und drückte beim Hinausgehen Richards Hand.


Richard blickte rechts und links den Flur entlang, und als er niemanden sah, schob er sie rückwärts gegen die holzgetäfelte Wand vor ihren Gemächern und drückte ihr einen Kuß auf die Lippen. Sie war froh, daß Drefan ihre Schmerzen im Arm ein wenig gelindert hatte. Es tat kaum noch weh, wenn sie Richard die Arme um den Hals schlang.

Sie stöhnte, als ihre Lippen sich berührten. Der lange Tag hatte sie ermüdet, und ihr Arm schmerzte immer noch ein bißchen, doch stöhnte sie weder vor Müdigkeit noch vor Unbehagen – sondern aus Verlangen.

Er zog sie in seine Arme und drehte sich so, daß er statt ihrer mit dem Rücken an der Wand lehnte. Er drückte sie mit seinen kräftigen Armen an seinen Körper und hob sie, als sein Kuß fordernder wurde, fast mit den Zehen vom Boden. Sie biß ihm zärtlich in die Unterlippe, dann löste sie sich, um Luft zu holen.

»Ich kann gar nicht recht glauben, daß weder Nancy noch eine ihrer Aufpasserinnen hier auf uns wartet«, wunderte sich Richard.

Sie hatten ihre Bewacher hinter einer Ecke zurückgelassen. Endlich waren sie allein – ein seltener Luxus. Kahlan war zwar unter Menschen aufgewachsen, aber jetzt fand sie ihre ständige Gegenwart ermüdend. Es lag ein großer Wert darin, einfach seine Ruhe zu haben.

Sie drückte ihm schnell einen neckischen Kuß auf die Lippen. »Ich glaube nicht, daß Nancy uns behelligen wird.«

»Bestimmt nicht?« fragte Richard mit einem verschmitzten Grinsen. »Aber, Mutter Konfessor, wer wacht denn jetzt über Eure Tugend?«

Sie gab ihm einen zarten Kuß. »Gütige Seelen, hoffentlich niemand.«

Er überraschte sie mit einem plötzlichen Themenwechsel. »Was hältst du von Drefan?«

Auf diese Frage war sie nicht vorbereitet. »Und du?«

»Ich hätte gerne einen Bruder, dem ich vertrauen und an den ich glauben kann. Er ist ein Heiler. Unser Heiler war beeindruckt, wie er einigen der Männer geholfen hat. Er meinte, wenigstens einer von ihnen werde nur dank Drefans Zutun überleben. Nadine war mehr als nur ein wenig neugierig auf die Kräutermischungen, die er in den Lederbeuteln an seinem Gürtel bei sich trägt. Die Vorstellung, einen Bruder zu haben, der den Menschen hilft, gefällt mir. Etwas Nobleres als das kann es nicht geben.«

»Glaubst du, er besitzt Magie?«

»In seinen Augen habe ich nichts davon gesehen. Ich bin sicher, sonst hätte ich sie erkannt. Ich kann nicht erklären, wie ich Magie spüre. Manchmal sehe ich sie um einen Menschen in der Luft funkeln oder jemandem an den Augen an, doch bei Drefan ist mir nichts dergleichen aufgefallen. Meines Erachtens ist er einfach ein begabter Heiler.

Ich bin ihm dankbar, daß er Cara gerettet hat. Was er zumindest behauptet. Nun, was wäre, wenn sie sich nach Marlins Tod und nachdem die Verbindung zu ihm unterbrochen war, von selbst erholt hätte?«

Daran hatte Kahlan nicht gedacht. »Du traust ihm also nicht?«

»Ich weiß nicht recht. Nach wie vor glaube ich nicht an Zufälle.« Er seufzte ungeduldig. »Kahlan, du mußt ganz ehrlich sein. Du darfst nicht zulassen, daß ich mich blenden lasse, nur weil er mein Bruder ist und ich ihm vertrauen will. Ich war noch nie besonders sicher in meinem Urteil, wenn es um einen Bruder ging. Wenn du irgendeinen Grund hast, an ihm zu zweifeln, dann sag ihn mir.«

»Einverstanden,«

Er beugte sich zu ihr vor. »Du könntest mir zum Beispiel erklären, warum du ihn angelogen hast.«

Kahlan runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

»Bei den Kopfschmerzen. Ich konnte sehen, daß sie nicht verschwunden waren. Wieso hast du ihm erzählt, sie seien weg?«

Kahlan legte ihm die Hand an die Wange.

