Obwohl sich dunkle, brütende Wolken zusammenbrauten, lag noch immer eine unheimliche Stille über dem Gipfel von Berg Kymermosst. Die Andolier blickten beunruhigt in den Himmel. Als Kahlan Richard beim Absteigen zusah, hing sein goldenes Cape schlaff in der unnatürlich stillen Luft. Drefan bot ihr seine Hand an, um ihr herunterzuhelfen. Kahlan tat, als bemerke sie sie nicht.
Im schwindenden Licht waren die Ruinen nur gespenstisch anmutende Umrisse, das Gerippe eines längst ausgestorbenen Ungeheuers, das nur darauf wartete, wieder zum Leben zu erwachen und sie zu verschlingen. Dies war die Nacht des Vollmondes, doch würden bleigraue Wolken ihn völlig verdunkeln. Wenig später, sobald das letzte Tageslicht verschwunden wäre, würde auf diesem gottverlassenen Gipfel totenschwarze Nacht herrschen.
Nadine stand neben Richard, als dieser zum Rand des Abgrundes hinüberstarrte. Drefan hielt sich ganz in der Nähe, er wollte auf die Frau, die in Kürze seine Gattin werden würde, nicht allzu voreilig wirken, wollte sie aber auch nicht ignorieren. Wie Nadine schien auch er dies nicht als das Ende seines Glücks zu betrachten.
Nachdem man die Pferde festgebunden hatte, geleiteten der Legat und Cara die Bräute und Bräutigame in einen zerfallenen, kreisrunden Gartenpavillon, der aus gebogenen Steinbänken auf der einen Seite und abgebrochenen Säulen auf der anderen bestand. Der Aufsatz, der die Säulen überspannte, fehlte größtenteils und verband nur noch vier der zehn steinernen Säulen miteinander.
In der Ferne konnte Kahlan noch immer den messerscharfen Rand des Abgrunds und das schwarze Band der Berge dahinter erkennen. Irgendwo dort draußen befand sich der Tempel der Winde.
Sie wurde angewiesen, neben Drefan auf einer gebogenen Steinbank Platz zu nehmen, und Richard, zwei Bänke weiter, sagte man, er solle sich neben Nadine setzen. Kahlan schaute kurz hinüber und sah, daß Richard ihren Blick erwiderte. Doch dann beugte Drefan sich vor und versperrte ihr die Sicht auf Richard. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Legaten und Cara, die vor ihnen standen. Die sechs Schwestern hatten sich hinter ihrem Ehemann aufgestellt.
»Wir haben uns hier versammelt«, hoben der Legat und Cara wie aus einem Munde an, »um Richard Rahl und Nadine Brighton zu vermählen und um Kahlan Amnell und Drefan Rahl zu vermählen. Dies ist die allerhöchste feierliche Zeremonie, sie verknüpft die ernstesten Versprechen und verbindet die Ehegefährten für ein ganzes Leben. Diese Hochzeit wird von den Seelen selbst gebilligt und bezeugt.«
Kahlan starrte auf das Unkraut, das aus den Ritzen in dem auseinanderfallenden Gemäuer hervorsproß, und hörte den Worten über Ergebenheit, Treue und Pflicht nur mit halbem Ohr zu. Es war so warm und schwül, daß sie kaum Luft bekam. Das weiße Kleid der Mutter Konfessor klebte ihr am Rücken. Schweiß rann ihr zwischen den Brüsten herab.
Sie hob den Kopf, als Drefan begann, sie mit der Hand unter ihrem Arm hochzuziehen. »Was? Was ist?«
»Es ist soweit«, sagte er. »Komm.«
Und dann stand sie vor dem Legaten und Cara, neben sich Drefan und drei der Frauen des Legaten auf der anderen Seite als Trauzeugen. Sie schaute an Drefan vorbei und sah Richard neben Nadine stehen, wobei die anderen drei Andolierinnen als deren Trauzeugen auftraten. Nadine hatte ein Lächeln aufgesetzt.
»Wenn jemand etwas gegen die Vermählung dieser Menschen einzuwenden hat, dann soll er sich jetzt zu Wort melden, denn einmal vollzogen, kann der Bund der Ehe nicht wieder gelöst werden.«
»Ich habe etwas einzuwenden«, sagte Richard.
