17

Kahlan sah Nadine noch hinterher, die wütend durch den Flur davon stürmte, als eine atemlose, strahlende Berdine ganz aufgeregt vor ihr stehenblieb.

»Mutter Konfessor, Lord Rahl möchte, daß ich die ganze Nacht aufbleibe und für ihn arbeite. Ist das nicht wunderbar?«

Kahlan zuckte mit den Brauen. »Ganz wie Ihr meint, Berdine.«

Berdine eilte strahlend in dieselbe Richtung weiter, in die auch Nadine gelaufen war. Auf der anderen Seite des Ganges, ein Stück entfernt, redete Richard auf eine Gruppe von Soldaten ein. Hinter den Soldaten, wiederum ein Stück weiter den Gang hinauf, standen Cara und Egan und sahen zu.

Richard bemerkte Kahlan, ließ die Wachen stehen und kam zu ihr. Als er sie erreicht hatte, krallte sie eine Faust in sein Hemd und nahm ihn sich zur Brust.

»Beantworte mir eine Frage, Richard«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.

»Was ist denn?« fragte Richard unschuldig erstaunt.

»Warum bist du je mit dieser Hure tanzen gegangen?«

»So habe ich dich noch nie reden hören, Kahlan.« Richard warf einen Blick in die Richtung, in die Nadine entschwunden war. »Wie hast du sie dazu gebracht, daß sie dir davon erzählt?«

»Ich habe sie ausgetrickst.«

Richard lächelte verschmitzt. »Du hast ihr gesagt, ich hätte dir die Geschichte erzählt, hab' ich recht?«

Sie nickte nur, und sein Lächeln wurde breiter. »Ich habe einen schlechten Einfluß auf dich.«

»Tut mir leid, Richard, daß ich sie gebeten habe hierzubleiben. Davon wußte ich nichts. Sollte ich Shota jemals in die Finger bekommen, werde ich sie erwürgen. Verzeih mir.«

»Da gibt es nichts zu verzeihen. Meine Gefühle waren mir einfach dabei im Weg, das zu erkennen. Es war richtig von dir, sie zu bitten hierzubleiben.«

»Bist du sicher, Richard?«

»Sowohl Shota als auch die Prophezeiung erwähnen den ›Wind‹. Dabei spielt Nadine irgendeine Rolle. Sie muß erst einmal hierbleiben. Ich werde sie besser bewachen lassen, damit sie nicht abreist.«

»Wir brauchen keine Wachen. Nadine wird nicht abreisen.«

»Wieso bist du da so sicher?«

»Geier geben niemals auf. Sie kreisen, solange sie glauben, daß es Knochen geben wird, die man abnagen kann.« Kahlan sah nach hinten in den menschenleeren Flur. »Sie hatte tatsächlich die Frechheit, mir zu sagen, ich hätte an ihrer Stelle ebenso gehandelt.«

»Nadine tut mir ein bißchen leid. Sie hat auch ihre guten Seiten, aber was wahre Liebe ist, wird sie wohl nie erfahren.«

Kahlan spürte seine Wärme in ihrem Rücken. »Wie konnte Michael dir so was antun? Wie konntest du ihm je vergeben?«

»Er war mein Bruder«, meinte Richard leise. »Ich hätte ihm alles vergeben. Eines Tages werde ich vor den Guten Seelen stehen. Ich möchte ihnen keinen Grund liefern zu sagen, ich sei nicht besser gewesen.

