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Während sie immer tiefer hinabstieg, versuchte Kahlan die Karte von der Burg der Zauberer in ihrem Gedächtnis mit den Durchgängen, Treppenhäusern und Räumen zu vergleichen, die sie durchquerte. Ratten quiekten und flitzten vor ihrer Laterne davon.

Sie hatte den Turm vor Kolos Zimmer zwar schon oft von den Brustwehren und Wehrgängen oben von der Burg aus gesehen, war aber, bevor Richard sie dorthin mitgenommen hatte, nie unten gewesen. Unglücklicherweise hatte Richard sie durch gefährliche Durchgänge und Schilde geführt, die sie allein niemals würde passieren können.

Sie vertraute darauf, daß es noch andere Wege zu Kolos Raum gab. Große Bereiche der Burg waren überhaupt nicht durch Schilde gesichert. Sie brauchte bloß einen Weg ohne Schilde zu finden, oder mit Schilden, die sie passieren konnte.

Oftmals dienten die ›harten‹ Schilde, wie Zauberer sie gewöhnlich nannten, lediglich dazu, etwas zu schützen, das sich unmittelbar dahinter befand, und nicht, den Durchgang in einen anderen Bereich zu verwehren. Für viele der Räume, in die Richard sie geführt hatte, galt eben dieses: Es handelte sich um Orte bedrohlicher Magie, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie boten meist einen direkteren Weg, erforderten aber eine besondere Art der Magie.

Wenn sie sich nicht täuschte und Richard die gefährlichen Orte auf verschlungenen Pfaden durchquert hatte, anstatt die harten Schilde zu passieren, die insbesondere den Turm sicherten, dann gab es einen Weg in das Turmzimmer, auf dem sich die gefährlichen Bereiche umgehen ließen. Ihrer Erfahrung nach funktionierte die Burg genau so: Wenn der Raum im Turm einen verbotenen Bereich darstellte, dann wäre er durch eigene harte Schilde gesichert. Wenn nicht, dann gäbe es zumindest einen Weg, auf dem sie hineingelangen konnte. Sie mußte ihn nur finden.

Zwar hatte sie in der Burg viel Zeit zugebracht, aber einen großen Teil dieser Zeit war sie in den Bibliotheken gewesen und hatte studiert. Sie hatte ihre Umgebung natürlich erkundet, aber die Burg war beinahe unvorstellbar weitläufig. Nicht nur, daß der Teil, den man von außen sehen konnte, ungeheuer groß war, ein sehr viel größerer Teil lag verborgen im Inneren des Berges. Die Außenmauern waren nur die Spitze, der sichtbare Teil eines Zahns, dessen sehr viel größere Wurzel darunter verborgen war.

Kahlan durchquerte den leeren, aus dem Gestein geschlagenen Raum und gelangte zu einem Durchgang auf der anderen Seite. In der Burg der Zauberer gab es zahlreiche ungenutzte Räume. Einige davon, wie der, den sie gerade durchquert hatte, schienen nicht mehr zu sein als Knotenpunkte, an denen sich verschiedene Gänge trafen und die man vielleicht vergrößert hatte, um Orientierungspunkte zu erhalten.

Der rechteckige Durchgang durch den Fels vorne sah aus, als hätte man ihn sorgfältig aus dem Gestein geschlagen. Das Licht ihrer Laterne fiel auf Streifen mit Symbolen, die man in den Granit geritzt hatte, dazu auf runde Flächen im Bereich der verschlungenen Schnitzereien, die man auf Hochglanz poliert hatte. Jeder der umlaufenden Streifen markierte die Position eines sanften Schildes, der beim Passieren ein Kribbeln auf ihrer Haut auslöste.

Vorne sah sie, daß der Gang sich in drei gabelte. Sie hatte die Kreuzung noch nicht erreicht, als die Luft rings um sie plötzlich zu summen begann. Sie brauchte zwei Schritte, um ihren Vorwärtsschwung zu bremsen. Mit jedem dieser Schritte wurde der unangenehme Summton höher. Ihr langes Haar hob sich von Schultern und Rücken und stand in alle Richtungen ab. Das vorne in den Fels geritzte Band begann augenblicklich rot zu glühen.

Kahlan trat mehrere Schritte zurück. Der Summton wurde tiefer. Ihr Haar legte sich wieder.