»Und das wäre?« fragte der Legat.
»Die Winde haben gesagt, dies müsse aus freiem Willen geschehen. Das ist nicht der Fall. Man zwingt uns dazu. Man erzählt uns, Menschen würden sterben, wenn wir uns weigern. Ich tue dies nicht aus freiem Willen. Ich tue dies ausschließlich aus dem einen Grund, weil ich Menschenleben retten will.«
»Willst du versuchen, das Leben der Menschen zu retten, die sterben würden, wenn man der Magie, die aus dem Tempel der Winde gestohlen wurde, nicht Einhalt gebietet?« fragte der Legat.
»Natürlich will ich das.«
»Diese Heirat ist Teil dieses Versuches. Stehst du es nicht bis zum Ende durch, werden sie sterben. Du willst sie retten. Soweit es die daran beteiligten Seelen betrifft, gilt das als dein freier Wille.
Solltest du deine Einwilligung zurückziehen, muß dies jetzt geschehen, noch vor dem Gelübde. Danach kannst du deine Meinung nicht mehr ändern.«
Eine bedrückende Stille hing in der Luft.
Kahlan stürzte hilflos in tintenschwarze Tiefen. Das alles ging viel zu schnell. Zu schnell, um durchatmen zu können.
»Wenn ich mich dazu bereit erklären soll, dann möchte ich mit Richard sprechen. Und zwar vorher«, sagte Kahlan. »Allein.«
Der Legat und Cara schauten sie einen Augenblick lang an. »Beeilt euch«, sagten sie wie aus einem Mund. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Der Mond geht jeden Moment auf.«
Die beiden entfernten sich weit genug aus dem Kreis, bis Kahlan einigermaßen sicher sein konnte, daß man sie nicht hörte. Sie stellte sich dicht vor ihn und sah ihn an.
Richard sollte sie beide davor bewahren. Er mußte sie retten. Er mußte irgend etwas unternehmen, jetzt sofort, sonst wäre es zu spät.
»Richard, uns bleibt keine Zeit mehr. Hast du irgendeine Idee? Fällt dir etwas ein, wie wir dem ein Ende bereiten können? Irgendein Weg, wie wir diese Menschen retten können, ohne dies tun zu müssen?«
Richard stand dicht bei ihr und war doch Welten entfernt. »Tut mir leid. Ich weiß keine andere Lösung. Verzeih mir«, sagte er leise. »Ich habe dich enttäuscht.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das hast du nicht. Denke das niemals, Richard. Ich werde es auch nicht tun. Die Seelen haben uns die Möglichkeit verwehrt zu gewinnen. Es ist ihr Wille, und sie haben uns in ein Dilemma geführt.
Aber wenn wir bis zum Schluß durchhalten, wird wenigstens auch Jagang nicht den Sieg davontragen. Das ist viel wichtiger. Wie viele Liebende wie wir können durch unser Opfer ihr Leben leben, ihr Glück finden und Kinder haben?«
Richard lächelte so rührend, daß es ihr Herz zum Schmelzen brachte. »Das ist ein Grund, weshalb ich dich so sehr liebe: deine Leidenschaft. Selbst wenn ich dich nie wiedersehe, habe ich mit dir zusammen das wahre Glück erlebt. Die wahre Liebe. Wie viele Menschen bekommen auch nur diesen kleinen Vorgeschmack davon?«
Kahlan schluckte. »Wenn wir es tun, Richard, dann müssen wir unserem Gelübde treu bleiben, nicht wahr? Wir können nicht … manchmal … trotzdem Zusammensein, oder?«
Sein bebendes Kinn und seine Augen, die sich mit Tränen füllten, sagten mehr als Worte.
Sie wollten sich gerade in die Arme fallen, als Cara zur Stelle war und sich zwischen sie stellte.
