48

Es war spät, und in der Dunkelheit erkannten die Menschen auf der Straße sie nicht. Da sie ohne ihre übliche Eskorte unterwegs war, hatte niemand Grund, ein zweites Mal hinzuschauen und anzunehmen, es handele sich um die Mutter Konfessor, die sich unter sie mischte. Das war auch gut so. Es gab Leute, die der Mutter Konfessor Übles wollten. Meist hielten sich die Menschen zu ihr und allen anderen auf Distanz, weil sie hofften, sich dadurch die Pest vom Leib zu halten.

Wie Cara erzählt hatte, wimmelte es von betrügerischen Straßenhändlern, die Arzneien verkauften, mit denen man angeblich die Pest abwenden oder seine Lieben, die bereits von der Krankheit befallen waren, heilen konnte. Andere schlenderten mit von Schulterriemen gehaltenen Tabletts durch die Straßen, auf denen säuberlich geordnet Amulette lagen, die magisch gegen die Pest wirkten. Kahlan erinnerte sich, vor nicht allzu langer Zeit gesehen zu haben, wie dieselben Leute eben diese Amulette als Magie verkauft hatten, mit deren Hilfe man einen Gatten oder eine Gattin finden oder eine untreue Gemahlin verzaubern konnte. Alte Frauen mit kleinen zweirädrigen Karren oder einfachen Verkaufsständen aus Holz verkauften geschnitzte, mit einem Bann versehene Plaketten, die man sich über die Tür des Hauses hängte, als sichere Methode, die verhinderte, daß die Pest Einlaß in besagtes Haus fand. Selbst die Händler für Fleisch und Gemüse verkündeten lauthals die stärkenden Eigenschaften ihrer Waren sowie deren Bedeutung für den Erhalt lange währender Gesundheit – selbstverständlich nur bei regelmäßigem Verzehr.

Kahlan hätte Soldaten ausgesandt, um diesen Schwindlern das Handwerk zu legen, aber derartige Eingriffe würden die Kunden wahrscheinlich als gegen sich gerichtete Maßnahme auffassen. Versuchte sie, die Armee einzusetzen, um solch törichte Praktiken zu unterbinden, würden die verzweifelten Menschen bald Geschichten über die Mächtigen zurechtspinnen, die die Heilmittel angeblich verbieten wollten, damit die anständigen, arbeitenden Leute an der Pest erkrankten. Allem gesunden Menschenverstand und gegenteiligen Beweisen zum Trotz waren viele davon überzeugt, daß die Mächtigen ständig Pläne ersannen, um Unheil über sie zu bringen. Wenn sie nur wüßten, wie die Wirklichkeit aussah.

Unterband Kahlan den Verkauf dieser Dinge, würden die ›Heilmittel‹ heimlich verkauft werden – zu einem höheren Preis. Ganz gleich, wie unhaltbar die Versprechungen dieser Heilmittel waren, an ihrer angeblichen Wirksamkeit wurde nicht gezweifelt.

Das Erste Gesetz der Magie: Die Menschen glaubten jede Lüge, entweder, weil sie glauben wollten, daß sie wahr sei, oder weil sie befürchteten, sie könnte es sein. Diese Menschen waren verzweifelt, und ihre Verzweiflung würde noch wachsen. Viele wollten mit aller Gewalt an irgend etwas glauben.

Kahlan versuchte sich vorzustellen, was sie tun würde, wenn Richard die Pest befiele. Würde sie in ihrer Verzweiflung Hoffnung auf derartige Roßtäuscherei setzen und gegen alle Vernunft darauf hoffen, dergleichen könnte ihn retten? Manchmal blieb den Menschen nichts weiter als die Hoffnung. So unbegründet sie auch war, Kahlan durfte sie ihnen nicht nehmen. Hoffnung war alles, was sie hatten, alles, woran sie sich noch festhalten konnten.

Es war an Kahlan und Richard, diesen Menschen zu helfen.

Als sie auf der Suche nach Richard durch den vertrauten Prunk des Palastes der Konfessoren lief, blieb Kahlan an der offenstehenden Doppeltür eines großen Saales stehen, der für offizielle Empfänge benutzt wurde. Der Saal war in einem beruhigenden Blau gestrichen, dunkelblaue Gardinen hingen von den hohen, schmalen Fenstern. Der Fußboden aus Granit wies ein Sonnenaufgangsmuster aus dunklerem und hellerem Stein auf, das sich strahlenförmig von der Mitte ausbreitete. Lampen auf Tischen aus Kirschholz an den Längsseiten des Raumes tauchten diesen in ein weiches Licht. Auf den Beistelltischen, auf denen manchmal kleine Speisen für die Gäste angerichtet wurden, stand jetzt eine stattliche Anzahl von Kerzen.