Was er jedoch anderen angetan hat, das konnte ich ihm nie verzeihen.«

Sie legte ihm die Hand tröstend auf den Arm. »Ich glaube, jetzt verstehe ich, warum du willst, daß ich dich zu Drefan begleite. Die Seelen haben dich mit Michael auf eine harte Probe gestellt. Ich denke, du wirst feststellen, daß Drefan ein besserer Bruder ist. Er ist vielleicht ein wenig arrogant, aber er ist ein Heiler. Außerdem dürfte es schwer sein, zwei so schlechte Menschen zu finden.«

»Nadine ist auch eine Heilerin.«

»Nicht, verglichen mit Drefan. Seine Begabung grenzt an Magie.«

»Glaubst du, er besitzt Magie?«

»Ich glaube nicht, allerdings kann ich das unmöglich genau sagen.«

»Ich werde es spüren. Falls er Magie besitzt, werde ich es erfahren.«

Die Wachen auf ihren Posten in der Nähe des Salons der Mutter Konfessor salutierten, nachdem Richard ihnen Anweisungen gegeben hatte. Kahlan blieb an seiner Seite, während sie den Flur entlanggingen. Cara richtete sich auf, als Richard kurz vor ihr stehenblieb. Selbst Egan reckte erwartungsvoll den Kopf. Cara sah müde und elend aus, fand Kahlan.

»Cara«, sagte Richard schließlich, »ich werde jetzt diesen Heiler aufsuchen, der Euch gerettet hat. Wie ich hörte, ist er ebenfalls ein unehelicher Sohn von Darken Rahl, genau wie ich. Warum begleitet Ihr mich nicht? Ich hätte nichts dagegen, eine … gute Freundin dabeizuhaben.«

Cara runzelte die Stirn. Sie war den Tränen nahe. »Wenn Ihr es wünscht, Lord Rahl.«

»Ich wünsche es. Du auch, Egan. Egan, ich habe den Soldaten gesagt, daß ihr alle passieren dürft. Holt Raina und Ulic und nehmt sie ebenfalls mit.«

»Ich bin unmittelbar hinter Euch, Lord Rahl«, antwortete Egan mit einem strahlenden Lächeln.

»Wo wartet Drefan?« fragte Kahlan.

»Ich sagte den Wachen, sie sollen ihn in einem Gästezimmer im Südostflügel unterbringen.«

»Am anderen Ende des Palastes? Warum so weit weg?«

Richard bedachte sie mit einem Blick, dem sie nichts entnehmen konnte. »Weil ich wollte, daß er hierbleibt, unter Bewachung, und das war der Punkt, wo er am weitesten von deinen Gemächern entfernt ist.«

Cara trug noch immer ihre rote Lederkleidung. Sie hatte keine Zeit gefunden, sich umzuziehen. Die Soldaten, die den Südostflügel des Palasts der Konfessoren bewachten, grüßten mit einem Faustschlag aufs Herz und traten für Richard, Kahlan, Ulic, Egan und Raina in ihrer braunen Lederkleidung zur Seite. Für Cara wichen sie einen zusätzlichen Schritt zurück. Kein D'Haraner wollte die Aufmerksamkeit einer Mord-Sith in roter Lederkleidung auf sich lenken.

Nachdem sie den Palast in forschem Tempo durchquert hatten, blieben sie alle vor einer einfachen, von Leder, Muskeln und Stahl flankierten Tür stehen. Richard zog abwesend das Schwert ein Stück heraus, ließ es wieder zurückgleiten und vergewisserte sich auf diese Weise, daß es locker in der Scheide steckte.

»Ich glaube, er hat mehr Angst als du«, flüsterte ihm Kahlan zu. »Er ist ein Heiler. Er sagte, er sei gekommen, um dir seine Hilfe anzubieten.«

»Er ist am selben Tag hier aufgetaucht wie Nadine und Marlin. Ich glaube nicht an Zufälle.«

Kahlan kannte den Blick in seinen Augen. Er verband sich mit seinem Schwert über einen tödlichen Magiestrom, ohne es auch nur anzufassen. Jeder Zoll von ihm, jeder harte Muskelstrang, jede fließende Bewegung verriet den ruhig und dennoch angespannt lauernden Tod.