»Ich wünsche dir wirklich einen Bruder, auf den du stolz sein kannst, Richard, aber ich will, daß auch alles mit rechten Dingen zugeht. Wahrscheinlich hat mich deine Bemerkung über Zufälle stutzig werden lassen, das ist alles.«

»Sonst noch was, außer meiner Bemerkung über Zufälle?«

»Nein. Ich hoffe, er kann deinem Herzen ein wenig Bruderliebe bringen. Ich bete dafür, daß es nicht mehr als ein kleiner Zufall ist.«

»Ich auch.«

Sie drückte ihn liebevoll. »Ich weiß, die weiblichen Dienstboten sind ganz aus dem Häuschen wegen ihm. Vermutlich wird er bald die ersten Herzen brechen, nach all den schwärmerischen Blicken, die ich gesehen habe.

Ich verspreche dir, Bescheid zu sagen, wenn er mir einen Grund zu der Annahme gibt, daß etwas nicht stimmt.«

»Danke.«

Er hatte bei ihrer Bemerkung über die Frauen, die Drefan ausnahmslos mochten, nicht gelächelt. Richard hatte nie Eifersucht gezeigt, dazu hatte er keinen Grund, auch wenn sie kein Konfessor gewesen wäre. Trotzdem, da war diese schmerzliche Geschichte mit Michael, die, das wurde ihr jetzt klar, Vernunft vielleicht weniger wichtig machte. Sie wünschte sich, sie hätte nicht davon angefangen.

Er fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar, hielt ihren Kopf mit beiden Händen und küßte sie. Sie wich zurück.

»Warum hast du Nadine heute nachmittag mitgenommen?«

»Wen?«

Er beugte sich wieder über sie. Sie wich zurück.

»Nadine. Hast du sie etwa schon vergessen? Die Frau in dem engen Kleid.«

»Ach, diese Nadine.«

Sie piekste ihm in die Rippen. »Dir ist das Kleid also auch aufgefallen?«

Er runzelte die Stirn. »Fandest du, daß heute etwas daran anders war?«

»O ja, da war etwas anders. Warum hast du sie mitgenommen?«

»Weil sie eine Heilerin ist. Sie ist kein schlechter Mensch – sie hat ihre guten Seiten. Ich dachte, wo sie ohnehin hier ist, könnte sie sich wenigstens nützlich machen. Vielleicht fühlt sie sich dann auch ein bißchen besser. Ich habe sie überwachen lassen, ob die Männer den Löscheichentee auch richtig aufgesetzt hatten und ob er stark genug war. Sie schien froh zu sein, helfen zu können.«

Kahlan mußte an Nadines Lächeln denken, als Richard sie gebeten hatte, ihn zu begleiten. Froh gewesen war sie schon, das stimmte, aber nicht nur, weil sie helfen konnte. Das Lächeln hatte Richard gegolten. Wie auch das Kleid.

»So«, neckte Richard, »genau wie all die anderen Frauen denkst du also auch, Drefan sehe gut aus?«

Sie fand seine Hose zu eng. Abermals zog sie Richard an sich und küßte ihn, in der Hoffnung, er würde nicht bemerken, daß sie rot wurde, und dafür den falschen Grund annehmen.

»Wer?« hauchte sie verträumt.

»Drefan. Hast du ihn schon vergessen? Der Mann in der engen Hose?«

»Tut mir leid, ich kann mich nicht an ihn erinnern«, sagte sie und gab ihm einen Kuß auf den Hals, und beinahe stimmte es sogar. Sie sehnte sich nach Richard und nach sonst gar nichts.