Drefans Stimme hatte Kahlans Aufmerksamkeit erregt. Rechts, vor dem Tisch mit den Kerzen, sprach er zu vielleicht fünfzig oder sechzig Personen. Diese hockten mit übereinandergeschlagenen Beinen vor ihm auf dem Fußboden und lauschten gespannt seinen Ausführungen darüber, wie man die Gesundheit stärkte und dem Körper dadurch seine Kraft bewahrte, daß man in Verbindung mit dem inneren Selbst blieb.

Die meisten nickten gedankenversunken, während Drefan sich über Menschen ausließ, die der Krankheit Tür und Tor öffneten, indem sie ihren Körper mit ungesunden Gedanken und Taten verunreinigten. Er erklärte ihnen, der Schöpfer habe sie mit der Fähigkeit ausgestattet, sich vor Krankheiten wie der Pest zu schützen, vorausgesetzt, sie verhielten sich nur wie von der Natur vorgesehen und verzehrten die richtige Nahrung, und zwar eine solche, die die ihren Körper kräftigenden Auren stärkte; des weiteren sollte man die Methode der inneren Einkehr benutzen, um die Wirkung der unterschiedlichen Energiefelder im Einklang mit dem Ganzen auf ihre eigentliche Aufgabe zu lenken.

Vieles von dem, was er sagte, ergab Sinn: das Meiden jeglichen Essens, von dem man wußte, daß man davon Kopfschmerzen bekam, weil es die Fähigkeit des Geistes, den Körper zu regulieren, störte; das Meiden schwerer Speisen kurz vor dem Schlafengehen, weil dadurch dem Körper jene Ruhe vorenthalten wurde, die er benötigte, um sich zu erholen; die Dinge, die die Auren zerstörten, welche uns Kraft gaben und unsere Gesundheit förderten.

Die Menschen staunten ganz offen, wie Drefan es schaffte, ihnen das alles so leicht verständlich zu erklären. Sie redeten, als seien sie blind gewesen, und nun habe ihnen jemand zum ersten Mal die Augen geöffnet. Verblüfft verfolgten sie, wie er ihnen des weiteren erklärte, wir besäßen in uns die Kraft, den Körper zu beherrschen, und Krankheiten könnten uns nur deshalb quälen, weil wir es zuließen. Er sprach von Kräutern, die den Körper von Giften reinigten und die den Menschen vielleicht zum allerersten Mal seit seiner Geburt wirklich gesund machten.

Diese Menschen lauschten nicht dem Bruder von Lord Rahl, sie lauschten Drefan Rahl, dem Hohenpriester der Raug'Moss.

Wie ein Mann befolgten sie die Anweisungen des Hohenpriesters, als dieser von ihnen verlangte, die Augen zu schließen und den Odem des Lebens und die Dämpfe der Gesundheit unter Einsatz der Bauchmuskeln durch die Nase zu atmen, bis tief hinein in ihren innersten Kern. Er erläuterte, wie man die Luft bis ganz tief unten an die Quelle der Kraft der einzigartigen Aura jedes einzelnen führte, wie man die Gifte aus den entlegensten, dunkelsten Winkeln ihres Seins hervorholte und sie durch den Mund nach außen stieß, wo sie gegen einen kräftigenden Atemzug des Lebens ausgetauscht wurden, der wiederum durch die Nase eingesogen wurde.

Vermutlich, dachte Kahlan, war es besser, wenn diese Leute zu Drefan kamen und um einen Rat baten, der vielleicht sogar ein wenig half – zumindest klang das alles so, als könnte es keinen Schaden anrichten –, anstatt ihr Erspartes im Tausch gegen falsche Hoffnungen zu den Betrügern auf der Straße zu tragen. Mit Hilfe von vernünftiger Ernährung und genügend Ruhe den Bedürfnissen des eigenen Körpers gerecht zu werden, schien ein solider Rat.

