Eine Frau trat aus einer Tür hinaus auf die schmale, menschenleere Gasse. Er mußte stehenbleiben, sonst wäre er mit ihr zusammengestoßen. Unter ihrem Vierecktuch trug sie ein dünnes Kleid, und an der Art, wie ihre Brustwarzen in der Kälte vorstanden, erkannte er, daß sie unter dem Kleid unbekleidet war.
Sie glaubte, sein Lächeln gelte ihr. Das tat es nicht. Es entsprang der Freude darüber, wie eine Gelegenheit manchmal seinen Weg kreuzte, wenn er es am wenigsten erwartete. Er vermutete, es läge an seinem außergewöhnlichen Wesen, daß solche Ereignisse von ihm angezogen wurden.
Ob er sie erwartete oder nicht, er war stets darauf vorbereitet, Ereignisse zu seinem Vorteil auszunutzen.
Sie erwiderte das Lächeln, als sie ihm mit der Hand über die Brust strich und mit einem Finger sein Kinn kraulte.
»Schau an, schau an, mein Lieber. Lust auf ein bißchen Vergnügen?«
Sie war nicht attraktiv, trotzdem weckte die Eigenart dieser sich zufällig ergebenden Gelegenheit seine Begierde. Er wußte, was hier gespielt wurde. Er sah es an der Art, wie sie sich ganz dicht vor ihn stellte und seine ganze Aufmerksamkeit einforderte. Er hatte schon früher solche Begegnungen gehabt. Genaugenommen legte er es manchmal geradezu darauf an. Dann war die Herausforderung größer. Und mit der Herausforderung ging eine seltene Form der Befriedigung einher.
Die Situation war alles andere als ideal – sie wies entschiedene Nachteile auf, zum Beispiel den, daß er unmöglich zulassen durfte, daß ihre Schreie Aufmerksamkeit erregten, und trotzdem würde er dem noch immer etwas abgewinnen können. Er öffnete sich ihr mit all seinen Sinnen. Schon begann er, die Einzelheiten in sich aufzunehmen, so wie Erde einen prasselnden Regen in sich aufsaugt.
Schon ließ er sich ganz von seiner Lust überwältigen.
»Tja«, meinte er, wobei er das Wort dehnte, »hast du denn überhaupt ein Zimmer?«
Sie hatte sicher keines. Er wußte, was hier gespielt wurde.
Sie legte ihr Handgelenk auf seine Schulter. »Ein Zimmer ist nicht nötig, Schätzchen. Nur eine halbe Silbermünze.«
So unbemerkt wie möglich ließ er seinen Blick über die umstehenden Gebäude schweifen. Die Fenster waren alle dunkel. Nur ein paar Lichter in der Ferne spiegelten sich auf dem nassen Pflaster. Dies war die Gegend, in der die Speicher standen. In diesen Häusern wohnte kein Mensch. Es war unwahrscheinlich, daß außer zufälligen Passanten wie ihm selbst viele Menschen in der Nähe waren. Dennoch würde er seine Lust durch Besonnenheit mäßigen müssen.
»Ein wenig kalt, um sich hier draußen auf dem Pflaster auszuziehen, meinst du nicht auch?«
Sie legte ihm die Hand an die Wange, damit er seine Aufmerksamkeit weiter auf sie richtete. Mit der anderen Hand faßte sie ihm zwischen die Beine. Was sie dort vorfand, ließ sie zufrieden schnurren.
»Sei unbesorgt, mein Schatz. Für eine halbe Silbermünze kenne ich ein warmes Plätzchen, wo du das hier hinstecken kannst.«
Er genoß das Spielchen. Das letzte Mal war schon zu lange her. Er setzte für sie seine unschuldigste, unbedarfteste Miene auf.
»Tja, ich weiß nicht. Kommt mir ein bißchen plump vor. Normalerweise hab ich es am liebsten, wenn genug Zeit ist, damit die junge Dame auch ihren Spaß hat.«
»Oh, ich werde meinen Spaß haben, Schätzchen. Du glaubst doch nicht, ich mache es nur der halben Silbermünze wegen, oder? Ach was. Ich habe Spaß dabei.«
Rückwärts bewegte sie sich zur Tür zurück, aus der sie getreten war. Er ließ sich von ihren Händen, die sie hinter seinem Hals verschränkt hatte, mitziehen.
»So kleines Geld habe ich nicht bei mir.« Fast konnte er ihre Augen über ihr Glück aufleuchten sehen. Sie würde noch zu lernen haben, daß dieser Abend für sie nicht glücklich enden würde.