Richard stieß die Tür auf, ohne anzuklopfen, und betrat den kleinen fensterlosen Raum. Es war eines der einfachen Gästezimmer, kärglich mit einem Bett, einem kleinen Tisch und zwei einfachen Holzstühlen möbliert. An der Seite stand ein schlichter Kiefernkleiderschrank. Ein kleiner gemauerter Kamin sorgte in der kalten, parfümierten Luft für ein wenig Wärme.

Kahlan hielt sich nahe bei Richard, und da sie klug genug war, sich seinem Schwert nicht in den Weg zu stellen, blieb sie einen halben Schritt hinter ihm zurück, ließ seinen Arm jedoch nicht los. Ulic und Egan nahmen zu beiden Seiten Aufstellung. Ihr blondes Haar streifte fast die niedrige Decke. Cara und Raina kamen hinter ihnen hervor und schirmten Richard und Kahlan ab.

Drefan kniete vor dem Tisch an der gegenüberliegenden Wand. Jemand hatte Dutzende von Kerzen beliebig auf dem Tisch verteilt. Auf den Lärm des ganzen Durcheinanders hin erhob er sich geschmeidig und drehte sich um.

Seine blauen Augen erfaßten Richard, als hätte er das Zimmer allein betreten. Die beiden schätzten einander ab, versunken in stumme Gedanken, die Kahlan allenfalls erraten konnte.

Und dann fiel Drefan auf die Knie und berührte mit der Stirn den Fußboden.

»Herrscher Rahl, führe uns. Herrscher Rahl, lehre uns. Herrscher Rahl, beschütze uns. In Deinem Licht gedeihen wir. In Deiner Gnade finden wir Schutz. Deine Weisheit erfüllt uns mit Demut. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört Dir.«

Kahlan sah, wie Richards zwei riesenhafte Leibwächter und beide Mord-Sith fast reflexartig auf die Knie fielen, um sich der Preisung des Herrschers von D'Hara anzuschließen. In Aydindril hatte sie zahllose D'Haraner bei dieser Anbetung gesehen. Sie hatte an Richards Seite gestanden, als die Schwestern des Lichts niedergekniet waren und ihm die Treue geschworen hatten. Richard hatte ihr erzählt, daß im Palast des Volkes zu Darken Rahls Zeiten jeder zweimal täglich jeweils zwei Stunden die Andachtsplätze aufsuchte, ebendiese Worte wieder und wieder vor sich hin sagte und dabei den gefliesten Boden mit der Stirn berührte.

Drefan erhob sich wieder und nahm eine entspannte, selbstsichere Haltung an. Er war edel gekleidet, trug ein weißes Rüschenhemd, das bis zur Brustmitte offen war, hohe Stiefel, die knapp unterhalb der Knie umgeschlagen waren, und enge, dunkle Hosen, die seine Männlichkeit genug herausstellten, um Kahlan die Schamesröte auf die Wangen zu treiben. Sie zwang sich, ihre Augen abzuwenden. An seinem breiten Ledergürtel konnte sie wenigstens vier Beutel erkennen, deren Laschen von geschnitzten Knochenstiften zugehalten wurden. Lose über seine Schultern drapiert, hing das einfache Flachsgewand, das sie schon kannte.

Von derselben Größe und demselben Körperbau wie Richard und mit den schönen Gesichtszügen Darken Rahls, bot er einen eindrucksvollen Anblick. Sein locker herabhängendes blondes Haar ließ sein braungebranntes Gesicht noch schöner erscheinen. Kahlan konnte nicht umhin, sie mußte die Fleisch und Blut gewordene Mischung von Darken Rahl und Richard einfach ausgiebig betrachten.

Richard deutete mit der Hand auf die Kerzen. »Was ist das?«

Drefan hielt die blauen Augen weiter auf Richard gerichtet. »Ich habe gebetet, Lord Rahl. Habe meinen Frieden mit den Guten Seelen gemacht, für den Fall, daß ich heute zu ihnen gehen sollte.«

Da lag keine Angst in seiner Stimme. Es handelte sich um die schlichte, selbstgewisse Feststellung einer Tatsache.