Während sie alle langsam durch ihre Nasen einatmeten, drehte Drefan den Kopf und richtete seinen Darken-Rahl-Blick auf Kahlan. Er sah sie mit seinem freundlichen Lächeln an, das wohlwollend in seinen blauen Augen funkelte. Sie konnte verstehen, warum diese Menschen ihm vertrauten, und zwang sich, mit einem dünnen Lächeln zu antworten.

Kahlan mußte daran denken, wie sie sich mit Shota über die Schwierigkeit unterhalten hatte, unerfreuliche Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu verbannen. Wenn sie nur seine Hand zwischen Caras Beinen vergessen könnte.

Drefan versuchte, den Menschen zu helfen. Er tat alles in seiner Macht Stehende, um die Pest aufzuhalten. Er war ein großartiger Heiler – der Hohepriester der Raug'Moss. Sie versuchte, das Bild, wie er diese kranken Kinder tröstete, an die Stelle der Erinnerung an jene große Hand zu setzen, die er Cara gewaltsam zwischen die Beine geschoben hatte.

Drefan hatte seinerzeit erklärt, warum er Cara das angetan hatte. Er hatte Cara das Leben gerettet – einer Mord-Sith, die erst vor Schmerzen geschrien und dann das Bewußtsein verloren hatte. Drefan hatte sie zurückgeholt. Für Richard hatte er etwas Tröstliches an sich, wie für jeden anderen auch. Kahlan brach den Blickkontakt mit ihm ab und setzte ihre Suche nach Richard fort.

Tristan Bashkar, der jaranische Botschafter, der im Palast der Konfessoren wohnte und der, bevor er kapitulierte, auf ein weiteres Zeichen von den Sternen, auf ein weiteres Wort von oben wartete, blieb an einem Balkon stehen, als sie unten vorüberkam. Wie es seine Gewohnheit war, zog er seinen Rock ein wenig zurück und legte seine Hand auf die Hüfte. Dadurch stellte er den gemeinen Dolch zur Schau, den er an seinem Gürtel trug. Oftmals setzte er während eines Gespräches auch einen Stiefel auf einen Stuhl und stützte, als sei es nicht beabsichtigt, seinen Unterarm auf das Knie. Damit enthüllte er denen, die sich mit ihm unterhielten, auch das Messer, das er in seinem Stiefel trug.

Je häufiger sie Tristan, der sie stets aus seinen verschlagenen Augen musterte, im Palast sah, desto mehr mißfiel ihr seine Anwesenheit. Kahlan kannte keinen Mann, der sich kindischer aufführte.

Schweigend verfolgte Tristan, wie sie eilig ihres Weges ging. Kahlan war froh, daß er oben auf dem Balkon stand. Somit mußte sie keine Zeit damit vergeuden, sich mit ihm herumzustreiten.

Ulic und Egan warfen Kahlan einen seltsamen Blick zu, als diese sie grüßte, bevor sie hastig durch die Tür des kleinen Zimmers verschwand, in dem Richard gerne Kolos Tagebuch studierte. Er saß da, den Kopf in den Händen, die Finger in seinem Haar vergraben, und las in einem anderen Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Zwei Kerzen und eine Lampe auf dem Tisch neben ihm spendeten Licht, und ein kleines, wohlriechendes Feuer aus Birkenscheiten wärmte das gemütliche Zimmer. Sein Cape hing über einem Stuhl ganz in der Nähe, sein Schwert jedoch hatte er umgeschnallt.

Richard hob den Kopf. Als er sie erblickte, sprang er auf. Ohne das goldene Cape glich er einem großen, dunklen Schatten, der durch das Zimmer schwebte. Bevor er ein Wort sagen konnte, warf Kahlan sich ihm in die Arme.

Sie legte ihr Gesicht an seine Brust und umarmte ihn. »Schrei mich bitte nicht an, Richard. Bitte halte mich einfach nur fest.« Tränen erstickten ihre Stimme. »Bitte sag nichts – halte mich einfach nur fest.«

Es war ein Hochgefühl, endlich wieder bei ihm zu sein. Jedesmal, wenn sie ihn sah, war sie erstaunt, wie sehr sie ihn brauchte und liebte.

Er schloß sie in seine schützenden Arme. Sie lauschte auf das Knacken des Feuers und auf das Pochen seines Herzens dicht an ihrem Ohr. In der Geborgenheit seiner Arme konnte sie sich fast vorstellen, alles sei in bester Ordnung und sie hätten eine Zukunft.

Dann fielen ihr die Worte ihrer Mutter ein.