»Ach, nein?« entgegnete sie, als bereite sie sich darauf vor, ihr Angebot zurückzuziehen, jetzt, wo sie sicher war, ihn mit ihrem verlockenden Angebot in der Falle zu haben. »Tja, eine Dame muß sehen, wie sie zurechtkommt. Dann muß ich wohl weiter und sehen, ob ich nicht einen anderen…«
»Das Kleinste, was ich habe, ist eine Silbermünze. Aber ich wäre bereit, dir die ganze Silbermünze zu geben, vorausgesetzt, du läßt dir Zeit und hast auch dein Vergnügen. Ich mag es, wenn eine junge Frau wie du sich amüsiert. Ja, das gefällt mir.«
»Was für ein Schatz«, schnurrte sie mit aufgesetztem, übertriebenem Entzücken, als sie die Silbermünze nahm, die er ihr hinhielt.
Sie stank. Ihr Lächeln zauberte keinerlei Schönheit auf ihr Gesicht, und doch weidete er sich an den Einzelheiten: an ihrem derben Haar, ihrem Körpergeruch, der krummen Nase und den zu kleinen Augen. Sie war ordinär, billiger, als ein Mann seines Ranges es gewohnt war, aber gerade das hatte seinen ganz eigenen Reiz.
Er horchte aufmerksam, während er sie betrachtete. Andere Einzelheiten waren sogar noch wichtiger, wenn er vollen Genuß erzielen wollte.
Sie zog sich in den Eingang zurück und setzte sich auf einen Hocker, der dort stand. Der Eingang war gerade tief genug für sie beide, so daß er den Rücken der Gasse zukehrte, wenn er sich vor ihr aufbaute.
Es ärgerte ihn, daß sie ihn für so dumm, so töricht, für einen solchen Hitzkopf hielt. Sie würde bald begreifen, wie sehr sie sich täuschte.
Sie drückte ihm einen Kuß vorne auf die Hose und nestelte an seinem Gürtel herum. Lange würde es nicht dauern. Sie würde wollen, daß es rasch ging, damit sie weiterziehen konnte, um im Schutz der Nacht so viel Geld wie nur möglich abzukassieren.
Bevor sie ihm die Hose aufmachen konnte, ergriff er zärtlich eines ihrer Handgelenke. Es wäre nicht gut, wenn ihm die Hosen um die Knie hingen, wenn es anfing. Nein, das wäre gar nicht gut.
Lächelnd blickte sie zu ihm hoch, sichtlich verwirrt, aber ebenso erkennbar überzeugt, ihn mit ihrem Lächeln zu betören. Lange würde er es nicht ertragen müssen. In Kürze wäre es vorbei.
Dunkel genug war es. Zu dunkel, um mit Sicherheit erkennen zu können, was er tat. Die Menschen sahen stets, was sie zu sehen erwarteten.
Während sie ihn noch immer anlächelte und bevor sie Zeit hatte, Fragen zu stellen, griff er mit seiner anderen Hand nach unten und faßte sie im Nacken. Sie dachte, er wollte sie einfach festhalten, während sie ihren Liebesdienst versah.
Perfekt, wie sie ihren Kopf nach hinten neigte.
Mit einem Daumen und vor Anstrengung leise ächzend, zerquetschte er ihr die Luftröhre.
Das Lächeln ging auf sein Gesicht über. Der würgende Laut würde keinen unmittelbaren Verdacht erregen. Die Menschen hörten, was sie zu hören erwarteten, genau wie sie sahen, was sie erwarteten zu sehen. Er beugte sich über sie, damit es so aussah, wie man es erwartete, und preßte ihr das Leben aus dem Leib.
»Überraschung«, sagte er leise in ihre hervorquellenden Augen.
Er ergötzte sich an ihrer entsetzten Miene, dem Ausdruck des Erdrosseltwerdens. Als ihre Arme erschlafften, ließ er diese los und hielt sie mit der Faust in ihren Haaren hoch. Er bog ihren Kopf nach hinten über seinen Oberschenkel, damit sie aufrecht blieb, und wartete.
Sekunden später vernahm er die vorsichtig von hinten nahenden Schritte. Mehr als einer, genau wie er es sich gedacht hatte. Nun wußte er, was hier gespielt wurde: Raub.
Nur noch Sekunden, dann waren sie da. Die Zeit dehnte sich für ihn in der Vorfreude auf das, was er sehen, hören, riechen würde. Er war der einzigartigste aller Menschen. Die Zeit gehörte ihm. Das Leben gehörte ihm. Der Tod gehörte ihm.
Jetzt war es an der Zeit, sein Vergnügen zum Höhepunkt zu steigern.
Er drückte ihr sein Knie gegen die Wirbelsäule und brach ihr mit einem Ruck das Genick. Er wirbelte herum, riß das Messer hoch, bohrte es dem Kerl, der unmittelbar hinter ihm stand, in den Bauch und schlitzte ihn von den Lenden bis zum Brustbein auf. Mit einer raschen Drehung war er an dem Mann vorbei, dessen Eingeweide klatschend auf die Gasse fielen.