Richards Brust schwoll unter einem tiefen Atemzug an. Er stieß die Luft mit einem Seufzer aus. »Cara, Ihr bleibt hier. Raina, Ulic, Egan, bitte wartet draußen.« Beim Hinausgehen warf er ihnen einen flüchtigen Blick zu. »Ich zuerst.«

Sie antworteten mit einem grimmigen Nicken. Es war ein Kode: Sollte Richard den Raum nicht als erster wieder verlassen, dann würde Drefan auf dem Weg nach draußen sterben – eine Vorsichtsmaßnahme, die Kahlan ebenfalls anwandte.

»Ich bin Drefan, Lord Rahl. Zu Euren Diensten, solltet Ihr mich für würdig befinden.« Er verneigte den Kopf vor Kahlan. »Mutter Konfessor.«

»Was wolltet Ihr damit sagen, es könnte sein, daß Ihr Euch heute zu den Guten Seelen gesellt?« fragte Richard.

Drefan schob seine Hände in die gegenüberliegenden Ärmel seines Gewandes.

»Das hängt mit einer kleinen Geschichte zusammen, Lord Rahl.«

»Nehmt die Hände aus den Ärmeln und erzählt mir diese Geschichte.«

Drefan zog seine Hände heraus. »Verzeiht.« Er hob sein Gewand mit dem kleinen Finger ein Stück an, so daß man das lange Messer mit der dünnen Klinge sehen konnte, das in der Scheide an seinem Gürtel steckte. Er zog das Messer mit Daumen und einem Finger heraus, schleuderte es in die Luft und fing es an der Spitze auf. »Verzeiht mir. Ich hatte vor, es vor Eurem Besuch abzulegen.«

Ohne sich umzudrehen, warf er es über die Schulter. Das Messer blieb fest in der Wand stecken. Er bückte sich, nahm ein schwereres Messer aus seinem Stiefel und warf dieses beim Aufrichten mit seiner anderen Hand über die Schulter, so daß es ebenfalls, einen Zoll vom ersten entfernt, in der Wand steckenblieb. Er griff hinter seinem Rücken unter den Umhang, und zum Vorschein kam eine gefährlich aussehende, gekrümmte Klinge. Ohne hinzusehen, schleuderte er sie ebenfalls in die Wand hinter sich, wo sie sich zu den beiden anderen gesellte.

»Sonst noch irgendwelche Waffen?« fragte Richard in geschäftsmäßigem Ton.

Drefan breitete die Arme aus. »Meine Hände, Lord Rahl, und mein Wissen.« Er hielt die Hände weiter ausgebreitet. »Aber selbst meine Hände wären nicht schnell genug, Eure Magie zu besiegen, Lord Rahl. Bitte durchsucht mich, und vergewissert Euch, daß ich ansonsten unbewaffnet bin.«

Richard ging auf das Angebot nicht ein. »Und, wie lautet die Geschichte nun?«

»Ich bin der uneheliche Sohn von Darken Rahl.«

»Genau wie ich«, meinte Richard.

»Nicht ganz. Ihr seid der mit der Gabe gesegnete Erbe Darken Rahls. Ein entscheidender Unterschied, Lord Rahl.«

»Mit der Gabe gesegnet? Darken Rahl hat meine Mutter vergewaltigt. Ich hatte oft Grund, meine Magie als Fluch zu betrachten.«

Drefan nickte respektvoll. »Ganz wie Ihr wollt, Lord Rahl. Aber Darken Rahl betrachtete seine Nachkommen mit anderen Augen als Ihr. Für ihn gab es einerseits den Erben und andererseits nur nutzlose Schwächlinge. Ihr seid sein Erbe, ich bin nur einer der nutzlosen Schwächlinge.