Konfessoren kennen keine Liebe, Kahlan. Sie kennen nur die Pflicht.

Kahlan klammerte sich in sein schwarzes Hemd, während sie den Kampf gegen ihre Tränen verlor. Er hielt sie fest und streichelte sie. Sie hatte ihn gebeten, nicht zu sprechen, und genau das tat er. Dadurch wurde alles nur noch schlimmer.

Er mußte doch Fragen haben. Er mußte ihr etwas erzählen wollen, ihr mitteilen wollen, wie erleichtert er war, sie in Sicherheit zu wissen, welche Sorgen er sich gemacht hatte, mußte sie fragen wollen, wo sie gewesen war und was sie herausgefunden hatte, ihr berichten wollen, was er entdeckt hatte, mußte sie anschreien wollen. Aber er tat nichts dergleichen. Statt dessen tat er widerspruchslos, um was sie ihn gebeten hatte, und ordnete seine eigenen Wünsche unter.

Wie sollte sie ohne seine Liebe weiterexistieren? Wie sollte sie atmen? Wie sollte sie es schaffen weiterzuleben, bis sie alt war, ihre Pflicht erfüllt hatte und endlich sterben durfte?

»Richard … tut mir leid, daß ich in dem Brief so bedrohlich geklungen habe. Ich wollte dir nicht drohen, das schwöre ich, ich wollte dich nur in Sicherheit wissen. Ich bedauere, wenn ich dir weh getan habe.«

Er nahm sie ein wenig fester in den Arm und gab ihr einen Kuß auf den Kopf. Kahlan wäre am liebsten in seiner Umarmung gestorben, jetzt, nur damit sie sich nicht ihrer Pflicht zu stellen brauchte, nicht der Unwiderruflichkeit ihrer Zukunft, der Unwiderruflichkeit, ihn zu verlieren.

»Wie geht es deinem Fuß?« erkundigte sie sich.

»Meinem Fuß?«

»Cara sagte, du hättest dich an einem Stuhl gestoßen.«

»Oh, meinem Fuß geht es gut. Der Stuhl ist dahin, aber ich glaube, er hat nicht gelitten.«

So unwahrscheinlich es war, Kahlan lachte. Sie blickte unter Tränen auf und sah sein freundliches Lächeln.

»Also gut, ich glaube, deine Umarmung hat meine Lebensgeister wieder geweckt. Jetzt kannst du mich anbrüllen.«

Statt dessen küßte er sie. Es war die reine Wonne, in seinen Armen zu liegen. Der Aufenthalt in der Sliph war nichts dagegen.

»Also«, fragte er schließlich, »was hatten die Seelen unserer Ahnen zu berichten?«

»Unsere Ahnen … woher weißt du, daß ich bei den Schlammenschen war?«

Auf Richards Miene zeichnete sich Verwirrung ab. »Dein ganzes Gesicht ist bemalt, Kahlan, damit die Seelen der Ahnen dich in der Versammlung erkennen können. Dachtest du, ich würde das nicht bemerken?«

Kahlan legte ihre Finger auf die Stirn, auf die Wange. »In meiner Eile habe ich das ganz vergessen. Deshalb haben mich die Leute so eigentümlich angestarrt.«

Während sie durch den Palast gelaufen war, hatten drei verschiedene Dienstbotinnen ihr angeboten, ein Bad einlaufen zu lassen. Alle mußten sie für übergeschnappt gehalten haben.

Richards Gesichts wurde ernst, als er die Hände auf die Hüften legte. »Na schön, und was hatten die Seelen der Ahnen zu berichten?«

Kahlan wappnete sich. Sie neigte den Kopf zur Seite und deutete auf das Knochenmesser an ihrem Arm.

»Großvaters Seele hat mich mit Hilfe des Knochenmessers gerufen. Er mußte mich sprechen. Wie er mir erzählte, ist die Pest nicht auf Aydindril beschränkt. Sie hat sich bereits auf die gesamten Midlands ausgeweitet.«

Richard spannte sich an. »Glaubst du, das stimmt?«

»Der Älteste Breginderin trug die Male an den Beinen. Wahrscheinlich ist er inzwischen tot. Ein paar Kinder berichteten, sie hätten in der Nähe des Dorfes eine Frau gesehen. Diese zeigte ihnen etwas mit einem bunten Licht, genau wie Lily es uns beschrieben hat. Eines dieser Kinder ist bereits tot. Schwester Amelia war dort.«

»Bei den gütigen Seelen«, fuhr Richard leise auf.