In ihren Gedanken war kein Platz für Drefan. Sie dachte an fast nichts anderes als an die Zeit, die sie mit Richard an jenem seltsamen Ort zwischen den Welten verbracht hatte, wo sie wie nie zuvor oder danach zusammengewesen waren – wirklich zusammen. So wollte sie ihn wieder haben. Und zwar jetzt.

An seinen Händen, die ihren Rücken hinabglitten, und an der fordernden Art, wie er sie auf den Hals küßte, erkannte sie, daß er das gleiche wollte, und ebenso sehr.

Aber sie wußte auch, daß Richard auf keinen Fall den Eindruck erwecken wollte, er sei so wie sein Vater. Niemand sollte glauben, sie sei für ihn dasselbe, als das Darken Rahl die Frauen betrachtet hatte: ein vergnügliches Abenteuer für den Herrscher D'Haras. Deshalb ließ er sich auch so mühelos von ihren Zofen in die Schranken weisen. Trotz seiner verzweifelten Einwände setzte er sich nie über sie hinweg, wenn sie ihn verscheuchten.

Auch die drei Mord-Sith schienen Kahlan davor bewahren zu wollen, als etwas Geringeres zu erscheinen denn die wahre Verlobte des Herrschers von D'Hara. Wann immer Richard mit dem Gedanken spielte, nachts ihr Zimmer aufzusuchen, und sei es nur, um zu reden, waren stets entweder Cara, Berdine oder Raina zur Stelle und stellten ein paar spitze Fragen, mit denen sie ein Treffen verhinderten. Wenn Richard daraufhin eine finstere Miene aufsetzte, erinnerten sie ihn daran, daß er ihnen befohlen hatte, die Mutter Konfessor zu beschützen. Diesen Befehl hatte er nie zurückgenommen.

Heute befolgten die drei Mord-Sith seine Befehle peinlich genau, und als er Cara und Raina aufgetragen hatte, sie sollten hinter der Ecke unten im Flur Posten beziehen, waren sie widerspruchslos dort zurückgeblieben.

Da die Hochzeit so kurz bevorstand, beschlossen Kahlan und Richard zu warten, obwohl sie bereits einmal zusammengewesen waren. Damals war ihnen das irgendwie unwirklich vorgekommen – an einem Ort zwischen den Welten, einem Ort, wo es keine Wärme gab, keine Kälte, kein Licht, keinen Boden unter den Füßen, und doch hatten sie sehen können und in einem dunklen Irgendwo gelegen, das fest genug war, sie zu tragen.

Mehr als alles war ihr in Erinnerung geblieben, wie er sich angefühlt hatte. Sie beide waren die einzige Wärmequelle gewesen, die einzige Lichtquelle an jenem Ort zwischen den Welten, an den die Guten Seelen sie geführt hatten.

Jetzt, als sie mit den Händen über die Muskeln auf seiner Brust und seinem Bauch strich, fühlte sie diese Wärme erneut. Sie bekam kaum Luft, als sie spürte, wie er seine Lippen auf ihre preßte. Sie wollte seinen Mund überall auf ihrem Körper fühlen. Sie wollte seine Blicke überall auf sich spüren. Sie wollte ihn auf der anderen Seite der Tür.

»Richard«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »bitte bleib heute nacht bei mir.« Seine Hände waren schuld daran, daß sie all ihre Zurückhaltung verlor.

»Kahlan, ich dachte…«

»Bitte, Richard. Ich will dich in meinem Bett. Ich will dich in mir.«

Er stöhnte hilflos auf, als er ihre Worte hörte, als er spürte, was ihre Hände taten.

»Ich hoffe, ich störe nicht«, ließ sich eine Stimme vernehmen.

Richard stand mit einem Ruck senkrecht. Kahlan wirbelte herum. Wegen der dicken Teppiche war ihnen entgangen, wie Nadine sich leise genähert hatte.

»Nadine«, sagte Kahlan, indes sie wieder zu Atem kam. »Was …?«

Sie verschränkte verlegen die Hände hinter dem Rücken und fragte sich, ob Nadine bemerkt hatte, wo diese sich einen Moment zuvor noch befunden hatten. Wo Richards Hände gewesen waren, mußte sie gesehen haben. Kahlan spürte, wie ihr Gesicht rot wurde.

