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Atme, sagte die Sliph.

Kahlan stieß die seidige Substanz aus und sog die fremdartige Luft tief in die Lungen. Der düstere Raum des Brunnens der Sliph unten in der Burg der Zauberer wirbelte um sie herum. Schließlich kam das Gestein der Wände und des Fußbodens zur Ruhe. Die Kuppel oben schien ihre Drehung zu verlangsamen.

Eine Überraschung erwartete sie.

Den Stuhl nach hinten gekippt, die Füße auf den Tisch gelegt, saß dort eine in rotes Leder gekleidete Gestalt. Kahlan hockte sich an den Brunnenrand und ließ die Beine baumeln, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

Die Vorderbeine des Stuhls landeten mit einem dumpfen Knall auf dem Boden. »Sieh an, sieh an, die umherwandernde Mutter Konfessor kehrt endlich nach Hause zurück.«

Kahlan sprang hinunter auf den Fußboden. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, so sehr kreiste und schwankte er.

»Cara, was macht Ihr hier unten?«

Cara stützte Kahlan. »Ihr solltet Euch setzen, bis Ihr wieder sicher stehen könnt.«

»Mir geht es gut.« Kahlan sah kurz über ihre Schulter in das silberne Gesicht hinter ihr. »Danke, Sliph.«

»Willst du reisen?« Die unheimliche Stimme hallte lange von den Wänden und der Kuppel wider.

»Nein, ich bin fürs erste genug gereist. Ich werde hierbleiben.«

»Rufe mich, wenn du reisen möchtest, und wir werden reisen. Du wirst zufrieden sein.«

»Ich weiß nicht recht«, murmelte Kahlan, als die Sliph in ihren Brunnen Zurückzuschmelzen schien.

»Eine ganz schön schaurige Gesellschaft, vor allem hier unten«, meinte Cara. »Mich hat sie auch eingeladen, mit ihr zu reisen, und dann wandte sie jedoch ein, ich besäße nicht die erforderliche Magie. Sie kommt heraus und starrt einen mit diesem unheimlichen Lächeln an.«

»Was tut Ihr hier unten, Cara?«

Cara lehnte Kahlan an den Brunnen der Sliph. Sie warf ihr einen äußerst befremdeten Blick zu und schüttelte den Kopf.

»Nachdem Lord Rahl Euren Brief gelesen hatte, brauchte er nicht lange, um herauszufinden, was Ihr getan hattet. Berdine erzählte ihm, Ihr hättet uns hierhergebracht, um nach dem Buch mit den Aufzeichnungen über die Verhandlung zu suchen. Er kam hier herunter, aber die Sliph wollte ihm nicht verraten, wohin sie Euch gebracht hatte.

Lord Rahl befand, jetzt, da er wisse, daß die Sliph nicht, wie angenommen, schläft, sei es nicht mehr sicher, sie unbewacht zu lassen. Er meinte, andere könnten durch sie hindurch den Weg hierher finden, wie diese Schwester und Marlin.«

Daran hatte Kahlan noch gar nicht gedacht – daß noch einer von Jagangs Günstlingen mit Hilfe der Sliph nach Aydindril gelangen könnte. Loyalität war für dieses Wesen offenbar ein Fremdwort. Sie reiste mit jedem, der den geforderten Preis an Magie bezahlen konnte.

»Und anschließend hat Richard Euch hier zurückgelassen?«

»Er sagte, er könne nicht die ganze Zeit hier unten bleiben, um auf die Sliph aufzupassen.« Cara reckte stolz das Kinn in die Höhe.

»Daher müsse ständig eine Mord-Sith den Brunnen bewachen, da wir die Kraft haben, jemanden aufzuhalten, der Magie besitzt. Der jeweilige Lord Rahl hat die Mord-Sith stets dazu benutzt, sich vor Magie zu schützen.«

Die Zauberer aus alter Zeit hatten offenbar das gleiche Problem mit der Sliph gehabt und hatten Zauberer wie Kolo zur Wache hiergelassen. Laut dessen Tagebuch war manchmal der Feind durch die Sliph eingedrungen. Und nur die schnelle Reaktion des Wachhabenden hatte eine Katastrophe verhindert.