Die üblichen Dinge, die man mit dem Akt der Zeugung in Verbindung bringt, waren für den Herrscher D'Haras nicht von Belang. Frauen waren … einfach dazu da, um ihm Vergnügen zu bereiten oder seine Leibesfrucht auszutragen. Die, die eine minderwertige Leibesfrucht empfingen – die ohne Gabe –, waren in seinen Augen unfruchtbares Land. Selbst Eure Mutter wäre, nachdem sie diese kostbare Leibesfrucht ausgetragen hatte, für ihn nicht wichtiger gewesen als der Dreck in seinem Lieblingsgarten.«

Richard nahm eine steife Haltung an. »Er hat meine Geschwister getötet?«

»So ist es, Lord Rahl«, bestätigte Cara. »Nicht methodisch, sondern eher seiner üblen Laune folgend.«

»Von diesen anderen Kindern weiß ich nichts. Bis zum vergangenen Herbst wußte ich nicht einmal, daß er mein Vater ist. Wie kommt es, daß du noch lebst?« fragte er Drefan.

»Meine Mutter wurde nicht…« Drefan hielt inne und suchte nach einem unverfänglichen Weg, es auszudrücken. »Meine Mutter erfuhr nicht eine so unglückliche Behandlung wie Eure hochgeschätzte Mutter, Lord Rahl.

Meine Mutter war eine Frau voller Ehrgeiz und Habgier. Sie sah in unserem Vater ein Mittel, an gesellschaftlichem Rang zu gewinnen. Wie ich habe erzählen hören, hatte sie ein hübsches Gesicht und einen schönen Körper und gehörte zu den wenigen, die mehrfach in sein Schlafgemach gerufen wurden. Die meisten konnten sich dessen nicht rühmen. Offenbar gelang es ihr, seinen Appetit auf ihre Reize zu entwickeln. Um es rundheraus zu sagen, sie war eine begabte Hure.

Sie hoffte, diejenige zu sein, die ihm den mit der Gabe gesegneten Erben schenkt, um in ihrem gesellschaftlichen Rang noch ein wenig höher aufzusteigen.

Das ist ihr nicht gelungen.« Drefans Wangen erröteten. »Sie bekam mich.«

»Das mag in ihren Augen ein Versagen gewesen sein«, erwiderte Richard mit ruhiger Stimme, »aber nicht in den Augen der Guten Seelen. Ihr seid in ihren Augen nicht geringer als ich.«

Drefan lächelte. »Vielen Dank, Lord Rahl. Sehr großzügig von Euch, den Guten Seelen das zuzugestehen, was ihnen immer schon gehörte. Nicht alle Menschen tun das. ›Deine Weisheit erfüllt uns mit Demut‹«, zitierte er aus der Andacht.

Drefan schaffte es, auf höfliche Weise Respekt zu zeigen, ohne unterwürfig zu werden. Er schien aufrichtig, voller Achtung zu sein, verlor dabei jedoch auch seine noble Haltung nicht. Anders als in der Grube war er sehr auf Höflichkeit bedacht, trotzdem strahlte er die Erhabenheit eines Rahl aus: Wie oft er sich auch verbeugte, an seinem sicheren Auftreten änderte das nichts. Und wie bei Richard, haftete seinem Auftreten eine angeborene Autorität an.

»Und was geschah dann?«

Drefan holte tief Luft. »Sie brachte mich als Säugling zu einem Zauberer, um mich testen zu lassen, in der Hoffnung, den mit der Gabe gesegneten Erben präsentieren zu können, der ihr Reichtum, Stellung und die katzbuckelnde Bewunderung von Darken Rahl einbringen würde. Hatte ich schon erwähnt, daß sie obendrein auch eine Närrin war?«

Richard antwortete nicht, und Drefan fuhr fort.