»Es kommt noch schlimmer. Die Seele zeigte mir noch andere Orte in den Midlands. Sie meinte, die Pest habe sich auf alle diese Orte ausgedehnt. Die Seele enthüllte mir, was geschehen wird, wenn wir die Pest nicht aufhalten. Der Tod wird über das Land hinwegziehen. Nur wenige werden überleben.

Des weiteren erfuhr ich, eine Magie, die aus dem Tempel der Winde gestohlen wurde, habe die Pest ausgelöst, die Pest selbst aber habe nichts mit Zauberei zu tun. Jagang hat Magie eingesetzt, die mächtiger ist, als er begreift. Wenn man sie ungehindert wüten läßt, könnte die Pest am Ende auch auf die Alte Welt übergreifen.«

»Schöner Trost. Hat die Seele gesagt, wie Jagang diese Magie aus dem Tempel der Winde entwendet hat?«

Kahlan nickte, seinem Blick ausweichend. »Du hattest recht, was die roten Monde anbetrifft. Es war tatsächlich eine Warnung, daß der Tempel der Winde geschändet worden war.«

Sie erzählte ihm vom Saal des Verräters und wieso Schwester Amelia diesen Pfad hatte beschreiten können. Sie faßte den Rest ihrer Begegnung mit der Seele von Chandalens Großvater zusammen, so gut dies ihre Erinnerung zuließ, und vergaß auch nicht jenen Teil, in dem davon die Rede war, daß der Tempel, wie Richard vermutet hatte, teilweise zu Empfindungen fähig sei.

Richard stützte sich mit einem Arm auf den Kaminsims und starrte ins Feuer. Er kniff sich in die Unterlippe und hörte geduldig zu.

Kahlan fuhr fort, die Seele habe ihr erklärt, um die Pest aufzuhalten, müßten sie in den Tempel der Winde gehen, der in beiden Welten gleichzeitig existiere, und sowohl die Guten als auch die Bösen Seelen seien in die Geschichte verwickelt und hätten ein Wort mitzureden.

»Und die Ahnenseele konnte dir keinen Hinweis darauf geben, wie wir in den Tempel der Winde hineingelangen sollen?«

»Nein«, antwortete Kahlan. »Daran war er eigentlich gar nicht interessiert. Er sagte, der Tempel der Winde werde offenbaren, was getan werden muß. Shota war der gleichen Ansicht.«

Von seinen Gedanken ganz in Anspruch genommen, nickte Richard und ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Kahlan faltete die Hände und wartete.

»Was ist mit Shota?« fragte er schließlich. »Was ist aus ihr geworden?«

Kahlan zögerte. Sie mußte ihm wenigstens einen Teil erzählen, dennoch widerstrebte es ihr, ihm alles zu erzählen, was die Hexe gesagt hatte.

»Ich glaube, es lag nicht in ihrer Absicht, Ärger zu machen, Richard.«

Er sah kurz über seine Schulter. »Sie hat Nadine geschickt, damit sie mich heiraten soll, und du findest diese Art der Einmischung nicht ärgerlich?«

Kahlan räusperte sich hinter vorgehaltener Hand. »Genaugenommen hat Shota Nadine gar nicht geschickt.« Richards Habichtblick blieb auf sie gerichtet, also setzte sie hinzu: »Die Nachricht von den Winden, die Jagd auf dich machen, war nicht ihre Idee. Der Tempel der Winde hat dir durch sie eine Nachricht zukommen lassen, genau wie durch den Jungen, der gestorben ist. Shota wollte uns keinen Schaden zufügen.«

Richard zog die Brauen zusammen. »Was hat dir die Hexe sonst noch erzählt?«

Kahlan verschränkte die Finger hinter ihrem Rücken. Sie wich seinem durchdringenden Blick aus.

»Ich bin zu Shota gegangen, Richard, weil ich ihren Einmischungen ein Ende machen wollte. Ich war bereit, sie umzubringen, für den Fall, daß sie dir drohen oder versuchen sollte, mir etwas anzutun. Die ganze Zeit hatte ich die allerschlechteste Meinung von ihr. Wirklich. Ich war überzeugt, sie wolle Unheil über uns bringen.

Dann habe ich mich mit ihr unterhalten. Und zwar sehr eingehend. Shota ist nicht so … boshaft, wie ich dachte. Zwar gibt sie zu, verhindern zu wollen, daß wir ein Kind bekommen, aber es geht ihr nicht darum, uns auseinanderzubringen.