Er hatte einen weiteren Mann erwartet. Statt dessen waren es zwei. Für gewöhnlich hatte eine Frau wie sie zwei Kerle dabei, die den Freier ausnahmen. Drei hatte er noch nicht gesehen. Angesichts der unerwarteten Bedrohlichkeit dieser Entwicklung wurde ihm ganz schwindelig vor Lust.
Der zweite Kerl rechts von ihm holte aus. Er sah das Messer in seiner Faust und wich dem Schwung der Klinge mit einem Schritt nach hinten aus. Als der dritte vorrückte, stieß er ihn mit einem Stiefeltritt gegen das untere Ende des Brustbeins zurück. Der Mann schlug hinten gegen die Wand, ging mit einem schmerzhaften Ächzen taumelnd auf die Knie und bekam keine Luft mehr.
Der Mann rechts erstarrte. Jetzt hieß es Mann gegen Mann. Dem Gesicht nach war er noch ein Junge. Mit dem für junge Burschen typischen Mut nahm er die Beine in die Hand und rannte los.
Er feixte. Es gab kein perfekteres Ziel als den Kopf eines laufenden Menschen. Der Kopf verharrte beinahe vollkommen bewegungslos, während Arme und Beine hektisch ruderten. Das Ziel wurde in seinem Blick zu einem Zentrum der Ruhe.
Er warf das Messer. Der Junge rannte, so schnell ihn seine hektisch pumpenden Beine trugen. Das Messer war schneller und versank mit einem dumpfen Geräusch im Ziel. Der jugendliche Räuber ging augenblicklich zu Boden.
Der dritte Mann rappelte sich gerade auf. Er war älter, muskelbepackt, schwer und außer sich vor Zorn. Gut.
Ein seitlicher Tritt zertrümmerte dem Kerl die Nase. Vor Wut und Schmerzen heulend, warf sich der Mann nach vorn. Er sah das Aufblinken von Stahl, duckte sich seitlich weg und trat dem Kerl dabei die Füße unterm Körper weg. Das alles geschah in einem einzigen Augenblick. Es war eine prachtvolle Nummer, dieser gefährliche, tobende Stier, der wie von Sinnen attackierte.
Er sog die Einzelheiten in sich auf: die Kleidung des Mannes, der kleine Riß hinten in seinem Mantel, der abgewetzte Stoff, in dem sich das ferne Licht spiegelte, sein krauses, fettiges Haar, das kleine Stück, das ihm im rechten Ohr fehlte, die Art, wie er zusammensackte, als ihn der Stiefel zwischen den Schultern traf.
Während er dem Kerl den Arm auf den Rücken drehte, bemerkte er das Blut. Blut war etwas, dessen Spuren er sorgfältig zurückverfolgte. Dieses Blut war eine Überraschung. Er hatte den Mann mit dem Messer nicht verletzt – noch nicht. Das Blut stammte auch nicht aus der zertrümmerten Nase des Mannes.
Selten überkam ihn ein so wohliger Schauer der Überraschung wie angesichts dieses Blutes, das er nicht erwartet hatte.
Er gewahrte, daß der Mann vor Schmerzen schrie. Daher warf er sich auf den Rücken des Mannes und hämmerte ihm den Handballen auf den Kopf, daß die Zähne des Kerls auf dem Straßenpflaster zersplitterten – was ihn ein wenig ruhiger machte. Er packte das fettige Haar mit der geballten Faust, riß den Kopf des Mannes nach hinten und lauschte seinem Stöhnen.
»Raub ist ein gefährliches Geschäft. Wird Zeit, daß du den Preis dafür bezahlst.«
»Wir hätten dir nichts getan«, lallte der Mann. »Wir hätten dich bloß ausgenommen, du Bastard.«
»Bastard, ja?«
Behutsam, langsam, jeden einzelnen Zoll genießend, schlitzte er dem sich heftig wehrenden Mann die Kehle auf.
Welch unerwartetes Vergnügen diese Nacht ihm beschert hatte. Er hob die Hände, krümmte seine Finger und fischte in einer wischenden Bewegung die Quintessenz des Todes aus der Luft, fing dessen seidige Substanz im selben Augenblick ein, als sie in die Dunkelheit aufstieg, und zog sie zu sich zurück.
Er war die Erfüllung ihres Lebens. Er war das Gleichgewicht. Er war der Tod. Er genoß es, diese Erkenntnis in ihren Augen abzulesen. Am liebsten hatte er es, wenn er sich in diesem Blick, dieser Erkenntnis, diesem … Grauen sonnen konnte. Es verschaffte ihm Befriedigung. Es machte ihn vollkommen.