Sie stieß einen leisen Fluch aus. Ein Summen war eine dringende Warnung, sich fernzuhalten, weil man einen gefährlichen Schild vor sich hatte. Das rote Glühen zeigte den Bereich des Schildes selbst an.

Manche dieser harten Schilde hinderten Personen, die nicht über die erforderliche Magie verfügten, sogar daran, ihnen zu nahe zu kommen, indem sie die Luft so dicht wie Schlamm und schließlich wie Fels machten. Andere verhinderten nicht nur den Zutritt, sondern sengten einem glatt Haut und Muskeln von den Knochen. Die weniger starken Schilde hatten den Zweck, Menschen, die keine Magie besaßen und somit keine Ahnung hatten, daran zu hindern, sich der Gefahr zu nähern.

Kahlan machte kehrt, hielt die Laterne in die Höhe und ging rasch auf demselben Weg in den Raum zurück, aus dem sie gekommen war. Sie entschied sich für einen anderen Gang, der ungefähr in ihre Richtung führte. Dieser wirkte weitaus freundlicher, da Wände und Decke weiß getüncht waren, wodurch ihr die Laterne besser den Weg leuchten konnte.

In dem weißen Gang stieß sie auf überhaupt keine Schilde. Eine Treppe führte sie tiefer in die Burg hinab. Ein weiterer Felsgang an deren unterem Ende ermöglichte ihr ein rasches Vorankommen ganz ohne Schilde. In Gedanken ging sie alle Gänge, Räume, Treppenhäuser und engen Tunnel noch einmal durch. Sie war ziemlich sicher, daß es einen Weg in den Turm hinein und wieder hinaus gab, ohne auf Schilde zu stoßen.

Kahlan stieß die Tür am Ende des Felsganges auf und trat hinaus auf einen Laufsteg mit einem eisernen Geländer. Sie hielt die Laterne vor sich in die Höhe.

Sie befand sich im untersten Stockwerk des Turms.

Der Laufsteg führte um den Innenraum herum. Treppen führten an der Innenseite des gewaltigen Turmes hinauf, und auf dem Weg nach oben gab es Absätze und weitere Türen. In der Mitte, auf dem Grund des Turmes, lauerte ein Becken mit schwarzem Wasser. Felsen durchbrachen da und dort die Wasseroberfläche, Käfer flitzten hastig darüber. Auf den Felsen hockten reglos Salamander, die die Augen verdrehten und sie beobachteten.

Hier hatte Richard gegen die Königin der Mriswiths gekämpft. Ihre stinkenden, zerplatzten Eier lagen immer noch überall auf den Felsen verteilt.

Noch immer trieben kleine Stücke der aus Kolos Raum herausgesprengten Tür auf dem Becken und bildeten Inseln, auf denen fette Käfer mit einem Zischen auf die Störung reagierten.

Auf der anderen Seite des Wassers, an der gegenüberliegenden Wand des runden Turmsaales, befand sich das Loch, durch das man in Kolos Raum gelangte.

Kahlan begab sich schnell um den Laufsteg herum zu der breiten Plattform davor. Die Türöffnung war aufgesprengt worden, wodurch geschwärzte, schartige Ränder entstanden waren. An einigen Stellen war das Gestein wie Kerzenwachs geschmolzen. Die Mauer des Turms außerhalb der Türöffnung war übersät mit schwarzen Rußstreifen jener entfesselten Energie, die Kolos Raum zum ersten Mal seit tausend Jahren geöffnet hatte.

Mit der Zerstörung der Türme der Verdammnis hatte Richard auch das magische Siegel dieses Raumes zerstört. Die Türme hatten, während des Großen Krieges vor Tausenden von Jahren errichtet, die Alte von der Neuen Welt abgeschirmt. Sie hatten auch den Raum mit der Sliph versiegelt und den Mann eingeschlossen, der das große Pech hatte, zu dieser Zeit ihr Bewacher zu sein.

Steinsplitter knirschten unter ihren Füßen, als Kahlan den Raum betrat, in dem Kolo gestorben war, jenen Raum, in dem die Sliph zu Hause war. Die Stille war bedrückend. Sie klang ihr in den Ohren, so daß ihr die eigenen Schritte zur willkommenen Abwechslung wurden.

Richard hatte die Sliph nach Tausenden von Jahren geweckt. Sie hatte Richard in die Alte Welt und Kahlan und ihn wieder zurück nach Aydindril gebracht. Nach ihrer Rückkehr hatte er die Sliph wieder schlafen gelegt.