»Der Zauberer eröffnete ihr die schlechten Neuigkeiten: Ich war ohne die Gabe geboren worden. Statt den Paß in ein Leben voller Annehmlichkeiten in der Hand zu halten, war nun ihr Schicksal besiegelt. Darken Rahl war dafür bekannt, daß er solchen Frauen die Eingeweide aus dem Leib riß – Zoll für Zoll.«

»Offenbar«, sagte Richard, »gelang es Euch, ihm nicht weiter aufzufallen. Wie das?«

»Dafür war meine liebe Frau Mutter verantwortlich. Sie wußte, daß sie mich vielleicht würde aufziehen können, ohne je von ihm bemerkt oder getötet zu werden, aber sie wußte auch, daß dies ein hartes Leben werden würde, in dem man sich verstecken und bei jedem Klopfen an der Tür erschrecken mußte.

Statt dessen brachte sie mich, als ich kaum mehr als ein Säugling war, zu einer entlegenen Gemeinschaft von Heilern, damit diese mich unerkannt großziehen würden und mein Vater nichts von mir erführe.«

»Das muß schwer für sie gewesen sein«, stellte Kahlan fest.

Seine stechenden blauen Augen richteten sich auf sie. »Gegen ihren Kummer verschrieb sie sich ein wirksames Mittel, das wiederum von den Heilern bereitgestellt wurde: Bilsenkraut.«

»Bilsenkraut«, wiederholte Richard. »Bilsenkraut ist ein Gift.«

»Ja. Es wirkt schnell, hat aber die unangenehme Eigenschaft, dabei äußerst schmerzhaft zu sein.«

»Diese Heiler haben ihr Gift gegeben?« fragte Richard fassungslos.

Drefans raubvogelhafter Blick, in dem gleichzeitig etwas Warnendes lag, kehrte zu Richard zurück. »Es ist der Beruf eines Heilers, das verlangte Mittel bereitzustellen. Manchmal handelt es sich dabei um den Tod.«

»Da habe ich eine andere Vorstellung von einem Heiler«, sagte Richard, der den raubvogelhaften Blick auf gleiche Art erwiderte.

»Einem Menschen, der im Sterben liegt – ohne Hoffnung auf Besserung und unter großen Leiden – kann man nicht besser dienen als mit dem wohltätigen Akt, ihm beim Beenden seines Leidens behilflich zu sein.«

»Eure Mutter lag nicht ohne Hoffnung auf Besserung im Sterben.«

»Wenn Darken sie gefunden hätte, wäre ihr Leid vollkommen gewesen, um es vorsichtig auszudrücken. Ich weiß nicht, wieviel Ihr über Euren Vater wißt, aber er war für seinen Einfallsreichtum beim Bereiten von Schmerzen bekannt und dafür, daß er sie genüßlich in die Länge zog. Sie lebte in ständiger Angst vor diesem Schicksal. Das trieb sie fast in den Wahnsinn. Bei jedem Schatten brach sie in Tränen aus. Die Heiler konnten nichts tun, um ihr dieses Schicksal zu ersparen und sie vor Darken Rahl zu beschützen. Hätte Darken Rahl sie finden wollen, hätte er sie auch gefunden. Wäre sie bei den Heilern geblieben und dort entdeckt worden, hätte er sie allesamt erschlagen, weil sie sie versteckt hatten. Sie opferte ihr Leben, damit ich eine Chance hatte, meines zu leben.«

Kahlan zuckte zusammen, als das Holz im Kamin knackte. Drefan zeigte keine Regung, ebensowenig Richard.