Er erhob sich, wankend vor Ekstase über den satten Geruch des Blutes. Er bedauerte, daß es so kurz gedauert hatte und er ihre Schreie nicht länger hatte hinauszögern können. Sie waren Wonne. Es verlangte ihn nach ihnen, er brauchte sie, war wie versessen auf sie. Sie erfüllten ihn, machten ihn zu einem Ganzen. Er brauchte die Schreie, nicht eigentlich das Geräusch – oft knebelte er seine Partner –, sondern den Versuch zu schreien, und das, wofür sie standen: blankes Entsetzen.
Daß ihm verwehrt wurde, die Schreie des Entsetzens in aller Ruhe zu genießen, ließ ihn unbefriedigt. Seine Lust war nicht gestillt.
Er schlich die Gasse entlang und stellte fest, daß sein Messer so präzise getroffen hatte wie immer. Der Junge lag zusammengebrochen auf der Seite. Er sah großartig aus, mit dem Messer, das bis zum Heft in seinem Hinterkopf steckte, und der schweren Klinge, deren Spitze ein wenig seitlich der Mitte aus der Stirn hervorschaute.
Übersättigt von einem Übermaß aus Empfindungen stellte er plötzlich fest, daß er noch etwas verspürte: Schmerz.
Überrascht untersuchte er seinen Arm und sah, woher das unerwartete Blut kam. An der Außenseite seines rechten Unterarms klaffte eine gut sechs Zoll lange Wunde. Sie war tief. Sie würde genäht werden müssen.
Die Freude über ein so unerwartetes Ereignis raubte ihm den Atem.
Gefahr, Tod und Zerstörung – das alles in einer einzigen Nacht, bei einer zufälligen Begegnung. Fast war es zuviel.
Die Stimmen hatten recht gehabt, als sie sagten, er solle nach Aydindril gehen.
Doch noch immer hatte er nicht, was er brauchte – das hinausgezögerte Entsetzen, das behutsame Aufschlitzen, das Zerschneiden, das Absaufen im Blut, das Bereiten endloser, köstlicher Qualen, die Orgie aus wüstem Zustechen zum Schluß.
Die Stimmen aus dem Äther hatten ihm versprochen, daß er diese Dinge bekommen würde, daß er die höchste Eroberung machen, das höchste Gleichgewicht, die ultimative Paarung erleben würde.
Sie hatten ihm versprochen, er werde die allerhöchsten Ausschweifungen erleben.
Sie hatten ihm die Mutter Konfessor versprochen.
Seine Zeit würde kommen.
Die Zeit der Mutter Konfessor würde kommen.
Bald.
Als Verna ihm mit dem feuchten Lappen die Stirn abtupfte, schlug Warren die Augen auf. Erleichtert stieß sie einen langen Seufzer aus.
Er versuchte sich aufzusetzen. Mit fester Hand auf seiner Brust drückte sie ihn vorsichtig zurück ins Stroh.
»Bleib liegen und ruh dich aus.«
Er zuckte vor Schmerzen zusammen, machte ein schmatzendes Geräusch. »Ich habe Durst.«
Verna drehte sich um und nahm den Schöpflöffel aus dem Eimer. Sie hielt ihn an seine Lippen. Den zerbeulten Kopf des Löffels in beide Hände nehmend, stürzte er das ganze Wasser gierig in sich hinein.
Nach dem langen Zug rang er keuchend nach Atem. »Mehr.«
Verna zog den Schöpflöffel durch den Eimer und ließ ihn trinken, bis er seinen Durst gestillt hatte.
Sie lächelte ihn an. »Ich bin froh, daß du wach bist.«
Es schien ihm Mühe zu bereiten, ihr Lächeln zu erwidern. »Darüber bin ich selbst froh. Wie lange war ich diesmal ohnmächtig?«
Sie tat seine besorgte Frage mit einem Achselzucken ab. »Ein paar Stunden.«
Er sah sich im Innern der Scheune um. Verna hob die Lampe hoch, damit er seine Umgebung besser erkennen konnte. Regen trommelte auf das Dach, und so wirkte es hier drinnen richtig gemütlich.
Verna stellte die Lampe ab und stützte sich neben ihm auf einen Ellenbogen. »Die Unterkunft ist nicht übertrieben prunkvoll, aber wenigstens ist sie trocken.«
Als sie den Bauernhof gefunden hatten, war er fast bewußtlos gewesen. Die Familie, der der Hof gehörte, hatte Mitleid gezeigt. Verna hatte es abgelehnt, in ihrem Bett zu schlafen, denn sie wollte sie nicht zwingen, in ihrer eigenen Scheune zu übernachten.