»Es ist soweit. Wie lauten deine Wünsche?«
»Ich habe eine ganze Menge«, erwiderte Richard giftig. »Welchen wollt Ihr hören?«
»Die Winde möchten wissen, ob ihr es tun werdet oder nicht.«
»Wir werden es tun«, knurrte Richard. »Aber die Seelen sollten sich darüber im klaren sein, daß ich mich rächen werde.«
»Die Winde tun lediglich das einzige, was sie tun können, um dem Sterben, das durch das aus ihnen Entwendete ausgelöst wurde, ein Ende zu machen«, sagte Cara, plötzlich voller Mitgefühl, aber immer noch auf jene unheimliche Art, die Kahlan verriet, daß es nicht Cara war, die hier sprach, sondern die Stimme der Winde. »Sie handeln nicht aus Böswilligkeit.«
»Ein weiser Mann erklärte mir einmal, tot sei tot, auf welche Weise, sei ganz gleichgültig«, erwiderte Richard.
Trotzig faßte er Kahlans Hand und ging mit ihr zum steinernen Rund zurück, wo sie ihre Plätze neben ihren Erwählten einnahmen.
Kahlan hatte ihre Konfessorenmiene aufgesetzt, als sie neben Drefan stand. Ihr tat Richard leid. Man hatte ihm in seiner Kindheit nicht beigebracht, seine Gefühle, seine Sehnsüchte, seine Wünsche der Pflicht unterzuordnen. Sie hatte ein Leben lang Zeit gehabt, sich auf diese letzte Tortur vorzubereiten. Er hatte ein Leben lang Zeit gehabt, sich auf etwas vollkommen anderes vorzubereiten, in der Erwartung, er werde sein Glück finden. Kahlan hatte die Wärme dieser Flamme nur kurz gespürt.
Ganz bewußt überhörte sie die Worte, die erst zu Nadine und dann zu Drefan gesprochen wurden, Worte von Treue und Hingabe dem Lebensgefährten gegenüber. Statt dessen konzentrierte sie ihre Gedanken auf Richard, in der Hoffnung, ihm ein wenig Kraft zu spenden, in der Hoffnung, er werde dies überstehen, damit sie die Erkrankten retten und die Pest aufhalten konnten. Richard mußte nach wie vor in den Tempel der Winde gelangen. Er brauchte Kraft.
Bald würde die Zeremonie vorüber sein, und sie würden wieder nach Aydindril aufbrechen. Was immer geschah, nicht mehr lange, und sie befand sich wieder auf dem Weg dorthin, wo sie aufgewachsen war, in dem Leben voller Pflichten, für das sie geboren war.
»Ja oder nein?« fragte der Legat.
Kahlan sah auf. »Was?«
Er sah kurz zu den bedrohlichen Wolken hoch und holte hastig Luft. »Gelobst du, diesen Mann zu ehren, ihm als Herrscher deines Heims zu gehorchen, ihn zu umsorgen in guten wie in schlechten Zeiten und ihm in diesem Leben eine treue Frau zu sein, bis daß der Tod euch scheidet?«
Kahlan schaute zu Drefan auf. Sie fragte sich, was er gelobt hatte.
»Ich gelobe zu tun, was immer erforderlich ist, um die Pest zu beenden.«
»Ja oder nein?«
Kahlan ließ einen verärgerten Seufzer heraus. »Ist es das, was man von mir verlangt, um die Magie, die den Winden entwendet wurde, daran zu hindern, Menschen zu töten?«
»So ist es.«
Sie legte das Gelübde in Gedanken ab, aber für Richard, nicht für Drefan. Sie würde die Worte dieses Schwures laut für Drefan sprechen, aber ihr Herz würde immer Richard gehören. Kahlan ballte die Fäuste. »In diesem Falle, ja. Ich gelobe zu tun, was erforderlich ist, um die Pest aufzuhalten. Ich gelobe kein Jota mehr als das, was man von mir verlangt – und keinen Atemzug länger.«
»Dann seid ihr vor den Seelen und kraft der Seelen von nun an Mann und Frau.«
Plötzlich krümmte Kahlan sich vor Schmerzen. Es war, als hätte man ihr die Eingeweide zerrissen. Sie versuchte, Luft zu holen. Es ging nicht. Sie sah bunte Ringe vor ihren aufgerissenen Augen.