»Soll das heißen, er hat Euch nur nach hier unten gebracht und Euch dann allein gelassen?«

»Nein. Er hat stundenlang gesucht, bis er einen Weg ohne Magie gefunden hat, damit wir ohne seine Hilfe herkommen können. Er wollte uns nicht eine nach der anderen runterbringen müssen, sobald wir an der Reihe waren, außerdem sollten wir hier unten nicht in der Falle sitzen. Wir müssen uns in Schichten abwechseln. Das gefällt mir gar nicht, denn eigentlich sollten wir in Lord Rahls Nähe sein und ihn beschützen und nicht dieses … silberne Etwas, aber vermutlich beschützen wir Lord Rahl dadurch ebenfalls, also erklärte ich mich einverstanden.«

Schließlich stand Kahlan wieder sicher auf den Beinen. »Hätten wir gewußt, daß die Sliph wach ist, und hätten wir sie vorher schon bewacht, hätte Marlin überhaupt nicht kommen und versuchen können, Richard zu ermorden, und die Schwester hätte die Pest nicht auslösen können.«

Kahlans Brust schnürte sich zusammen, und das heiße, heftige Gefühl plötzlich hochschießender Qual versetzte ihr einen Stich. Sie hätten das alles verhindern können. All die fürchterlichen Dinge, die sie herausgefunden hatte, hätten in diesem Fall weder die Menschen noch ihre Welt oder ihre Liebe bedroht. Ihr wurde schwindelig, als ihr plötzlich klar wurde, welche Chance sie vertan hatten.

»Außerdem wollte Lord Rahl, daß wir warten, bis Ihr von der Hexe zurückkehrt, nur falls Ihr Hilfe braucht.«

»Richard wußte, wohin ich gereist bin?«

»Die Sliph wollte es ihm nicht verraten, aber er meinte, er wisse es ohnehin. Er war sicher, Ihr wärt zur Hexe gegangen.«

»Er wußte es und ist mir nicht gefolgt?«

Cara zog ihren langen Zopf über ihre Schulter. »Ich war selbst überrascht. Ich fragte ihn, warum er Euch nicht nachreisen wolle. Er meinte, er liebe Euch, aber Ihr wärt nicht sein Eigentum.«

»Tatsächlich? Das hat Richard gesagt?«

»Ja.« Ein spöttisches Schmunzeln machte Caras Lippen schmal. »Ihr habt ihn gut abgerichtet, Mutter Konfessor. Meine Hochachtung. Dann hat er gegen einen Stuhl getreten. Ich glaube, er hat sich am Fuß verletzt, allerdings bestreitet er das.«

»Demnach ist Richard also wütend auf mich?«

Cara verdrehte die Augen. »Wir reden hier über Richard, Mutter Konfessor. Der Mann ist vollkommen vernarrt in Euch. Er wäre Euch nicht einmal böse, wenn ihr ihm sagtet, er solle Nadine an Eurer Stelle heiraten.«

Kahlan zuckte zusammen, als sie erneut ein quälender Stich durchfuhr. »Wie kommt Ihr gerade darauf?«

Cara runzelte die Stirn. »Ich wollte damit nur sagen, er könnte Euch, was auch geschieht, niemals böse sein. Darüber solltet Ihr Euch freuen und nicht zusammenzucken, als hätte ich Euch einen Stoß mit dem Strafer versetzt. Er liebt Euch, Mutter Konfessor. Zwar ist er krank vor Sorge, aber böse ist er Euch nicht.«

»Und was ist mit dem Stuhl, gegen den er getreten hat?«

Cara streichelte ihren langen blonden Zopf und schmunzelte erneut. »Er hat behauptet, der Stuhl habe ihm einen guten Grund gegeben.«

»Verstehe.« Caras Sinn für Humor konnte Kahlan kaum aufheitern. »Wie lange war ich fort?«

»Nicht ganz zwei Tage. Ich erwarte, daß Ihr mir verratet, wie es Euch gelungen ist, an den d'Haranischen Posten draußen an der Brücke vorbeizukommen.«

»Es hat geschneit. Sie haben mich nicht gesehen.«

Cara machte nicht den Eindruck, als glaubte sie das. Sie sah Kahlan abermals mit diesem seltsamen Blick an.