Auf ihrer mehr als einundzwanzigjährigen Reise hatte Verna oft an solchen Orten die Nacht verbracht und die Unterbringung als ganz angenehm, wenn auch ein wenig sehr schlicht empfunden. Sie mochte den Geruch von Stroh. Während ihrer Reise hatte sie ihn nicht mehr ausstehen können, doch nach der Rückkehr in das abgeschiedene Leben des Palastes der Propheten änderte sie ihre Meinung und ertappte sich dabei, wie sie sich nach dem Duft von Heu, Erde, Gras und regenfrischer Luft sehnte.
Warren legte seine Hand zärtlich auf ihre. »Tut mir leid, daß ich uns so sehr aufhalte, Verna.«
Sie lächelte und erinnerte sich an eine Zeit, als sie wegen ihrer Ungeduld nervös auf und ab gelaufen wäre. Warren und seine Liebe zu ihr brachten eher ihre ruhigere Art ans Licht. Er tat ihr gut. Er war ihr ein und alles.
Sie schob seine blonden Locken nach hinten und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. »Unsinn. Wir hätten ohnehin über Nacht haltmachen müssen. In dem Wetter wären wir nur langsam und mühselig vorangekommen. Letztendlich wird es nach einer ordentlichen Ruhepause schneller gehen. Glaub mir, ich habe eine Menge Erfahrung in diesen Dingen.«
»Aber ich komme mir so nutzlos vor.«
»Du bist ein Prophet. Das verschafft uns ein Wissen, das alles andere als nutzlos ist. Allein dadurch haben wir mehrere Tage gewonnen, die wir sonst in die falsche Richtung gereist wären.«
Seine besorgten blauen Augen richteten sich auf die Dachsparren. »In letzter Zeit treten die Kopfschmerzen immer häufiger auf. Wenn ich mir vorstelle, daß ich die Augen schließe und vielleicht nie wieder aufwache, wird mir angst und bange.«
Zum erstenmal an jenem Abend runzelte sie verärgert die Stirn. »Ich will dieses Gerede nicht hören, Warren. Wir werden es schaffen.«
Er zögerte, wollte nicht mit ihr streiten. »Wenn du es sagst, Verna. Nur werde ich uns immer mehr aufhalten.«
»Dagegen habe ich vorgesorgt.«
»Tatsächlich? Was hast du gemacht?«
»Ich habe jemanden angeheuert, der uns fährt. Wenigstens ein Stück.«
»Ich dachte, du möchtest keine Kutsche mieten, weil sie die Aufmerksamkeit auf uns lenken würde. Du hast gesagt, du möchtest nicht Gefahr laufen, erkannt zu werden, und du möchtest nicht, daß neugierige Menschen sich nach Reisenden in einer Kutsche erkundigen.«
»Keine Kutsche. Außerdem habe ich keine Lust, mir einen Schwall von Einwänden anzuhören. Ich habe den Bauern angeheuert. Er soll uns in seinem Heuwagen ein Stück nach Süden bringen. Wir können uns hinten hineinlegen und ausruhen. Er wird uns mit Stroh zudecken, damit wir nicht befürchten müssen, behelligt zu werden.«
Warren legte die Stirn in Falten. »Warum tut er das für uns?«
»Ich habe ihn gut bezahlt. Aber darüber hinaus sind er und seine Familie dem Licht treu ergeben. Er respektiert die Schwestern des Lichts.«
Warren ließ sich erleichtert in das Stroh zurücksinken. »Nun, das klingt nicht schlecht. Bist du sicher, er macht das freiwillig? Du hast ihm nicht die Nase herumgedreht, oder?«
»Er fährt ohnehin in die Richtung.«
»Ach ja? Warum?«
Verna seufzte. »Er hat eine kranke Tochter. Sie ist erst zwölf. Er will ein Stärkungsmittel für sie besorgen.«
Ein Hauch von Mißtrauen verfinsterte Warrens Gesicht. »Wieso hast du das Mädchen nicht geheilt?«
Verna hielt seinem Blick stand. »Ich habe es versucht. Sie hat hohes Fieber, Krämpfe und muß dauernd spucken. Ich habe mein Bestes gegeben, dennoch konnte ich das arme Ding nicht von seinem Leiden erlösen.«
»Hast du eine Ahnung, warum nicht?«
Verna schüttelte traurig den Kopf. »Die Gabe heilt nicht alles, Warren. Das weißt du. Hätte sie sich einen Knochen gebrochen, könnte ich ihr helfen, gegen ein Fieber ist die Gabe nur von begrenztem Nutzen.«
Er wandte den Kopf ab. »Das erscheint mir nicht gerecht. Diese Leute erbieten sich, uns zu helfen, und wir können praktisch nichts für sie tun.«
»Ich weiß«, meinte Verna leise.