Sie hat die Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, und erzählt lediglich, was sie sieht – weil sie dir helfen will. Sie ist der Bote, der die schlechte Nachricht bringt. Dabei hat sie auf die Ereignisse keinen Einfluß. Sie sagt dasselbe wie die Ahnenseele: Die Pest sei durch Magie ausgelöst worden und nicht von alleine ausgebrochen.«

Richard war mit drei Schritten bei ihr. Er packte sie am Oberarm.

»Sie hat Nadine hergesandt, damit sie mich heiratet! Sie hat das Mädchen nur geschickt, um uns auseinanderzubringen! Sie versucht, einen Keil zwischen uns zu treiben, und du läßt dich von ihren Tricks täuschen?«

Kahlan wich vor ihm zurück. »Nein, Richard, das verstehst du falsch, genau wie ich anfangs auch. Die Seelen haben dir eine Braut geschickt. Shota konnte lediglich beeinflussen, wer dies sein würde. Diesen Einfluß nutzte sie aus, um Nadine zu dieser Braut zu machen. Shota sagt, sie sehe voraus, daß du die Braut, die dir von den Seelen geschickt wird, heiratest. Daher sollte es jemand sein, den du kennst. Sie hat lediglich versucht, die Sache für dich weniger schmerzlich zu machen.«

»Und das glaubst du ihr? Hast du den Verstand verloren?«

»Du tust mir weh, Richard.«

Er ließ sie los. »Entschuldige«, murmelte er und ging wieder zum Kamin. Kahlan sah, wie sich seine Kinnmuskeln spannten, als er die Zähne aufeinanderbiß.

»Du hast gesagt, sie habe dir dasselbe erzählt wie die Ahnenseelen. Erinnerst du dich noch an ihre Worte?«

Verzweifelt versuchte Kahlan auseinanderzuhalten, was sie ihm würde erzählen müssen und was er auf keinen Fall erfahren durfte. Ihr wurde bewußt, wie unklug es gewesen war, Richard bestimmtes Wissen vorenthalten zu wollen, kam aber dann zu dem Schluß, daß sie ihm im Notfall alles erzählen konnte. Doch wenn sie ihm wenigstens etwas zu verschweigen vermochte…

»Shota behauptete, wir hätten noch nicht die letzte Nachricht von den Winden erhalten. Wir würden noch eine weitere erhalten, die den Mond betrifft.«

»Die den Mond betrifft? Wieso das?«

»Das weiß ich nicht. Wie für die Seelen schien das ›wie‹ für sie nicht von Bedeutung zu sein. Sie sagte allerdings, diese Nachricht des Mondes werde die ›folgerichtige Vereinigung‹ sein, ja, so nannte sie es. Wir dürften sie weder ignorieren noch verhindern.«

»Ach, sieh an. Und hat sie auch gesagt, warum genau?«

»Unsere Zukunft – die Zukunft all dieser unschuldigen Menschen – hänge von diesem Ereignis ab, meinte sie. Es sei die einzige Chance, unsere Pflicht zu erfüllen und all diesen Unschuldigen das Leben zu retten, die darauf angewiesen sind, wenn wir etwas tun, was sie nicht können.«

Richard drehte sich zu ihr um. Es war, als ginge der Tod höchstpersönlich auf sie los. Er hatte diesen Blick in den Augen, wie Drefan. Wie Darken Rahl.

»Sie hat dir noch mehr erzählt, mit dem du nicht rausrücken willst. Was?« knurrte er.

Es war nicht Richard, der hier sprach, sondern der Sucher. In diesem Augenblick wurde ihr bewußt, weshalb ein Sucher so gefürchtet war: Er war sich selbst Gesetz. Diese grauen Augen blickten glatt durch sie hindurch.

»Richard«, erwiderte sie leise, »bitte frag nicht weiter nach.«

Sein wutentbrannter Blick brannte sich in ihre Seele. Sie spürte, wie ihr heiße Tränen übers Gesicht liefen.