Drefan legte ihr den Arm um die Hüfte. »Was ist? Kahlan, was ist los?«
Ihre Beine gaben nach, aber er hielt sie aufrecht.
»Das sind die Seelen«, war die gemeinsame Stimme von dem Legaten und Cara zu vernehmen, »sie haben ihre Kraft gebunden. Sie wird in dieser Ehe leben wie jede andere mit einem Mann verheiratete Frau. Ihre Kraft hätte sie dabei nur behindert.«
»Das könnt Ihr nicht machen!« kreischte Richard. »Sie wird schutzlos sein! Ihr dürft sie nicht ihrer Kraft berauben!«
»Man hat sie nicht der Kraft beraubt, sondern sie verschlossen, damit sie für die Dauer des Gelübdes, das sie für ihren Gatten Drefan Rahl geleistet hat, keinen Gebrauch von ihr machen kann. Es ist vollbracht«, sprachen die beiden gemeinsam. »Und nun lege das Gelübde ab, oder du verlierst die Chance, den Winden zu helfen.«
Kahlan starrte zu Boden. Sie spürte den Sog der Leere, spürte die Leere zwischen ihrem Verstand und ihrer Kraft, während sie lauschte, wie Richard ähnliche Worte vorgesprochen wurden. Seine Antwort entging ihr, aber er mußte das gesagt haben, was verlangt wurde, denn der Legat verkündete feierlich, er und Nadine seien von nun an Mann und Frau.
Als Preis für den Pfad hatte man ihr nicht nur die Liebe genommen, sondern auch ihre Konfessorenkraft. Das plötzliche und tiefgreifende Gefühl des Verlustes umwölkte ihren Verstand mit einer Finsternis, die dunkler war als die soeben heraufziehende Nacht.
Drefan ergriff ihren Arm. »Hier, setz dich besser hin. Als Heiler sehe ich selbst bei diesem Licht, daß es dir nicht gutgeht.«
Kahlan ließ sich von ihm zu einer Bank führen und beim Hinsetzen helfen.
»Deiner Frau wird es bald wieder bessergehen«, meinte der Legat. Er blickte hinauf in den brodelnden Himmel. »Richard Rahl, Drefan Rahl, folgt mir.«
»Wohin gehen wir?« wollte Richard wissen.
»Wir bereiten euch darauf vor, die Ehe zu vollziehen.«
Kahlan hob unwillkürlich den Kopf. Trotz der Dunkelheit konnte sie erkennen, daß Richard kurz davor stand, jeden Augenblick vor Wut zu explodieren. Er hatte seine Hand bereits am Schwert.
Drefan streichelte Kahlan mitfühlend über den Rücken. »Bald geht es dir wieder gut. Es wird sich alles finden. Sei unbesorgt, ich werde mich wie versprochen um dich kümmern.«
»Danke, Drefan«, brachte sie trotz ihrer Seelenqual hervor.
Drefan verließ sie und schlenderte zu Richard hinüber. Er packte Richards Arm, beugte sich vor und sprach leise auf ihn ein. Kahlan sah, wie Richard sich mit beiden Händen die Haare raufte und gelegentlich nickte. Was immer Drefan sagte, es schien ihn zu besänftigen.
Nachdem die beiden gegangen waren, drehten sich der Legat und Cara zu Nadine und Kahlan um. »Ihr beide wartet hier.«
Kahlan hockte zusammengesunken auf der steinernen Bank, während Richard und Drefan in der Dunkelheit zum Abgrund geführt wurden, zu den beiden Gebäuden rechts und links jener Straße, die am Abgrund unvermittelt endete. Inzwischen war es so dunkel geworden, daß Kahlan Nadines Gesicht kaum noch erkennen konnte, als diese sich neben ihr auf der Steinbank niederließ. Die sechs Schwestern waren zu den Pferden zurückgegangen und blickten, an ihren Fingern nuckelnd, in den Himmel.