Sie lauschte eine Weile dem Regen auf dem Dach.
»Wenigstens konnte ich ihre Unterleibsschmerzen ein wenig lindern. Sie wird ein bißchen entspannter schlafen.«
»Gut. Ja, das ist gut.« Warren nestelte an einem Strohhalm herum. »Konntest du Verbindung zu Prälatin Annalina aufnehmen? Hat sie dir schon eine Nachricht im Reisebuch hinterlassen?«
Verna wollte sich ihre Besorgnis nicht anmerken lassen. »Nein.
Sie hat weder auf meine Nachrichten geantwortet noch selbst welche geschickt. Wahrscheinlich ist sie beschäftigt. Sie hat keinen Grund, sich von unseren Problemchen behelligen zu lassen. Wir werden von ihr hören, sobald sie Zeit hat.«
Warren nickte. Verna blies die Lampe aus. Sie schmiegte sich an ihn, lehnte ihre Stirn an seine Schulter und legte ihm den Arm über die Brust.
»Am besten schlafen wir ein paar Stunden. Bei Sonnenaufgang werden wir schon wieder unterwegs sein.«
»Ich liebe dich, Verna. Ich möchte, daß du das weißt, für den Fall, daß ich nicht mehr aufwache.«
Zur Antwort strich Verna ihm mit den Fingern zärtlich über sein Gesicht.
Clarissa rieb sich den Schlaf aus den Augen. An den Rändern der schweren grünen Vorhänge drang die Dämmerung herein. Sie setzte sich im Bett auf. Nie hatte sie sich beim Aufwachen so gut gefühlt. Sie reichte hinüber, um es Nathan zu sagen. Doch der lag nicht neben ihr.
Clarissa setzte sich auf und schwang ihre Beine über die Bettkante. Ihre Beinmuskeln protestierten, als sie sich räkelte. Sie waren überanstrengt von den Aktivitäten der vergangenen Nacht. Vermutlich war es nur der Gedanke an die Ursache, der sie über den harmlosen Schmerz schmunzeln ließ. Sie hätte sich kaum vorstellen können, daß überanstrengte Muskeln so wohltuend sein konnten.
Also schob sie die Arme in den hübschen rosa Morgenmantel, den Nathan ihr gekauft hatte. Sie zupfte die Rüschen am Hals zurecht, dann band sie den Seidengürtel zu. Genüßlich kniff sie mit den Zehen in den dicken Teppich.
Nathan saß am Schreibtisch, über einen Brief gebeugt. Er sah lächelnd auf, als sie in der Tür stand.
»Ausgeschlafen?«
Clarissa schloß die Augen halb und seufzte. »Das will ich meinen.« Sie schmunzelte. »Bei dem bißchen Schlaf, das ich hatte.«
Nathan zwinkerte ihr zu. Er tauchte die Feder in das Faß mit der blauen Tinte und wandte sich wieder seinem Gekratze zu. Clarissa schlenderte um ihn herum und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er trug seine Hose und sonst nichts. Mit den Daumen knetete sie die Muskeln in seinem Nacken. Tief in der Kehle gab er einen wohligen Ton von sich, also fuhr sie fort. Es gefiel ihr, wenn er Laute des Vergnügens von sich gab, und noch mehr, der Grund dafür zu sein.
Während ihre Daumen sich zu seinen Schultermuskeln hinunterarbeiteten, warf sie einen Blick auf das, was er gerade schrieb. Sie überflog den Brief und sah, daß es sich um Anweisungen handelte, in denen von Truppenverlegungen an Orte die Rede war, von denen sie noch nie gehört hatte. Nathan schrieb weiter, belehrte einen Admiral über seine Verbindung zu Lord Rahl und die einschneidenden Konsequenzen, die erfolgen würden, sollte er diese Befehle ignorieren. Der Brief war in demselben gebieterischen Tonfall gehalten, mit dem er von den Menschen verlangte, als der Mann von Einfluß behandelt zu werden, der er war. Er unterzeichnete den Brief mit ›Lord Rahl‹.
Clarissa beugte sich vor, rieb ihre Nase an seinem Hals und knabberte zärtlich an seinem Ohr.