»Shota hat in die Zukunft gesehen«, hörte Kahlan sich weitersprechen, obwohl sie hatte schweigen wollen. »Sie sah, daß du eine andere heiraten wirst. Sie benutzte ihren Einfluß, damit es jemand ist, den du kennst.« Unter seinem zornigen Blick war es ihr unmöglich, stumm zu bleiben. »Wen ich heiraten soll, konnte sie nicht beeinflussen. Ich werde ebenfalls heiraten. Aber du wirst nicht mein Gemahl sein.«

Richard stand einen Augenblick lang da wie erstarrt, wie ein Unwetter, das sich brodelnd zusammenbraut. Er riß sich den Waffengurt über den Kopf und schleuderte ihn mitsamt der Scheide, die das Schwert enthielt, auf einen Stuhl.

»Was tust du, Richard?«

Und dann war er in Bewegung. Er stürzte zur Tür. Kahlan trat ihm in den Weg. Es war, als stellte man sich vor einen tobenden Berg.

»Was hast du vor, Richard?«

Er packte sie an der Hüfte und stellte sie zur Seite, als sei sie nicht schwerer als ein Kind.

»Ich werde sie umbringen.«

Kahlan schlang ihm von hinten die Arme um die Hüften und zerrte an ihm, damit er stehenblieb. Sie hätte ebensogut eine Mücke sein können, so wenig hielt ihn das auf. Er ließ sein Schwert zurück, weil er mit der Magie des Schwertes der Wahrheit in der Sliph nicht reisen konnte.

»Richard! Richard, bitte, bleib stehen! Wenn du mich liebst, dann bleib stehen!«

Er blieb stehen und sah sie zornerfüllt an. Seine Stimme war wie ein Donnerschlag.

»Was denn noch?«

»Hältst du mich für dumm, Richard?«

»Natürlich nicht.«

»Glaubst du denn, ich wolle einen anderen heiraten?«

»Nein.«

»Dann höre mich an, Richard. Shota hat erzählt, sie habe die Zukunft gesehen. Sie erfindet die Zukunft nicht, sie hat sie bloß gesehen. Sie hat mir dies alles erzählt, damit es uns vielleicht hilft.«

»Ich bin Shotas Hilfe mehr als leid. Ich will nichts mehr davon wissen. Sie hat sich eine Frechheit zuviel herausgenommen. Es wird ihre letzte sein.«

»Wir müssen überlegen, was wir tun sollen, Richard. Vor allem müssen wir diese Pest bekämpfen. Du hast die kranken, sterbenden Kinder gesehen. Die Seele von Chandalens Großvater hat mir zahllose andere tote Kinder gezeigt – und viele weitere Tote. Das hält die Zukunft bereit, wenn du es dir nicht anders überlegst. Willst du, daß diese Kinder und ihre Eltern sterben, nur weil du keine Lust hast, deinen Verstand zu gebrauchen?«

Seine Faust umklammerte die Verzierung irgendeiner eleganten Halskette. Ihr fiel auf, daß sie den Schmuck noch nie bemerkt hatte.

Obwohl er sein Schwert nicht trug, wurde er von dessen Magie getrieben. Er war ein Hexenkessel tödlichen Zorns. Der Tod funkelte in seinen Augen.

»Was Shota sagt, interessiert mich nicht. Ich werde Nadine nicht heiraten. Ich werde auch nicht tatenlos danebenstehen, wenn du –«

»Das weiß ich doch«, sagte sie leise. »Ich weiß, wie du dich fühlst, Richard. Wie, glaubst du, geht es mir dabei? Aber gebrauche deinen Verstand. Auf diese Weise läßt sich das, was Shota sagt, nicht ändern. Du hast immer behauptet, die Zukunft sei noch nicht entschieden, und wir dürften uns nicht nach Shotas Worten richten. Du hast immer darauf beharrt, wir dürften dem, was sie sagt, keinen Glauben schenken und uns in unserem Handeln nicht davon leiten lassen.«

In seinen Augen funkelte tödliche Wut. »Du glaubst ihr also.«

Kahlan holte Luft, um sich zu beruhigen, um ihre Fassung wiederzuerringen. »Ich glaube ihr, daß sie die Zukunft gesehen hat. Weißt du noch, wie sie sagte, ich würde dich mit meiner Kraft berühren, Richard? Sieh doch, was daraus geworden ist. Sie hatte recht, aber es führte nicht zu dem katastrophalen Ereignis, das ich befürchtet hatte. Das war es, was uns zusammengebracht und unsere Liebe erst möglich gemacht hat.«

»Wie kann etwas Gutes dabei herauskommen, wenn ich eine andere heirate?«

Mit einem Schlag wurde Kahlan bewußt, um was es hierbei wirklich ging: Er war eifersüchtig. Nie zuvor hatte sie ihn so eifersüchtig gesehen.