Nadines kühler Blick ging von Richard zu Kahlan. »Ich wollte nicht stören. Ich bin nur gekommen, um Euren Umschlag zu wechseln. Und um mich zu entschuldigen.«

»Zu entschuldigen?« wiederholte Kahlan, während sie noch immer nach Atem rang.

»Ja. Ich habe vorhin ein paar Dinge zu Euch gesagt, und vermutlich waren die ein wenig … nun, unpassend. Vielleicht habe ich etwas gesagt, das ich besser nicht gesagt hätte. Deshalb wollte ich mich entschuldigen.«

»Schon gut«, sagte Kahlan. »Ich weiß, wie Euch in diesem Augenblick zumute war.«

Nadine nahm ihren Beutel zur Hand und zog die Augenbrauen hoch. »Der Umschlag?«

»Für heute ist mein Arm versorgt. Aber Ihr könntet mir den Umschlag morgen wechseln.« Kahlan war darauf bedacht, die zähe Stille zu füllen. »Drefan hat mich vorhin behandelt.«

»Ach so.« Sie ließ den Beutel sinken. »Dann geht Ihr beide also jetzt zu Bett?«

»Nadine«, sagte Richard in mühsam beherrschtem Ton, »danke, daß du so für Kahlan sorgst. Gute Nacht.«

Nadine betrachtete ihn mit einem kalten, wütenden Blick. »Du hast nicht einmal die Absicht, sie erst zu heiraten? Du wirfst sie einfach aufs Bett und nimmst sie dir wie irgendein Mädchen, das dir zufällig im Wald begegnet? Das scheint mir ein wenig derb für den großen und mächtigen Lord Rahl. Und dabei habt ihr die ganze Zeit so getan, als wärt ihr etwas Besseres als wir einfachen Leute.«

Sie sah Richard von oben herab an, dann richtete sie ihren zornerfüllten Blick auf Kahlan. »Wie ich schon sagte, er will, was man ihm zeigt. Shota hat mir von Euch berichtet. Vermutlich wißt Ihr ebenfalls, wie man Männer dazu bringt, sich zu entscheiden. Wie es aussieht, würdet Ihr tatsächlich alles tun, um ihn zu bekommen. Ich sagte ja schon, Ihr seid nicht besser als ich.«

Den Beutel in der Hand, machte sie kehrt und stapfte davon.

Kahlan und Richard standen in der beklemmenden Stille und betrachteten den menschenleeren Flur.

»Und das aus dem Mund einer Hure«, brachte Kahlan endlich hervor.

Richard wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Vielleicht hat sie nicht ganz unrecht.«

»Vielleicht«, gab Kahlan widerstrebend zu.

»Also, dann gute Nacht. Schlaf gut.«

»Du auch. Ich werde an dich denken, wie du in dem kleinen Gästezimmer schläfst.«

Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuß auf die Wange.

»Ich gehe noch nicht gleich ins Bett.«

»Wo willst du denn hin?«

»Ich dachte, vielleicht springe ich in einen Pferdetrog.«

Sie bekam ihn an dem breiten, mit Leder gepolsterten Band um sein Handgelenk zu fassen. »Richard, ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte. Werden wir heiraten, bevor etwas passiert?«

»Sobald wir uns vergewissert haben, daß hier alles in Ordnung ist, wecken wir die Sliph. Das verspreche ich dir. Bei den Gütigen Seelen, das verspreche ich.«

»Was meinst du mit alles?«

»Sobald wir wissen, daß es den Männern bessergeht und ein paar andere Dinge zu meiner Zufriedenheit geregelt sind. Ich will sichergehen, daß Jagang seine Drohungen nicht wahr machen kann. Noch ein paar Tage. Versprochen.«

Sie hielt jeweils einen seiner Finger in jeder Hand und sah ihm voller Sehnsucht in die grauen Augen. »Ich liebe dich«, flüsterte sie. »In ein paar Tagen oder nach einer Ewigkeit, ich werde dir gehören. Ob man uns ganz offiziell traut oder nicht, ich bin auf ewig dein.«