»Nathan, die letzte Nacht war mehr als wundervoll. Es war Magie. Du warst großartig. Ich bin die glücklichste Frau auf Erden.«
Er sah sie verschmitzt grinsend an. »Magie. Ja, ein wenig Magie war dabei. Ich bin ein alter Mann. Ich muß alles einsetzen, was mir zur Verfügung steht.«
Sie kämmte ihm mit den Fingern durchs Haar und ordnete es. »Ein alter Mann? Das glaube ich nicht, Nathan. Hoffentlich war es für dich nur halb so befriedigend wie für mich.«
Lachend faltete er den Brief. »Ich glaube, es ist mir gelungen mitzuhalten.« Er schob ihr eine Hand unter den Morgenmantel und kniff sie in den nackten Po. Quietschend wich sie zurück. »Mit einer so wunderschönen und liebevollen Frau zusammenzusein war einer der Höhepunkte in meinem Leben.«
Er schmiegte seinen Kopf an ihre Brüste. »Nun ja, wir leben noch. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht versuchen sollten, weitere dieser Höhepunkte anzustreben.«
Sein verschmitztes Lächeln wurde breiter, als er seine Hand wieder auf ihren nackten Po legte und sanft zudrückte. Er hatte dieses lustvolle Funkeln in den Augen.
»Laß mich eben diese Arbeit erledigen, dann werden wir dafür sorgen, daß sich die Ausgabe für das Bett auch gelohnt hat.«
Mit einem winzigen Kupferlöffel entnahm er winzige Kügelchen aus rotem Wachs aus einer Büchse und schüttete sie auf den zusammengefalteten Brief.
»Nathan, du Dummer, man schmilzt das Siegelwachs und läßt es auf den Brief träufeln.«
Er zog eine seiner Brauen hoch. »Mittlerweile solltest du wissen, mein Liebling, daß meine Methode besser ist.«
Sie lachte einmal kurz und kehlig auf. »Ach ja, verzeih.«
Er ließ einen Finger über den Kügelchen kreisen. Lichtfunken sprangen tanzend von seinem Finger auf das Wachs über. Sie glühten kurz auf, dann verschmolzen sie auf dem Brief zu einer roten Pfütze. Clarissa stöhnte vor Wonne. Nathan steckte voller kleiner Überraschungen. Ihre Wangen wurden heiß, als sie daran dachte, daß seine Finger auf mehr als eine Weise magisch waren.
Sie beugte sich vor und flüsterte ihm innig etwas ins Ohr. »Ich möchte, daß du und dein magischer Finger mich ins Bett begleiten, Lord Rahl.«
Nathan hob seinen magischen Finger und verkündete feierlich: »So soll es sein, meine Liebe, sobald ich diesen Brief auf seinen Weg gebracht habe.«
Er ließ seinen Finger erneut über dem Brief kreisen, der daraufhin wie von alleine vom Schreibtisch abhob. Clarissa zog erstaunt die Brauen hoch. Der Brief schwebte vor ihm in der Luft, als er zur Tür hinüberging. Mit seiner anderen Hand machte er eine dramatische Kreisbewegung, und die Tür schwenkte auf.
Ein Soldat, der im Gang, auf dem Fußboden sitzend, an der gegenüberliegenden Wand lehnte, erhob sich. Er salutierte mit einem Faustschlag auf sein Herz.
Nathan, der nur mit seinen Hosen bekleidet dastand und dem das weiße Haar bis auf die Schultern hing, wirkte wie ein Wüstling. Sie wußte, daß er das nicht war, aber ihr war klar, so wie er dort stand, mit seiner Körpergröße, seiner eindrucksvollen Erscheinung, mußte er bei anderen diesen Eindruck hinterlassen.
Die Menschen fürchteten sich vor ihm. Sie las es ihnen von den Augen ab. Allerdings konnte sie ihre Angst verstehen. Sehr gut wußte sie noch, wie sie sich vor ihm gefürchtet hatte, bevor sie ihn näher kennengelernt hatte. Mittlerweile konnte sie sich kaum mehr erinnern, wieviel Furcht ihr der Anblick des riesenhaft wirkenden Propheten eingeflößt hatte.
Sie war überzeugt, er könnte eine ganze Armee in die Flucht schlagen, wenn er seine himmelblauen Augen auf die Menschen richtete und seine habichtartige Stirn ungehalten senkte.
Nathan streckte seinen Arm, und der Brief schwebte hinüber zu dem grimmig dreinblickenden Soldaten. »Hast du alle meine Anweisungen behalten, Walsh?«
Der Soldat schnappte den Brief aus der Luft und stopfte ihn in seine Uniformjacke. Zwar benahm er sich respektvoll, ließ sich aber offenbar nicht von Nathan einschüchtern.
»Selbstverständlich. Ihr solltet mich eigentlich besser kennen, Nathan.«
Nathan legte ein wenig seines vornehmen Gehabes ab und kratzte sich am Kopf. »Wahrscheinlich.«
Clarissa fragte sich, wo Nathan diesen Soldaten aufgetan und wann er Zeit gehabt hatte, ihm Anweisungen zu geben. Vermutlich hatte er das Zimmer verlassen, während sie schlief.