»Ich würde lügen, wenn ich behauptete, es zu wissen.« Kahlan packte ihn an seinen breiten Schultern. »Ich liebe dich, Richard, und das ist die Wahrheit. Ich könnte niemals einen anderen lieben. Du glaubst mir doch, nicht wahr? Ich vertraue darauf, daß du mich liebst, und ich weiß, daß du Nadine nicht liebst. Glaubst du etwa nicht an mich? Vertraust du mir nicht?«

Er beruhigte sich sichtlich. »Natürlich glaube ich dir. Ich vertraue dir.« Verzweiflung trat an die Stelle des Zorns in seinen Augen. Er ließ das Amulett in seiner Faust los. »Aber –«

»Kein Aber. Wir lieben uns. Was immer geschieht, wir müssen aneinander glauben, sonst sind wir verloren.«

Endlich zog er sie in seine Arme. Sie wußte, was ihn quälte. Sie fühlte das gleiche. Doch ihre Qual war schlimmer, denn sie war überzeugt, daß Shotas Weissagung keinen Ausweg zuließ.

Kahlan nahm das eigenartige Amulett in die Hand, das um seinen Hals hing. In der Mitte, eingefaßt von einem dichten Geflecht aus goldenen und silbernen Bändern, befand sich ein tränenförmiger Rubin von der Größe ihres Fingernagels.

»Was ist das, Richard? Wo hast du das her?«

Er nahm ihr den goldenen und silbernen Gegenstand aus der Hand und betrachtete ihn. »Es ist ein Symbol wie die anderen, die ich trage. Ich habe es in der Burg der Zauberer gefunden.«

»In der Enklave des Obersten Zauberers?«

»Ja. Es war Teil seiner Amtstracht. Anders als die anderen Gegenstände hat man es jedoch in seiner Enklave zurückgelassen. Der Mann, der es trug, war zu Kolos Zeit Oberster Zauberer. Sein Name war Baraccus.«

»Cara erzählte mir, du hättest die Aufzeichnungen über die Verhandlung gefunden. Wie hat es dort drinnen ausgesehen?«

Richard sah starren Blicks ins Leere. »Es war … wunderschön. Ich wollte gar nicht mehr weg.«

»Hast du aus dem Buch schon etwas in Erfahrung gebracht?«

»Nein. Es ist auf Hoch-D'Haran. Berdine arbeitet an Kolos Tagebuch, und ich werde mir dieses vornehmen. Ich hatte nur etwa eine Stunde Zeit, um mit der Übersetzung zu beginnen. Sehr weit bin ich noch nicht gekommen, ich war zu besorgt um dich, um an etwas anderes zu denken.«

Kahlan berührte das Amulett, das um seinen Hals hing. »Weißt du, wofür dieses Symbol steht?«

»Ja. Der Rubin soll einen Blutstropfen symbolisieren. Es handelt sich um die symbolische Darstellung des Weges des Ersten Edikts.«

»Des Ersten Edikts?«

Seine Stimme bekam etwas Abweisendes, so als spräche er mehr zu sich selbst als zu ihr.

»Es bedeutet nur eins, und damit alles: schneiden. Wenn du dich auf einen Kampf eingelassen hast, dann schneide. Alles andere wird zweitrangig. Schneide. Das ist deine Pflicht, dein Ziel, dein Hunger. Es gibt keine wichtigere Regel, keine Pflicht, die wichtiger wäre als diese eine. Schneide.«

Seine Worte ließen sie bis ins Mark erschaudern, als er fortfuhr.

»Die Bänder sind eine Darstellung des Tanzes. Geschnitten aus der Leere, nicht aus der Verwirrung. Schneide den Feind so schnell und unmittelbar wie möglich. Schneide mit Gewißheit. Schneide entschieden und beherzt. Schneide in seine Stärke. Dringe fließend durch die Lücken seiner Deckung. Schneide ihn. Schneide ihn, bis er kampfunfähig ist. Lasse ihn niemals zu Atem kommen. Schneide ihn ohne Erbarmen bis in die Tiefen seiner Seele.

Das ist das Gegengewicht zum Leben: der Tod. Es ist der Tanz mit dem Tod.

Das ist das Gesetz, nach dem ein Kriegszauberer lebt. Wenn nicht, stirbt er.«

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