»Tut mir leid. Das mit Eurer Magie, meine ich. Ich hatte keine Ahnung, daß sie Euch das antun würden. Vermutlich seid Ihr jetzt wie jede andere Frau.«
»Vermutlich.«
»Kahlan«, sagte Nadine, »ich will Euch nicht anlügen und Euch erzählen, es täte mir leid, daß ich es bin, die Richard geheiratet hat, aber ich verspreche Euch, ich werde alles tun, um ihn glücklich zu machen.«
»Ihr begreift es einfach nicht, Nadine, hab ich recht? Ihr könnt zu ihm so nett sein, wie Ihr wollt, oder auch so mies, es ist vollkommen gleichgültig. Bei den Qualen, die er jetzt leidet, könntet Ihr so mies sein, wie Ihr wollt, es wäre nichts weiter als ein Bienenstich nach einer Enthauptung.«
Nadine entfuhr ein verlegenes Kichern. »Na ja, gegen einen Bienenstich wüßte ich einen Umschlag. Richard wird schon sehen. Ich werde –«
»Ihr habt mir bereits versprochen, daß Ihr nett zu ihm sein werdet, Nadine. Ich weiß das zu schätzen, aber im Augenblick bin ich nicht in der Stimmung, mir in allen Einzelheiten anzuhören, wie nett genau.«
»Natürlich. Das verstehe ich.« Nadine stocherte im Mauerwerk der Bank herum. »So hatte ich mir meine Hochzeit nicht vorgestellt.«
»Ich mir auch nicht.«
»Vielleicht wird wenigstens alles übrige so, wie ich es mir vorgestellt habe.« Ihr Ton wurde kalt und rachsüchtig. »Ihr habt dafür gesorgt, daß ich mir wie eine Närrin vorgekommen bin, weil ich Richard wollte, weil ich glaubte, ich könnte ihn vielleicht für mich gewinnen. Ihr habt mir die Freude an meinem Hochzeitstag verdorben, aber die Freude an allem anderen werdet Ihr mir nicht nehmen.«
»Das tut mir leid, Nadine. Wenn Ihr glaubt, ich hätte –«
»Jetzt gehört er mir, und ich habe die Absicht, ihm zu zeigen, wie eine Frau einem Mann das Leben versüßen kann. Er wird schon sehen. Er wird sehen, daß ich ihm eine ebenso gute Frau sein kann wie Ihr. Ihr glaubt das vielleicht nicht, aber ich kann es.«
Nadine beugte sich zu ihr herüber. »Ich werde Richard den Kopf verdrehen, noch bevor die Nacht vorüber ist. Dann werden wir ja wissen, wer die bessere ist und wie sehr er Euch vermißt. Hört genau hin, während Ihr mit Richards Bruder daliegt, damit Euch meine Schreie der Lust nicht entgehen. Die Schreie jener Lust, die Richard mir bereitet. Nicht Euch – mir!«
Nadine stapfte davon und blieb aufgebracht mit verschränkten Armen stehen. Kahlan verbarg ihr Gesicht in den Händen. Die Seelen gaben sich nicht damit zufrieden, sie zu vernichten, sie mußten auch noch das Messer in der Wunde drehen.
Cara und der Legat kamen zurück. »Es wird Zeit«, sagten sie wie aus einem Mund.
Kahlan erhob sich unbeholfen und wartete, daß man ihr erklärte, was sie als nächstes zu tun hatte. Der Legat wandte sich Cara zu.
»Das Unwetter wird bald losbrechen.« Der Legat sah mit zusammengekniffenen Augen hinauf in den schwarzen Himmel. »Meine Frauen und ich müssen diesen Berg verlassen.« Er packte Caras Arm. »Die Winde sprechen ebenso zu Euch wie zu mir. Könnt Ihr den Rest allein erledigen?«
»Ja. Es ist fast vollbracht. Ich kann es zu Ende bringen«, meinte Cara. »Die Winde werden die Nachricht ebensogut durch mich wie durch Euch weitergeben.«
Er verschwand ohne ein weiteres Wort in der Dunkelheit.
Caras kräftige Finger schlossen sich um Kahlans Arm. »Komm mit«, sagte sie in der eiskalten Stimme der Winde.