Der Soldat sah irgendwie anders aus als die meisten anderen, denen sie bislang begegnet war. Er trug einen Reiseumhang, hatte lederne Taschen an seinem Gürtel, und seine Kleider waren von einer besseren Qualität als die der gewöhnlichen Soldaten, an deren Anblick sie sich mit der Zeit gewöhnt hatte. Auch war sein Schwert kürzer und sein Messer länger. Er war auch nicht gerade klein. Er war ebensogroß wie ihr Geliebter, wenn Nathan in ihren Augen durch seine Körperhaltung auch größer erschien als jeder andere.
»Übergib den Brief General Reibisch«, sagte Nathan. »Und vergiß nicht, sollte eine dieser Schwestern auf die Idee kommen, dich auszufragen, dann warnst du sie, wie ich es dir gesagt habe, und erklärst ihr, Lord Rahl habe dir befohlen, für dich zu behalten, was man dir aufgetragen hat. Das dürfte ihnen den Mund fest verschließen.«
Der Soldat lächelte wissend. »Verstanden … Lord Rahl.«
Nathan nickte. »Gut. Was ist mit den anderen?«
Soldat Walsh machte eine unbestimmte Handbewegung. »Bollesdun wird in der Nähe bleiben und Euch über das unterrichten, was er in Erfahrung bringt. Ich bin ziemlich sicher, daß es nur Jagangs Expeditionsstreitkräfte waren, Bollesdun wird das aber noch genau in Erfahrung bringen. So groß sie auch war, verglichen mit der Hauptstreitmacht war das nicht viel. Nichts deutet darauf hin, daß seine Hauptstreitmacht von der Umgebung von Grafan nach Norden vorgerückt ist.
Soweit ich gehört habe, gibt Jagang sich damit zufrieden, herumzusitzen und auf etwas Bestimmtes zu warten. Ich weiß nicht, worauf, aber jedenfalls zieht er nicht in Eilmärschen nach Norden, in die Neue Welt.«
»Mit der Armee, die ich gesehen habe, ist er bis weit in die Neue Welt vorgedrungen.«
»Ich bin nach wie vor der Überzeugung, daß es sich nur um Kundschafter handelt. Jagang ist ein geduldiger Mann. Es hat ihn Jahre gekostet, bis er die Alte Welt erobern und unter seiner Herrschaft vereinen konnte. Damals wandte er weitgehend dieselbe Taktik an: Er schickte seine Expeditionsstreitkräfte vor, um eine Schlüsselstadt einzunehmen und Informationen zu sammeln, meist in Form von Aufzeichnungen und Büchern. Diese Männer gehen brutal vor, das ist auch Teil ihrer Aufgabe, aber im Grunde werden sie geschickt, um die Bücher zu beschaffen.
Ihre Beute schicken sie zurück und warten dann ab, wohin Jagang sie als nächstes sendet. Bollesdun läßt das durch einige von unseren Leuten überprüfen, aber sie müssen vorsichtig sein. Daher kann es eine Weile dauern, genießt also einfach die Wartezeit.«
Nathan strich sich grübelnd übers Kinn. »Ja, ich könnte mir denken, daß Jagang noch nicht scharf darauf ist, seine Armee in die Neue Welt einmarschieren zu lassen.« Er richtete seinen Blick wieder auf Walsh. »Am besten machst du dich gleich auf den Weg.«
Walsh nickte. Sein Blick wanderte umher und traf sich mit Clarissas. Er sah wieder zu Nathan hinüber, und ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
»Ein Mann ganz nach meinem Herzen.«
Nathan lachte leise in sich hinein. »Die Angelegenheiten des Herzens sind eines der Wunder der Natur.«
Die Art, wie Nathan die Worte aussprach, erfüllte Clarissas Herz mit Stolz darüber, daß sie an den Angelegenheiten seines Herzens teilhatte.
»Seid hier mitten im Nest der Ratten vorsichtig, Nathan. Mir soll nicht zu Ohren kommen, Ihr hättet am Ende doch keine Augen im Hinterkopf.« Er tippte mit der Hand auf die Uniformjacke, in die er den Brief gesteckt hatte. »Erst recht nicht, nachdem ich das hier abgegeben habe.«
»Sicher, Junge. Sorge du nur dafür, daß du den Brief ablieferst.«
»Ihr habt mein Wort darauf.«
Nachdem Nathan die Tür geschlossen hatte und das Geschäftliche erledigt war, wandte er sich zu ihr um. Er hatte wieder dieses Funkeln in den Augen. Dieses lustvolle Funkeln. Sein verschmitztes Lächeln kehrte zurück.
»Endlich allein, mein Liebling.«
Clarissa quiekte und floh in gespieltem Schrecken zum Bett.