»In unseren Herzen sind wir bereits eins. Die Guten Seelen wissen, wie sehr das stimmt. Sie wollen, daß wir zusammen sind, das haben sie bereits bewiesen, und sie werden über uns wachen. Sei unbesorgt, man wird uns ganz förmlich trauen.«

Er wollte gehen, drehte sich aber noch einmal mit einem gequälten Ausdruck in den Augen um. »Ich wünschte nur, Zedd könnte dabeisein, wenn wir heiraten. Gütige Seelen, wie sehr ich mir das wünsche. Und daß er jetzt hier wäre, um mir zu helfen.«

Als er sich an der Ecke des Flures umsah, warf Kahlan ihm eine Kußhand zu. Niedergeschlagen ging sie in ihre leeren, einsamen Gemächer zurück und warf sich auf das große Bett. Sie mußte an Nadines Worte denken: »Shota hat mir von Euch berichtet.« Vor Verzweiflung kamen ihr die Tränen.


»Ihr werdet heute abend also doch nicht … hier oben übernachten?« wollte Cara wissen, als er an ihr vorüberging.

»Wie kommt Ihr denn auf die Idee?« fragte Richard.

Cara zuckte die Achseln. »Ihr habt uns an der Ecke warten lassen.«

»Vielleicht wollte ich Kahlan bloß einen Gutenachtkuß geben, ohne daß ihr zwei Euer Urteil über mein Können abgebt.«

Beide, Cara und Raina, lächelten. Es war das erste Lächeln, das er an diesem Tag bei ihnen bemerkte.

»Ich habe bereits gesehen, wie Ihr die Mutter Konfessor küßt«, sagte Cara. »Ihr scheint recht begabt zu sein. Sie wird dann immer ganz atemlos und verlangt nach mehr.«

Auch wenn ihm nicht nach Lächeln zumute war, tat er es trotzdem. Wenigstens hellte sich dann Caras Miene auf. »Das spricht nicht für meine Begabung. Das spricht nur dafür, daß sie mich liebt.«

»Ich bin auch schon geküßt worden«, sagte Cara, »und ich habe Euch küssen sehen. Ich glaube, ich kann mit einer gewissen Befugnis behaupten, daß Ihr dafür eine Begabung habt. Wir haben Euch von hinter der Ecke beobachtet.«

Richard versuchte, ein empörtes Gesicht zu machen, errötete jedoch nur. »Ich hatte Euch den Befehl gegeben, hier unten zu warten.«

»Es ist unsere Pflicht, über Euch zu wachen. Das können wir nur, wenn wir Euch nicht aus den Augen lassen.«

Richard schüttelte den Kopf. Er konnte wegen der Mißachtung seines Befehls nicht böse sein. Wie hätte er das tun können, wenn sie alles Ungemach in Kauf nahmen, um ihn zu beschützen? Kahlan hatten sie dadurch nicht in Gefahr gebracht.

»Was haltet Ihr beide von Drefan?«

»Er ist Euer Bruder, Lord Rahl«, antwortete Raina. »Die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen.«

»Ich weiß, daß die Ähnlichkeit nicht zu übersehen ist. Ich wollte wissen, was Ihr von ihm haltet.«

»Wir kennen ihn nicht, Lord Rahl«, äußerte sich Raina.

»Ich auch nicht. Hört zu, ich bin Euch nicht böse, wenn Ihr mir erzählt, daß Ihr ihn nicht mögt. Um die Wahrheit zu sagen, würde ich einfach gerne wissen, was Ihr über ihn denkt. Also, Cara? Was haltet Ihr von ihm?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich habe nie einen von Euch beiden geküßt, aber nach dem, was ich gesehen habe, würde ich lieber Euch küssen.«

Richard stemmte die Hände auf die Hüften. »Was soll das heißen?«

»Ich war verletzt, gestern, und er hat mir geholfen. Trotzdem gefällt mir nicht, daß Meister Drefan ausgerechnet jetzt gekommen ist, zur gleichen Zeit wie Marlin und Nadine.«