Kahlan sperrte sich. »Cara, bitte, ich kann nicht.«
»Du kannst und du wirst, oder die Chance geht vorbei, und die Pest wütet weiter.«
Kahlan riß sich los. »Nein, Ihr versteht nicht. Ich kann nicht. Ich habe meine Tage des Mondbluts. Es ist noch nicht vorbei. Ich kann … das nicht tun. Nicht jetzt.«
Caras wütend funkelnde Augen kamen näher. »Das wird dich nicht daran hindern, die Ehe zu vollziehen. Du wirst es tun, oder alle Hoffnung, die Pest aufzuhalten, ist dahin. Noch ist es nicht vorbei. Du mußt deinen Teil dabei übernehmen – dich hingeben und es genießen. Es muß jetzt geschehen. Heute abend. Oder wäre es dir lieber, wenn das Sterben ungehindert weitergeht?«
Nadine auf der einen Seite und Kahlan auf der anderen, führte Cara die beiden in der Dunkelheit über die Straße bis zum Rand des Abgrunds.
In tiefschwarzer Nacht stand Kahlan am Rand des Abgrunds und fühlte sich benommen und verloren. Sie wußte nicht, wie lange Cara mit Nadine fortblieb, um sie zu Richard in das verfallene Gebäude rechts zu bringen. Plötzlich spürte sie Caras Hand wieder unter ihrem Arm.
»Hier entlang«, kam die eiskalte Stimme.
Kahlan ließ sich von der Frau zu den Ruinen links führen. Kahlan konnte kaum etwas erkennen. Cara, von den Winden geleitet, hatte keine Mühe, sich in den Fluren und Räumen des völlig heruntergekommenen Gebäudes zurechtzufinden.
Sie kamen an eine Tür. Kahlan erkannte so gerade eben Drefans Schwert, das draußen an einer Wand lehnte. Sie legte ihre Finger auf das mit Leder umwickelte Heft. Drinnen konnte sie gerade eben die Rechtecke ausmachen, wo sich einst die Fenster befunden hatten. Dahinter, wo einst der Tempel der Winde gestanden hatte, lagen der Rand des Abgrunds und das Nichts.
»Dies ist deine Frau«, sprach Cara mit ihrer eiskalten, schauerlichen Stimme in den Raum hinein. »Hier ist dein Gemahl«, sagte sie zu Kahlan.
»Diese Ehe muß vollzogen werden. Das zu tun ist jetzt eure Pflicht. Die Winde stellen Forderungen. Ihr dürft keine weiteren Fragen stellen. Sprecht kein einziges Wort. Die Winde haben ihre Gründe, und euch steht es nicht zu, diese zu erfahren. Wenn ihr dem Sterben ein Ende bereiten wollt, braucht ihr nichts weiter zu tun, als zu gehorchen.
Sobald die Prüfung dem Höhepunkt zustrebt, nimmt sie an Heftigkeit zu.
Ihr müßt jetzt wie Mann und Frau beieinanderliegen. Gebt ihr auch nur ein einziges Wort von euch, endet die Prüfung, und der Zugang in den Tempel der Winde wird euch verwehrt. Berufung ist ausgeschlossen. Die entwendete Magie wird weiter wüten, wie auch das durch sie ausgelöste Sterben.
Die Winde werden erst kommen, wenn ihr die Bedingungen erfüllt habt. Sobald sie da sind – und ihr werdet keinen Zweifel haben, daß es soweit ist –, dürft ihr miteinander sprechen. Vorher nicht.«
Cara drehte Kahlan um und half ihr aus dem Kleid und der Unterwäsche. Kahlan fiel das Schweigen nicht schwer, sie hatte nichts zu sagen.
Sie spürte die schwarze Nachtluft auf ihrer nackten Haut. Mit einem Blick auf Drefans Schwert dachte sie, wenn dies alles vorüber wäre, könnte sie es gegen sich selbst richten. Wenn nicht, wenn er sich weigerte, es ihr zu überlassen, war da immer noch der Abgrund.
Cara faßte sie am Handgelenk und führte sie vorwärts. Die Mord-Sith zwang sie mit Gewalt, sich hinzuknien und vorzubeugen, bis sie mit der Stirn das Strohlager berührte. »Dein Gemahl erwartet dich. Geh zu ihm.« Kahlan hörte, wie Caras Schritte in der Ferne verhallten. Dann war sie mit Drefan allein.