»Und, habt Ihr diese Hexe umgebracht?«

»Nein.« Kahlan wechselte das Thema. »Was hat Richard getan, während ich fort war?«

»Also, zuerst bat er die Sliph, ihn zum Tempel der Winde zu bringen. Sie erwiderte, sie kenne diesen Ort nicht und könne ihn nicht dorthin bringen, also ist er zum Berg Kymermosst hinaufgeritten –«

»Er ist dort gewesen?« Kahlan packte Cara am Arm. »Was hat er gefunden?«

»Nichts. Er meinte, dort gebe es nichts. Der Tempel der Winde habe früher einmal dort gestanden, sei aber jetzt verschwunden.«

Kahlan ließ Cara wieder los. »Er ist zum Berg Kymermosst hinaufgeritten und schon wieder zurück?«

»Ihr kennt doch Lord Rahl. Wenn er sich etwas in den Kopf setzt, läßt er nicht mehr locker. Die Männer, die ihn begleiteten, berichteten, sie seien forsch geritten. Sie hätten wenig geschlafen und seien den größten Teil der Nacht unterwegs gewesen. Lord Rahl erwartete Euch gestern abend zurück und wollte Euretwegen wieder hier sein. Jedesmal, wenn es so schien, als wollte er es sich anders überlegen, las er Euren Brief noch einmal durch und begann dann statt dessen, unruhig auf und ab zu gehen.«

»Vermutlich war mein Brief ein wenig heftig«, sagte Kahlan und senkte den Blick zu Boden.

»Lord Rahl hat ihn mir gezeigt.« Caras Gesicht verriet keine Regung. »Manchmal muß man den Männern drohen, sonst kommen sie noch auf die Idee, sie hätten das Sagen. Mit Euren Drohungen habt Ihr ihm diese Idee ausgetrieben.«

»Ich habe ihm nicht gedroht.« Kahlan fand, daß ihr Ton zu sehr nach einem Geständnis klang.

Cara sah ihr einen Moment lang in die Augen. »Wahrscheinlich habt Ihr recht. Offenbar hat der Stuhl Lord Rahl tatsächlich einen guten Grund gegeben, so wie er sagte.«

»Ich habe getan, was ich tun mußte. Richard wird Verständnis dafür zeigen. Ich sollte jetzt besser zu ihm gehen und es ihm erklären.«

Cara deutete nach hinten auf die Tür. »Ihr habt ihn gerade verpaßt. Eben war er noch hier.«

»Er war hier, um zu sehen, ob ich schon zurück bin? Er muß krank vor Sorge sein.«

»Berdine erzählte ihm von dem Buch, nach dem Ihr sucht. Er kam her und hat es gefunden.«

Kahlan kniff verwundert die Augen zusammen. »Er hat es gefunden? Aber wir haben doch überall nachgesehen. Es war nicht da. Wie hat er es denn entdeckt?«

»Er ging an einen Ort, den er die Enklave des Obersten Zauberers nannte. Dort hat er es gefunden.«

Kahlan fiel die Kinnlade herunter. »Er hat die Enklave des Obersten Zauberers betreten? Alleine, ohne mich? Er hätte dort nicht hineingehen dürfen! Der Ort ist viel zu gefährlich!«

»Ach, ja?« Cara verschränkte die Arme. »Ihr würdet natürlich niemals etwas so Törichtes tun und es Euch in den Kopf setzen, loszurennen und ganz alleine einen gefährlichen Ort aufzusuchen? Vielleicht solltet Ihr Lord Rahl für sein unbeherrschtes Betragen einen Tadel erteilen, wo Ihr doch so besonnen und über derart leichtfertiges Benehmen erhaben seid.«

Das Echo von Caras Stimme stand noch unangenehm lange im Raum, bevor es verklang. Kahlan hatte begriffen. Richard hatte zwar exakt das getan, um was sie ihn gebeten hatte, und war ihr nicht gefolgt, dafür hatte Cara es versucht. Obwohl sie Magie nicht ausstehen konnte, hatte sie Kahlan beschützen wollen.