All die Jahre über, die Kahlan in der Burg verbracht hatte, war ihr die Existenz der Sliph entgangen.

Kahlan konnte sich die Magie nicht einmal vorstellen, mit der die Zauberer aus alter Zeit ein Wesen wie die Sliph erschaffen und es all die Jahre schlafen gelegt hatten. Nur am Rand ihrer Vorstellungskraft konnte sie sich ein Bild von jener Kraft machen, die Richard eingesetzt haben mußte, doch begreifen konnte sie sie nicht.

Zu was wären die Zauberer aus alter Zeit, die ihre Gabe sehr gut kannten, mit solch unvorstellbarer Magie fähig gewesen? Welches Grauen hätte ein Krieg zwischen denen, die solche Macht besaßen, bedeutet?

Sie erschauderte schon bei dem Gedanken daran.

Es mußten Dinge sein wie diese Seuche, mit denen man sie jetzt heimgesucht hatte. Sie wären zu so etwas fähig gewesen.

Das Licht der Laterne fiel auf Kolos Gebeine neben dem Stuhl. Feder und Tintenfaß standen noch immer auf dem verstaubten Tisch. Der runde Raum, der fast sechzig Fuß im Querschnitt maß, wurde von einer hohen Kuppeldecke gekrönt, die selbst beinahe so hoch war wie der Raum breit.

In der Mitte gab es eine runde, einem Brunnen ähnelnde Steinmauer von fünfundzwanzig oder dreißig Fuß Durchmesser. Dort lebte die Sliph. Kahlan hielt das Licht über den Brunnenrand und blickte an der glatten Steinmauer des dunklen Schachtes hinunter, der scheinbar endlos in die Tiefe abzufallen schien.

Die Mauern des Raumes waren mit zackigen, verkohlten Linien überzogen, als sei dort ein Blitz außer Rand und Band geraten – eine weitere Folge eben jener Magie, die Richard heraufbeschworen hatte, als er die Türme zerstört hatte und die Tür herausgesprengt worden war. Kahlan ging schnellen Schritts um den Raum herum und sah nach, ob es irgend etwas gab, das vielleicht von Nutzen war. Außer dem Tisch, dem Stuhl und Kolo befand sich nichts in diesem Raum – nur ein verstaubter Satz von Regalen.

Zu Kahlans Enttäuschung befanden sich keine Bücher darin. Es gab drei verblichene, mit blauer Glasur überzogene Behälter mit Deckel, die vermutlich einst Wasser oder Suppe für den Zauberer enthalten hatten, der Wachdienst bei der Sliph geschoben hatte. In einer weißen, mit Glasur überzogenen Schale lag ein silberner Löffel. Auf einem der Regale lag ein sauber gefaltetes Tuch oder eine Art Spitzendeckchen. Als sie es anfaßte, zerfiel es an der Stelle, wo ihre Finger es berührten, zu Staub und kleinen Flöckchen.

Kahlan beugte sich weiter vor und sah, daß auf dem untersten Regal nur einige Kerzen und eine Laterne lagen.

Dann, plötzlich, überfiel sie das eiskalte Gefühl alarmierender Unruhe.

Sie wurde beobachtet.

Sie erstarrte, hielt den Atem an und redete sich ein, es sei bloß ihre Phantasie. Die feinen Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. Sie spürte, wie ihr eine kalte Gänsehaut wie eine Welle die Arme hochlief.

Angespannt lauschte sie auf verräterische Geräusche. Die Zehen krallten sich in ihre Stiefel. Sie hatte Angst, sich zu bewegen. Vorsichtig und leise gestattete sie ihren Lungen schließlich einen Atemzug.

Langsam, ganz langsam, um kein Geräusch zu machen, richtete sie sich ein Stück weit auf. Sie wagte nicht, die Füße zu bewegen, falls die Steinsplitter knirschten.

Ein Gefühl von Kühnheit, zerbrechlich wie eine Eierschale, drängte sie, sich hinter der Mauer des Brunnens der Sliph zu verstecken. Von dort aus ließe sich feststellen, ob ihr nur die Einbildung einen Streich spielte. Vielleicht war es eine Ratte.

Sie drehte sich, um die Entfernung bis zur Mauer abzuschätzen.

Kahlan unterdrückte einen Schrei und wich zurück.

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