»Das tut mir leid«, sagte Richard leise. »Mein Großvater brachte seine Tochter, meine Mutter, nach Westland, um sie vor Darken Rahl zu verbergen. Wahrscheinlich war auch er sich über die Gefahr im klaren, in der sie schwebte. Und ich.«

Drefan zuckte die Achseln. »Dann sind wir uns sehr ähnlich, Ihr und ich: Flüchtlinge vor unserem Vater. Nur, daß Ihr nicht getötet worden wärt.«

Richard nickte, wie zu sich selbst. »Er hat versucht, mich zu töten.«

Drefan runzelte neugierig die Stirn. »Tatsächlich? Erst will er einen mit der Gabe gesegneten Erben, und dann versucht er, ihn umzubringen?«

»Er wußte ebensowenig wie ich, daß er mich gezeugt hatte.« Richard kam zum Thema zurück. »Und was hatte das zu bedeuten, daß Ihr Frieden mit den Guten Seelen schließen wollt, für den Fall, daß Ihr heute noch zu ihnen geht?«

»Die Heiler, die mich aufzogen, haben mir nie verschwiegen, wer ich war. Seit ich denken kann, weiß ich, daß ich der uneheliche Sohn unseres Herrschers Vater Rahl bin. Ich lebte stets in der Gewißheit, daß er jeden Augenblick kommen und mich töten konnte. Jede Nacht betete ich zu den Guten Seelen und dankte ihnen für einen weiteren Tag ohne meinen Vater und ohne das, was er mir antun würde.«

»Hatten die Heiler keine Angst, daß er kommen und sie ebenfalls töten könnte, weil sie Euch versteckten?«

»Mag sein! Sie haben es stets abgestritten. Sie sagten, um sich selbst hätten sie keine Angst, sie könnten stets behaupten, ich sei ein Findelkind gewesen, dessen Eltern sie nicht kannten.«

»Muß ein hartes Leben gewesen sein.«

Drefan kehrte ihnen den Rücken zu und schien eine Weile in die Kerzen zu starren, bevor er weitersprach. »Immerhin war es ein Leben. Mein Leben. Dennoch war ich es leid, ständig in Furcht vor ihm zu leben.«

»Er ist tot«, sagte Richard. »Ihr braucht Euch nicht mehr vor ihm zu fürchten.«

»Deswegen bin ich hier. Als ich spürte, wie die Bande zerrissen, und man später bestätigte, daß er tot war, hielt ich mein privates Grauen für beendet. Man hat mich seit meiner Ankunft hier bewacht. Ich wußte, dieses Zimmer durfte ich nicht nach Belieben verlassen. Schließlich kannte ich den Ruf der Wachen, mit denen Ihr Euch umgebt. Dieses Risiko ging ich ein, als ich hierherkam.

Ob der neue Lord Rahl ebenfalls meinen Tod wollte, war mir nicht bekannt, aber ich beschloß, der stets über meinem Haupt schwebenden Todesdrohung ein Ende zu machen. Ich kam, um dem Herrscher D'Haras meine Dienste anzubieten, falls er diese wollte, oder mein Leben sollte, so dies sein Wille wäre, wegen des Verbrechens meiner Geburt verwirkt sein.

Wie auch immer, es hätte ein Ende. Ich will, daß es ein Ende hat.«

Drefan, dessen Augen feucht wurden, drehte sich zu Richard um.

»Ihr habt es gehört, Lord Rahl. Verzeiht mir oder tötet mich. Was auch immer, ich glaube nicht, daß es mir noch viel ausmacht, aber bringt die Sache zu Ende – so oder so.«

Seine Brust hob und senkte sich, und sein Atem ging schwer.

Richard musterte seinen Bruder in der trägen Stille. Kahlan konnte bestenfalls ahnen, was jetzt in ihm vorging: die Gefühle, die diese Überlegungen ausgelöst haben mochten, die Schatten der Vergangenheit und das Licht der Hoffnung auf das, was vielleicht einmal sein würde.

Schließlich streckte er die Hand aus.

»Ich bin Richard, Drefan. Willkommen im neuen D'Hara, einem D'Hara, das für die Befreiung von der Schreckensherrschaft kämpft. Wir kämpfen dafür, daß niemand mehr wie du in Angst leben muß.«

Die beiden Männer faßten sich am Handgelenk. Ihre großen, kräftigen Hände hatten dieselbe Größe.

Drefan sagte leise: »Ich danke dir … Richard.«

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