»Cara«, sagte sie mit besänftigender Freundlichkeit in der Stimme, »tut mir leid, daß ich Euch hinters Licht geführt habe.«

Die Mord-Sith zuckte die Achseln, zeigte sich aber weiterhin ungerührt. »Ich bin nur eine Bewacherin. Ihr seid mir zu nichts verpflichtet.«

»Doch, das bin ich. Ihr seid nicht nur eine ›Bewacherin‹, unsere Beschützerin, sondern weit mehr als das. Ich betrachte Euch als meine Freundin. Ihr seid eine Schwester des Strafers. Ich hätte Euch in meinen Plan einweihen sollen, nur fürchtete ich, Richard wäre dann böse auf Euch geworden, weil Ihr mich nicht daran gehindert habt. Das wollte ich nicht.«

Cara schwieg. Noch immer zeigte sie keinerlei Regung. Kahlan brach das bedrückende Schweigen. »Tut mir leid, Cara. Wahrscheinlich hatte ich Angst, Ihr würdet versuchen, mich aufzuhalten. Ich habe Euch hinters Licht geführt. Ihr seid eine Schwester des Strafers. Natürlich hätte ich Euch ins Vertrauen ziehen sollen. Ich habe einen Fehler gemacht, Cara. Bitte verzeiht mir.«

Endlich ging ein Lächeln über Caras Gesicht. »Wir sind Schwestern des Strafers. Ich verzeihe Euch.«

Kahlan brachte ein dünnes Lächeln zuwege. »Was meint Ihr, ist Richard ebenso verständnisvoll wie Ihr?«

Cara gab ein amüsiertes Grunzen von sich. »Na ja, Ihr habt die besseren Möglichkeiten, ihn zu überzeugen, damit er Euch vergibt. Es ist nicht schwer, den finsteren Blick eines Mannes aufzuhellen.«

»Wenn ich bloß gute Neuigkeiten brächte, um ihn ein wenig aufzuheitern, aber leider ist das nicht der Fall.« Sie hielt in der Tür inne. »Was hat Nadine in meiner Abwesenheit angestellt?«

»Na ja, die meiste Zeit war ich hier unten und habe die Sliph bewacht, nach dem allerdings, was ich mitbekommen habe, hat sie das Personal mit Kräutern versorgt, damit die Menschen sich schützen und damit den Palast ausräuchern können. Gut, daß der Palast größtenteils aus Stein gebaut ist, sonst wäre er wahrscheinlich längst abgebrannt. Sie hat sich mit Drefan beraten und ihm geholfen, dem Personal und all den anderen zu sagen, was sie zu tun haben.

Lord Rahl bat sie, Kräuterhändler und ähnliche Leute aufzusuchen und zu überprüfen, ob es sich um ehrliche Leute handelte oder um Scharlatane, die den Menschen, die Angst um ihr Leben haben, nur das Geld aus der Tasche ziehen wollen. Augenblicklich scheinen in der Stadt schamlose Quacksalber aus dem Boden zu schießen wie frisches Gras in der warmen Sonne. Nadine erstattet Lord Rahl zwar ebenfalls Bericht, er war allerdings die meiste Zeit fort. Und da sie offenbar emsig bemüht ist, den Menschen zu helfen, waren ihre Besuche seit seiner Rückkehr kurz.«

Kahlan schlug mit der Faust gegen die Türfüllung.

»Danke, Cara.« Sie sah der anderen Frau in die blauen Augen. »Hier unten gibt es Ratten. Habt Ihr bestimmt keine Angst?«

»Es gibt Schlimmeres als Ratten.«

»Das ist allerdings wahr«, erwiderte Kahlan leise.

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