Richard seufzte. »Genau das denke ich auch. Ständig bitte ich die Menschen, mich nicht danach zu beurteilen, was mein Vater war, und nun muß ich feststellen, daß ich dasselbe bei Drefan tue. Ich würde ihm wirklich gern vertrauen. Bitte, Ihr beide, solltet Ihr irgendeinen Grund zur Sorge haben, dann kommt ohne Zögern zu mir und erzählt ihn mir.«

»Na ja«, sagte Cara, »ich mag seine Hände nicht.«

»Wie meint Ihr das?«

»Er hat Hände wie Darken Rahl. Ich habe gesehen, wie er damit bereits Frauen betätschelt, die um ihn herumscharwenzeln. Das hat Darken Rahl auch getan.«

Richard warf die Hände in die Höhe. »Wann hatte er denn dafür Zeit? Er war den größten Teil des Tages mit mir zusammen.«

»Er nahm sich die Zeit, als Ihr Euch mit Soldaten unterhieltet und als Ihr unterwegs wart, um nach den Männern bei Nadine zu sehen. Lange hat er nicht dafür gebraucht. Die Frauen kamen zu ihm. Ich habe noch nie so viele Frauen gesehen, die einem Mann schöne Augen machen. Ihr müßt zugeben, er ist recht ansehnlich.«

Richard wußte nicht, was so besonders toll an seinem Aussehen war. »Waren Frauen dabei, die es nicht freiwillig über sich ergehen ließen?«

Sie zögerte lange mit der Antwort. »Nein, Lord Rahl.«

»Nun, ich habe auch schon andere Männer gesehen, die sich so aufgeführt haben. Ein paar Freunde von mir waren auch darunter. Sie mögen Frauen, und Frauen mögen sie. Solange die Frauen es freiwillig tun, wüßte ich nicht, was mich das angeht. Andere Dinge bereiten mir mehr Sorgen.«

»Was zum Beispiel?«

»Wenn ich das nur wüßte.«

»Solltet Ihr herausfinden, daß er ganz unschuldig hier ist und nichts als helfen will, wie er behauptet, dann könnt Ihr stolz auf ihn sein, Lord Rahl. Euer Bruder ist ein bedeutender Mann.«

»Ist er das? Wie bedeutend ist er?«

»Euer Bruder ist der Führer seiner Sekte von Heilern.«

»Tatsächlich? Davon hat er nichts erwähnt.«

»Er wollte sich zweifellos nicht damit rühmen. Bescheidenheit gegenüber Lord Rahl ist bei den D'Haranern ganz normal und einer der Grundsätze dieser alter Sekte von Heilern.«

»Kann sein. Er ist also der Anführer dieser Heiler?«

»Ja«, sagte Cara. »Er ist der Hohepriester der Raug'Moss.«

»Der was?« fragte Richard leise. »Wie habt Ihr sie genannt?«

»Die Raug'Moss, Lord Rahl.«

»Wo steckt Berdine?«

»Vermutlich in ihrem Bett.«

Richard lief los und rief ihnen unterwegs Befehle zu. »Cara, Ihr stellt für die Nacht Posten um Kahlans Gemächer auf. Raina, Ihr geht und weckt Berdine und bittet sie, in mein Arbeitszimmer zu kommen.«

»Jetzt, Lord Rahl?« wollte Raina wissen. »So spät noch?«

»Ja. Bitte.«

Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Richard hinauf in sein Arbeitszimmer, wo er das Tagebuch, Kolos Tagebuch, geschrieben auf Hoch-D'Haran, aufbewahrte.

Auf Hoch-D'Haran bedeutete Raug'Moss ›Göttlicher Wind‹.

Die beiden Warnungen, die Shota Nadine für Richard mitgegeben hatte, ›der Wind jagt ihn‹ und die Worte aus der Prophezeiung unten in der Grube, ›er muß das Mittel im Wind suchen‹, gingen ihm immer wieder durch den Kopf.

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